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The Witch

Eric kauerte sich im letzten Winkel in der Bilge zusammen. Er hatte sich eine zerrissene Wolldecke gestohlen und damit eine notdürftige Unterlage geschaffen um auf den Ballaststeinen liegen zu können. Unter ihm schwappte Brackwasser und es stank fürchterlich. Es stank immer und überall auf dem Schiff. Es stank nach verfaultem Wasser, nach verdorbenem Fisch und nach monatelang ungewaschenen Männern. Eric war nicht freiwillig auf dem Schiff. Eigentlich war er Schiffsjungen auf einem britischen Linienschiff der 3. Klasse, der Farragut, gewesen. Sie waren als Patrouille in der Karibik eingeteilt und sollten Piraten, Spaniern, Holländern und Franzosen zeigen, wer die Weltmeere beherrschte. Gerade letztes Jahr hatte Nelson bei Abu Kir den Franzosen eine vernichtende Niederlage beigebracht, an der sie noch Jahre kauen würden. Sie waren zu weit weg gewesen, um noch rechtzeitig zu Nelsons Flotte stoßen zu können, also hatte man sie in der Karibik gelassen. Ein Umstand, der der Laune des Kapitäns und der anderen Offiziere einen herben Schlag versetzt hatte. Andere hatten sich mit Ruhm bedeckt, während sie hier Gespenstern nachjagten. Dann kam der Tag, an dem sie in Port Royal angelegt hatten um Vorräte aufzunehmen. Eric durfte zum ersten Mal mit einigen Matrosen an Land gehen. Als er austreten musste, war es plötzlich finster geworden. Jemand hatte ihm einen Sack über den Kopf gestülpt. Dann ein Schlag, ein scharfer Schmerz und er war in tiefe Dunkelheit gefallen. Als er erwachte lag er mittschiffs an Deck, aber nicht an Bord der Farragut, sondern eines recht kleinen Schoners. Und das Schiff war bereits weit draußen auf See.
Ein dreckiger, fetter Mann, der ein wenig wie ein Schwein aussah, beugte sich über ihn und schütte noch den Rest aus dem Kübel mit Seewasser über ihn. So hatte sein Leben als Schiffsjunge auf der Witch begonnen. Es dauerte nicht lange, bis er begriff, dass die Witch ein Piratenschiff war. Im Hafen gab man den etwas heruntergekommenen, erfolglosen Händler, aber kaum ausgelaufen, wurden 8 kleine Kanonen hervorgeholt und aufgestellt. Für Eric sahen sie lächerlich aus, zumindest im Gegensatz zu den metallenen Ungetümen auf dem Artilleriedeck der Farragut, aber sie waren der ganze Stolz der Piraten. Erstaunt musste er feststellen, dass die Piraten ganz anders waren, als er es sich immer vorgestellt hatte. Der Kapitän war nicht der absolute Herrscher über Leben und Tod wie auf seinem alten Schiff, sondern musste bei der Mannschaft nachfragen, wenn es um Ziel und Kurs ging und konnte der Mannschaft auch nicht alles vorschreiben. Langsam begriff er, dass der Kapitän gewählt war und jederzeit abgesetzt werden konnte wenn es der Mannschaft gefiel. Welche Folgen das für ihn haben sollte, wusste er anfangs nicht, sollte es aber bald begreifen. Und die Mannschaft war unzufrieden mit ihrem Anführer. Die letzte, recht magere Beute hatte man in Port Royal bei Huren und in Spelunken gelassen und auch früher schien das Schiff nicht besonders erfolgreich gewesen zu sein. Zwar sprach der Kapitän immer wieder davon, einen reichen Spanier zu entern, aber Eric fragte sich wie er das zu Stande bringen wollte. Auf der Witch gab es gerade mal 45 Mann Besatzung. Auf den spanischen Schatzschiffen 500 oder 600, davon ein paar Dutzend Soldaten. Zudem waren diese Schiffe schwer bewaffnet. Mindestens 60 Kanonen, oft auch noch mehr. Die Witch war dagegen ein schlechter Witz. Eric dachte erschrocken, dass er einem Wahnsinnigen in die Hände gefallen war.
Die Witch steuerte fort von Port Royal, hin zu jenen Gewässern in denen die Handelsschiffe unterwegs waren, um dort nach einer passenden Beute zu suchen. Die Tage zogen sich hin und wurden zu Wochen, in denen kein anderes Schiff zu sehen war. Diese Wochen wurden zu den Schlimmsten in seinem jungen Leben. Auf einem Kriegsschiff seiner Majestät herrschte strenge Disziplin und der Kapitän der Farragut war ein harter, aber gerechter Mann gewesen, dem die Mannschaft eine gehörige Portion Respekt entgegen gebracht hatte.
Auf der Witch gab es nichts dergleichen. Zudem erstaunte es Eric, wie bunt die Mannschaft zusammengewürfelt war. Es gab Engländer, Franzosen, Spanier, Holländer, Deutsche, Portugiesen und sogar zwei Mohren. Im Prinzip sollten alle Mannschaftsmitglieder gleich sein, aber da es an einer erfolgreichen Führung mangelte, herrschte das Recht des Stärkeren. Und Eric war in diesem Fall der Schwächste an Bord. Besonders ein Franzose nutzte dies schamlos aus. Nicht, dass es Eric neu gewesen wäre, dass Seeleute nach einiger Zeit auf hoher See keinen großen Unterschied mehr machten, ob es eine Frau oder ein Junge war, aber auf dem Linienschiff waren solche Gelüste brutal unterdrückt worden. Einmal hatte ein Matrose auf der Farragut versucht Hand an ihn zu legen. Ein Maat hatte das schlimmste noch verhindert, weil Eric geschrien hatte wie am Spieß. Der Matrose hatte diesen Versuch nur knapp überlebt und würde für immer entstellt sein, nachdem ihn der Kapitän mit 24 Peitschenhieben bestrafen ließ. Eric hatte sich stundenlang übergeben als dem Mann das Fleisch von den Rippen hing. Wochenlang hatte er kaum schlafen können, wegen der Gewissensbisse die er empfunden hatte. Immerhin war er ja schuld gewesen, dass der Mann so grausam bestraft worden war. Hätte er nur nicht geschrien ….
Brutale Strafen, Schläge und Anderes war Eric nicht fremd gewesen, aber dieser Vorfall hatte alles Vorstellbare bei Weitem überstiegen.

Auf der Witch war alles anders. Niemand kümmerte es, wenn Eric brutal vergewaltigt wurde. Den Kapitän auch nicht, denn selbst wenn er gewollt hätte hätte er nicht die Autorität gehabt einzugreifen. Immer und immer wieder verging sich der Franzose an ihm. Als Eric dachte es könnte nicht schlimmer werden, begann der Franzose ihn auch noch an andere zu „vermieten“. Eric wollte sterben, aber hatte dazu nicht den Mut. Nicht einmal stand er während der Nachtwache auf dem Schanzkleid am Vordeck und sah das verlockende Wasser unter ihm. Die weißschäumenden Wellen lockten ihn mit einem fast unwiderstehlichen Ruf, aber das letzte bisschen Mut, der allerletzte Anstoß hatte ihm immer wieder gefehlt. Dabei wäre es so einfach gewesen, sich ein Netz umzubinden, zwei oder drei der kleinen Kanonenkugeln hineinzulegen um sich dann einfach fallen zu lassen. Alles wäre vorbei gewesen und er hätte endlich Frieden gehabt.

Erice lag in der Bilge auf seiner alten, durchlöcherten Decke und wimmerte vor sich hin. Vor Schmerzen, vor Ekel auf sich selbst und seine Peiniger und aus reiner Verzweiflung. Er spürte, dass ihm wieder das Blut den Oberschenkel herabrann, wie so oft in letzter Zeit. Seine Welt bestand nur aus Schmerzen in verschiedener Stärke und Ausprägung. Er hatte sich das vorher nie vorstellen können.
Auch einmal hörte er auf Deck Rufe und Geschrei. Füße tapsten hin und her und wurden zunehmend hektischer. Dann wurde zum Gefecht gerufen. Anscheinend hatte man endlich Beute erspäht. Eric musste auch an Deck, sonst würde man ihn wieder verprügeln und nachher wieder ….

Der Ausguck hatte einen anderen Schoner erspäht, der vielleicht noch 6 Seemeilen voraus entfernt war. Der Kapitän stand am Bug, starrte durch ein Fernrohr und schrie dass die Mannschaft alles an Segeln setzen sollte, was da war. Die Witch glitt mit acht oder neun Knoten durchs Wasser, was so ziemlich die höchste Geschwindigkeit war, die sie erreichen konnte. Der andere Segler mochte mehr als nur ein wenig langsamer sein. Da der Wind nicht direkt von achtern kam, sondern von schräg Steuerbord, machte die Witch zwar gewaltig Fahrt, krängte ab auch heftig. Eric musste sich festhalten um nicht auf die Backordbordseite zu rutschen. Männer machten hektisch die kleinen, armseligen Kanonen bereit und bewaffneten sich mit allem an Waffen was sie finden konnten. Nach einer Stunde waren sie auf eine knappe Seemeile heran, da ließ der Kapitän die schwarze Flagge hissen, was von den Männern mit lautem Jubel und Gejohle begrüßt wurde. Der andere Segler wurde noch langsamer, was Eric stutzig machte. Eigentlich sollten die jetzt doch alles an Segeln hissen, was sie hatten um dem Piraten zu entkommen. Warum nahm der andere Kapitän jetzt auch noch Fahrt weg? Hoffte er auch Gnade? Welche ein dummer Gedanke wäre das gewesen!

Dann kam die Witch mit dem anderen Schoner gleich auf und in diesem Moment begann die Katastrophe. Sie waren vielleicht noch 100 Fuß entfernt, als sich bei dem anderen Schiff auf einmal 8 getarnte Stückpforten öffneten und sich die Läufe von Kanonen herausschoben. Nicht die lächerlichen 6- und 9 Pfünder wie bei der Witch sondern das waren mind. 18 Pfünder. Auf dem Vordeck des Feindes rissen Matrosen eine Decke weg, die dort gehangen war und darunter kam eine Karronade zum Vorschein. Eine jener tückischen Kanonen mit kurzem Lauf und gewaltigem Kaliber, die zwar keine große Reichweite hatten, aber auf kurze Entfernungen unglaublichen Schaden anrichten konnten. Der Spitzname lautete nicht umsonst „Schiffshammer“ oder „Schiffszertrümmerer“. Als er dann sah, das im Krähennest ein halbes Dutzend Männer aufstanden, die sich dort versteckt hatten, wurde ihm schlagartig bewusst, dass die eine Falle war aus der sie nicht entkommen konnten. Schreckerstarrt sah er, dass die Männer Musketen hatten und diese auch anlegten. Gebannt wartete er auf den einen Schuß, der sein Leben beenden würde. Stattdessen zerriss ein Blitz den frühabendlichen Himmel. Rauch quoll aus den Stückpforten des anderen Schiffes und nur einen Augenblick danach ertönte gewaltiger Lärm. Dann versank die Welt im Chaos. Der Mann, der neben ihm gestanden hatte verschwand einfach und blutiger Nebel war an seine Stelle getreten. Das Schiff schüttelte sich und wurde herumgeworfen, als würde ein Riese es in seinem Zorn durch die Gegend werfen. Ein großer Teil des Schanzkleides rechts von ihm löste sich in einer Wolke aus Splittern auf, die wie zornige Insekten herum schwirrten und dabei Piraten verletzten oder auf ein dutzend verschiedene, aber gleich grausame Weise töteten. Dem Hauptmast fehlte plötzlich einfach ein Stück Holz auf seiner ganzen Breite und das einige Fuß über dem Deck, so dass der obere Teil eine Sekunde lang in der Luft zu hängen schien und dann erst langsam herunterkrachte. Eric hatte längst den Halt verloren und lag auf Deck. Er hatte vor Angst und Schrecken die Augen fest zugepresst und wollte den Alptraum damit einfach aufsperren. Da hörte er ein Knarren und Krachen über sich und als er die Augen öffnete sah er das Hauptsegel, das noch an seiner Rah hing, auf sich herabstürzen. Er konnte sich gerade noch herumrollen, bevor er darunter begraben wurde.

Dann sah er den Franzosen, der mit irrem Blick auf Deck stand. Wie er noch stehen konnte, war Eric ein Rätsel. Der Franzose schrie unzusammenhängendes Zeug und drohte mit seinem Säbel in alle Richtungen. Eric wollte aufspringen und vor Panik davonlaufen. Doch hatte er auf einmal etwas Weiches, Feuchtes unter seiner rechten Hand. Als er nach unten sah, war es eine andere Hand. Die eine Pistole umklammert hielt. Daran war noch ein Unterarm und ein Oberarm – sonst nichts mehr. Die Panik war augenblicklich vorüber und machte eiskalter Ruhe Platz. Er entwand die Pistole der toten Hand, legte an und schoss. Es knallte fürchterlich und der Kopf des Franzosen wurde nach hinten gerissen. Der Körper stand noch ein, zwei Sekunden, bevor er zusammensackte, als wären alle Knochen entfernt worden. Inmitten des Chaos stand Eric da und begann zu weinen. Er lachte und weinte gleichzeitig. Am Rande des Wahnsinns begann er laut und lauter zu lachen. Er lachte als der Kapitän auf ihn zustürzte und dessen Oberkörper von einer Kanonenkugel getroffen wurde und zerplatzte. Er lachte als dem Maat mit einem Splitter im Kopf zusammensank, er lachte als dem Koch eine Kartätsche beide Arme wegriss und dieser in unmöglich hoher Tonlage kreischend ins Meer stürzte, er lachte als dem zweiten Schiffsjungen ein Holzsplitter durch den Unterleib drang und ihn auf das Deck nagelte. Die Gedärme ergossen sich auf das Deck und der Junge versuchte sie mit fahrigen Händen und glasigen Augen wieder in den Leib zurückzustopfen. Da traf ihn eine Musketen Kugel und schoß ihm den halben Kopf weg. Er lachte als ein blutiges Bündel vor seine Füße rutschte und nur mit Mühe als menschlicher Torso ohne Arme, ohne Kopf und nur einem Bein erkennbar war.
Eric lachte und lachte und sah die Ketten-Kugel nicht kommen, die ihn vom Deck riss und weit auf das Meer hinaustrug.
Der Treffer hatte ihm das Rückgrat gebrochen und die Rippen tief in die Lungen getrieben. Aber erspürte nichts. Auf einmal war nur Friede in ihm. Über sich sah er die Sonne ins Wasser scheinen. Er war von den blauenweißen Lichtspielen über ihm gebannt und fasziniert, als er tiefer und tiefer sank. Er lächelte ein letztes Mal, als sich seine Gedanken langsam auflösten - Stück für Stück. Immer größere Dunkelheit umfing ihn, die tiefer Finsternis wich.
Eric hatte endlich seinen Frieden gefunden, den er sich so sehr gewünscht hatte.

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Tag der Veröffentlichung: 24.09.2010

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