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Man traut seinen Augen nicht: Der Pirat ist wieder da! Aber er hat, wie es scheint, das Rollenfach gewechselt. Aus dem ungewaschenen Räuberhauptmann zur See wird unversehens ein schmucker Märchenprinz zum Gebrauch im Mädchenzimmer. Die Mädels, so scheint es, haben sich unseren derben Kumpel geschnappt und wandeln ihn langsam um in ein Kuscheltier.
Aber, liebe Mädchen, da müssen wir doch protestieren! Der mit der Augenklappe, dem Holzbein, der Hakenhand und dem Entermesser zwischen den Zähnen – er gehört von Rechts wegen und von alters her uns! Der wilde Freibeuter, der Macho der sieben Meere war immer der stolze Inbegriff der Männerfreiheit, und darum gehört er in die männlichen (!) Abenteuer- und Fluchtphantasien, in die Jungensträume, die ohne ihn um einen Archetyp ärmer wären. Also lasst ihn in Ruhe, macht aus dem Banditen und Outlaw keinen Teddybären, streckt eure weichen Arme nach jemand anderem aus! Der rote Korsar darf nicht zwischen euren Puppen und Kuscheltieren versauern. Nehmt unseretwegen den traurigen Vampir mit der Beißhemmung. Aber der Anarchist auf der schnellen Fregatte muss der adrenalinpralle Unzähmbare bleiben, der er immer war. Er soll in Ewigkeit stinken, saufen und schänden und an keinen Rockzipfel gebunden sein. Er gehört auf die freie Wildbahn, nicht in den Streichelzoo!
Aber, ach, es ist ja längst zu spät. Die Wirklichkeit hat Käpt’n Hook eingeholt und ihm den Wind aus den Segeln genommen. In Wahrheit ist der Pirat ein Strauchdieb zur See im Schnellboot, mit einer Kalaschnikow unterm Arm, ein Schiffsentführer und Lösegelderpresser, der wehrlose Frachter in somalische Häfen schleppt und Seeleute als Geiseln nimmt, die ebenso arme Teufel sind wie er selbst. Der moderne maritime Wegelagerer taugt, schon wegen seiner Hautfarbe, nicht für unsere Phantasien von Freiheit und Abenteuer. Der Pirat, wie er nicht im Buche steht oder im Film umhergeistert, ist, wie wir in jeder „Tagesschau“ sehen können, ein kleiner, verzweifelter Gangster aus einem Hungergebiet, sozial entwurzelt, brutal aus Notwendigkeit, der gern wieder in einem Kutter hinausführe, hätten die Schleppnetze schwimmender Fischfabriken nicht sämtliche Fanggründe vor seiner Haustür zum toten Meer gemacht.
Nein, es ist nichts mit der Herrlichkeit von „Skull & Bones“. Der Jolly Roger ist ein alter Fetzen, der nur noch in Kostümfilmen Verwendung findet. Die Legende vom „wildromantischen Freibeuter“ zerschellt an der Wirklichkeit. Die Piraterie ist in den Händen einer Mafia, das maritime Lumpenpack in den kleinen Booten gehorcht einer Handvoll Warlords, die tunlichst an Land bleiben. Angesichts einer solchen für jedermann einsehbaren Realität hat die Renaissance der „Könige auf dem Meer“ etwas Unbegreifliches. Bisher glaubte man, die letzten Anhänger des Piratenkults säßen im Stadion von St. Pauli – und rollten auch dort allmählich ihre Fahnen ein. Aber anscheinend lassen sich immer noch erstaunlich viele Menschen (inzwischen überwiegend weiblichen Geschlechts) die Handlanger der weltweiten Entführungsindustrie als Freiheitshelden verkaufen. Es scheint, wir – das heißt unsere romantisch gestimmten Freundinnen - brauchen ihn noch als Traumfutter und Katalysator romantischer Gefühle. Darum darf der kriegsmüde Korsar nicht unbehelligt in seiner Gruft vermodern, sondern muss als geschminkter Leichnam antreten zum Minnedienst. Darum muss er sich wie zu Großväterzeiten als behänder Tarzan des Salzwassers am Seil übers Deck schwingen und wie ein Musketier im falschen Element mit dem Säbel fuchteln. Erinnert sich noch jemand an einen Beau namens Erroll Flynn? Er war zu seiner Zeit der „Pirat vom Dienst“, ein Akrobat mit Breitwandgrinsen und der Figur eines Reckturners, der zahllose Frauenherzen zum Schmelzen brachte. Das war - man höre und staune – zur Zeit unserer Großmütter!
Und nun kommen ihre Enkelinnen und sagen: „Bitte, das Ganze nochmal!“ Ja, fällt ihnen denn nichts Neues ein?
Nein. Für uns, die einstigen Fans der bärtigen Raubeine mit und ohne Kaperbrief, ist der gute, alte Seeräuber längst ein Museumstück, sein Kostüm ist albern, der Säbel ein Stück Altmetall. Augenklappe und Entermesser (aus Plastik!) sind allenfalls noch tauglich für Kostümfeste in der tiefsten Provinz. Wir haben den langweiligen Kerl längst aus dem Jungenzimmer ausquartiert! Wir Möchtegern-Machos halten uns an die zeitgemäßen Gestalten aus Pixel und Byte, an die Zerstörer und Vertilger aus der virtuellen Parallelwelt, die blutigen Söldner und Barbaren aus den Ballerspielen. Und jetzt sehen wir plötzlich den Kerl mit der verschlissenen Kapitänsuniform in den Zimmern unserer Schwestern und (künftigen) Freundinnen sitzen! Hat man Töne?
Nein, Mädels, wir beneiden euch nicht um unseren ausrangierten Plunder, den ihr euch geschnappt habt. Nehmt ihn nur hin, den klapprigen Käpt’n Hook! Schminkt ihn euch auf jung, verpasst ihm einen seelenvollen Blick und eine Schmeichelstimme, passt ihn euren Bedürfnissen an. Ihr braucht ja wohl ständig einen Romeo? Ja, ladet ihn nur ein in eure romantischen Luftschlösser. (Und macht aus dem Sturmvogel ein Turteltäubchen.) Aber denkt daran: Ihr nährt euch von Restbeständen. Der Pirat ist ein Auslaufmodell, hoffnungslos gestrig , abgenutzt wie ein altes Kuscheltier, kurz: Zum Gähnen. Playmobil statt Playstation. Eigentlich seid ihr ja schon zu alt für sowas.
Wir, eure Männer von Morgen, sehen mit Verwunderung, wie ausdauernd ihr mit Gespenstern kuschelt. Sind wir euch denn nicht gut genug? Muss es ein Vampir mit Schlafzimmerblick sein? Und nun zerrt ihr auch noch eine karibische Mumie aus dem Totenreich! Das verstehe, wer will. Wir sind, offen gesagt, ein bisschen konsterniert.
Aber wir sehen es auch mit Gelassenheit, denn wir wissen ja: das alles ist nur vorübergehend, nur eine Pubertäts-Episode, ein harmloses Vorspiel. Ihr werdet eure Märchenprinzen aus dem Luftschloss ohne Bedauern beiseitelegen, ihnen mit einem Achselzucken den Laufpass geben wie dem Teddy oder der Barbie, wenn eines Tages einer von uns in der Tür steht, ohne Säbel und Augenklappe (oder monströsem Beißwerkzeug), dafür aber aus Fleisch und Blut. Dann landen all die Surrogate mit längst abgelaufenem Verfallsdatum, all die Popanze aus der Mottenkiste, die verschlissenen Helden aus Altmaterial dort, wo sie hingehören: Im Nebel der Vergangenheit. Darauf können wir in Ruhe warten. Bis dahin, ihr Lieben, ihr Schönen: Träumt süß!
Lange wird es ja nicht dauern.

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Tag der Veröffentlichung: 22.09.2010

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