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Anmerkung zur kostenlosen epub-Ausgabe:



Das Buch "Wahre Helden" ist seit dem 14.07.2012 als DRM-freie kindle-Version bei Amazon zu haben (heißt, man kann es z.B. mit Calibre problemlos und völlig legal zum epub o.ä. konvertieren), kostet 0,99 Euro, umfasst 27 Kapitel und ausgedruckt ca. 340 Seiten.
Da es momentan im Kindle-Owners-Library-Programm läuft, ist nur die offizielle Leseprobe verfügbar.

Ich freue mich natürlich immer über Kritiken, sowohl hier bei BookRix, als auf der Amazon-Buchseite, selbst wenn ihr es hier gelesen habt.
Oder auch beides zusammen.

Viel Spaß beim Lesen!





Dennis Blesinger




Wahre Helden




Roman
Science Fiction


© 2012



BUCH 1






1




Michael erwachte mit einem Geschmack im Mund, der ihn nur allzu deutlich daran erinnerte, warum er sich nach der letzten Party geschworen hatte, innerhalb der nächsten zwei Jahre keinen Tropfen Alkohol mehr anzurühren. Darüber hinaus machte sich sein Rücken allzu deutlich bemerkbar, was ihn dazu veranlasste, sich aufmerksam seiner Umgebung zu widmen. Normalerweise konnte er auf jeder beliebigen Unterlage schlafen, ohne dass ihn so etwas wie Rückenschmerzen jemals belästigt hätten. Bis zum heutigen Tag, stellte er einige Sekunden später fest, hatte er allerdings auch noch nicht auf einem Stuhl übernachtet.
Verschlafen blickte er auf die Uhr. Fünf Uhr dreiundzwanzig. Mühsam krabbelte er auf dem Boden entlang in Richtung Bett, dabei darauf bedacht, den Körper möglichst wenigen Erschütterungen auszusetzen. Am Bett angekommen überkam ihn der vage Verdacht, dass sich die letzte Nacht unter Umständen nicht so zugetragen haben könnte, wie er das in Erinnerung hatte. Jedenfalls konnte er sich spontan nicht daran erinnern, schwarze Bettwäsche aufgezogen zu haben.
Ein kurzer Blick auf das Bett verriet ihm darüber hinaus, dass es sich bei näherer Betrachtung vielleicht gar nicht um sein Bett handelte. Einer der Punkte, die dafür sprachen, war die Frau, die darin lag.
Nur bruchstückhaft kehrten die Erinnerungen der letzten Nacht zu ihm zurück. Das letzte, an das er sich mit Sicherheit erinnern konnte, war dass sie bei David im Quartier gesessen und Rebecca eine Wolldecke in den Mund gestopft hatten, nachdem diese damit gedroht hatte, ein Lied anzustimmen. Um drei Uhr nachts waren die wenigsten Menschen besonders gut auf laute Parties zu sprechen, vor allem, wenn Rebecca und ihr katastrophal falscher und lauter Sopran darin vorkamen. Alle, bis auf die, die an der Party teilnahmen.
Langsam zog er sich an diversen Möbelstücken in die Höhe, bis er einigermaßen sicher war, sich in einer vertikalen Position zu befinden. Ein kurzes Loslassen erbrachte keine nennenswerte Änderung, woraufhin er sich so leise wie möglich in Richtung Tür bewegte. Wenn Rebecca, oder schlimmer noch, der Weckdienst ihn hier fände, würde er eine Woche lang nicht aus dem Dementieren herauskommen. Zugegeben, er und Rebecca hatten in der Vergangenheit mal miteinander geschlafen, aber das war lange her und wenn es schon blödes Gerede gab, sollte es bitte auch einen reellen und aktuellen Grund dafür geben.
Auf dem Flur angekommen, genoss er die Ruhe, die momentan auf dem Schiff herrschte. Ein leichtes Summen deutete zwar an, dass sie nach wie vor flogen, jedoch war ihm bisher noch nie aufgefallen, wie still es hier sein konnte. Allerdings lag er um diese Uhrzeit auch für gewöhnlich im Bett, und verließ sein Quartier erst kurz vor Beginn seines ersten Seminars.
Diese Überlegung erinnerte ihn daran, dass er heute einen Vortrag über die Funktionsweise von Nuklearbeschleunigern halten musste. Er stöhnte leise, um sich sofort den schmerzenden Kopf zu halten. Referate waren noch nie seine Sache gewesen, besonders nicht freie Vorträge. Im Stillen beneidete er Menschen wie David, die sich ohne weiteres vor eine Menschenmenge stellen konnten, um über etwas zu reden, wovon sie eigentlich keine Ahnung hatten. Andererseits, so überlegte er, vielleicht bewirkte der Kater, den er in ein paar Stunden mit Sicherheit haben würde, ja ein Wunder und er würde seine Nervosität aufgrund der Kopfschmerzen vergessen.
Als er an Davids Tür vorbeikam, überlegte er eine Sekunde, ob es klug wäre, sich zu vergewissern, dass wenigstens einer von ihnen den Weg ins eigene Bett gefunden hatte, entschied sich aber dagegen. Wahrscheinlich war Sonja da, die solche überraschenden Besuche überhaupt nicht schätzte.
Schließlich in seinem Quartier angekommen, überdachte er das Vorhaben, sich in vier Stunden vor den versammelten Kommilitonen lächerlich zu machen, noch einmal.
Wozu denn eigentlich?
Der Abschluss war so gut wie geschafft und es hätte schon eines Mordes oder etwas ähnlichem bedurft, um vom Erwerb des Diploms ausgeschlossen zu werden. In den vergangenen dreieinhalb Jahren hatte er mehr geleistet, als die meisten anderen an seinem Fachbereich zusammengenommen, auch wenn das kaum einer wusste.
Kurz entschlossen fischte er seine für den Vortrag bestimmten Unterlagen hervor und schrieb eine kurze Notiz davor:
Hi, Rebecca! Bin krank, kann heute leider nicht vortragen. Gib das hier bitte Dr. Refsdal, ich spreche dann später mit ihm.
Danke, Michael


Eine Minute später hatte er das E-Heft bei Rebecca unter der Tür durch geschoben, in dem sicheren Wissen, dass diese nie und nimmer eine Sitzung sausen lassen würde, egal wie ausgeprägt der Kater war. Und er hatte nicht einmal gelogen. Wenn er sich jetzt schon so mies fühlte, waren die Symptome in ein paar Stunden wahrscheinlich mit denen einer leichten Magen-Darm-Grippe zu vergleichen.
Leise stöhnend schloss er die Tür hinter sich, um fünf Sekunden später mit dem Gesicht nach unten auf die Matratze zu fallen.
Als sich sein Magen zum dritten Mal bemerkbar machte, beschloss Oliver, darauf zu reagieren. Langsam aber sicher packte er seine Unterlagen ein, um sich auf den Weg in die Mensa zu machen. Das war das Schöne, wenn man einem Fachbereich angehörte, der auf einer Exkursion nicht vertreten war. Man hatte sechs Wochen Zeit, zu tun, was einem gefiel und das mitten im Semester.
»Hey, Du willst doch nicht jetzt schon gehen?!«, fragte ihn sein Nachbar, sichtlich erschüttert, als Oliver Anstalten machte, sich von seinem Platz zu erheben.
»Doch«, meinte Oliver nach einer Weile lächelnd. »Doch. Das ist genau das, was ich will.« Während er sich an den beiden Personen vorbei schob die zwischen ihm und dem Gang saßen, bemerkte er belustigt die Blicke, die ihm von verschiedenen Personen zugeworfen wurden. Das Spektrum reichte von geistiger Solidarität bis hin zu ernsthafter Fassungslosigkeit. Er fragte sich insgeheim, wem diese Leute etwas vormachten. Noch bevor er den Ausgang erreicht hatte, bemerkte er, dass es außergewöhnlich still geworden war in dem Raum.
»Entschuldigen Sie«, erkundigte sich eine Stimme vom anderen Ende des Raumes, »gehen Sie aus Protest oder weil sie was Besseres vorhaben?«
»Was wäre Ihnen denn lieber?«, fragte Oliver zurück. Da er sich in einer Vorlesung befand, die nicht einmal annähernd etwas mit dem eigenen Studiengang zu tun hatte, brauchte er sich auch nicht davor in acht zu nehmen, ob der jeweilige Dozent etwas gegen ihn hatte oder nicht. Als von diesem nach einer Weile keine Antwort kam, fügte Oliver hinzu: »Ich bin nicht sicher. Ich gehe essen, falls Ihnen das irgendwie weiterhilft. Ich kann Ihnen ja nachher sagen, ob’s besser war.« Er wartete die Reaktion auf diese Bemerkung nicht ab, sondern verließ den Raum schnellstmöglich; er hatte es sich abgewöhnt, sich von Dozenten, die nicht darüber hinwegkamen, dass Studenten ihren Unterricht langweilig fanden, ärgern zu lassen. Darüber hinaus nahm er an dieser Fahrt nicht teil, um zu studieren, sondern um sich zu erholen.
Wie jeder andere Student der EPU hatte er fast seine gesamte Studienzeit auf der Station verbracht. Diese Zeit neigte sich jetzt langsam, wie es bei vielen an Bord der Fall war, dem Ende entgegen. Innerhalb der letzten drei Jahre hatte er nicht eine Woche Urlaub gehabt, sofern man die ‘Vorlesungsfreie Zeit’ zwischen den Trimestern ausklammerte, die aber meist eher von den Hausarbeiten bestimmt waren. Dies war der erste und wahrscheinlich auch letzte längere Urlaub, den er innerhalb der nächsten Zeit unternehmen würde. Urlaub war teuer und wie so viele andere hatte er einfach nicht das Geld, um sich einen längeren Urlaub auf der Erde leisten zu können. Aber das war der Preis, den die meisten bereitwillig für die beste erhältliche Ausbildung bezahlten.
Vor siebenundzwanzig Jahren war man endgültig zu dem Schluss gekommen, dass die klassischen planetarischen Universitäten nicht effektiv genug seien und zu viele Ablenkungsmöglichkeiten boten, um eine erstklassige Ausbildung zu gewährleisten. Als Konsequenz hatte man nach verschiedenen Versuchen wie Internaten und ähnlichen integrierten Wohn- und Lerneinrichtungen auf der Erde die EPU gegründet, auf der mittlerweile acht verschiedene Fachbereiche vereint waren, angefangen bei Industriedesign, dem neuestem Fachbereich, bis hin zum ursprünglichen und einzigen, Jura.
Die Bauzeit der EPU hatte insgesamt zwei Jahre in Anspruch genommen. Nachdem die ehemalige Raumstation ISS 5 von einem norwegischen Unternehmen aufgekauft worden war, hatten umfangreiche Um- und Anbauten stattgefunden, bis das Objekt den Ansprüchen der Investoren entsprochen hatte. Während der erste Jahrgang der EPU noch mit einer gewissen Ehrfurcht erfüllt gewesen war – schließlich hatte es sich um die erste Gruppe Menschen dieser Größenordnung im Raum gehandelt, die nicht speziell für diesen Aufenthalt ausgebildet worden war – hatte sich diese Ehrfurcht im Laufe der Jahre zusehends vermindert. Mittlerweile, mehr als ein viertel Jahrhundert nach Einführung, nahmen es die meisten Studenten als selbstverständlich hin, einen Teil ihres Lebens im Weltraum zu verbringen.
Oliver schlenderte den Gang entlang, wobei er sich dabei ertappte, an seine Abschlussarbeit zu denken. Er hatte seine Unterlagen absichtlich nicht mitgenommen, was er jetzt, nachdem er vier Wochen an Bord verbracht hatte, langsam bereute. Es wurde ihm schlicht und ergreifend langweilig. Selbst der Spaß daran, sich Vorlesungen von völlig fremden Fachbereichen anzuhören, ließ allmählich deutlich nach. Vielleicht hätte er gestern doch Davids Einladung annehmen und sich mit den anderen mal wieder ein wenig betrinken sollen. Auch diese Gelegenheiten wurden langsam aber sicher seltener, je näher das Ende des Studium heranrückte.
Nachdem er unsanft gegen die Eingangstür der Mensa gerannt war, widmete er seine Gedanken wieder seiner momentanen Umgebung. In der Mensa war es so ruhig und leer wie sonst selten. Er blickte sich eine Weile um und entdeckte an einem Tisch weiter hinten ein ihm vertrautes Gesicht. Es verwunderte ihn nicht, Maureen hier um diese Tageszeit zu anzutreffen, dazu noch allein. Maureen hatte noch nie etwas für größere Menschenmengen übrig gehabt hatte. Das hieß, berichtigte er sich, für Menschenansammlungen, die über die Größe ‘Maureen und ein sehr guter Freund’, den er aber nicht kannte, hinausgingen. Er beschloss, sich zu ihr zu setzten. So sehr er die Ruhe auch genoss; zu zweit ließ es sich besser essen.





2




Im Prinzip hätte sich David jetzt im Seminarraum 17 befinden müssen, um einen weiteren Vortrag zum Thema ‘Entstehung von Sonnenflecken und deren Auswirkungen auf das Klima von Erde, Venus und Mars’ über sich ergehen zu lassen. Da er aber erstens letzte Nacht ungeheuer einen drauf gemacht und darüber hinaus seine Abschlussarbeit bereits fertig geschrieben hatte, blickte er mit einem breiten Grinsen auf die Uhr und drehte sich noch einmal um, um wieder in die offenen Arme von Bruder Schlaf zu fallen.
Außerdem konnte er sich leisten, eine Sitzung zu versäumen. Seine Lehrer waren da mit Sicherheit anderer Meinung, aber immer, wenn dieses Thema zur Sprache kam, wies David sie darauf hin, dass er Mitglied der zweitbesten Klasse war, die seit der Einrichtung der ‘First Extra Plantetarial University’, normalerweise kurz EPU genannt, vor siebenundzwanzig Jahren existierte. Die Tatsache, dass David selbst wahrscheinlich den drittbesten Notendurchschnitt seines Jahrgangs erhalten und auch noch in die ewigen Top Ten seines Fachbereiches kommen würde, war zumindest den Lehrern bekannt und musste in diesem Zusammenhang in der Regel nicht extra erwähnt werden. Seinen Mitschülern war diese Tatsache bis auf seine engsten Freunde nicht bewusst, was ihm ganz recht war. So etwas brachte schnell den Ruf eines Strebers ein, was wiederum ein reichlich einsames Leben bedeutete.
Gerade auf der Station bedeutete die Akzeptanz und die Zugehörigkeit zu den übrigen Studenten alles, da die vier Jahre, die die Studenten hier verbrachten, ohnehin sehr arm an Ablenkungsmöglichkeiten waren. Seine Eltern schwärmten ihm regelmäßig, trotz aller Missstände, die damals geherrscht hatten, von ihrer Studienzeit vor, so dass sich in ihm irgendwann der Gedanke geregt hatte, er könnte vielleicht doch etwas verpasst haben.
Er hatte sich eine VR-Aufzeichnung angesehen, deren Existenz einigen, ‘der guten alten Zeit’ nachtrauernden Nostalgikergruppen zu verdanken war, die es sich zum Ziel gemacht hatten, das damalige Studentenleben der Nachwelt so realistisch wie möglich veranschaulichen zu müssen. Das Produkt war entsprechend ein in allen Punkten lebensnahes Programm, das alle Einzelheiten simulierte. Von den Professoren bis hin zur Luftqualität in den Hörsälen, die beide ungefähr gleich schlecht waren, was nach Davids Meinung eine beachtliche Stoffwechselleistung des menschlichen Körpers darstellte.
Die Veranstaltungen waren in einem Maße überfüllt gewesen, dass nach spätestens zehn Minuten der Sauerstoffgehalt der Luft unzureichend wurde, um eine angemessene Konzentration zu gewährleisten. Darüber hinaus herrschte aufgrund der Masse von Zuhörern eine permanente Geräuschkulisse, die es unmöglich machte, dem Dozenten durchgehend Aufmerksamkeit zu schenken. Die übrigen äußeren Bedingungen waren ebenfalls extrem abstoßend gewesen, soweit David es beurteilte. Stellenweise war man aus dringend benötigten Seminaren herausgelost worden, weil nicht genug Plätze vorhanden waren, dann wiederum hatte es in einigen Fächern bis zum Abschluss keinerlei Zwischenprüfungen gegeben, die einem zeigten, wie man nun eigentlich dastand. Endprüfungen mussten selbst organisiert werden, während man sich auf eben jene Prüfung vorzubereiten hatte und so weiter.
Auch die Gegenwart hatte ihre Nachteile, unbestreitbare sogar, aber was die Effektivität anging, so war des jetzige System ungeschlagen in der bekannten Geschichte. Die Studenten wurden, sofern sie die Aufnahmeprüfung bestanden, auf der Station einquartiert, wo sie für die Dauer von vier Jahren wohnten, lebten und studierten. Auf der Station lebten insgesamt eintausendzweihundert Studenten und fünfundsiebzig Dozenten, wovon in regelmäßigen Abständen einige Personen für Exkursionen vorübergehend ausquartiert wurden, so wie in diesem Augenblick. Die momentan stattfindende Exkursion hatte mit Davids eigentlichem Studienziel wenig zu tun, da sich politische Phänomene selten außerhalb eines bewohnten Planeten erforschen ließen, höchstens geographische, jedoch hatte er die Kurse seines Nebenfaches schon vor einem Jahr abgeschlossen. Er musste jedoch wie jeder andere eine gewisse Anzahl an Tagen verbringen, in denen es um ‘vorwiegend praxisorientierte Erkundung eines bestimmten Gegenstandes’ ging. Da Praktika in der Regel fürchterlich zeitraubend waren und meist auch noch schlecht bezahlt wurden, entschieden sich viele Studenten für die Exkursionen, bei denen in der Regel ein Phänomen im Raum wie z.B. der Asteroidengürtel, Kometen, Sonnenwinde, Hintergrundstrahlung beobachtet oder ähnliche Dinge untersucht wurden.
Oder man flog zum Mond. Da David allerdings schon drei Mal dort und zu dem Schluss gekommen war, dass der Erdtrabant und die darauf befindliche Siedlung im besten Falle langweilig waren, hatte er sich entschieden, seine letzten sechs Wochen praxisorientierten Unterricht auf der Columbus

zu verbringen. Der eigentliche Praxisanteil reduzierte sich bei solchen ‘Ausflügen’ zwar meist auf ein paar wenige Tage, da jedem der insgesamt fünf Fachbereiche an Bord ein jeweils gesondertes Phänomen zur Untersuchung gezeigt wurde, so dass man, wenn man nicht das Glück oder Pech hatte, mehreren Fachbereichen anzugehören, nur ein paar Tage wirklicher Arbeit vor sich hatte. Der Rest wurde von der Hin- und Rückfahrt in Beschlag genommen, jedoch war dies immer noch besser als auf dem Mond festzusitzen, hatte David entschieden.
Die lange Zeit, die es zu überbrücken galt, brachte natürlich ebenfalls Nachteile mit sich. Schon auf der Station war Leben nicht von Ausschweifungen bestimmt, das ergab sich allein durch das fast völlige Fehlen von Kneipen und vergleichbaren Orten, aber auf der Fähre war absolut gar nichts vorhanden, sofern man es nicht mitbrachte, was natürlich verboten war.
Das völlige Fehlen jeglicher Vergnügungsmöglichkeiten an Bord hatte zwei Folgen; erstens war der Umgang zwischen Studenten und Studentinnen mehr als offen und zweitens hatte sich eine inoffizielle Tradition eingebürgert, das Gepäck, welches man auf das Schiff mitnehmen durfte, zum größtmöglichen Teil aus Alkohol, Marihuana und ähnlichen Dingen bestehen zu lassen.
Sechs Wochen in völliger Abgeschiedenheit ließen es allerdings auch bei großartigem Organisationstalent nur zu, sich maximal einmal in der Woche 'die Kante zu geben', wie Michael es gestern so schön ausgedrückt hatte. Es bedurfte in dieser Hinsicht eines gewissen Einfallsreichtums, da im Laufe der Zeit, was Rauschgifte betraf, die Kontrollen immer mehr verschärft und verbessert worden waren, speziell, seit Marihuana vor zu einer harten Droge erklärt worden war.
Alles in allem funktionierte das Prinzip. Die Gebühren für das Studium an der EPU waren zugegebenermaßen horrend, aber es fand sich immer ein Geldgeber, der das Studium bezahlte und sei es nur aus geschäftlichen Gründen. Allein das in dieser Form gewährte Darlehn ermutigte die Studenten dazu, ihr Studium ernstzunehmen. Sollte man, ein Fall, der bisher noch nicht eingetreten war, den angestrebten Abschluss nicht erreichen können, so stand man angesichts der existierenden Schulden vor dem finanziellen Ruin, ein Zustand, den es möglichst zu vermeiden galt.
Ein Abschluss an der EPU hingegen versprach mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen Job, der es einem leicht ermöglichte, das in die Ausbildung investierte Geld wieder zurückzuzahlen.
In den letzten siebenundzwanzig Jahren hatte es genau siebzehn Studenten gegeben, die keinen Abschluss gemacht hatten. Zwei davon waren bei einem Unfall ums Leben gekommen, einer hatte aufgrund eines beträchtlichen Erbes das Studium vorzeitig abgebrochen, zwei hatten aufgrund ihrer Studienfächer und der bis dahin errungenen Noten derartig verlockende Angebote bekommen, dass es mehr als dämlich gewesen wäre, diese Angebote nicht anzunehmen und der Rest hatte sich den Terraformprojekten auf Mars, Venus und Proxima Zentauri angeschlossen. Endgültige Resultate der beiden Projekte innerhalb des Sonnensystems waren allerdings erst in frühestens einem Jahr zu erwarten. Ob und wann sich Proxima Zentauri melden würde, stand noch sprichwörtlich in den Sternen.
Proxima Zentauri war mehr oder weniger die letzte Hoffnung auf Realisierung des Traumes der Menschheit, die Besiedlung des Weltalls.
Die Terraformung von Venus und Mars kam nur schleppend voran. Als mit dem Projekt Anfang des Jahrhunderts begonnen worden war, hatte es geheißen, dass in dreißig Jahren die ersten Kolonisten den Mars würden besiedeln können und somit der erste Schritt in Richtung Eroberung des Weltraumes endlich getan werden würde.
Mitnichten.
Nachdem auf dem Mars in irgendeiner dunklen und besonders abgelegenen Höhle seltsame Moose entdeckt worden waren, die zu allem Überfluss auch noch sich verändernde Abwehrmaßnahmen besessen hatten, war das Projekt fast dreißig Jahre lang auf Eis gelegt worden, um zu verhindern, eine ‘möglicherweise intelligente Lebensform’ zu vernichten.
Irgendwann war man dann zu dem Schluss gelangt, dass diese Pflanzen nicht einmal den IQ einer geschälten Kartoffel besaßen und hatte die Arbeit wieder aufgenommen. Da sich inzwischen die Position des Planten in Bezug auf die Erde jedoch drastisch verändert hatte, waren neue Berechnungen notwendig gewesen, die das Projekt um weitere drei Jahre verzögert hatten. Jetzt, fast neunzig Jahre nach Beginn des Projektes, war seit knapp drei Jahren eine ständige Station auf dem Mars eingerichtet, die den Terraformvorgang überwachte. Im Gegensatz zu Mars und Venus – auch hier gestaltete sich die Besiedlung ähnlich kompliziert – hatte sich der dritte Planet von Proxima Zentauri geradezu als Paradies entpuppt. Die einzige Hürde, die es zu überwinden galt, war die Reisezeit, die mehrere Jahre in Anspruch nehmen würde. Vorausgesetzt, während der Reise käme es nicht zu unvorhergesehenen Zwischenfällen.
Alle anderen jemals der EPU angehörigen Personen hatten entweder einen gesicherten Job, hatten sich bereits zur Ruhe gesetzt oder befanden sich in Führungspositionen von Unternehmen oder Regierungen. David persönlich wollte so schnell wie möglich seine Professur hinter sich bringen, um dann seinerseits an der EPU zu unterrichten. Jedes Unternehmen auf der Erde würde ihn mit Handkuss als Ausbilder annehmen, aber David zog es vor, mit jüngeren Menschen zu arbeiten, selbst wenn das weniger Geld bedeutete. Der ausschlaggebende Faktor für seine Entscheidung war – genauso wie für diese Fahrt – jedoch seine Faszination für den Weltraum gewesen.
Viele seiner Kommilitonen empfanden Sehnsucht nach der Farben- und Sinnesvielfalt der Erde, nachdem sie fast vier Jahre im Weltraum zugebracht hatten. Soweit ihm bekannt war, war David einer von zwei Menschen auf dem gesamten Schiff, der seine ‘Fenster’, die in Wirklichkeit Projektionsschirme waren und sich auf alle möglichen Bilder einstellen ließen, auf Außenansicht eingestellt hatte. Das All, die Sonne, die Sterne, untermalt vom immerwährenden Schimmern der Milchstraße, dieser Gesamteindruck, der sich dabei einstellte, hatte eine ungemein beruhigende Wirkung auf ihn, was seinem stellenweise etwas zu emotional reagierendem Wesen zugute kam.
Darüber hinaus half es ihm beim Lernen. Es erinnerte ihn stets daran, was er erreichen wollte, wo und wie er sein zukünftiges Leben verbringen wollte, wenn er mal wieder eine leichte Krise ob seiner täglichen Studien oder das Examen betreffend hatte.
Die momentan größte Störung seines Studienzeitplanes lag allerdings gerade neben ihm und verpasste ihm im Schlaf ungewollt einen Kinnhaken, der ihn wieder in die Realität zurückholte.
Das einzige wirkliche Problem, dass sich beständig seit der Errichtung der EPU hielt, war das der sexuellen Freizügigkeit. Bei Dreihundert Studenten pro Jahrgang und einem Verhältnis von nahezu eins zu eins, was Männer und Frauen betraf, gab es nicht viel, was man anhand der fehlenden Zerstreuungsmöglichkeiten tun konnte, als sexuell mindestens einigermaßen aktiv zu werden, sofern man sich nicht der Askese verschrieben hatte. Die diesem Umstand zuzuschreibende und – im Verhältnis zur Population – ungewöhnlich hohe Zahl der ungewollten Schwangerschaften war ein Sachbestand, der sich seit dem ersten Jahr etabliert hatte und der regelmäßig von konservativen oder religiösen Gruppierungen verwendet wurde, um entweder die Schließung des Institutes oder die Umwandlung desselben in eine nicht-koedukative Einrichtung zu fordern. Einzig und allein die Streitfrage, welches Geschlecht nun unterrichtet werden sollte, oder welche Religion die Schirmherrschaft übernehmen würde, hatte bisher die Bildung einer durchsetzungsfähigen Mehrheit verhindert. Doch diese Gefahr nahm ab, je länger sich die EPU als erstklassige Bildungseinrichtung bewies.
Die neben David liegende Störung trug den Namen Sonja und war Davids dritte Freundin während seiner Studienzeit, womit er weit unter dem Durchschnitt lag, seine männlichen Kollegen betreffend. Der lag bei annähernd acht. David hatte das nie so ganz verstanden. Zu Ende gegangene Beziehungen, beziehungsweise die vorausgehenden Trennungen nahmen ihn meist viel zu sehr mit, als dass er besonders schnell zu etwas Neuem in der Lage gewesen wäre. Noch immer verschlafen, trotz der annähernd nachmittäglichen Zeit, stützte er seinen Kopf auf seine Hand und betrachtete den Menschen, der da neben ihm lag.
Fast eins achtzig groß, somit fast so groß wie er selbst, mit völlig zerzausten – woran er nicht ganz unschuldig war – dunkelroten Haaren, und einem im Moment sehr entspannten und friedlichen Gesicht war sie ein Mensch, der eigentlich überhaupt nicht zu ihm passte, wenn er es genau betrachtete. Sie war hübsch, was sie auch wusste, und das zeigte sie auch. Normalerweise hätte er so ein Verhalten als affektiert, eingebildet und selten dämlich bezeichnet, nur bei ihr störte ihn das nicht. Sie war unglaublich gut gebaut, was ihr fortwährend bewundernde Blicke von anderen Männern einbrachte. Karriere war etwas, das ihr wirklich wichtig war und wofür sie auch bereit war, andere Dinge hintenan zu stellen.
Alle diese Eigenschaften hatten ihn immer zurückgehalten, sie anzusprechen, drei volle Jahre lang. Dann war der Zeitpunkt gekommen, an dem sie beide einer Arbeitsgruppe zugeteilt worden waren und sich in seinem Quartier zum Vorbereiten getroffen hatten. Nach der Sitzung, als alle anderen schon gegangen waren, hatten sie zwei volle Stunden damit verbracht, die Aussicht aus seinem Fenster zu betrachten, nein, zu bewundern, und das, ohne ein einziges Wort zu sagen.
Danach war es eine Sache von einer Woche gewesen, dass sie mehr oder weniger bei ihm eingezogen war. Dieser Umstand hatte zu nicht wenigen Komplikationen an Bord geführt. Neben den technischen Bedingungen, die auf Dauer immer nur eine Person pro Quartier erlaubten, war es zu einigen überraschenden Auseinandersetzungen mit einigen – meist männlichen Kommilitonen gekommen, die sich ebenfalls in Sonja verguckt hatten und die jetzt übermäßig enttäuscht waren. Ihre Anwesenheit beeinträchtigte seine Studien erheblich, nur machte das nichts aus. Die Zeit auf der Columbus

wie auch das gesamte Studium war so gut wie vorbei, die Prüfungen würden in zwei Monaten stattfinden und den dafür erforderlichen Stoff konnte er sogar in seiner momentanen Verfassung herunter beten, der einen mittelschweren Kater und schätzungsweise immerhin noch knapp ein Promille beinhaltete.
In der vergangenen Nacht waren sie, nachdem ihre Gruppe auf fünf zusammengeschrumpft war, in sein Quartier gegangen, um dort einen Teil der mitgebrachten Alkoholika zu verzehren. Gegen fünf Uhr morgens, als Rebecca, eine Freundin von Sonja, angefangen hatte, falsch und laut zu singen, waren er und Michael gezwungen gewesen, ihr den Mund zuzuhalten und sie gemeinsam in ihr Quartier zu tragen. Als beim Rückweg der Gang bedrohlich angefangen hatte zu schwanken, war auch David zu dem Entschluss gekommen, es sei besser, jetzt zu Bett zu gehen und hatte Michael, der seinerseits auf einem von Rebeccas Stühlen eingeschlafen war, seinem Schicksal überlassen.
Nachdem er sich satt gesehen hatte, stand David auf, um das Frühstück herzurichten. Als er die Konsole diesbezüglich eingestellt hatte, setzte er sich in seinen Sessel, um die Aussicht die viereinhalb Minuten zu genießen, die es brauchen würde, die Brötchen, den Kaffee und alle anderen Zutaten herzustellen und zuzubereiten.
Der Sessel war eine Spezialanfertigung eines Freundes, der Industriedesign studierte. Eigentlich hatte er seinen festen Platz auf der EPU, jedoch hatte David es hinbekommen, ihn nach und nach in Einzelteilen an Bord zu schmuggeln. Diverse gefälschte Lieferscheine und Firmenausweise hatten in diesem Zusammenhang eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Mit absoluter Sicherheit stellte er einen Verstoß gegen diverse Bestimmungen an Bord dar, nach denen jedes Möbelstück auf eine bestimmte Art und Weise herzustellen war und nur aufgrund medizinischer Befunde verändert werden durfte. Dieser Sessel entsprach keiner dieser Vorschriften. Er war riesig, es ließ sich nachgewiesenermaßen zu zweit darin schlafen, er war schwer – es hatte einer Metallrohrrahmenverstärkung mit anschließender zusätzlicher Verankerung im Boden bedurft, damit das Möbelstück nicht fortwährend umfiel oder in einzelne Stücke zerbrach – wesentlich schwerer, als es die offiziellen Belastungsgrenzen der tragenden Elemente des Schiffes erlaubten, in diesem Fall der Boden, und er war ungeheuer gemütlich. Der Hauptgrund dieser Gemütlichkeit entsprang der unglaublich geschmacklosen Auswahl, was Material und Farbe betraf.
David hatte, als er eines der familieneigenen Fotoalben durchstöbert hatte, eine Aufnahme gesehen, auf der eine seiner Vorfahren zu sehen gewesen war. Das Sofa, auf dem die Frau während dieser Aufnahme saß, hatte es ihm angetan.
Eigentlich, so war es ihm damals durch den Kopf gegangen, hätte so eine Farbzusammenstellung aus reinen Menschenrechtsgründen gar nicht existieren dürfen, aber in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts war so ziemlich alles möglich gewesen, wie er später festgestellt hatte.





3




Das orangene Leuchten inmitten der Weltalls fiel ihm erst wirklich auf, als es wieder verschwand, um dann in regelmäßigen Abständen wieder aufzutauchen.
Alle optisch flexiblen Oberflächen, wozu auch die ‘Fenster’ gehörten, unterlagen einer Zentralsteuerung, die, wenn nötig, allgemeine Signale übermittelte, die von ‘Guten Morgen’, bis hin zu ‘Alarm’ reichten. Letztere Botschaft war die im Moment übermittelte, wie David langsam aber sicher realisierte.
Zu Beginn des Studiums hatte er wie jeder andere Student einen Intensivkurs absolvieren müssen, während dessen er die an Bord und der Universität gängigen und wichtigen Signale lernte. Dieser Kurs wurde mittels Schlafband absolviert und dauerte drei Wochen. Nach diesem Kurs war man in der Lage, alle Signale praktisch im Koma erkennen. Roter Alarm wurde eigentlich nur zu Übungszwecken ausgesandt, damit alle Passagiere wussten, was im Notfall zu tun sei. Diese Notfälle waren äußerst selten, und kamen auch nur in Form von unerwarteten Raumschuttschauern vor, denen man nicht mehr rechtzeitig hatte ausweichen können, aber diese Fälle kamen eben vor und waren, wenn wirklich vorhanden, ein ernstzunehmendes Risiko. Das Schema der Übungen änderte sich ständig, so dass nie klar war, ob nun eine Übung angesetzt war, oder ob wirklich ein Ernstfall vorlag. Dementsprechend wachsam erhob sich David aus seinem Sessel, um gleich wieder in selbigen geworfen zu werden, was er anfangs seinem immer noch nicht wieder voll hergestellten Gleichgewichtsgefühl zuschrieb. Das Krachen, mit dem Sonja eine Sekunde später das Bett unbeabsichtigter weise verließ und auf dem Boden aufschlug, sagte ihm jedoch, dass diese Annahme nicht zutraf. Das Schiff schlingerte weiterhin, als er abermals aufstand und sich in Richtung Monitor bewegte. Ein kurzer Blick aus dem Fenster zeigte das gewohnte Bild. Die angedeuteten Strahlen der Sonne, die Milchstraße im Hintergrund, und absolut nichts, was auch nur im Entferntesten Anlass zur Beunruhigung gegeben hätte. David tippte gegen den Monitor neben sich, der daraufhin sofort zum Leben erwachte und las den Satz:
System Arbeitet; Kein Zugriff Möglich


Die in die Tastatur eingehämmerte Frage nach dem Grund des Alarmes bewirkte keinerlei Veränderung auf dem Schirm; nicht einmal die eingegebenen Buchstaben erschienen auf dem Monitor, was David erstmals wirklich wach werden ließ.
Was gerade passierte, war nicht nur ungewöhnlich, eigentlich war es unmöglich. Im Prinzip hätten alle dreihundertundachtzehn Anwesende auf dem Schiff den Computer gleichzeitig auf der höchsten Ebene benutzen müssen, um dann dem dreihundertundneunzehnten Benutzer – den es nicht gab – diese Botschaft zukommen zu lassen. Darüber hinaus erhob sich eine der theoretischen Benutzer gerade verwirrt vom Fußboden, was die Möglichkeit dieser Antwort noch weiter einengte. Folglich musste etwas wirklich elementares schiefgelaufen sein. Was wiederum bedeutete, dass dies ein echter Alarm war.

Adrenalin ist die unglaublichste Erfindung des menschlichen Körpers, stellte David zwei Stunden später fest, als er endlich die Zeit für solche Überlegung fand.

Innerhalb von zwanzig Sekunden war David sowohl hellwach als auch total nüchtern, was, den letzten Abend berücksichtigend, eine wirklich erstaunliche Leitung war.
»Verdammt!« Es folgte eine Pause, während der sich Sonja orientierte und es schließlich schaffte, ihren Kopf über die Bettkante zu heben. »Was soll denn der Krach?« Gemeint war damit das akustische Signal, das mit dem optischen Notsignal einherging, das bisher aber nur unterbewusst in Davids Wahrnehmungsbereich vorgedrungen war.
Es handelte sich dabei um ein hinterhältiges Summen, das knapp unterhalb der hörbaren Frequenzen lag, das sich aber nach kurzer Zeit als ein leichtes, aber stetiges Wummern im Bauch und in den Schläfen bemerkbar machte. Menschen mit einem überdurchschnittlich gutem Gehör kamen sich vor, als ob sie in einer großen Basstrommel saßen.
»Zieh Dich besser an, ich hab’ das dumpfe Gefühl, wir stecken in Schwierigkeiten! Und warte hier, ich komme gleich wieder!«, wies er sie an, und befolgte damit, Sonja betreffend, unterbewusst die Sicherheitsregeln, die besagten, dass man, solange kein Evakuierungsalarm gegeben wurde, an Ort und Stelle zu verbleiben hatte, sofern dieser Ort unbeschädigt war. Dass er diese Regel gerade selbst missachtete, war eine völlig andere Geschichte.
Ein kurzer Blick auf den Korridor bestätigte seine Befürchtungen. Rauchschwaden waberten durch die Luft und verdeckten eine zum Teil verwirrte und verängstigte Menschenmenge, die auf dem Weg in Schutzräume, das MedLab, oder sonst wohin war. David hielt einige Sekunden lang nach einem bekannten Gesicht Ausschau und packte schließlich Marc, seines Zeichens Maschinenbaustudent, nachdem dieser auf einen Ruf nicht reagiert hatte, von hinten am Kragen und zog ihn in sein Quartier, um die Tür so schnell wie möglich wieder schließen zu können. Dem Geruch nach zu beurteilen, der von dem Rauch ausging, lieferten unter anderem diverse Kunststofflegierungen die Nahrung für die Brände. David fragte sich kurz, warum der Computer die Luft nicht reinigte, wurde jedoch von Marc abgelenkt, der vor sich hin wimmernd vor ihm auf dem Boden lag. Erst nachdem David ihm eine satte Ohrfeige gegeben hatte, war Marc imstande, seiner Umgebung volle Aufmerksamkeit zu schenken und berichtete, was vorgefallen war.
»Man … man hat auf uns geschossen«, brachte er schließlich hervor, um fast sofort von einer erneuten Erschütterung zu Boden geworfen zu werden.
»Geschossen? Das soll wohl’n Scherz sein?!« Sonja betrat voll angekleidet den Wohnraum und betrachtete Marc, der sich, ohne eine Antwort zu geben, mit verkrampftem Gesicht auf dem Boden wand.
Nachdem sie ihn vorsichtig auf die andere Seite gedreht hatte, war der Grund für seine Sprachlosigkeit erkennbar. Fast der gesamte rechte Arm wies Verbrennungen dritten Grades auf und das Fleisch warf an einigen Stellen schon Blasen. Darüber hinaus wies sein Gesicht mehrere Kratzer und blaue Flecke auf. Das rechte Bein seiner Hose war an einem Fleck dunkelrot verfärbt.
»Oh, verflucht! Wie hast du denn das gemacht?!« Die Frage war rhetorischer Natur, da Marc offensichtlich nicht in der Lage war, zu antworten. Einige Sekunden später hatte sie sich wieder gefangen und gab David im kühl-sachlichen Tonfall, den David von der angehenden Ärztin gewohnt war, Anweisungen, was zu tun sei. Sie behandelten Marcs Wunden mit Kühlgel aus dem Notfall-Set, welches weiteren Zerfall des Gewebes verhindern sollte und Sonja verabreichte ihm eine mittlere Dosis eines Amalgetic, das Marc einerseits von den Schmerzen befreite, ihn jedoch soweit bei Bewusstsein ließ, um erzählen zu können, was sich zugetragen hatte.
»Ich saß gerade beim Essen, als es losging«, berichtete er schließlich, mit zunehmend glasigem Blick. »Als erstes sind die Lampen angegangen, und alle haben angefangen zu fluchen, dass zu viele Übungen durchgeführt werden. Dann hat plötzlich das Schiff angefangen, zu wackeln, und alle … alle sind aufgesprungen und sind raus gerannt. Ich hab’ noch gedacht ‘was für ein Chaos’ und bin sitzengeblieben, um zu warten, dass es leerer wird … als ich aufgestanden bin, ist die Wand neben mir in die Luft geflogen ...«
»Verdammt!« Sonja befühlte diverse Stellen an Marcs Körper. Ihre Miene verdüsterte sich dabei zusehends. Währenddessen fuhr der Untersuchte mit einer Stimme zu erzählen fort, die sogar David erkennen ließ, dass sich Marcs Zustand rapide verschlechterte.
»Ich hab’ aus dem Fenster gesehen. Da war ein Schiff. Ausgesucht hässlich.«
Marcs Stimme war mittlerweile leiser geworden, seine Augen waren jedoch weit aufgerissen, als er das Vergangene noch einmal durchlebte. Selbst die offensichtlich angeborene Antipathie, die zwischen Marc und David bestand, löste sich anhand des Zustandes, in dem der junge Mann, der da vor ihm auf dem Boden lag, in Davids Kopf auf.
»Dann war da was … ganz hell ...« Marcs Stimme versagte und er blieb, von einem leichten Zittern abgesehen, regungslos auf dem Boden liegen, während seine Augen noch immer etwas beobachteten, das vermutlich nur ein paar Minuten zurücklag.
»Oh, Mann, den muss es richtig erwischt haben. Er steht unter Schock«, teilte Sonja David mit. »Wir müssen ihn unbedingt warm halten und ruhig stellen, bis ich ihn ins MedLab bringen kann.«
Während Sonja Marc versorgte, soweit es die Umstände zuließen, dachte David darüber nach, was er eben von Marc erfahren hatte. Ein Schiff? Beschossen?! Völlig unmöglich. Wer sollte denn geschossen haben? Wahrscheinlich die Zylonen. Den Jungen musste es noch schwerer erwischt haben, als es den Anschein hatte.
Die Menschheit hatte seit mehr als zweihundert Jahren versucht, Kontakt mit außerirdischen Lebewesen aufzunehmen; der Erfolg ließ sich, Area 51 ausgenommen, als gleich Null bezeichnen. Darüber hinaus waren sie keine vier Tage von der Station und knappe fünf von der Erde entfernt. Wenn irgend etwas so weit in das Sonnensystem vorgedrungen wäre, hätte sich zumindest einer der Außenposten auf Venus oder Mars gemeldet, um sie zu warnen.
Völlig lächerlich, das Ganze. Wahrscheinlich war ein Asteroid oder sowas dem Schiff unbeachtet zu nahe gekommen und hatte die Außenhülle beschädigt.
David holte die Ersatzsauerstoffmaske aus dem Fach, setzte einen neuen Filter auf und machte sich daran, die Situation an Bord auszukundschaften.
»Ich komme so schnell wie möglich wieder«, versprach er Sonja, nachdem er ihr versichert hatte, im MedLab vorbeizuschauen, um dort Bescheid zu sagen, falls nötig, eine Liste der Verletzten anzufertigen und sich nach dem allgemeinen Zustand des Schiffes und der restlichen Situation zu erkunden.

Besagte zwei Stunden später hatte er nicht nur diese Informationen erhalten, sondern befand sich darüber hinaus auch zum ersten Mal in seinem Leben in einer Situation, die er so nun wirklich überhaupt gar nicht geplant hatte.
Er hatte irgendwie das Kommando über ein Raumschiff und dessen Besatzung erhalten.
Zumindest was davon übrig war.

Eine Zeitlang war er durch das Raumschiff gelaufen, um überall das selbe Bild vorzufinden. Menschen, die er zumindest vom Sehen her kannte, liefen, standen, saßen oder lagen völlig paralysiert in der Gegend herum und strahlten alle miteinander dasselbe Gefühl aus: Angst.
Nach einigem Suchen traf er auf einige Leute, die er entweder kannte, und die nicht völlig apathisch oder zumindest ansprechbar waren. Diese erzählten ihm, dass das, was Marc berichtet hatte, offenbar mehr oder weniger der Wahrheit entsprach.
Mitten während der Mittagspause, als ein Teil der Stundeten in der Mensa und so ziemlich alle Dozenten in der Cafeteria waren, hatte plötzlich der Alarm begonnen, nachdem kurz zuvor – die Schilderungen reichten hier von 'erst nicht da, dann 'schwupps' plötzlich da' bis hin zu 'es wurde ganz langsam sichtbar, ich konnte sehen, wie es langsam Kontur annahm' – ein Schiff vor den Fenstern aufgetaucht war und das Feuer eröffnet hatte.
Farbe und Form des Schiffes, sollte es sich wirklich um eines handeln, blieben ebenso unklar wie der gesamte Vorgang. Rund, eckig, blau, grün, grell erleuchtet, dem Hintergrund angepasst, so ziemlich jede Beschreibung war vertreten.
Letztendlich lief es darauf hinaus, das irgend etwas

sie mit etwas Hellem angegriffen hatte, und mindestens einen Treffer gelandet hatte.
Die Folgen waren fatal.
Fast die gesamte vordere Steuerbordseite des Schiffes, also der direkte Trefferbereich, war in Mitleidenschaft gezogen worden, was im Klartext hieß, dass sie nicht mehr existent war. Der einzig positive Umstand, der aus dieser Tatsache zu ziehen war, lag darin, dass keine lebenswichtigen Anlagen in diesem Teil des Schiffes gelegen hatten, sondern nur Privatquartiere und Gemeinschaftseinrichtungen.
Die ehemals 318 Mann starke Besatzung hatte sich innerhalb von fünf Sekunden auf einen verwirrten und verängstigten Haufen von ein paar Dutzend Menschen reduziert. Der Rest hatte sich entweder innerhalb der Cafeteria, verschiedenen Seminarräumen oder Privatquartieren aufgehalten, die in der Peripherie des Trefferbereiches gelegen waren. Alle diese Räume waren als solche nicht mehr vorhanden. Entweder fehlte die komplette Außenhülle, sie waren in einem Maße verstrahlt, dass sich automatische Schutzfelder um sie herum gebildet hatten, oder sie waren komplett in ihre Moleküle zerlegt worden, mit allem, was sich innerhalb dieser Räume befunden hatte.
Die noch intakten Anlagen umfassten teilweise das MedLab, aus dem sich zumindest noch ein Großteil der Ausrüstung benutzen ließ, den Computerkern, der durch seine zentrale Lage am wenigsten in Mitleidenschaft gezogen worden war, und sämtliche Räume, die sich auf der hinteren Steuerbordseite und der kompletten Backbordseite befanden.
Diese Informationen zu erhalten, bedurfte es einiger Anstrengungen.
Da David offensichtlich einer der wenigen Anwesenden war, die durch den Angriff keinen physischen oder psychischen Schaden erlitten hatte, begann er mit ein paar anderen damit, die Überlebenden im Seminarraum 303 zu versammeln, während er es Sonja überließ, die Leitung der Verletztenversorgung zu übernehmen.
Obwohl er ihr gesagt hatte, in ihrem Quartier zu bleiben, war es ihm bewusst gewesen, dass sie keine zwei Minuten würde stillsitzen können. Er war deshalb auch nicht verwundert gewesen, als er in einem der Flure an ihr vorbei kam und sie dabei beobachtete, wie sie sich um einen der Verletzten kümmerte.
Nach einigen Minuten lief er aus Zufall Michael in die Arme, seines Zeichens Physikstudent und somit einer der wenigen guten Bekannten, die David außerhalb des eignen Fachbereiches hatte.
»Oh, Mann, ich dachte schon, ich würde hier überhaupt niemanden mehr treffen, den ich kenne«, begrüßte ihn Michael.
»Ich versuche gerade, die Leute zusammenzutrommeln, so weit das geht.« David hatte weder die Zeit noch die Lust auf Smalltalk, auch wenn ihm ebenso ein Stein vom Herzen gefallen war, ein bekanntes Gesicht zu sehen, das fast vollständig intakt war. Die allgegenwärtige Baseballmütze, die Michael nicht einmal zum Schlafen abzulegen schien, saß schief auf seinem Kopf und hielt ihm die schulterlangen Haare aus dem Gesicht. Sein sonst heiteres Wesen schien sich an einen weit entfernten Ort verflüchtigt zu haben, denn in Michaels Blick konnte David alles mögliche sehen, nur keine Heiterkeit; ein Umstand, an den er sich spontan nicht erinnern konnte. Nur ein paar Schrammen und die dunklen Augenringe, die von letzter Nacht herrührten, waren auffällig.
»Was zum Teufel ist eigentlich mit dem Computer los?!«
»Ich weiß es nicht, aber ich kann mal versuchen, was in Erfahrung zu bringen. Das kann allerdings ‘ne Weile dauern, ein paar von den Gängen sind zusammengebrochen, wir müssen uns da erst durch buddeln. Wir sitzen echt in der Scheiße. Hast du irgendeine Ahnung, was passiert ist?«
Ein schneller Abgleich der Information ergab, dass keiner von beiden auch nur eine blasse Ahnung hatte, was gerade passierte. Da Raum 305 der größte Seminarraum auf diesem Deck war und mehreren Aussagen zufolge noch komplett intakt, einigten sie sich darauf, alle Beteiligten dort zu versammeln.
Michael nickte. »Ich komm’, so schnell ich kann. Ich muss noch ein, zwei Sachen überprüfen.« Daraufhin war er wieder in dem allgemeinen Durcheinander verschwunden.
David kam sich sehr alleine vor. Er hatte keine Ahnung, dass das erst der Anfang sein sollte. Kurzentschlossen packte er den ersten Menschen, den er zu fassen bekam, um zusammen alle nicht ernsthaft verletzten Personen in Raum 305 zu versammeln.
Dass besagte Person dieser mehr als schroff geäußerten Aufforderung nachkam, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, verwunderte David in diesem Augenblick nicht weiter. Wäre dies der Fall gewesen, hätte er sich wahrscheinlich unter seinem Bett versteckt.
Siebenunddreißig Minuten war es zum ersten Mal wieder möglich gewesen, mit den einsatzfähigen Menschen über die herrschende Situation zu reden.
In diesem Moment hatte David eine weitere Erkenntnis getroffen. In dem Raum befand sich kein einziger Ingenieur, nur 2 Wartungsangestellte, sowie 3 sehr verwirrte und arg mitgenommene Professoren. Ansonsten waren nur Studenten anwesend.
Den mehr als widersprüchlichen und stellenweise einfach irrwitzigen Aussagen der verschiedenen Personen nach war die allgemeine Lage des Schiffes mehr als unklar. Sicher war nur, dass ein riesiges Loch dort war, wo es nicht hätte sein sollen und diverse Menschen verletzt oder gar tot waren. Nach einem kurzen Blick in Richtung der Professoren und Techniker, die nicht den Eindruck machten, einen klaren Gedanken zu fassen zu können, sei es aufgrund seelischer oder nicht auf den ersten Blick zu erkennenden körperlichen Traumata, griff sich David kurz entschlossen einen Stuhl und stellte sich darauf.
»Kann mir mal jemand sagen...«, begann er vorsichtig, um zu bemerken, dass seine Stimme im allgemeinen Stimmengewirr unterging.
»Ruhe, zum Donnerwetter noch mal! Alle halten jetzt die Schnauze und hören mir zu, ist das klar!«, brüllte er nach einer kurzen Pause. Er war kurz davor, in hysterisches Gelächter zu verfallen, konnte ich aber gerade noch beherrschen.
Augenblickliche Stille senkte sich über den Raum. Erstaunt ob der Wirkung seines Ausbruchs blickte David die vor ihm versammelte Menge an, bevor er fortfuhr, ehe sich wieder jemand zu Wort melden konnte.
»Könnte mir mal jemand sagen, wo die verbleibende...« er hielt inne, um seine Worte neu zu formulieren.
»Entschuldigung«, fuhr er schließlich fort. »Ich weiß, meine Wortwahl mag einigen von euch jetzt reichlich taktlos erscheinen, aber kann mir mal jemand sagen, wo sich die übriggebliebene Schiffsbesatzung herumtreibt?« Erneutes Stimmengewirr, wenn auch nicht annähernd so laut wie vorher, breitete sich im Raum aus, brachte jedoch keinerlei Antworten, sondern erzeugte nur ein flaues Gefühl in der Magengegend der meisten. David betätigte die Sprechanlage an der Wand neben ihm.
»Sonja? Hier ist David.« Normalerweise war es Studenten strikt untersagt, die Sprechanlage zu benutzen. Die momentane Situation sprach allerdings dafür, sich über dieses Verbot hinwegzusetzen. Das Prasseln in der Leitung, das anstelle einer Antwort aus dem Lautsprecher drang, ließ ihn einige Schritte zurückweichen. Offensichtlich war der Schaden doch nicht nur auf die Außenhülle beschränkt. Er schaltete den Lautsprecher ab und suchte nach jemandem, den er in Bezug auf die Verletztenliste fragen konnte. Er hatte in der letzten Zeit einige von Sonjas Kommilitonen kennengelernt, konnte jedoch keinen davon in der Menge vor ihm erblicken. Kurz entschlossen packte er einen der Herumstehenden, den er zumindest vom Sehen her kannte und sagte:
»Kannst Du mir einen Gefallen tun?« Ohne eine Antwort abzuwarten, redete er weiter. »Geh’ mal ins MedLab und frag Sonja oder irgendeinen, der sich da auskennt, wie es mit den Verletzten steht, und ob und wie viele der Mannschaftsmitglieder dabei sind. Okay?«
Nachdem Marcel sich angeschickt hatte, die Information zu besorgen, hatte David den Eindruck gehabt, dass der Mann fast dankbar gewesen war, dass er ihn so schroff herumkommandiert hatte. Über die weiteren Konsequenzen dachte er jedoch auch jetzt nicht weiter nach. Er stellte sich wieder auf seinen Stuhl. Es galt die Zeit zu füllen, bis die Lage geklärt war.
Ein oberflächlicher Blick in die Gesichter der meisten zeigte deutlich, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die ersten hysterischen Anfälle auftraten. Das wollte er verhindern, da ein solches Verhalten extrem ansteckend war. Auf eine Menge von sich prügelnden Menschen hatte er gerade gar keine Lust.
»Also«, begann er seine improvisierte Rede und betete, dass Sonja bald etwas von sich hören lassen würde. »Die Lage ist momentan etwas unklar.« Er hatte beschlossen, die Tatsache, dass das halbe Schiff in Trümmern lag und mehrere dutzend Menschen vermisst oder gar tot waren waren, nicht explizit zu erwähnen.
»Bevor ihr mich fragt: Ich weiß auch nicht, was passiert ist, aber wir haben einige Verwundete, die versorgt werden müssen. Ich schlage vor, dass wir Gruppen bilden, die die notwendigen Arbeiten verrichten, bis sich die Situation geklärt hat. Also: Wer kennt sich mit medizinischer Betreuung aus?«
Diverse Hände reckten sich in die Höhe, woraufhin David ein Stein vom Herzen fiel. Momentan waren sie nämlich ohne behandelnden Arzt, da jener, wie er von mehreren Personen erklärt bekommen hatte, vor einer Stunde zu Mittag gegessen hatte. Da er nicht unter den vor ihm stehenden zu entdecken war und Sonja bisher noch nichts von sich hatte hören lassen, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er den Speisesaal nicht hatte verlassen können, bevor dieser explodiert war.
Diese Art von Informationen war die einzige, auf die er sich einigermaßen verlassen konnte. Niemand hatte eine Ahnung, was eigentlich passiert war, aber er bekam langsam aber sicher ein recht gutes Bild davon, wer alles mit Sicherheit zumindest verletzt oder gar tot war. Und dieses Bild gefiel ihm gar nicht. Was mit den medizinischen Assistenten geschehen war, wusste er nicht, jedoch waren sie nicht aufzufinden, und selbst wenn sie noch alle am Leben und unverletzt waren, würden diese alle Hilfe, die es gab brauchen, denn die medizinische Station war eigentlich für Dinge wie gebrochene Knochen eingerichtet, nicht für einen derartigen Katastrophenfall.
»Gut«, fuhr er fort. »Alle, die sich gemeldet haben, gehen ins MedLab und melden sich bei Sonja. Das ist die große gutaussehende rothaarige, die an alle Befehle verteilt. Die wird euch dann sagen, wie ihr helfen könnt.« Vereinzeltes Gelächter erklang, während sich die angesprochenen Personen aus der Gruppe lösten und dem Ausgang entgegenstrebten.
David wusste nur zu gut, wie Sonja in solchen Situationen reagierte, so wie die meisten anderen, die einmal längere Zeit mit ihr zu tun gehabt hatten. Die Reaktionen zeigten jedoch, dass die ersten Ansätze von Panik im Keim erstickt waren. Die vorherrschende Situation und die anstehenden Aufgaben ließen dafür keinen Platz. Auch die Übriggebliebenen brachten so etwas wie Entschlossenheit zum Ausdruck, als ob sie es ihren Kommilitonen, die gerade verschwunden waren, nachmachen wollten.
»Was gibt es noch zu tun?«, fragte David laut. In diesem Augenblick bemerkte er, dass sich Michael mit einem Gesichtsausdruck durch die verbleibende Menge schob, der besagte, dass eine arbeitsreiche Zeit hinter ihm lag. Ebenso war ihm, jetzt, da er keinen Atemschutz mehr trug, deutlich anzusehen, dass er seinen Rausch von gestern Nacht noch nicht vollkommen ausgeschlafen hatte. Hinzu kamen die Ereignisse der letzten Stunde.

Während der vergangenen Dreiviertelstunde hatte Michael sich abwechselnd damit beschäftigt, Verletzte ins MedLab zu bringen und herauszufinden, wie es um den Maschinenraum bestellt war. Wie David war ihm aufgefallen, dass er seit dem Zwischenfall keinem Besatzungsmitglied begegnet war und das machte ihm zunehmend Sorgen.
Die Maschinerie an Bord eines Raumschiffes war zwar sehr leicht zu bedienen und zu warten, so dass es üblich war, während des Schichtwechsels den Maschinenraum fast völlig unbemannt zu lassen, sollte sich die Ablösung einmal verspäten. Dies traf jedoch nur zu, solange alles in Ordnung war. Mit Zwischenfällen war nicht zu spaßen, geschweige, dass die Reparatur ein Weilchen warten konnte.
Im Moment waren fast alle Monitore an Bord blockiert oder ausgefallen, was ihn zusätzlich beunruhigte. Eine derartige Überlastung konnte nur wenige Ursachen haben, und keine dieser Möglichkeiten gefiel ihm.
Es brannte ihm unter den Fingernägeln, etwas zu tun, allerdings fehlte es ihm dazu an Mitteln, an Helfern und vor allen Dingen an einem kühlen Kopf. Er war, bevor David die Initiative ergriffen hatte, drauf und dran gewesen, das selbe zu tun, was allerdings mit ziemlicher Sicherheit in einem ähnlichen Fiasko geendet hätte, wie es bei seinen Referaten meist der Fall war.
Jetzt allerdings, wo er die Situation einigermaßen realistisch einschätzen konnte, musste er an sich halten, nicht laut los zu schreien.
»Wir haben da ein kleines Problem, fürchte ich«, meinte er, endlich bei ihm angekommen, zu David im Flüsterton, nachdem sich dieser in die Hocke begeben hatte. »Ich weiß immer noch nicht genau, was kaputt ist, aber in der Computerzentrale herrscht ein Chaos, das lässt sich nicht mehr mit Worten beschreiben. Wir müssen da ganz schnell was machen!«
Der Blick, den Michael ihm zuwarf, veranlasste David, diese Bemerkung nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.
Michael und er kannten sich bereits seit drei Jahren, wenn sie auch nicht die allerbesten Freunde waren. Im Prinzip beschränkten sich ihr Umgang auf gelegentliche gemeinsame Vorlesungen und kleine Feiern wie gestern Abend. Davids Meinung nach war Michael meistens ‘ein klein wenig zu enthusiastisch’ wie er es mal scherzhaft ausgedrückt hatte, wenn es um sein Studium ging.
Dieser Blick und die Tatsache, dass Nina, die mit Michael zusammen studierte, hinter Michael stand und den selben Gesichtsausdruck trug, ließen ihn jedoch zu dem Schluss kommen, dass es wirklich wichtig war. Wenn diese beiden irgend etwas für wichtig hielt, dann war es wichtig.
In diesem Augenblick kehrte Marcel in den Raum zurück, um David, seinem Gesichtsausdruck nach zu beurteilen, eine weitere schlechte Nachricht zu übermitteln.
»Oh-oh!«, erklang Michaels Stimme.
»Schnauze, verdammt!«, herrschte David ihn an. Marcel gab sich offenbar alle Mühe, seine Gedanken nicht offen zu zeigen, jedoch sprachen seine Augen, wenn man sich die Mühe machte, genauer hinzusehen, Bände über sein Gefühlsleben. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass ihm nur der Anblick der Verletzten auf den Magen geschlagen war, betete David im Stillen.
David las sich die Mitteilung, die Marcel ihm reichte, in aller Ruhe durch und gab sich ebenfalls Mühe, seine Gefühle nicht offen zu zeigen. Der zugegebenermaßen provisorische Bericht überstieg seine schlimmsten Befürchtungen.
»Danke!«, meinte er schroff zu Marcel und gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass er ihn an dem Inhalt der Mitteilung mitverantwortlich machte. Das war zwar nicht fair Marcel gegenüber, aber ungemein befriedigend, wie David feststellte. Nach einigen Augenblicken stellte er sich wieder auf den Stuhl und meinte im optimistischsten Ton, den er zuwege brachte:
»Wer sich Technik auskennt ... das hier sind Michael und Nina. Die beiden finden mit Sicherheit was zu tun für euch. Vielleicht kriegt ihr ja die Monitore wieder zu laufen. Noch Fragen? Na, dann ab!«
Er blickte sich in dem Raum um. Übrig geblieben waren ungefähr zwanzig Personen, die ihn erwartungsvoll anblickten. Unter ihnen waren erstaunlich viele, die er persönlich kannte und die er als intelligent und halbwegs kompetent einstufte. Das zumindest machte ihm Hoffnung. Die Zahlen, die er eben gesehen hatte, ließen ihm immer noch die Knie weich werden.
»Tja, äh, ich würde mal sagen, dass wir uns in zwei Gruppen aufteilen«, fuhr er mit seiner improvisierten Rede fort. »Die eine hilft bei den Aufräumarbeiten und sucht nach Verletzten, die anderen gucken, ob sie einer der anderen beiden Gruppen helfen können. Mehr fällt mir im Moment auch nicht ein.«
Eine Weile stand er bewegungslos da, während sich die Menge langsam, aber mit einer erkennbaren Zielstrebigkeit auflöste. Er dachte über die Situation nach, wie er sie einschätzte. Welche war: Kein Mensch, der sich mit der Maschinerie des Schiffes wirklich auskannte, war am Leben oder einsatzfähig.
Der Ursprung für ihren Zustand, was oder wer auch immer das sein sollte, war nach wie vor da und machte nicht den Anschein, als ob er ihnen plötzlich freundschaftlich unter die Arme greifen würde. Das zumindest schloss er aus den immer noch andauernden Erschütterungen, die das Schiff von Zeit zu Zeit durchliefen. Darüber hinaus zeigten die noch funktionierenden Monitore, die Systeme betreffend, wirklich

beunruhigende Werte an. Er selbst hatte nur einen flüchtigen Blick darauf geworfen, als er zufällig an der Antriebssektion vorbeigekommen war, hatte aber zu viele andere Dinge im Kopf und zu tun gehabt, um wirklich über die Bedeutung der Zahlen nachzudenken.
Die Lage ist momentan etwas unklar.


Das war glatt gelogen, jetzt, wo er es besser wusste. Wenn man den zugeflüsterten Auskünften von Nina und Michael trauen durfte, die aus den Anzeigen wesentlich mehr herauslesen konnten als er selber, würden sie in weniger als zwei Stunden ein wirklich ernsthaftes Problem haben. Unter anderem das, dass sich das Schiff in eine Wolke umher treibender Moleküle verwandeln würde. Abgesehen davon lief, den Umständen entsprechend, eigentlich alles wie am Schnürchen.
Er riss sich von seinen Gedanken los und merkte, dass sich der Raum zunehmend leerte. Er erinnerte sich an einen weiteren Punkt, den er allerdings nicht vor der versammelten Menge hatte erörtern wollen. Er stieg von seinem Stuhl herunter und bedeutete einigen Leuten aus der Menge durch Blicke oder kurzen Bemerkungen, noch dazubleiben.
Die ‘Brückencrew’, sich so herausbildete, bestimmte David mehr oder weniger nach dem Zufallsprinzip, da er sich auf Leute beschränkte, die er kannte, seinem Fachbereich angehörten oder die er schlicht einigermaßen gut leiden konnte. Vor allem aber die, die jetzt noch Anwesend waren.
Das wirklich erstaunliche war, wie er später bemerkte, dass es funktioniert hatte. Alle hatten, zugegebenermaßen erst nachdem er den ersten cholerisch reagierenden Kommilitonen, der noch im Raum verblieben war, einen kräftigen und mustergültigen Haken versetzt hatte, allen seinen Anweisungen gehorcht und sich sofort auf den Weg gemacht.





4




»Okay, kann mir irgendeiner erklären, was wirklich

los ist?« David ließ seinen Blick über die versammelte ‘Mannschaft’ gleiten, die sich in der zum Konferenzraum umfunktionierten Messe der ehemaligen Schiffsbesatzung versammelt hatte.
Alle Anwesenden waren mehr oder weniger Freunde von ihm. Oliver – ein alles in allem recht ruhiger Mensch aus dem Bereich Psychologie, dessen Hobby darin bestand, sich alle drei Wochen die Haare zu färben, saß etwas abseits von den anderen, bohrte mit seinen Blicken Löcher in die Luft und fummelte geistesabwesend an seinen im Moment grünen Haaren.
Nina, Davids fast-ehemalige, ein Umstand, der ihm eigentlich nicht besonders behagte, zog es vor, lieber zu stehen, als zu sitzen, ein Umstand, weshalb sich David in ihrer Gegenwart permanent unruhig fühlte. Diese immerwährende Anspannung hatte vor einiger Zeit auch eine Beziehung verhindert. Allerdings war sie der wohl mit Abstand intelligenteste Mensch im gesamten Raum. Neben ihrem eigentlichen Studiengang Biochemie hatte sie es sich zum Hobby gemacht, Sprachen zu studieren. Insgesamt beherrschte sie im Moment sechs fließend, zwei nur gut und drei weitere soweit, dass sie sich verständlich machen konnte.
Wenn man Sonja und Michael hinzuzählte, der es mit seinen 1,98 spielend schaffte, alle Anwesenden selbst im Sitzen zu überragen, waren sie insgesamt zu fünft. Seit der Ernennung zur ‘Brückencrew’ waren etwas mehr als zwanzig Minuten vergangen.
Als sie die Brücke betreten hatten, die eigentlich die Bezeichnung ‘Kommandoraum’ trug, hatten sie eines der bis dahin verschollenen Mannschaftsmitglieder entdeckt. Wie es sich der allgemeinen Vorstellung nach für einen Captain gehörte, hatte er wohl die Stellung gehalten, während die eine Schicht auf dem Weg zum Essen oder in die Quartiere und die Ablösung auf dem Weg zur Arbeit gewesen war.
Ebenso wie in dem Maschinenraum war das nicht unüblich, da es sich bei der Columbus nicht um ein militärisches Schiff handelte und die Arbeitsbedingungen alles in allem recht lax waren. Dass der Captain auf dem Brückendeck verblieben war, war allerdings auch Tatsache zuzuschreiben, das sich sein Büro auf dem selben Deck befand, gleich neben dem Konferenzraum.
Nachdem sie sich eine kurze Weile in dem Raum umgesehen hatten, war allen Beteiligten der aufkeimende Optimismus schlagartig wieder ausgetrieben worden. Erstens, weil sie sich die Brücke anders vorgestellt hatten. Das Wort ‘geräumig’ hatte in diesem Zusammenhang eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Die Realität sah anders aus. Auf knapp dreißig Quadratmetern gab es vier schmale Gänge, die die einzelnen Stationen miteinander verbanden, der Rest war vollgestopft mit Computern und anderen Geräten, die für die Steuerung eines Raumschiffes offensichtlich nötig waren.


Ende der Leseprobe

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Impressum

Texte: Dennis Blesinger (c) 2012
Bildmaterialien: http://www.freedigitalphotos.net/images/Space_and_Science_Fi_g289-Large_Spaceship_Or_Docking_Station_In_Earth_Orbit_p72447.html
Lektorat: Dennis Blesinger
Tag der Veröffentlichung: 21.07.2012

Alle Rechte vorbehalten

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