Der letzte Soldat
Finsternis lag über dem Land. Nicht jene von Sternen oder Mond erhellte Finsternis, sondern eine tiefe, tintige Dunkelheit, die sich jeden Moment zu materialisieren schien. Kein Licht von Mond oder Sternen schien, da eine dicke Wolkendecke alles Licht von oben abfing. Die Dunkelheit machte einen blind. Um es noch schlimmer zu machen, war es totenstill. Kein Lüftchen regte sich, kein Tier war zu hören, auch deshalb wahrscheinlich, weil alles was sich noch bewegen konnte schon vor Wochen dieses Gebiet und den Krieg der hier tobte, verlassen hatte. Raphael stolperte seit Stunden durch den Wald, war in Gräben gestürzt, über abgestorbene Bäume gestolpert, in Ästen hängen geblieben und in schlammigen Gruben, die Granattrichter gewesen sein mögen, halb versunken. Mehr als einmal er sich mit der Hand auf etwas abgestützt, dass er sich lieber nicht ausmalen mochte, was es einmal gewesen sein mag. Ein Kopf, eine offen Bauchhöhle, ein Rippenbogen. Manches gab leise schmatzend nach, während anderes mit einem Knacken wie von grünem Holz unter ihm brach. Sie waren zu sechst aufgebrochen – jetzt war er alleine. Jakob war am ersten Tag auf eine Mine getreten, oder vielleicht auch einen Blindgänger und in einer gewaltigen Wolke aus Rauch und Feuer verschwunden. Manuel und Tim waren von Scharfschützen erwischt worden. Manuel war einfach tot zusammengebrochen. Mit einem sauberen, runden Loch in der Stirn. Er hatte einen Blick, der halb überrascht und halb amüsiert ausgesehen hatte. Tim hatte nicht so viel Glück gehabt. Ihn hatte es in den Bauch erwischt. Vier Stunden hatte er gejammert, geweint, geschrien, geflucht und dann wieder von vorne. Er hatte um Wasser gebettelt, hatte uns die Fotos, alte vergilbte Aufnahmen, von seiner Frau Hilde und seinen beiden Jungs mit blutverschmierten Händen hingehalten und Raphael schließlich in die Jacke gestopft. In einem unaufmerksameren Moment, griff Tim nach einer Feldflasche und trank gierig ein paar Schluck. Kurz darauf schrie er, als würde man ihn abstechen, dann bäumte er sich auf und war innerhalb von ein paar Minuten tot gewesen. In der nächsten Nacht hatte sich Robert mit seiner Pistole erschossen. Einfach so. Er hatte sich einfach hingesetzt, die Waffe aus dem Holster genommen, den Lauf in den Mund gesteckt und abgedrückt. Das war vor zwei Tagen gewesen. Jetzt war auch noch Hannes verschwunden. Nicht dramatisch oder laut, er war einfach nicht mehr da. Eben hatte Raphael noch mit ihm beraten, ob sie an Ort und Stelle die Nacht verbringen, oder sich weiter durch die Dunkelheit kämpfen sollten. Den nächsten Moment, war Hannes weg gewesen. Raphael traute sich nicht laut zu rufen, aus Angst auf sich aufmerksam zu machen. Aber in dieser absoluten Dunkelheit und Stille, waren auch seine leisen Rufe wie ein Donnerhall. Mit Hannes hatte er den letzten Halt verloren, der seinen angegriffenen Geist noch gestützt hatte. Während er weiter torkelte, begann der Wahnsinn sich langsam an ihn heranzuschleichen. Zuerst glaubte er nur im Augenwinkel etwas gesehen zu haben, dann war es ihm, als würde er ein leisen Geräusch hören, dass ihn zu verfolgen schien. Nicht wirklich wahrnehmbar, immer an der Schwelle zwischen Sicherheit und dem Gedanken es sich eingebildet zu haben. War da ein Knacken gewesen? Ein Rascheln links von ihm? Panische Angst keimte in Raphael auf. Eingebildete Schrecken nahmen eine unbestimmte Gestalt an und schienen von allen Seiten auf ihn einzustürmen, Raphaels gequälte Seele tat jenen letzten Schritt, der sie endgültig auf die Seite des Wahnsinns und der Irrationalität brachte. Raphael begann erst schneller zu gehen, dann zu laufen und schließlich zu rennen. Die Augen hatte er weit aufgerissen, obwohl es nach wie vor nichts zu sehen gab. Er schleuderte die letzten Reste seiner Ausrüstung fort, auch die wertvolle Feldflasche und seine Koppel. Seine Jacke schlackerte um seinen mageren Körper, der schon zu lange mit zu wenig Nahrung hatte auskommen müssen. Immer wieder meinte er etwas erkennen zu können, ein schwaches Licht, den Umriss eines Baumes, eines Gebäudes. Er glaubte eine Lichtung vor sich zu sehen und krachte in einen Baum. Weinend und schluchzend rappelte er sich wieder auf, begann wieder zu rennen, kam endlich doch aus dem Wald und der absoluten Dunkelheit. Just in diesem Moment riss auch die Wolkendecke auf. Das schwache Licht erschien ihm grell und hell, nachdem er solange nichts gesehen hatte. Er rannte weiter über die abschüssige Wiese, die von Granaten umgepflügt worden war. Er rannte weiter und nahm auch den Kopf eine Kuh nicht wahr, über den er fast gestolpert wäre und die wohl Opfer eines der vielen sinnlos gewordenen Artillerieduelle geworden war. Das Spiel aus Licht und Dunkelheit erzeugte schrecken verheißende Schatten, die seine Angst noch weiter antrieb. Raphael begann schneller zu laufen und jetzt schrie er auch. Er schrie aus Angst, er verfluchte die Feinde, die für ihn in den Schatten zu lauern schienen. In dem Bauernhof, der wie durch ein Wunder unversehrt geblieben war, schreckte das alte Bauernpaar aus dem Schlaf und duckte sich angsterfüllt unter die Zudecke. Sie würden noch jahrelang erzählen, dass in dieser Nacht die Geister toter Soldaten über die Schlachtfelder gewandelt waren und ihre Wut und ihren Zorn herausgeschrienen hatten. Raphael war fast am Ende der Wiese angelangt und rannte nun über ehemalige Äcker. Er rannte, obwohl seine Lungen fast am Bersten waren, sein Herz schlug wie wild und schien aus der Brust springen zu wollen. Er sprang über niedrige Zäune und drängte sich durch dichte Hecken. Er nahm nicht wahr, dass sich die Landschaft veränderte, er bemerkte nicht, dass er sich wieder dem Schlachtfeld nährte. Hier lebte nichts mehr. Hier war jeder Meter Boden von hunderten Granaten wieder und wieder umgepflügt worden. Jeder Meter Boden war in einer endlosen Reihe von sinnlosen Offensiven und ebenso sinnlosen Gegenoffensiven mit dem Blut unzähliger Soldaten getränkt worden. Jeder Meter Boden, der gewonnen oder verloren worden war, war mit dem Leben Tausender bezahlt worden. Raphael merkte nicht, wie er über die Reste von ehemaligen Gräben kletterte, dass unter ihm die Überreste von Soldaten zusammensackten, dass er dass er über ein gigantisches Massengrab stürmte. Er schrie wieder. Er schrie laut, unartikuliert und animalisch. Er merkte nicht, dass hinter ihm die Sonne aufging und den Himmel und die Wolken in eine unglaubliche Komposition aus Rot, Orange, Gelb, Purpur und Blau verwandelte. Er hörte sich nur selbst schreien, ohne sich bewusst zu sein, dass er es war, der dieses Geräusch von sich gab. Dann hörte er noch ein knallendes Geräusch, als würden zwei Hände aufeinander geschlagen werden. Da nahm er seinen Schatten wahr, den er auf den Boden vor ihm warf, ein unmöglich langes Gebilde, dass von einem Moment auf den andern kürzer wurde, als er in die Knie sank. Dann sah er noch die Erde auf sich zukommen und dann, dann umfing ihn unendlicher Frieden.
Es war der letzte Schuss auf einer tausend Kilometer langen Front gewesen, die vier Jahre lang die Jugend Europas wie eine gigantische Maschine aufgesogen und in tausend Stücke zerlegt wieder ausgespuckt hatte.
Es war der letzte Schuss und der letzte Tote in einem Krieg, der zuvor schon 17 Millionen Tote gefordert hatte und der das Fundament für einen noch viel schlimmeren Krieg in der Zukunft legen sollte
Es war der letzte Schuss in einem Krieg gewesen, der schon bei seinem Beginn sinnlos gewesen und bis zu seinem Ende geblieben war.
Es sollte ein kalter, aber schöner Herbsttag werden an der Somme, dieser 11 November 1918, um 11 Uhr vormittags.
Tag der Veröffentlichung: 23.10.2010
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Widmung:
Eine Reaktion auf eine Diskussion Freitag abends über die Faszination, die der Krieg auf manche kleinen Geister ausübt.