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Die Worte des Arztes klangen immer noch in meinen Ohren, ohne dass gerade jemand sprach. Er hatte mich aufbauen wollen, mir ein Ziel setzen, damit ich auf etwas hinarbeiten konnte- nach vorne sehen. Alle wollten sie von mir, dass ich nach vorne sah, in die Zukunft. Optimistisch sollte ich sein und den Kopf nicht hängen lassen. Eine einzige dieser gutgemeinten Floskeln noch und ich würde tatsächlich vor ihrer aller Augen zusammen brechen. Ganz egal, wie gut ich mich augenscheinlich noch im Griff hatte. Das Eis meiner Fassade war so unglaublich dünn, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis das eintrat, was sie alle schon erwarteten und mich meine Verzweiflung einholte.
Deswegen konnte ich im Moment auch keine Hilfe annehmen. Es fühlte sich nicht richtig an, irgendjemandem – auch keinem Therapeuten- von dem zu erzählen, was in mir vorging. Vielleicht würde ich es später können, vielleicht nie. Und selbst wenn der Arzt, der mich wegen des Schocks behandelte, Recht haben mochte, so sträubte ich mich doch dagegen. Was war ich für ein Mensch, der nicht eine einzige Träne am Grab seiner besten Freundin vergießen konnte? Ich hatte es einfach nicht fertig gebracht, es nicht wahrhaben wollen. Selbst jetzt begriff ich nicht, dass sie nie wieder kam, dass ihr Grab nun ihre Ruhestätte war. Und ich brachte es nicht fertig, sie zu besuchen. Ich ertrug den Anblick ihres in Granit geschlagenen Namens nicht. In Stein gehauen schien es so viel realer, wirklicher, unwiderruflich und dafür war ich noch nicht bereit. Der Himmel wusste, ob ich es je sein mochte. Ganz gleich, was die Medizin auch sagte, fünf Phasen würden nicht ausreichen, um ihren Verlust zu überwinden, selbst fünfzig wären nicht genug - nicht annähernd.
Und ich würde es auch nicht auf den Schock schieben oder auf meine „ganz natürliche Verdrängung“. Ich konnte den Schmerz spüren. Er war so präsent in meiner Brust, dass er mir ständig vor Augen hielt, wie lebendig ich noch war. Und trotzdem konnte ich nicht weinen. Nicht einmal am Unfallort hatte ich weinen können, an der Stelle, wo ihr Blut noch immer den Boden brandmarkte, wo ihr Leben quasi zu Nichts zerronnen war. Ich hatte dort gekniet, zwischen den letzten zurück gebliebenen Stücken ihres Autos im versengten Gras und ich hatte keine einzige Träne geweint.
Stattdessen hielt ich nun eine Handvoll Perlen fest umklammert, die mir die Sanitäter hinterher gegeben hatten. Sie waren Teile von Maries Rosenkranz gewesen, den sie stets um den Hals getragen hatte. Während dem Unfall musste er gerissen sein und so waren sämtliche der schwarzen und weißen Perlen im umliegenden Gras oder ihrer Kleidung verstreut worden. Ich selbst hatte noch drei weitere gefunden. Damit hatte ich wenigstens sieben wieder. Mehr war mir nicht geblieben von ihr. Einzig und allein drei schwarze und vier weiße Perlen, um mich daran zu erinnern, was ich in jener Nacht verloren hatte.
Ich schrak aus meinen Gedanken auf, als ich vor dem dunklen Holz der Kirchentüre stand, ohne mir überhaupt über einen Weg bewusst gewesen zu sein. Vorsichtig glitten meine Finger über das glatte Muster der geschnitzten Blumenornamente, bevor ich mit zittriger Hand die Klinge herunterdrückte. Marie war oft hier gewesen, ich nur ein einziges Mal. Die Beständigkeit, mit der sie jede Woche einfach hergekommen war, um still und ungestört zu beten, war eines der wenigen Dinge an ihr gewesen, die ich nie verstanden hatte. Sie besuchte keine Gottesdienste oder Andachten, sie kniete einfach regungslos dort und betete so leise, dass ich sie nicht einmal hatte verstehen können, als ich direkt neben ihr saß. Und stets war sie danach mit einem Lächeln aufgestanden, hatte den Rosenkranz wieder um den Hals gelegt und war gegangen. Sprach ich sie darauf an, meinte sie nur, dass es ihre Großmutter stets genauso gemacht hatte und es schöne Erinnerungen für sie waren, die sie sich so ins Gedächtnis rief. Außerdem würde sie nirgends sonst so zur Besinnung kommen, wie inmitten des Lichts, das durch die farbigen Fenster strahlte und der Stille, die stets innerhalb der Kirchenwände herrschte.
Ich sah sie vor mir, während ich zwischen eben jenen Lichtern hindurch schritt. Der Schein der Abendsonne schien seitlich so stark, dass das gesamte Mittelschiff gelb und orange erleuchtet war. Vor der fünften Bankreihe neigte ich kurz den Kopf und glitt auf die kühlen Polster, wie sie es getan hatte. Und gedanklich sah ich ihr Bild weiter vorne, wie sie den Rosenkranz zwischen den gefalteten Händen hielt und wispernd betete. Die Vorstellung war so real, dass sich meine Füße ganz automatisch bewegten. Mit bebendem Herzen schritt ich auf eine Illusion zu, die ich mir mit aller Kraft herbeiwünschte. Dabei fanden meine Finger so selbstverständlich die Kordel mit den aufgefädelten Perlen in meiner Tasche, dass ich es nicht einmal bemerkte. Das Blut rauschte in meinen Ohren und meine Hände umklammerten die Reste ihres Rosenkranzes so fest, dass ich spürte, wie sich ihr Muster in die Oberfläche meiner Haut grub.
Und dann stand ich vor der Bank, die ich die ganze Zeit mit meinen Blicken fixiert hatte, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Sosehr fürchtete ich, dass sie einfach verschwand und ich wieder allein war, wieder ohne sie. Und nun hielt ich inne, wie vor einer Seifenblase, die man nicht zu berühren wagte, weil sie so fürchterlich zerbrechlich war.
Meine Lippen bebten, als ich ihren Namen aussprach, den ich über drei Wochen lang so sorgsam vermieden hatte. „Marie?“ selbst so leise gewispert, wie ich nur konnte, hallte ein sanftes Echo im leeren Raum wieder. Mein Herz setzte für einen Moment aus, als ich nun endlich doch blinzeln musste. So schnell schlug ich die Augen auf, dass ich noch kurz alles verschwommen sah. Und ich sah nur noch die Erinnerung an ihr Lächeln vor mir, wie sie es mir einmal geschenkt hatte. Längst vergangene Bilder, wie wir zusammen hier her gekommen waren und sie mir ihren Rosenkranz mit einem Lächeln hingehalten hatte. Das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein Gebet sprach. Und auch jetzt fand ich ihren Rosenkranz wieder in meiner Hand, oder vielmehr die kläglichen Reste davon. Und ich gestand mir endlich ein, dass es eine Illusion gewesen war, dass sie nicht mehr hier sein konnte, nicht mehr lebendig. Zitternd stand ich da und fuhr mit der Hand über den Platz, auf dem sie so oft gesessen hatte. Das gefaltete Papier der Vermeldungen fiel mir in die Hände, noch von letzter Woche. Ganz automatisch schlug ich es auf und mein Blick fand wie geleitet zum fünfzehnten August, einem Sonntag. Darunter stand sich ein schlichter Vermerk, der mir den Atem in der Kehle stocken lies.

14.00 Uhr: Requiem für Marie- Sophia Gottwald, möge sie ruhen in Frieden.



Mein Herz begehrte in meiner Brust so kräftig auf, dass mir ein Keuchen entfuhr. Meinen bebenden Fingern entglitt das Blatt, auf dem ich zum ersten Mal ihren Namen gelesen hatte, zum ersten Mal der schriftliche Beweis vor mir, dass es wirklich meine beste Freundin war, die ich verloren hatte. Augenblicklich sackte ich auf dem eisigen Steinboden zusammen und kauerte nun vor der hölzernen Bank, der zuvor die trügerische Illusion meines Verstandes innegewohnt hatte. Ein kehliges Schluchzen bahnte sich seinen Weg meinen Hals hinauf, bis meine schmerzverzerrte Klage auch in den letzten Winkeln der geweihten Kirchenmauern wiederhallte. Meine Sicht verschwamm zur Gänze, als es schien, als brechen alle Wälle meines Inneren auf einmal, als würden Sturzbäche sich über meine Wangen ergießen und mich stets auf neue unter sich erbeben lassen. Und gleichzeitig meinte ich, die Innenseite meines Brustkorbes wolle sich nach außen kehren, so unglaublich grausam war der Schmerz, der sich von meinem Magen angefangen über mein Herz bis hindurch auf meine Haut fraß. Dort überzogen die Krämpfe meinen gesamten Körper nicht nur mit einer Gänsehaut. Ich wurde von so vielen unterschiedlichen Schmerzen umher geworfen, dass ich nur noch erstickte Laute hervorbrachte. Kein wirkliches Weinen, nicht mal mehr ein Schluchzen entkam meiner Kehle. Stattdessen würgte ich derartig qualvolle Laute hervor, dass es mir selbst weitere Schauer über den Rücken jagte. Und selbst jetzt umfing mein Verstand nicht mein Leid oder die Tortur meines Körpers, sondern immer noch das Bild Maries, wie sie vor mir kniete und zu ihrem Gott betete. Ihrem verfluchten, sadistischen, nichtsnutzigen Gott. Wo war er gewesen, als sie ihn so dringend gebraucht hatte? Wo waren seine Engel und Heerscharen, als eines seiner wunderbarsten Geschöpfe dem viel zu frühen Tod ausgeliefert gewesen war? Wo war er nun, wo es so vielen, nicht halb so frommen oder gutherzigen Unwürdigen noch länger vergönnt sein sollte, zu atmen? Während der beste, einfühlsamste, ehrlichste und aufrichtigste Mensch in meinem Leben in kalter Friedhofserde begraben lag. „Wo ist nun deine Gerechtigkeit, du elender Heuchler?“ meine Stimme war so ausgezehrt, so geschunden, wie ich mich fühlte. So wütend und verzweifelt, dass ich nicht wusste, welche Regung sich in meinem Inneren die Oberhand erkämpfte. Einzig und allein der Schmerz schien zu triumphieren und meine Klage weiter anzuheizen, wie die Schreie eines verletzten Tieres. „Wo ist deine Liebe und deine Gnade, deine rettende Vaterhand über deine Gläubigen? Worauf wartest du mit deiner verdammten Herrlichkeit? Verführer, Täuscher du, nichtsnutziger Feigling. Sie hätte dich dieses eine Mal gebraucht, dieses eine einzige Mal hättest du etwas tun sollen, ein einziges, weltbedeutendes Mal. Wo ist deine Allmacht, wenn du nicht einmal die besten unter deinen Schützlingen retten kannst? Zum Teufel mit der Größe Gottes, zum Teufel mit der Erlösung, dem Paradies und all den anderen Lügen. Zum Teufel die gottverdammte Heuchelei!“
Ich bebte so voller Zorn und unbändiger Wut, dass meine Schreie die ganze Luft um mich herum erschütterten. Mark und Bein bebten, während ich auf den geheiligten Boden unter mir einschlug und alles um mich herum verfluchte. Ein Ruck ging durch mich hindurch, als die Kordel in meiner Hand nachgab und die Handvoll Perlen sich auf den kargen Fußboden ergoss, zusammen mit einigen eisigen Tränen. In mir tobte immer noch der Kampf zwischen der lähmenden Kälte des Schmerzes und meinem lodernden Hass auf alles, was mir das wichtigste im Leben nicht hatte retten können. All meine Kraft schien mit dem Echo zu verhallen, während die Schwäche sich in mir ausbreitete. Ich spürte die Ohnmacht, bewältigen zu können, was mein Verstand nicht einmal fassen konnte. Hilf- und machtlos sackte ich in mir zusammen, als der Schein der gläsernen Fenster mich in ihr strahlendes Licht hüllte. Und selbst durch meine geschlossenen, brennenden Lider reichte es hindurch und umgab meine letzte, schmerzhafte Erinnerung mit wohliger Wärme. „Wie konntest du nur?“ Es waren meine letzten Worte an sie, ein letzter Vorwurf, der letzte klägliche Aufschrei, der wohl niemals seinen Adressaten erreichen würde. Und dann nahm es endlich ein Ende, als taube, gnädige Schwärze mich umhüllte und mich so ausgezehrt wie geschunden zur Ruhe kommen ließ.

Impressum

Texte: Alle Rechte an Cover und Text liegen bei der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 13.02.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Zum 27. Bookrix Wortspiel "Für eine Handvoll Perlen"

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