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„Letztlich“, sagte der Maler und stützte sich mit beiden Händen auf den Zaun, der die Besucher des Aussichtspunkts daran hindern sollte, zu nahe an die Abbruchkante zu treten und in den Abgrund zu stürzen. Er benutzte, wie ich inzwischen wusste, das Wort „letztlich“ gern, um einen Satz einzuleiten, mit dem er eine Unterhaltung oder auch nur ein bestimmtes Thema beenden wollte.
„Letztlich führt das Reisen uns zu uns zurück!“
Es war, als hätte er mir eine Ohrfeige versetzt. Er wusste, dass ich nichts so sehr hasste wie Sätze, in denen das Subjekt in der ersten Person Plural steht. Ich empfinde derartige Sätze als anmaßend und unverschämt, werfen sie doch quasi das Lasso aus nach dem arglosen Zuhörer und beziehen ihn ungefragt in ein „Wir“ mit ein, mit dem er im Grunde nichts zu tun haben will und auch nichts zu tun hat. Dieses „Wir“ oder „Uns“ versucht, über die Grammatik eine Gemeinschaft zu erzwingen, die nicht existiert. Meiner Meinung nach sollte niemand „wir“ sagen dürfen, sondern jeder immer nur „ich“. Die Einbeziehung eines anderen in ein „Wir“ hingegen stellt immer eine Frechheit, eine Dreistigkeit dar, wie sie sich allenfalls der Heilige Stuhl erlauben darf, bei dem der Plural nun allerdings wieder ein verkappter Singular ist.
„Uns?“, fragte ich daher, um die Anmaßung, in meinem Namen zu sprechen, immerhin in Frage zu stellen.
„Das ist von Camus“, sagte der Maler, als stelle dies eine passende Antwort dar.
Der Name „Camus“ rief bei mir auf der Stelle einen Anfall von heftiger Übelkeit hervor. Seit meiner Jugend, seit wir in der Schule „Der Fremde“ gelesen hatten, verachtete, ja hasste ich diesen Schriftsteller, dessen Bücher ich für vollkommen wertlos und unsinnig halte, und den ich ausschließlich dafür loben kann, dass er nur wenige, und noch dazu ziemlich kurze Bücher geschrieben hat. Mehr noch als seine Romane hasste ich allerdings die sogenannten philosophischen Werke, den „Mythos von Sisyphos“ und den „Menschen in der Revolte“, über deren Dummheit, Albernheit und leere Geschwätzigkeit man nur den Kopf schütteln kann! Wer mir gegenüber Camus zitiert, der wirft mir also sozusagen den Fehdehandschuh hin, das wusste der Maler sehr wohl.
„Unsinn“, sagte ich darum. „Eine Reise ist eine Ortsveränderung von ungewisser zeitlicher und räumlicher Ausdehnung, die jedoch ausreichend groß sein muss, um sie von einem ‚Weg‘ oder ‚Gang‘ oder einem Ausflug zu unterscheiden. Wobei ein Ausflug letztlich

auch schon eine kurze Reise darstellt. Der Reisende ist das Subjekt dieses Satzes, ebenso wie er das Subjekt der Handlung des Reisens ist. Dass er also durch das Reisen zu sich selbst zurückkehrt, ist ein logischer Unsinn, denn er nimmt sich ja notwendigerweise auf die Reise mit. Also kann ‚ich kehre zu mir zurück‘ kein wahrer Satz sein, insofern als ich mich ja gar nicht von mir selbst, sondern nur von einem Aufenthaltsort entfernt habe.“
„Ihre Logik in Ehren“, sagte der Maler, womit er natürlich, wie so oft, das Gegenteil meinte. (Er hasste Wittgenstein so wie ich Camus.) „Aber Camus meint das natürlich metaphorisch.“
„Sie wissen, dass mir von Metaphern übel wird“, sagte ich. „Und wenn die Metapher obendrein noch von dem notorischen Unsinns-Schriftsteller Camus stammt, dann wird mir gleich speiübel.“
„Er will sagen, dass wir uns nicht entfliehen können. Wir verändern nur den Ort, nie uns selbst.“
„Will er nicht eher sagen, dass wir uns bereits von uns entfernt hätten und das Reisen uns eine Möglichkeit bietet, wieder zu uns, also unserem wahren, ursprünglichen Ich, zurück zu kehren?“ Also, wie ich anzumerken unterließ, das genaue Gegenteil dessen, was der Maler behauptet hatte.
„Ich denke, er will auf die Sinnlosigkeit des Reisens hinweisen“, beharrte der Maler.
„Im Gegenteil“, erwiderte ich mit mühsam beherrschter Ungeduld. „Camus betrachtet das Reisen als eine Möglichkeit der Selbsterkenntnis, sieht darin also etwas Positives, den Gegensatz zur Routine und zur Erstarrung, worin wir notorisch verharren und uns unserem Selbst entfremden, um es philosophisch auszudrücken. Beachten Sie, dass der Satz, den ich im Übrigen weder mag noch für richtig halte, nicht das Wörtchen „nur“ enthält. Wäre es darin enthalten, würde sich der Sinn der Satzes allerdings umkehren.“
„Wie meinen Sie das?“
„Wenn es hieße: Reisen führt uns nur

zu uns selbst zurück“, erklärte ich. „Dann wäre damit der Wert des Reisens tatsächlich in Zweifel gezogen; es würde dem Reisen damit jeglicher Sinn abgesprochen außer dem der Bestätigung des Vorhandenen; es würde als rein affirmativer und damit sinnloser Prozess betrachtet.“
Der Maler vermittelte nicht den Eindruck, als ob er mein Argument verstanden hätte. Er stellte seinen rechten Fuß auf die untere Quersprosse des Geländers.
„Ich denke, der Wert des Reisens liegt im Vergleich des eigenen Ichs mit dem Fremden“, sagte er. „Dadurch werden wir uns unseres wahren Wesens inne.“
Mich schauderte. Wörter wie „inne werden“ verschaffen mir eine Gänsehaut, während ich bei Begriffen wie „wahres Wesen“ unweigerlich Schüttelfrost bekomme.
„Damit haben Sie sich letztlich meinem Argument angeschlossen“, sagte ich.
„Keineswegs!“, fuhr der Maler empört auf. „Sie behaupten doch, Camus wolle auf die Sinnlosigkeit des Reisens hinweisen!“
„Im Gegenteil. Das war Ihre These. Meine hingegen…“
„Sie versuchen wieder einmal, mir das Wort im Mund herumzudrehen!“, empörte sich der Maler. „Camus betrachtet das Reisen als eine Möglichkeit der Selbsterkenntnis.“
„Genau dies habe ich wörtlich so gesagt“, beharrte ich, innerlich vor Ärger kochend.
„Im Gegenteil! Sie haben Camus‘ Satz komplett fehlinterpretiert. Ihn fast in sein Gegenteil verkehrt.“
Ich knirschte mit den Zähnen und zitterte vor verhaltener Wut. Diese Kehrtwendungen bei unseren Gesprächen waren typisch für die Argumentationsweise des Malers, der sich, sobald er nicht umhin konnte, die Unsinnigkeit eines seiner Argumente einzusehen, nicht entblödete, dieses dem Gesprächspartner zu unterschieben und selbst sich das wahre, bessere anzueignen und als dasjenige auszugeben, das er schon immer und von Anfang an vertreten habe. Mit dieser Unverschämtheit hatte er mich schon mehr als einmal in ein Nervenbündel verwandelt.
„Ihre Interpretation“, fuhr der Maler mit einem selbstzufriedenen Lächeln fort, „wäre nur dann zutreffend, wenn der Satz das Wörtchen ‚nur‘ enthielte.“
Das war zuviel! Mit dieser Dreistigkeit, diesem schamlosen geistigen Diebstahl hatte er das Fass zum Überlaufen gebracht.
„Dieb!“, sagte ich.
Er schien mich nicht gehört zu haben. Er beugte sich über das Geländer, um einen Blick hinunter in den Abgrund zu werfen.
„Abscheulicher, ekelhafter, widerwärtiger Dieb und Wortverdreher!“
Grinste er womöglich noch breiter? Beugte er sich noch weiter über den Zaun? Genoss er es, mich aus der Fassung gebracht zu haben? Ich ahnte, dass er von vornherein geplant hatte, mich bis aufs Blut, bis zur inneren Raserei zu reizen. Hätte er sonst ausgerechnet Camus, den mir verhasstesten aller Schriftsteller, zitiert, um anschließend seine abscheulichen Wortverdreher-Kunststücke an mir auszuprobieren? Dieser perfide, infame…
Zum Glück war er ein sehr leichter Mann. Man musste kein Weltmeister im Gewichtheben sein, um ihn über den Zaun zu hieven, zumal er seinen Schwerpunkt bereits in einer für ihn sehr ungünstigen Weise verlagert hatte, indem er sich mittlerweile so weit vorgebeugt hatte, dass nur noch die Schuhspitzen den Boden berührten und er sich mit gestreckten Armen auf den Zaun stützte wie ein Reckturner auf die Stange. Man brauchte ihm nur noch einen kleinen, einen sehr leichten Stoß zu versetzen, um ihn zum Überkippen zu bringen. Ich spürte, wie es mich in den Fingern juckte. Die Stimme des Hasses in meinem Inneren zischte: „Tu’s!“
Es war unmöglich, der Versuchung zu widerstehen.


***

"Sehr geehrter Herr Richter,
ich beantrage zum wiederholten Male, augenblicklich in die Strafvollzugsanstalt für Normalgefangene zurückverlegt zu werden, da mir die durch Sie veranlasste Einweisung in eine Irrenanstalt als unzulässige Verschärfung meiner (als solche schon höchst ungerechten!) Haftstrafe erscheint!
Mit freundlichen Grüßen!"

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Tag der Veröffentlichung: 11.10.2010

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