Ich werde heute eine Riesendummheit begehen.
Oder vielleicht auch nicht.
Ich muss mich entscheiden.
Da ist dieses Mädchen. Jennifer.
Wir sind verabredet. Zum Segeln. Auf meinem Boot. Ich werde mit ihr zum Apartment meines Freundes Kai in der Marina „Seeblick“ fahren. Dort wird ein Feuer im Kamin brennen. Wir werden Musik hören, Wein trinken. Und dann ins Bett gehen.
Meine Frau glaubt, ich sei auf „Geschäftsreise“.
Natürlich ist das eine Schurkerei. Ein glatter Betrug. Ehebruch. Das weiß ich sehr wohl.
Ich sollte es eigentlich nicht tun.
Außerdem ist das Risiko hoch. Die Freundin meines Freundes ist eine gute Bekannte meiner Frau, und wenn sie erfährt, dass ich in dem Apartment war...
Das Ganze ist einfach Wahnsinn!
Und wenn ich es nicht tue?
Schließlich habe ich doch einen freien Willen, oder?
Ich kann sie treffen oder ich kann sie nicht treffen. Es liegt allein bei mir, wie ich mich entscheide. Wenn ich will, hebe ich jetzt den Hörer ab, wähle ihre Nummer, höre den munteren Spruch ihres Anrufbeantworters und sage mit fester Stimme: „Du, hör mal, ich glaube wir sollten unsere geplante Bootsfahrt besser stornieren, dabei kommt nichts Gutes heraus, ich habe das inzwischen eingesehen. Außerdem habe ich dich belogen. Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder.“
Das könnte ich tun. Wenn ich wollte. Es wäre vermutlich das Richtige. Also, warum tue ich es nicht?
Ich bin tatsächlich verheiratet. Ich liebe meine Frau. Ich habe ein schönes Heim. Meine Firma floriert. Ich habe sie, wie man so schön sagt, hochgebracht. Allerdings bin ich nur der Geschäftsführer. Mit einer Minderheits-Beteiligung. Die restlichen neunzig Prozent gehören teils der Bank, teils meinem Schwiegervater. Übrigens gehört auch mein Haus zum größten Teil noch der Bank. Und natürlich mein Segelboot.
Wenn mein Seitensprung aufflöge, wäre die Folge wohl nicht nur eine Ehekrise, dann bräche möglicherweise meine gesamte Existenz zusammen. Veruschka ist eifersüchtig wie eine Furie!
Und was steht dem Risiko eines Totalverlusts gegenüber? Worin besteht die Gewinn-Erwartung?
In einer Nacht mit einer schönen Frau.
Der Kosten-Nutzen-Effekt meines Vorhabens ist, wenn man es nüchtern durchrechnet, katastrophal. Der reine Irrsinn! Hormonal bedingter Denkausfall. Bei Nacht und nach drei Gläsern Wein kann einem eine Liebesnacht vielleicht als „nicht zu teuer mit dem Tod bezahlt“ erscheinen. Aber doch nicht am hellichten Tag, bei klarem Verstand, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte...
Zum Glück lässt sich der Irrtum noch korrigieren.
Ein Anruf, und die Sache ist erledigt...
Also gut, ich rufe an.
Ich rufe an!
Ich rufe an!!! Und! Sage! Ab!!
„Hallo. Ja, ich bin's. Du, ich wollte nur sagen, dass... ja, natürlich, es bleibt dabei, ich wollte nur sagen, dass... alles klar geht. Ich freue mich! Bis dann.“
Was war das denn?
War ich das eben am Telefon? Der, der absagen wollte?
Kaum höre ich ihre Stimme, da...
Irgendjemand hat mir das Wort im Mund rumgedreht!
Spinne ich? Bin ich nicht mehr Herr meines Willens?
Bin ich wirklich nicht in der Lage, auf einen Fick zu verzichten, wenn mein ganzes Leben davon abhängt?
Das gibt’s doch gar nicht!
Okay, ich schick 'ne Mail, mache alles rückgängig. Entschuldige mich. Vielleicht zum Trost ein Blumenstrauß von Fleurop.
Schließlich war sie doch nur eine Zufallsbekanntschaft.
Hm. Ne Mail ist vielleicht zu unpersönlich. Besser ne Karte. Handschriftlich.
Also. „Liebe Jennifer. Leider muss ich unseren kleinen Bootsausflug absagen. Es hat sich ein unerwarteter, dringender Geschäftstermin ergeben.“
Quatsch. Das glaubt sie mir nie. Sie wird total sauer sein und wenn ich das nächste Mal...
Das nächste Mal? He! Da wird es kein nächstes Mal geben! Du machst Schluss mit ihr! Sofort! Ein für alle Mal. Auf der Stelle!
Also, okay, ich schreibe. Nur die Absage. Ohne Begründung.
Fertig.
Na, Gott sei Dank.
„Helga, würden Sie bitte bei Fleurop anrufen und einen Strauß an diese Adresse hier schicken lassen. Dieses Kärtchen dazu. Wie teuer? Na, ungefähr zwanzig Euro. Danke.“
Mann, da fällt mir aber ein Stein vom...
Gerade nochmal die Kurve gekratzt.
„Helga! Äh, ich möchte doch lieber... Schicken Sie den Strauß ohne das Kärtchen, ja? Danke. Schmeißen Sie's in den Papierk... Ach nein, geben Sie's mir lieber zurück.“
Sollte besser nicht in falsche Hände... Ritsch, ratsch, weg damit! So.
Man soll ja nichts überstürzen. Keine unwiderruflichen Entscheidungen treffen.
Ent-Scheidungen. Wieso kommt mir dieses Wort plötzlich so merkwürdig vor, so... anzüglich?
Unsinn!
Seit wann bin ich ein Typ, der Risiken scheut?
Wer nicht wagt, gewinnt nicht. War das nicht immer mein Wahlspruch?
Gefahr ist die Würze des Lebens.
Warum habe ich mir eigentlich das Boot gekauft? Um immer nur allein rumzuschippern? Wo Veruschka doch schon in der Badewanne seekrank wird...
Verdammt, ich bin schließlich Geschäftsmann! So ein Boot muss sich auszahlen!
Also, ich werd's machen. Basta.
Ich habe mich entschieden. Keine Absage. Es bleibt dabei.
Wohlgemerkt, es geht nicht nur um einen Fick!
Es geht darum, dass ich selbst entscheide, was ich tun will und was nicht.
Und ich habe beschlossen, dass es dabei bleibt. Nach rationalen Kriterien. Nach meinem eigenen, freien Willen.
Schließlich bin ich immer noch Herr im Haus, oder?
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2010
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