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Einmal Leben bitte.

Kapitel 1

Er hasste sich. Jeden Zentimeter seines Körpers. Der morgendliche Blick in den Spiegel war ihm ein Graus. Jeden Tag dasselbe Spiel, aufwachen, Augen öffnen, in Richtung Bad schlürfen, Spiegel – Augen schließen, bloß keinen Blick riskieren, denn das würde ihn nur wieder in Rage bringen obwohl er wusste was er sehen würde. Waschen, Zähne putzen und, es war schon wieder fällig, rasieren. Jetzt musste er die Augen öffnen, blieb ihm nichts anderes übrig, sein Job zwang ihn gepflegt auszusehen. Fertig, der obligatorische Blick auf die Uhr. 7.45 Uhr, Zeit fürs Frühstück. Jetzt hieß es den Blick vom Spiegel und den Geist von den Gedanken losreißen.
Ein Blick durch seine schöne geräumige Wohnung verriet einiges über ihn. Wohin man sah war feinstes Teakholz. Schränke, Möbel, selbst der Boden waren aus diesem Material. Ein riesengroßer Plasmabildschirm zierte die Wand gegenüber seinem Sitzplatz am Küchentresen. Der Kühlschrank verriet dass hier keine Frau lebte und es auch in absehbarer Zeit nicht tun würde. Brauchte er auch nicht, eh alles lügende, selbstverliebte Mistviecher, oft genug erlebt und immer wieder in die Falle getappt. Müde durchs Programm zappend, der erneute Blick auf die Uhr, 7.48 Uhr. Die Zeit verging zu langsam, noch genug Zeit um rumzusitzen und nachzudenken, dennoch auch viel zu schnell. Viel zu wenig Zeit bis er sich unter die ihm verhassten Geschöpfe begeben musste. Menschen, sie sind überall, er konnte ihnen nicht entfliehen so sehr er auch wollte. Er verachtete sie und doch brauchte er sie. Sie sorgten dafür dass er in seiner großen Wohnung vor dem Flatscreen in der Küche oder vor dem noch größeren im Wohnzimmer, auf seiner Wildledercouch sitzen konnte während er die Bilder anstarrte, unfähig ihnen auch nur das geringste abzugewinnen. Eigentlich brauchte er diesen Quatsch nicht, er bewegte sich sowieso immer in seiner eigenen Welt. Die Welt die ihm allein gehörte, die er keinem zeigte. Warum auch? Interessierte doch eh keinen. Sie waren alle nur mit sich beschäftigt, unterwegs wer weiß wohin.
Er auch, musste er ja, er gab sich immernoch den gesellschaftlichen Zwängen hin wie man es von ihm erwartete. Schließlich war er Direktor einer großen Bank, mitten in der Hauptstadt. Er stieg in seinen protzigen Wagen, und wieder der gesellschaftliche Standard, und begab sich auf Arbeit. Immerhin fing sein Tag Punkt neun an und die Straßen waren sowieso überfüllt. Voll mit Lämmern und Schafen auf dem Weg zu ihrem Schäfer oder zu ihrem Wolf (in diesem Fall ihm), um sich glücklich blökend ihres Futters zu entledigen dass sie sich vom Schäfer hatten geben lassen. 8.55 Uhr.
Die Schiebetür vor ihm öffnete sich geräuschlos und schon sprang ihm der erste Speichellecker in den Weg, darauf wartend dass er die Hose runterlies, damit ihm tief in den Hintern gekrochen werden konnte. Heute nicht, er musste sich heute immerhin im Spiegel betrachten, da wollte er von diesem Kriecher kein Wort hören. Er bedeutete seinem Gegenüber zu schweigen und ihm aus dem Weg zu gehen, damit er selbigen fortsetzen konnte, in sein stilvoll eingerichtetes Büro, voller teurer Geschmacklosigkeiten. Seine nymphomanische Sekretärin brachte ihm den Tagesplan, schon ihren Rock hebend und auf eine Gehaltserhöhung hoffend, die er sich doch nie von ihr abpressen lassen würde, denn ihr widerliches Verhalten, welches doch so bezeichnend war für die Rasse derer er sich schämte anzugehören, lies ihn kalt.
Ihn lies tatsächlich so ziemlich alles kalt. Für heute waren drei Treffen mit ganz besonders wollenen Schafen angedacht und der Vorstand am Telefon erinnerte ihn noch einmal eindrücklich seine große Schermaschine anzustöpseln. Er liebte diese Metapher, denn sie lenkte ihn von seiner eigenen zerfressenen Existenz ab und gab ihm das Gefühl von Macht dem auch er, denn immerhin war er biologisch gesehen auch ein Mensch, nicht widerstehen konnte. Der große böse Wolf der die armen Schafe um ihre Wolle erleichterte, und manchmal auch um ihr Fleisch. Es gab immer wieder Abschiedsbriefe mit dem Namen und der Adresse seiner Bank in den ersten paar Zeilen. Für ihn waren sie wie die Comics in der Zeitung, belustigend und abwechslungsreich, man las sie einfach gern.
Heute war wieder einer in der Post, komischerweise bekam er einige vorab per Brief, wahrscheinlich um ihn zu ärgern, denn er musste diese, sobald der Fall bekannt war, an die Polizei weiterleiten. Ihn ärgerte das nicht im geringsten, nein, er fand es lustig wie bestürzt die Bullen auf seine Gleichgültigkeit reagierten. Scheißegal, der erste Kunde kam.
Es erstaunte ihn immer wieder wie einfach es war. Alle drei heute kamen schon nackt, mit all ihrer Wolle in der Hand. Der Vorstand würde zufrieden sein, also musste er das auch tun, oder es zumindest glaubhaft vorspielen, denn heute Abend musste er zum monatlichen Report antreten. Er hasste es, hasste es wie sie selbstgefällig und fett wie Maden um ihren Tisch saßen und ihn musterten als sei er ein Stück Fallobst, nur darauf wartend das sich dieses Getier in ihm einnistete. So nicht, dachte er und spulte seinen Bericht runter. Man konnte die Enttäuschung förmlich aus ihren Gesichtern rinnen sehen als er abgeschlossen hatte. Wieder konnten sie sich nicht in ihm einnisten und ihn langsam verdauen. Er lachte, zwar nur in sich hinein aber er lachte, wie jeden Monat, denn er wusste genau worauf sie aus waren, diese fetten, hässlichen, verabscheuungswürdigen Geschöpfe, doch diese Genugtuung würde er ihnen nicht geben, genau wie vorher auch nicht.
Endlich war dieser Mist vorbei und er konnte nach Hause gehen. Er freute sich zwar nicht doch ersehnte er die Einsamkeit, auch wenn er die Gedanken verfluchte die dann kamen. Sie waren alt, fast so alt wie seine Erinnerungen zurückreichten, doch kamen sie jeden Tag aufs neue, frisch als existierten sie erst seit dem Moment in dem sie im in den Kopf schossen. Doch das waren sie nicht, das war nur ihre Tarnung, ihre Art von Humor. Der einzige Trost der sich ihm bot, war sein Bett. Groß genug um eine Orgie darin zu feiern, doch klein genug dass die Gedanken keinen Platz fanden und davor stehen blieben, während er traumlos schlief, darauf wartend dass er sich erheben würde, allein, und ihnen alle Türen öffnete.

Kapitel 2

Während sie so in ihrer Gasse saß schossen ihr mal wieder eine Million Gedanken durch den Kopf:„Verdammte Wichser. Ein bisschen Hasch, ein bisschen Koks oder was auch immer sie sich verabreichen um „glücklich“ zu sein. Das holen sie sich von mir und lassen mich wieder hier stehen. In meiner scheiß Gasse an diesem scheiß Tag mit dieser scheiß Sonne. Immerhin ist es meine scheiß Gasse und keiner bleibt länger als er muss oder als ich ihn ertragen kann. Das wissen sie, antraben, warten, Geld abgeben, Zeug nehmen, verpissen. Hat auch lange genug gedauert bis es der letzte kapiert hat. Hatte keinen Bock drauf, aber die flüssige rote Deko musste ich meiner Gasse verpassen. Keinen Plan haben sie, elendes Pack, selbstherrlich, ungerecht, verständnislos UND hoffnungslos, wie ich, sie wissens bloß noch nicht. Wollen aus ihren Träumen nicht aufwachen, schwachsinnige Illusionäre, wie ich sie hasse. Kopfhörer auf, Musik an, Vergessen in Tütenform inhalieren, Gedanken rausblasen. Gitarren schreien mich an und Bass und Drums liefern sich einen Wettstreit um meine Herzfrequenz. Jeden Tag sehe ich diesen Abschaum, machtgeil, korrupt, haben sie doch keine Ahnung dass es keine Zukunft gibt und sie durch puren Zufall jeden Morgen aus ihrem Grab aufstehen dass sie sich selber schaufeln. Ich stehe schon gar nicht mehr auf, ich bleibe in meinem Grab, da ende ich eh, warum weite Wege gehen?“

Kapitel 3

Dieses widerwärtige Geräusch, monoton, wie das Piepen einer Zeitbombe die man aus Filmen kennt und sich auch ihm gegenüber genauso verhaltend, weckte ihn abrupt aus seinem, wem auch immer sei Dank, traumlosen Schlaf. Und es war wie im Film, das Piepen endete und es gab eine Explosion. In seinem Fall fand selbige nur in seinem Kopf statt, richtete dafür aber nur marginal weniger Schaden an, wie er fand. Er war noch keine zwei Sekunden wach und die Gedanken kehrten zurück, bohrend, nagend, wie Käfer in seiner Großhirnrinde und er fragte sich zum mittlerweile 2,7 milliardsten mal, wieso. Wieso er, wieso die Gedanken, wieso jeden verdammten Tag, wieso jede verdammte wache Sekunde? Das half natürlich kein bisschen sondern goss nur zusätzlich Öl in sein inneres Feuer, das er, nie im Stande war zu löschen. Es nützte nichts sich diese Fragen zu stellen, denn alles was sie bewirkten waren nicht etwa Antworten oder Klarheit, sondern eine weitere Verwirbelung des Inhalts, welcher seinen Geist ohnehin schon bis zum Bersten füllte. Er zwang sich zu seinem allmorgendlichen Ritual: „aufwachen, Augen öffnen, in Richtung Bad schlürfen, Spiegel – Augen schließen, bloß keinen Blick riskieren“. Heute hatte er Glück, die evolutionären Abfallprodukte, die sich, tot, aber dennoch wild wuchernd in seinem Gesicht auszubreiten suchten, bedurften keiner weiteren Behandlung. Er konnte sich also, trotz allem in seiner eigenen Welt befindlich, der Glotze zuwenden und die aktuellen Meldungen des Morgens bei seinem Frühstück ignorieren.
Wie immer kämpfte er mit seiner schizophrenen Wahrnehmung der Zeit, während er sich innerlich bereits zwang sich auf den Tag, der wie eine schleimige Masse die es zu durchschreiten galt um sich wieder der erfüllenden Leere seines Schlafes hinzugeben, vor ihm lag, vorzubereiten.
Das verdammte Auto war kaputt. Er fluchte lauthals und konnte von Glück reden dass alle Kinder in der Nachbarschaft bereits von ihren schwerst beschäftigten Eltern in staatliche oder private Institutionen abgeschoben oder mit viel zu viel Spielzeug und einer unfähigen, unterbezahlten, ausländischen Billigarbeitskraft, schlicht als Au-Pair bezeichnet, zum dahinvegetieren zurückgelassen worden waren. Sonst hätte er es wohl, Frankensteins Monster gleich, mit einem Mob wütender Eltern mit modernen Fackeln und modernen Mistgabeln, in diesem Fall Digicams und Mobiltelefonen, zu tun gehabt, die um jeden Preis politisch korrekt und absolut sauber geleckt, abgesehen von den braunen Ringen um ihre Hälse, alles daran setzen würden, ihre Kinder vor solch ungebührlichen Auswüchsen ihrer schönen Sprache zu schützen. Nur damit sie sie danach in aller Ruhe weiter ignorieren und sich der Selbstverwirklichung widmen konnten, auf die sie alle und er wusste, ausnahmslos ALLE, abfuhren. Das war auch der einzige Grund, weswegen er froh war das die abscheuliche, laute, um Aufmerksamkeit bettelnde Brut nicht da war. Er hasste Kinder, aber noch mehr hasste er die Heuchelei, die Eltern an den Tag legten sobald ihre widerlichen Orks in der Nähe waren. Das ersparte ihm Zeit und Ärger.
Okay die Karre war im Eimer, nichts zu machen. Er tätigte einen Anruf auf den er nach dem gestrigen Tag absolut keine Lust hatte, um den er aber nunmal nicht herum kam. Nachdem das jetzt geklärt war, gesellte sich eine Frage in den Strudel seiner Gedanken, die klarer leuchtete als alles andere und die eine Antwort verlangte, die er ausnahmsweise zu geben in der Lage war. „Nehme ich die überfüllten öffentlichen Verkehrsmittel und begebe mich unter all die Schafe deren Wolle ich heute wieder an mich nehmen werde, nachdem sie so schön gewachsen war, und verschaffe mir einen Eindruck, der über den Rand ihres Käfigs in meinem geschmacklosen Verschlag hinaus geht? Oder benutze ich meine Füße zur Abwechslung mal nicht nur zum kuppeln und Gas geben?“ Die Antwort fiel ihm schwerer als man auf den ersten Blick denken konnte, denn einerseits war er unglaublich bequem geworden, über den gesellschaftlichen Zwang hinaus, und reihte sich somit bei den Geschöpfen die er am meisten verachtete und deren Gesellschaft er a) nicht näher als 1,5 Meter um sich spüren wollte und b) deren Verhalten und Gelaber ihn zutiefst anekelte, ein. Am Ende siegte die Verachtung und er fing an seine Füße zu benutzen wie früher. Um eine längere Strecke als von seiner Sitzgelegenheit zu seinem Wagen und danach zu einer anderen Sitzgelegenheit zurückzulegen.
Er verfügte zu seinem Glück, oder auch Pech, das war eine Sache der Zeitwahrnehmung und in seinem Falle ein bisschen von beidem, über ein gutes Gedächtnis, welches dafür sorgte dass er Abkürzungen kannte die ihn schneller an sein Ziel brachten und somit den Vorteil öffentlicher Verkehrsmittel zunichte machten. Diese Abkürzungen führten ihn zwangsweise durch einige (wie er dachte menschenleere Gassen und Nebenstraßen, in denen es nichts gab außer ein paar Ratten, anderem Ungeziefer und graffitiverzierten Türen und Wänden. Gut die paar Junkies, die ohnehin keiner eines Blickes würdigte, da sie sich in ihrer eigenen, durch Drogen geschaffenen Realität (er war sich nicht sicher ob man das so nennen konnte) befanden, waren auch ihm egal, auch wenn ihm ihr Anblick eine Frage in den Kopf hämmerte deren Antwort er sich beinahe ersehnte: „Wäre eine eigene Welt die ich mir durch Drogen schaffe, eine glückliche oder zumindest glücklichere als die in der ich jetzt wandle?“
Während er noch über die Antwort nachgrübelte, schweifte sein Blick weiter durch die, komischerweise menschenleere, Gasse in der er sich jetzt befand und er sah etwas merkwürdiges. Wie aus dem nichts trafen seine trüben, grauen Augen ein paar durchdringende, eisblaue Augen, in denen er einen Kampf von Licht und Schatten wahrnehmen konnte den er so nur von sich selbst kannte, als er noch jünger war und den Krieg mit seinen Gedanken noch nicht als verloren gewertet hatte und er war fasziniert. Er starrte Stunden in diese Augen (so kam es ihm wenigstens vor) und entdeckte dabei etwas erstaunliches. Diese Augen, dieser Prototyp eines Augenpaares der niemals in Serienproduktion gehen würde, blickte nun genauso fasziniert in seine Augen, an denen er nichts faszinierendes fand denn sie waren seiner Meinung nach tot und leer.
Mehr und mehr Gedanken schossen ihm durch den Kopf und führten zu einem immer schlimmer werdenden Strudel, nun einer riesigen Wasserhose in seinem Gedankenmeer gleichend, bis ihn unsanft die Stimme die zu den Augen gehörte darauf hinwies, dass er hier nichts zu suchen habe und sich VERDAMMT NOCHMAL ZU VERPISSEN HABE. Irritiert, in keinster Weise von der Aussage die ihn hart wie Stahl aber doch tief unter der eigentlichen Stimmlage, in einer anderen verpackt, hoffnungslos und unerwartet sanft, traf, verschwand er aus dieser Gasse und setzte seinen Weg fort um die Ereignisse des Tages, fernab von diesen Augen die ihn über alle Maßen faszinierten, verwirrten und in ihren Bann zogen, zu ignorieren.

Kapitel 4

Sie hatte ihm klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass er hier nichts verloren hatte, soviel war sicher, aber mehr noch als alles andere fragte sie sich, wer dieser Kerl eigentlich war. Genau, wer war der Typ, wo kam der her und was zur Hölle hat der gerade gemacht? Diese Gedanken schossen ihr durch den Kopf, mehr noch, warum hatte er wie hypnotisiert in ihre Augen gestarrt, aber am allerwichtigsten, WARUM HATTE SIE SO FASZINIERT IN SEINE AUGEN GESTARRT? Allein das bereitete ihr Kopfzerbrechen, denn immerhin war sie die Herrin in ihrer scheiß Gasse, niemand sonst, und dann kommt dieser Kerl und verwirrt sie, indem er sie einfach nur anstarrte wie ein zurückgebliebener 10-jähriger. Das war inakzeptabel, sie hatte alle in ihrer Gewalt die in diese Gasse kamen, ausnahmslos alle, die Reichen versnobbten Wichser genauso wie die armen Penner die ihr hart erbetteltes Geld bei ihr ließen um sich irgendwelche Scheiße durch die Blutbahn zu jagen. Der Tag hatte noch nicht mal angefangen und schon war er im Arsch. Und alles nur wegen ein paar leeren grauen Augen, in denen sie eigentlich nicht mehr sah, als die Hoffnungslosigkeit mit der sie sich schon seit Jahren arrangiert hatte und doch, unter der milchigen Fassade war noch etwas, etwas anderes, dunkleres mit unglaublich viel Licht darin, wie ein Laserpointer an einer pechschwarzen Wand, in einer Nacht ohne Mond und ohne Sterne. Allein das war ihr unbegreiflich, wie konnte das sein? Sie kannte ihn nur zu gut, den Ausdruck von Hoffnungslosigkeit der sich tief in die Augen einkerbte und alle anderen Ausdrücke unter sich begrub, das Verlangen irgendetwas zu finden was Hoffnung gibt, das Verlangen nach weltlichen Gütern, generell jedes Verlangen, vor allem das Verlangen nach menschlicher Gesellschaft und daraus resultierender Geborgenheit, von einigen fälschlicherweise als Liebe bezeichnet, die Mutter aller Illusionen derer die sich nicht mit der hoffnungslosen und leeren Realität abfinden konnten. Sie kannte sich zu gut und wusste auch zu gut über die Realität Bescheid als dass sie sich einer solchen Illusion hingeben würde, der Faszination konnte aber auch sei nicht widerstehen, und so hatte sich dieser Typ in ihren Geist eingekerbt und ihre Gedankenfestung fast widerstandslos erstürmt. Wie ging sowas? Und wer zur Hölle und bei Satan dem nichtexistenten, war dieser Typ? Immer wieder die gleichen Fragen auf die sie sich mit Hilfe ihrer Logik versuchte eine Antwort zu basteln. Sie erinnerte sich dass er in einem feinen Anzug daherkam, musste also ein hohes Tier irgendwo sein. Solche kannte sie auch zur Genüge, Bankdirektoren, Politiker, sogar lokale „Schauspielgrößen“ die von sich dachten sie wären millionenschwere Teile des Hollywoodinventars, was natürlich nicht mal ansatzweise stimmte, wie gesagt bei den Frackträgern war alles dabei was man sich wünschen konnte, trotzdem schien er nicht dazuzugehören, also was wollte der in ihrer Gasse? Sie konnte sich keinen Reim drauf machen, lag die Gasse doch abseits allen gesellschaftlichen Lebens und die, die hier her kamen wussten warum und waren schnell genug wieder weg. Das alles verärgerte sie, aus dem einfachen Grund dass es sie immer ärgerte wenn sie verwirrt war, legte ihr ihre Logik nicht jedes mal die Antworten parat die sie brauchte und mit denen sie jede Diskussion für sich gewinnen und sofort beenden konnte, ganz nach ihrem eigenen Geschmack. Jetzt hatte sie echt keinen Bock mehr auf ihr Tagesgeschäft und zog sich in den vernagelten Hintereingang eines verlassenen Lagerhauses zurück. Ihr Refugium, ihr Reich, ihr Heiligtum, ein Ort von dem keiner wusste, den sie alle vergessen hatten und für den sie töten würde. Der erste der hier unerlaubt reinkam, also jeder verdammte Mensch auf diesem verdreckten Planeten, würde einen kurzen schmerzvollen Tod erleiden, soviel war sicher.

Kapitel 5

Er verstand vieles, viel mehr als alle anderen soviel war klar, er kannte jeden Kniff um Menschen zu überzeugen oder abzuschrecken, aufzubauen oder zu zerstören, hätte er gewollt, er hätte jeden Psychologen der Stadt in eine Nervenheilanstalt schicken können, so verdammt gut beherrschte er sein Feld. Natürlich war er nicht nur Experte auf dem Gebiet psychologischer Kriegsführung, er wusste auch sonst eine ganze Menge, denn er konnte sich mit einem IQ schmücken, den gerade mal 1% der Bevölkerung ihr Eigen nennt. Aber all das half ihm nicht, kein bisschen wollte er diese Augen aus seinem Kopf bekommen. Der Tag voller Speichellecker, Maden, Schafe und all der Wollberge zog an ihm vorbei wie Wolkenfetzen bei starkem Wind. Einfach so, weg waren sie. Was definitiv nicht weiter zog waren die Gedanken. Sie waren da, stark und einnehmend wie eh und je, aber, sie waren nicht allein, und auch nicht so souverän wie sie es gerne hätten. Wären seine Augen ein Projektor gewesen, der die Bilder in seinem Kopf an die ihm gegenüberliegende Wand hätte werfen können, jeder unerwartete, und sowieso immer ungebetene, Besucher hätte einen Schock bekommen, denn was er oder sie gesehen hätte, hätte jedem Kriegsfilm der 50er und 60er Jahre entspringen können. Schützengräben auf einem zerbombten Feld, irgendwo im Nirgendwo, Flakgeschütze, Maschinengewehrstellungen, Minen und Panzer, nur keine Soldaten. An deren stelle traten, auf der einen Seite, das Paar eisblauer Augen, unerbittlich und anscheinend unverwundbar, während auf der anderen Seite der Feind stand. Die Gedanken die ihn seit je her quälten und auch nie damit aufhören würden. Sie waren nur schwarze Schatten, riesenhaft und schrecklich und für jeden Betrachter grausam anzusehen, dass lag aber einfach nur daran dass er ihnen diese Form verliehen hatte und sie ihn nicht weiter störte, im Gegenteil, nur er kannte ihre wahre Form und ihren wahren Inhalt und er würde einen Teufel tun ihnen diese Form auch noch zu geben. Schwarze Schatten waren ihrer angemessen und in der Gestalt ließen sie sich wesentlich einfacher ertragen, denn ignorieren konnte er sie nicht, geschweige denn los werden. Nur das Ertragen war ihm geblieben, doch wie lange noch. Das wusste er nicht, konnte er auch gar nicht wissen, denn die Zukunft blieb ihm genauso verschlossen wie die Vergangenheit, die in ihrem Gefängnis, abgeschirmt von den Schatten saß und die, wenn er sich ihrer nur entsinnen könnte vielleicht einige schöne Erinnerungen parat hatten die ihm helfen würden den Kampf mit seinen Gedanken wieder aufzunehmen und vielleicht auch, wen nur für eine Schlacht; einmal siegreich vom Feld zu ziehen. Momentan war die Vergangenheit sowieso Nebensache, alles was er sah und was er fühlte (es war verdammt lang her dass er sich Gefühle erlaubte und selbst jetzt erlaubte er sie sich nicht, aber sie preschten vor wie eine Elite-Truppe breit das Kriegsgeschick zu wenden, auch wenn er wusste dass sie chancenlos waren und innerhalb der nächsten 30 Minuten untergehen würden), war diese Schlacht epischen Ausmaßes, die alle da gewesenen Schlachten überall auf der Welt, seiner Meinung nach, in den Schatten stellte. Er wusste das daraus kein Sieger hervorgehen würde und dass es nicht mehr war als Wasser dass versuchte das brennende Öl das seine Gedanken darstellte zu löschen, sich aber letztendlich darunter verteilte um es auf eine neue Ebene zu heben.
Während die Schlacht tobte verging, ungewöhnlich schnell, dieser Tag. Eigentlich ein Tag wie jeder andere wären da nicht diese Augen gewesen, die für die Schlacht sorgten und sie nicht enden ließ. Während er sich anzog um diesen verfluchten Götzentempel voller dreckiger Wolle zu verlassen, bahnte sich eine einzelne Frage, zahnarztbohrergleich, ihren Weg hinter seine Stirn, sozusagen an die vorderste Front: „Werde ich die Augen wiedersehen wenn ich mich auf dem gleichen weg hier weg bewege auf dem ich gekommen bin?“

Kapitel 6

Nachdem sie sich gestern nicht mehr aus ihrem Heiligtum, bestehend aus einer verdreckten, durch verschiedenste Körperflüssigkeiten bunt eingefärbten Matratze mit einem mehr als lumpig anmutendem, sackähnlichen Kissen, einer von Motten zerfressenen Wolldecke sowie eines Elektroanschlusses für ihre Stereoanlage, wollte sie dasselbe auch wieder tun. Sie wollten ihnen um keinen Preis noch einmal begegnen, diesen Augen die sie so verwirrten und aus der Fassung brachten, wie sie es nie zuvor erlebt hatte, doch irgendetwas in ihr wehrte sich gegen das Vorhaben. Sie musste sie einfach wiedersehen, ergründen was es mit ihnen auf sich hatte und wer der Kerl war dem die Augen gehörten. Ihr Körper bewegte sich fast gegen ihren Willen als sie sich vergewisserte dass keiner in ihrer Gasse war, der ihren geheimen Eingang erspähen könnte, denn noch wollte sie nicht zur Mörderin werden, auch wenn es sich zweifelsohne nicht abwenden lassen würde. Wenn sie sich einer Sache sicher war, abgesehen davon dass ihr Ende irgendwann kam, früher oder, noch früher, dann der Tatsache dass sie, bevor es soweit war, mindestens einen Menschen umgebracht haben würde.
Abgesehen von diesen Augen war es auch wieder höchste Zeit ihrem Tagesgeschäft nachzugehen wie ihr ihr Magen unmissverständlich klar machte. Sie versuchte zwar immer wieder ihn krampfhaft zu ignorieren, aber das klappte nur selten, vor allem wenn sie vergessen wollte, denn gerade dann konnte sie dieses eine Grundbedürfnis nicht vergessen, im Gegenteil, die Erinnerung dass sie essen musste war die einzige die immer verstärkt wurde, immer.
Der Zeitpunkt den sie wählte, um wieder aufzutauchen, erschien ihr willkürlich, doch das war er nicht. Obwohl des gesellschaftstypischen Zeitgefühls beraubt (sie brauchte keine Uhr, warum auch, der Tag richtete sich immer nach ihr), kam sie ca. einen Stunde vor dem Zeitpunkt heraus, bevor sie in diese graue Meer in zwei kleinen Augäpfeln geblickt hatte. Ob sie wollte oder nicht, aus irgendeinem Grund hatte sie ihr Unterbewusstsein, wo kam das auf einmal her, dazu getrieben.
Egal was es war, ihr Timing war aus irgendeinem Grund goldrichtig. Sie hatte es sich gerade bequem gemacht, als der Typ wieder auftauchte, seine Augen, wegen des schlechten Lichts hatte er sie noch nicht gesehen, wandten sich forschend in ihrer Gasse umher und es dauerte eine Weile bis sie ihr Ziel gefunden hatten.
Er bewegte sich immer weiter auf sie zu bis er gefunden hatte was er suchte und seine Augen hefteten sich an die ihren und blieben dort.
Sie sagte nichts sondern versuchte ihn anhand dessen was sie sah zu ergründen,was ihr aber in keinster Weise gelang, denn dieser intensive Blick mit der er sie bedachte verwirrte sie mehr als am Tag zuvor, fand sich doch heute ein bemerkenswertes Feuer in seinen Augen wieder, welches sie nicht zuordnen konnte. War es Interesse, Faszination, Verwunderung oder was auch immer, es blieb ihr unklar. Während sie in diese Augen starrte bemerkte sie, dass er dasselbe mit ihr versuchte und anscheinend genau so weit kam wie sie auch.
In absoluter Stille blieben sie sich Tage, ja sogar Wochen, so gegenüber und schienen nur noch aus dem zu bestehen was sie zu sehen suchten und mit dem sie sahen.
Kein Wort zerbrach diese Glocke aus Stille unter der sie es sich bequem gemacht hatten, als er sich plötzlich mit eiserner Kraft von ihrem Blick losriss und ging. Einfach so ohne etwas von sich zu geben. Jetzt war sie innerlich am überkochen, wie konnte dieser miese Wichser es wagen sie weiter zu verwirren indem er einfach ohne einen verdammten Ton verschwand. Die nächste arme Seele die sich etwas Feenstaub oder ein paar Gramm Wunderpflanze von ihr holen wollte um in seine eigene kleine rosa-Pony-Welt einzutauchen würde dafür schrecklich büßen müssen.

Kapitel 7

Er verstand sich noch weniger als vorher, genauer gesagt seine Gedanken. Während er in dieses runde Meer aus Feuer blickte und sich seinen Geist daran zu verbrennen drohte, obwohl es seine Seele angenehm kühlte und beruhigte. Eigentlich sollten die Gedanken sich ebenso beruhigt haben, dem war aber nicht so. Kreisend, wirbelnd, tornadogleich eine Schneise der Verwüstung hinterlassend, schlimmer noch als alles was er bisher von sich kannte. Die Arbeit ,wenn man es so nennen konnte denn eigentlich war es eher eine Ansammlung amüsanter Szenen aus einer weniger guten Theaterkomödie, war ihm nebensächlich erschienen, nebensächlicher als sonst sollte man eher sagen, und es war ihm alles egal. Er hörte sich mittlerweile selbst nicht mehr zu wenn er seinen Schafen gut zuredete. Deren Geblöke hatte er so oder so nie gelauscht, war es doch nicht von Belang für ihn, denn seine Ansichten waren die vorherrschenden egal wo er war.
Alles was ihn interessierte waren diese Augen, die eine lang vergessene Faszination in ihm weckten und gleichzeitig dafür sorgten dass er sich für etwas in dieser, ihm verhassten Welt interessierte.
Der Tag verging unglaublich schnell (für seine Maßstäbe) denn er war von einem einzigen Bild in seinen Gedanken gefesselt. Er nahm wieder den Weg den er gekommen war mit einer festen Absicht, dort zu stehen eingekreist von Mauern mit physischer Form und den Mauern des Schweigens, während er sich selbst in diesen Augen zu suchen gedachte.
Doch das wurde ihm jäh durch eine einzige Frage zunichte gemacht.

Kapitel 8

„Was zur Hölle ist dein Problem“, fragte sie ihn, von Verwirrung gequält, mehr als barsch als er wieder wie gebannt in ihre Augen blickte.
Das brachte ihn aus der Fassung, hatte er es zwar erwartet aber doch nicht gehofft, dass sie diesen Glasball des Schweigens zerlegen würde, den er nie vorhatte zu zerbrechen. „Deine Augen sind mein Problem“, antwortete er wahrheitsgemäß und kurz angebunden, da er vorhatte zum vorherigen Status quo zurückzukehren.
Damit lies sie sich nicht abspeisen. Dieser Kerl hatte eine Frechheit besessen die sie nie zuvor gesehen hatte und die sie rasend machte: „Dann hör auf da rein zu starren wenn du damit ein Problem hast du geleckter Pisser.“
Es war ja klar dass es so einfach nicht werden würde. Er war gerade dabei das Geschöpf 'kennen zu lernen' (nach seinen Maßstäben war dem sehr wohl so), was er unter allen Umständen vermeiden wollte und wonach es ihm ungefähr so sehr gelüstete wie nach einem kalten Tee und einem Fischbrötchen. Es waren die Augen die er wollte, die er brauchte, in seiner kleinen Welt nicht das was sich darum befand und schon gar nicht was sich dahinter verstckte, denn das war allem Anschein nach alles andere als erträglich. „Geht nicht.“, antwortete er trocken.
Dieser Arsch verstand sich gut darauf Leute auf die Palme zu bringen, wenn der mir nicht gleich eine befriedigende Antwort gibt werde ich sie aus ihm raus prüglen, ob er will oder nicht, dachte sie bei sich als er ihr antwortete. „Und warum geht das nicht?“, fragte sie ihn, ihre Wut mit aller Macht unterdrückend und fügte noch hinzu: „Und wenn ich jetzt wieder so eine Antwort erhalte oder mir deine Antwort nicht gefällt, wirst du sehen was du davon hast einfach so Leute anzustarren und zu verwirren.“
Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte um genau zu sein mit so ziemlich allem gerechnet, während er hoffte dass in der für ihn angenehmsten Variante enden würde, nämlich dass sie enerviert den Versuch etwas aus ihm herauszubekommen aufgeben und somit die Glocke des Schweigens um sie wieder herstellen würde.
„Ich werde mich, vorab gesagt, nicht dafür entschuldigen mich meiner Faszination, die durch deine Augen geweckt wurde übrigens, hingegeben zu haben. Nur damit das klar ist. Und ich habe nicht vor dir zu sagen warum mich deine Augen faszinieren. Das ist etwas was meinen Gedanken entspringt und dich, gelinde gesagt, einen Scheißdreck angeht. Nur soviel, es geht um die eben genannte Faszination die es, wider meiner Erwartung, doch noch in mir gab. Und wenn ich eines klar in deinen Augen entdecken kann, dann ist es Intelligenz, also nutze die selbige und versuche dir selbst einen Antwort auf deine Frage zu konstruieren, während ich meine Gedanken mitnehme und gehe.“
Mit diesen Worten wandte er sich um und lies sie verwirrt und in unglaublicher Rage zurück.

Kapitel 9

Das war zu viel für sie. Irgendwer musste nun wirklich büßen und irgendwer tat es auch. Sie hatte erst von dem armen Junkie abgelassen als er wimmernd, stark blutend und zuckend im Schatten eines großen Müllcontainers liegen blieb und seine Drogensucht nun nachhaltig überdachte.
Ihr Blutdurst war damit zwar gestillt aber ihre Wut war noch lange nicht gebändigt, im Gegenteil, je mehr sie an seine Worte dachte desto klarer wurde ihr was er gemeint hatte, denn obwohl sie auf den unterschiedlichsten, gesellschaftlichen Ebenen lebten die es gab, waren sie gleich. Absolut GLEICH. Und genau diese Tatsache machte sie rasend. ES GAB NIEMANDEN DER SO WAR WIE SO, NIIIIIIIIEEEEEEEEEEMANDEN VERDAMMT NOCHMAL.
Während sie das in sich hinein brüllte begann ihr Verstand wieder zu alter Stärke zurückzufinden und sie schleifte ihr Opfer außer Reichweite in eine andere Ecke wo sie sein Gewimmer nicht mehr interessierte, da sie es nicht hören musste.
Eine merkwürdige Gefühlsmischung machte sich in ihr breit als sie sich auf ihre schäbige Matratze legte und den Klängen ihrer Lieblingsband lauschte und sich ihre Gedanken über die Ereignisse der letzten Tage machte. Und in dieser Pampe verschiedenster Gefühle dachte sie sich schließlich in den Schlaf.

Impressum

Texte: Text ©der dunkle Wanderer (Robert Ringel)
Tag der Veröffentlichung: 19.05.2011

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