Cover

Der Tag danach

Ich reiße beide Augen auf um diesen Versuch sofort bitter zu bereuen. Das Licht sticht mit scharfen Nadeln bis in das Gehirn. Anscheinend habe ich es gestern nicht mal geschafft die Vorhänge zu zuziehen. Der Instinkt in mir zwingt beide Augen wieder fest zu. Zuerst versuche ich es mit dem linken Auge, dass aber wenig Lust zeigt meinem Wunsch sich zu öffnen, auch Folge zu leisten. Auch das rechte Auge ist wenig geneigt, dem Tag entgegen zu sehen. Nachdem ich abwechselnd beide Augen einen Spalt geöffnet habe, kann ich vorsichtig beide Augen ein wenig öffnen und mich zumindest in Richtung Bad vortasten. Kaum aus dem Schlafzimmer rausgekommen, steige ich noch auf eines Spielzeuge meiner Katzen, irgendetwas, was eine Maus darstellen soll, dass darauf hin ein protestierendes Quitschen von sich gibt, bevor es sich unter meinem Gewicht in ein seltsam verformtes, flaches Stück Plastik verwandelt, dass mit einem immer höher werdenden Pfeifen sein kurzes, trauriges Leben aushaucht. Erschrocken springe ich zur Seite und stoße mir das Schienbein an der Kommode während eine Katze pfauchend an mir vorüberschiesst. Die andere will Liebe und schmust an meinem Bein herum. Ich vermute zwar, dass sie eher etwas zu fressen will, aber ich bin in der Stimmung ihr Verhalten als Liebesbeweis zu deuten. So humple ich in den Korridor – immer noch halb blind (meine Augen weigern sich immer noch den Dienst wie gewohnt aufzunehmen – können Augen eigentlich streiken?). Ich werfe einen vorsichtigen Blick ins Wohnzimmer und mache sofort die Tür zu – dass muss ich wirklich nicht sehen. Sichtlich gab es ein räumlich extrem begrenztes Erdbeben, das nur mein Wohnzimmer getroffen hat. Ob ich das noch aufräume oder den Entrümpelungsdienst hole, entscheide ich später. Vor dem Badezimmer nehme ich Maß und bringe meinen Kopf genau in die Mitte zwischen den beiden Türpfosten des Badezimmers, da ich fürchte, dass ich sonst links oder rechts anstoßen würde, und gehe langsam durch die Tür. Aus dem Spiegel blickt mir ein total Fremder entgegen. Der Kerl hat ja nicht mal die gleiche Haarfarbe wie ich. Oh – Moment. Licht aufdrehen kann helfen. Ich drehe das Licht auf und sofort wieder ab, nachdem ich feststellen muss, dass meine Sehorgane immer noch im Streik sind. Irgendwie schaffe ich es in die Dusche zu steigen. Ich drehe das Wasser auf und höre mich aufschreien – war ja klar - Kaltwasser. In meiner Hektik sind zwar die Augen wenigstens ein wenig offen, aber ich finde die richtige Einstellung nicht und drehe das Kaltwasser erst auf volle Stärke, bevor ich endlich die richtige Temperatur finde. 10 Minuten später steige ich halbwegs munter wieder aus der Dusche. Die Überschwemmung wische ich später auf. Teil eins erledigt: Ich kann mich wieder vernünftig bewegen. Teil 2 und 3 stehen noch aus. Woher kommt dieser Geschmack im Mund? Habe ich gestern mit einem Kamel geknutscht? Also auch noch Zähne putzen. Der Junge im Spiegel kommt mir langsam bekannt vor. Teil 3: Etwas gegen die Kopfschmerzen unternehmen.
Also schlinge ich mir ein Handtuch um und gehe in Richtung Küche. Die Küche war sichtlich wieder ein Epizentrum der gestrigen Veranstaltung gewesen. Leere Flaschen, schmutziges Geschirr und unzählige Bierdosen sind statistisch korrekt überall verteilt. Meine Kopfschmerzen erreichen die nächste Stufe auf der Skala. Es sitzt ein kleiner Mann (von mir aus auch eine kleine Frau) in meinem Gehirn und spielt Schlagzeug. Die Katze hat Verstärkung bekommen – jetzt schmusen beide um mich herum. Egal - ich gehe ferngesteuert auf die Espressomaschine zu und drehe sie auf. Das hat Prio 1 ! Die Katzen und mein Kopf können warten. Während die Maschine auf Temperatur kommt (wieso dauert das immer solange?), versorge ich die Katzen, die daraufhin ihre Liebesbezeugungen schlagartig einstellen (verlogene Biester) und werfe mir eine Kopfschmerztablette ein. Das Geschmackserlebnis Zahnpasta plus Tablette haut mich fast um. Ein Piepsen signalisiert, dass die Maschine ENDLICH bereit ist. Ich nehme also eine Kapsel aus dem Behälter, die schwarze, die konzentrierte Kaffeeessenz enthält, platziere sie in die passende Öffnung und drücke auf den entsprechenden Knopf. Dann sehe ich interessiert zu wie der Kaffee läuft und im Gitter am Boden der Maschine wieder verschwindet. Ohne Becher wird das wohl nichts.

Also nochmal das Ganze – diesmal mit Becher. Ich lege noch eine zweite und eine dritte Kapsel ein und lasse sie in den gleichen Becher laufen. Zur Tarnung gebe ich etwas Milch hinein, die aber kaum eine merkbare Farbänderung hervorruft. Eigentlich mache ich das nur um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, dass mir mein Arzt verschafft hat. „Zuviel Kaffee“ meint er – naja. Was soll ein Arzt sonst sagen, wenn ich so dumm bin und ihm die Wahrheit über meinen Kaffeekonsum erzählen muss. Ich nehme die Tasse und ziehe durch die Nase begeistert das Aroma der dickflüssigen Substanz ein. Nicht Blut ist dicker als Wasser – guter Kaffe sollte das sein. Schon da merke ich, wie meine Lebensgeister langsam erwachen. Sogar meine Augen scheinen wieder innerhalb normaler Parameter zu funktionieren.
Dann höre ich mein Smartphone piepsen, das aus unerfindlichen Gründen auch in der Küche zu sein scheint – nur ich finde es nicht. Nach ein paar Minuten entdecke ich es malerisch eingeklemmt zwischen einer Flasche südafrikanischem Rotwein und einer Flasche Chivas (beide leer). „Terminerinnerung: Morgen Abgabe Personalbudget 2011“, lese ich da. Meine Laune sackt auf Fußbodenniveau. Da muss ich durch. Hauptsache ich habe meinen Kaffee. Also packe ich meinen Kaffe und mache mich auf den Weg ins Arbeitszimmer. Auf dem Weg dorthin klicke ich mich durch die Fotogalerie und entdecke einige Aufnahmen von gestern. Ich mache auf dem Absatz kehrt und steuere das Schlafzimmer an. Aha – nicht nur meine Bettseite wurde benutzt. Auf der anderen Seite liegt unter der Decke eine Gestalt und nur ein Schopf schwarzer Haare lugt frech hervor. Noch ein Schluck Kaffee – dann kann ich auch akzeptieren, dass mein Filmriss ein ziemlich totaler war. Ich gehe auf Zehenspitzen hinein und ziehe vorsichtig die Bettdecke ein wenig herunter um das Gesicht zu sehen. Es ist dasselbe wie auf den Fotos. Naja – Geschmack habe ich wenigstens. Eigentlich einen sehr guten Geschmack. Leise ziehe ich die Vorhänge zu und es wird dunkel im Raum, dann gehe ich leise zur Tür und mache sie von außen zu. Da stelle ich fest, dass die Tasse schon wieder fast leer ist – also zurück in die Küche und nochmal aufgefüllt und dann ins Arbeitszimmer. Dort sitze ich eine gute Stunde vor meinem Computer und starre die Zahlenkolonnen vor mir an, die mir im Moment so gar nichts sagen. Ich zeichne florale Ornamente auf ein Blatt Papier, die mir jetzt gerade viel wichtiger vorkommen, als das dumme Excelsheet auf dem Schirm. Gut zehn Minuten verbringe ich auch damit, einem Grashüpfer zuzusehen der sich in mein Arbeitszimmer verirrt hat. Er klettert vor mir die Wand hinauf und dann auf der Decke entlang. Ihn dort weiter zu beobachten gebe ich auf. Den Kopf in den Nacken zu legen, ist keine gute Idee. Gut für ihn, dass die Katzen nicht hier rein dürfen. Weiter Minuten vergehen, in denen ich versuche mich zu entscheiden, ob ich die graphische Ausgestaltung des Papiers weiter fortführe oder mich meiner Arbeit zuwenden soll. Ich tippe ein wenig in den Zahlen herum und sehe mit Schrecken, dass ich gerade ein Budget in der Größenordnung des Staatshausaltsdefizits erstellt habe. Und der Kaffee ist auch schon wieder leer. Also zurück in die Küche und neuen holen. Ohne Kaffee geht bei mir nun mal nichts. Auch meine Leute im Büro wissen das. Inzwischen kann ich an Art und Größe des Kaffees, den sie mir bringen, abschätzen welcher Art die Nachricht ist, die ich gleich bekomme. Normaler Bürokaffee heißt, es geht um etwas Alltägliches, großer Bürokaffee bedeutet schlechte Nachrichten, normaler Kaffee von Starbucks bedeutet sehr schlechte Nachrichten und die Halbliterbecher von Starbucks deuten auf eine Katastrophe hin. Ich warte ein paar Minuten, bis sich das Koffein bis in mein Gehirn vorgearbeitet hat und starte dann den nächsten Versuch. Es ist immer noch zäh, aber besser. Plötzlich klärt sich der Nebel um meinen Kopf und es ist, als würde frischer Wind durch meine Denkmurmel wehen. Das ist das ersehnte Zeichen, dass ich die zuvor kritische Koffeinkonzentration wieder in den Griff bekommen habe. Jetzt geht mir die Arbeit leicht von der Hand und ist in weniger als einer Stunde erledigt. Nun packt mich auch noch der Tatendrang und ich tue etwas, was eigentlich nicht zu meinen bevorzugten Tätigkeiten gehört: Ich räume auf. Die Küche ist bald geschafft, aber als ich die Türe zum Wohnzimmer öffne, sinkt mein Herz in die Hose – es ist schlimmer als gedacht – viel schlimmer.
Zwei Stunden später sitze ich auf der Terrasse und trinke die Latte Macchiatto, die ich mir als Belohnung gemacht habe. Das Gröbste ist beseitigt und den Rest kann auch die Putzfrau machen. Sie wird wieder jammern und mir erklären, dass es nicht gut ist Junggeselle zu sein und ich mir ein nettes Mädchen suchen sollte. Dass sie damit ihre Tochter meint, weiß ich schon länger. Meine Laune ist blendend und ich fühle mich sauwohl. Als ich mir schon denke, dass ich nach meinem Besuch sehen sollte, höre ich hinter mir eine Stimme. „Guten Morgen – Sag mal, darf ich einen Kaffee haben?“ Ich drehe mich um und sehe etwas was mir sehr gefällt. Frisch aus der Dusche, nur mit einem Handtuch um die Hüften ist das schon ein sehr netter Anblick. Natürlich bekommt er einen Kaffee – und noch viel mehr.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 25.09.2010

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /