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Blut am Kinn, an der tastenden Hand: obszönes, brennendes Rot. Ein Blutstrahl schießt die Luftröhre empor, füllt die Mundhöhle, stürzt ins weiße Becken. Es platscht, spritzt, infiziert die Kacheln mit Pocken, mit rinnenden, gerinnenden Fäden aus schreiendem Rot. Dazu Stöhnen, Röcheln, Würgen. Laute, die in mich eindringen wie durch wachsverstopfte Ohren. Aber sie kommen von mir, aus meiner eigenen Kehle, in der es gurgelt wie in einem Ausguss. Verdutzt stehe ich im gelbstichigen Lampenlicht um drei Uhr morgens im Badezimmer der Wohnung meiner Eltern in der Reichsbahnstraße. Was zum Teufel ist das? Dieses ätzende, höhnische Blut dort unter mir im weißen Porzellanbecken, das ich schwallweise ausspucke, das in meiner Kehle immerzu nachquillt, mir die Atemwege verstopft, mich würgend nach Luft ringen lässt? Kein Zweifel: hier grüßt dich dein Inneres. Ein Blutsturz. Rohrbruch. Ich kotze Blut. Ein Mundvoll nach dem anderen klatscht ins Klobecken, das aussieht wie eine Schlachtschüssel.
Im Spiegel eine Dämonenfratze: ein rot umschmierter Mund, wie von einem Irren mit Lippenstift bemalt. Ich wische, tappe Spuren einer Metzgerhand auf das Quecksilber, das Porzellan. Meine Knie beben. Aus meinem Mundwinkel läuft, als dürres Rinnsal, weiter der Lebenssaft. Mein Atem rasselt. Es juckt im Hals. Hustenreiz, unwiderstehlich. Ein Huster sprenkelt den Spiegel mit rotem Sprühregen. Ich denke. „Das ist das Ende.“ Die Sterbestunde. Da stehst du und siehst zwei entsetzte Augen, die dich aus roten Rasterpunkten anstarren.
Dabei gab es in meiner Familie doch weiß Gott genug Kandidaten für den vorzeitigen Abgang. Und nun war ausgerechnet ich als Erster an der Reihe!
Ich spucke nun nicht mehr, sondern schlucke. Aus der Luft- in die Speiseröhre: ein Notkreislauf. Ich will gehen, muss mich halten: blutige Handabdrücke überall. Wanke, rotweiß im Gesicht, durch den Korridor, frage mich, was tun? Im Wohnzimmer auf dem Sofa pennt steintief der besoffene Alte. Von dem ist nichts zu erwarten. Also ins Schlafzimmer. Licht an. Jäh sitzt sie aufrecht im Bett. Meine Mutter.
„Ruf einen Krankenwagen!“, sage ich.
Sie begreift nicht. Sie starrt mich an. Glaubt sich in einen Alptraum hinein erwacht. Hat ja nicht ganz Unrecht. Wahrscheinlich sehe ich wirklich aus wie eine Nachtmahrgestalt. Ein Dämon nach einer Blutorgie. Ein nackter Vampir nach einem Festmahl. Das Kinn triefend, der Torso beschmiert. „Ich verrecke“, sage ich und taumele in mein Zimmer.


So kam ich nun also endlich weg aus der Reichsbahnstraße: mit den Füßen voran. Zwei Rettungssanitäter schnallten mich nach einer endlosen Wartezeit auf einer Trage fest, nachdem ein Notarzt mir eine blutstillende Spritze gegeben hatte, und trugen mich aus dem Haus, obwohl ich gut auf eigenen Füßen hätte stehen und gehen können, denn ich war schon zuvor, nachdem ich mich angezogen hatte, indes meine Mutter, wie immer, nur hilflos und inkompetent dabei gestanden und die Hände gerungen hatte, wie sie immer nur dastand und die Hände rang, zeitlebens hilflos und inkompetent, zu keinerlei Hilfe, überhaupt zu keiner vernünftigen Handlung fähig, während sie also nichts tat als dazustehen und zu jammern, vermutlich mehr über sich selbst als über ihren blutspuckenden Sohn, hatte ich mich zur Selbsthilfe entschlossen, da mir ja auch gar nichts anderes übrig blieb, war noch einmal ins Badezimmer zurück gegangen, hatte mich notdürftig gewaschen, war dann in mein Zimmer gegangen, hatte mich angezogen, auch nur das Nötigste, es war zum Glück Sommer, und war schließlich in die Nacht hinaus, es war inzwischen halb vier, zur nächsten Telefonzelle gegangen, denn wir hatten ja kein eigenes Telefon, um von dort aus einen Krankenwagen zu rufen. Nachdem ich dort die Notrufnummer gewählt, Namen und Adresse angegeben und meine Symptome geschildert hatte, nachdem ich also die Rettungssanitäter selbst verständigt hatte, war ich, hin und wieder Blut in den Rinnstein spuckend und immerzu fürchtend, es könnte mir schlecht werden und ich müsste all das hinuntergeschluckte Blut gegen eine Hauswand kotzen, oder gar in den Hausflur (Wer hätte das aufgewischt?) war ich zurück in unsere Wohnung gegangen, ein wenig schwindelig und wirr im Kopf, wo meine Mutter inzwischen im Bademantel in der Küche saß und vermutlich stumm ihr schlimmes Los beklagte, wie sie es schon so oft getan hatte, denn in der Küche zu sitzen und die Hände zu ringen, hilflos und tatenlos, und ihr Schicksal zu beklagen, mal stumm, mal wortreich, war geradezu ihre Spezialität. Nun aber war ich ihr an Schwierigkeiten eindeutig überlegen und konnte mich nicht um sie kümmern. Ich begann, ein paar Dinge zusammen zu packen, von denen ich glaubte, dass ich sie im Krankenhaus wahrscheinlich brauchen würde, denn ich würde ja wohl zunächst einmal ins Krankenhaus kommen. Ich dachte wirklich „zunächst einmal“, denn ich hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was mir bevorstand, wie viel Zeit ich letztendlich im Krankenhaus würde verbringen müssen. Ich lief in der Wohnung herum, holte aus dem Badezimmer, das immer noch wie ein Schlachthaus aussah, meine Zahnbürste, nahm auch ein Handtuch mit, einen Kamm, die Seife vergaß ich, ich wusste nicht, was man im Krankenhaus so alles braucht. Aus dem Kleiderschrank in meinem Zimmer nahm ich einen Schlafanzug. Das Blut, das während alldem immer noch, immer weiter in meiner Luftröhre aufstieg, wenn auch nicht mehr in so großen Mengen wie zuvor - ich lernte, den Blutfluss mit Hilfe einer gedrosselten Atmung zu regulieren, ihn möglichst gering zu halten - das Blut schluckte ich hinunter, was ich, wie ich später erfuhr, nicht hätte tun dürfen, da sich die Tuberkulose dadurch angeblich auch auf den Magen hätte ausbreiten können. In jener Nacht dachte ich nicht daran, was mit meinem Magen passieren könnte, hatte nur ständig Angst, er könnte sich umstülpen und ein Schwall Blut könnte mir aus dem Hals schießen, lief deswegen eine Zeitlang mit einem Eimer in der Hand herum, einem gelben Putzeimer aus Plastik, in den ich bei Bedarf gekotzt hätte, weil ich nicht alles mit meinem Blut versauen wollte. Seltsamerweise war ich mir ziemlich klar darüber, dass es die Tuberkulose war, die ich mir irgendwo, irgendwie „eingefangen“ hatte, obwohl ich bis dahin noch nie etwas mit dieser Krankheit zu tun gehabt hatte, denn sie, die einst die klassische Armuts- und Arbeiterkrankheit gewesen war, galt inzwischen als „besiegt“, als ausgestorben, und nun war ich es, in dem sie auferstand. Ich dachte: „Das ist die Tuberkulose, das ist Tbc“, während ich mit meinem Eimer durch die Wohnung lief und Sachen in meine Reisetasche stopfte, Unterwäsche und Socken, den Bademantel bekam ich nicht hinein, den würde man mir nachbringen müssen, aber ich ahnte nicht im Geringsten, was das bedeutete, was es hieß, ein Lungenkranker zu sein, die „Motten“ zu haben; ich wusste nicht, dass dies für lange Zeit meine letzte Nacht, meine letzte Stunde in der Reichsbahnstraße war; erst später sagte mir eine Ärztin, dass ich in jener Nacht in der ernsten Gefahr gewesen war, nicht nur aus der Reichsbahnstraße, sondern ganz und gar aus dem Leben befördert zu werden, denn trotz der „wackligen Knie“ und dem fortwährend durch meine Kehle aufsteigenden und Brechreiz auslösenden Blut empfand ich die Krankheit eher als eine Belästigung, einen unliebsamen, sogar ein wenig abenteuerlichen Zwischenfall, denn als eine Gefahr für mich und andere, als eine Bedrohung von Leib und Leben. Ich suchte also, dabei immer wieder an der hell erleuchteten Küche vorbei gehend, aus der ich mir, aus dem Schrank unter dem Spülstein, den Eimer geholt hatte, mit dem ich nun durch die Wohnung lief, ich packte also einarmig, wegen des Eimers, ziemlich planlos Dinge, die ich zu benötigen glaubte, in die Reisetasche, meine alte, hellbraune Reisetasche, die mich auf so vielen Reisen begleitet hatte, sah dabei immer wieder meine Mutter in der hellen Küche sitzen, die, anstatt mir zu helfen, die Hände rang und vermutlich stumm in sich hinein jammerte, ohne dass ich mich darum hätte kümmern können oder mögen, kam schließlich darauf, dass ich das Wichtigste vergessen hätte, nämlich Bücher, packte die Reisetasche also teilweise wieder aus, riss vor allem den Bademantel wieder heraus, den ich schließlich doch noch hineingezwängt hatte und der die Tasche nun vollständig verstopfte, um Bücher darin unterbringen zu können, suchte also Bücher aus den Regalen heraus, wobei ich mich ständig räusperte und Blut schluckte, und warf sie in die offen dastehende Reisetasche, bis ich schließlich glaubte, es wäre genug, da ich ja nicht mit einem monatelangen Aufenthalt im Krankenhaus rechnete, allenfalls mit zwei oder drei Wochen, und kramte danach auf meinem Schreibtisch herum, schob Manuskriptblätter, auch ein paar leere, in einen flachen Ordner, einen sogenannten Aktendeckel, und spitzte noch schnell ein paar Bleistifte, denn ich wollte im Krankenhaus nicht nur lesen, sondern auch schreiben, spuckte, während ich all dies tat, hin und wieder Blut in den Eimer, der innen schon ziemlich gesprenkelt aussah, und verbrachte so die Wartezeit, die mir, da ich allerhand zu tun hatte, durchaus nicht lang wurde, obwohl der Krankenwagen, wie mir dann später bewusst wurde, ziemlich lange auf sich warten ließ.

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Tag der Veröffentlichung: 14.10.2010

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