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 "Zwischen 1910 und 1979 wurden in der Harvey-Gold-Anstalt Patienten behandelt, die an psychischen Störungen aller Art litten. Heute längst veraltete und umstrittene Techniken wie Elektroschocks und Lobotomien sollen hier angewendet worden sein. Mehrere hunderte Menschen starben - meist unter ungeklärten Umständen - die dann auf dem Gelände begraben wurden. Man munkelt bis heute noch, dass die Seelen, die noch keinen Frieden gefunden haben, die Anstalt heimsuchen, immer auf der Suche nach ihrem Mörder. Nachbarn berichten über lauten Lärm in der Nacht und flackernde Lichter, obwohl dort seit Jahrzehnten kein Strom mehr fließt", las ich meinem Freund vor.

"Na, wäre das was?", fragte ich ihn gespannt, "Den Bildern nach zu urteilen, ist das Gebäude möbliert. Akten, Spritzen, Tabletten...auch alles noch da."

"Weit entfernt von anderen Häusern?"

"Ja und nur über einen schmalen Feldweg zu erreichen", prahlte ich mit meinem Internetfund.

"So wie ich dich kenne, wirst du die Adresse auch schon parrat haben, oder?"

Ich grinste.

"Wir können sofort los. Ist circa eine Stunde von hier entfernt."

Mike blickte zum Fenster. Die Sonne verschwand bereits hinter dem Hügel und ließ ein Meer aus vielen verschiedenen Farben zurück. 

"Meinst du nicht, das ist etwas zu spontan?", meinte mein Freund skeptisch und wandte sich mir wieder zu.

"Die anderen warten schon", beichtete ich ihm.

"Du bist einfach unglaublich", sprach er und grinste übers ganze Gesicht.

Er zog mich zu sich, streichelte sanft über meine Wange und küsste mich.

Ich sah in seine wunderschönen, braunen Augen und musste lächeln. 

Mike begann mit seinen Händen meinen Körper abzutasten. Unsere Zungen berührten sich. Erst berührten sich die Spitzen. Dann wurde der Kuss intensiver. Unsere Zungen glitten weiter in den jeweiligen Mund des anderen. Mit jeder Berührung wurde das Feuerwerk in meinem Kopf größer.

Meine Hände glitten seinen muskulösen Rücken hinunter und verharrten an seinen Hüften, während ich ihn näher an mich heran zog. Er wandte sich kurz von mir ab, um mich aus meinem Shirt zu befreien. Er drückte mich gegen die Wand und legte seine Lippen wieder auf die Meinen. Ich zeichnete seine breiten Schultern nach und spielte mit dem weichen Haar in seinem Nacken. Ich fing an sein Hemd aufzuknöpfen und zog es ihm über seine Schultern.

Er senkte seinen Kopf ein wenig und bedeckte meinen Hals mit Küssen. Ich schloss meine Augen, atmete tief ein. Seine Hand glitt weiter runter. Sanft fuhr er mit seinen Fingern über meinen Bauchnabel in meine Hose. Ein leichtes Lächeln entglitt ihm. Mit der anderen Hand hielt er meinen Kopf. Unsere Blicke trafen sich. Seine Hand wanderte weiter zwischen meine Beine. Ich schloss meine Augen. Mir wurde plötzlich ganz warm. Ich umschlung ihn mit meinem Bein, als ich bemerkte, wie er mich mit seinen Fingern zu streicheln begann. Mein Herz schlug schneller, ich atmete tief ein und hob meinen Kopf nach oben. Er glitt mit zwei seiner Finger weiter zwischen meine Beine. Mir wurde immer wärmer. Er drückte seine Hüfte an mich und nahm seine Hand von mir. Er drückte sich immer fester an meinen Körper und hielt meine Hand unter seine Hüfte. Es tat so weh, dass ich dachte, er schnürte mir gleich das Blut ab.

"Verdammt, die Tür!", flüchtete ich aus der Situation, während ich ihn von mir wegstieß und mein T-Shirt überzog.

Es klingelte sturm. Ich wandte mich der Tür zu und ließ ihn einfach stehen.

"Zieh dich an, wir müssen los!", rief ich Mike zu. 

Ich hatte Angst vor seiner Reaktion. Aber ich war froh über das rettende Klingeln an der Tür. Immer musste es nach ihm gehen. Meine Gefühle und Bedürfnisse hatten für ihn noch nie eine Rolle gespielt. Wieso dachte ich jedes mal erneut, es könnte diesmal anders sein? Wollte ich das vielleicht einfach glauben, um mir die Beziehung noch gut reden zu können, weil ich selber nicht mehr daran glaubte?

"Weißt du, du kannst dich glücklich schätzen, dass ich trotzdem bei dir bleibe. Kein anderer würde sowas lang mit machen. Sex ist das A und O in einer Beziehung, ohne das funktioniert es nicht. Du solltest dir mehr Mühe geben, denn ich tue alles für dich!", rauschte Mike an mir vorbei, während er sich den letzten Knopf seines Hemdes zuknöpfte.

Die hölzerne Türe schloss sich quietschend hinter ihm.

War das sein Ernst? 

Ich schlüpfte in meine schwarzen, völlig kaputten Sneaker, in der Hoffnung, sie würden für diese Nacht noch herhalten, schnappte mir meine dunkle Lederjacke und stürmte zur Tür hinaus.

Ich raste die Treppen hinunter, als müsste ich einen Marathon gewinnen. 

"Da bist du ja endlich", sprach Isabell und wandte sich nun ihrem Auto zu. Ihr Freund Nick setzte sich auf die Beifahrerseite. Mein Freund würdigte mich nicht mal eines Blickes. Im Gegenteil, er stieg sofort in den kleinen, blauen Seat ein. Manchmal fragte ich mich echt, was in seinem Kopf vorging. Ich würde es wohl nie erfahren. Wie kamen wir nun wieder aus dieser Situation heraus. Jedes Mal nach einem Streit stellte ich mir diese Frage. Aber irgendwie bekommen wir es immer wieder hin.

Ich setzte mich hinter Nick und kramte einen Zettel mit der Adresse der verlassenen Anstalt aus meiner Hosentasche, den ich nach vorne reichte. Navi an und los gings.

Isabell fuhr mit durchdrehenden Reifen aus meiner Einfahrt. Mike machte große Augen, als er plötzlich in den Sitz gedrückt wurde. Ihr Fahrstil war für ein Mädchen ziemlich ungewöhnlich, aber mir gefiel er. Wenn ich endlich meinen Führerschein hätte, würde ich es genau so machen.

 

Der Himmel wurde immer dunkler, sodass man die Lichter der Flugzeuge sehen konnte. Die Sterne am Himmelszelt wurden teilweise von dicken Wolken bedeckt. Nur der Mond war klar zu erkennen. Er folgte uns auf unserem langen Weg durch die Dunkelheit.

Mein Blick fiel in die weite Ferne. Mit laut aufgedrehter Musik schossen wir an sämtlichen Wäldern und Gewässern vorbei. Wir näherten uns unserem Ziel immer mehr.

"Wie lange noch?", fragte Mike.

"Nicht mehr lang, ein paar Minuten vielleicht", antwortete Isabell, als sie einen kurzen Blick auf das Handy warf, das Nick in der Hand hielt. Er wies ihr den Weg.

"Bist du schon müde, Schatz?", fragte Mike mich plötzlich und riss mich aus meinen Gedanken.

"Ein bisschen."

Er lächelte mich an und griff nach meiner Hand.

Mir wurde warm ums Herz. Lag vielleicht auch daran, dass mir eiskalt war und er so verdammt warme Hände hatte. Seine Augen strahlten wie Diamanten, als sich unsere Blicke kreuzten.

Plötzlich wippte das kleine Auto hin und her, wie in einem Boot auf offener See. Wir befanden uns auf einem schmalen Feldweg mit lauter Schlaglöchern, denen Isabell geschickt auswich.

"Seht mal, da vorne! Ist es das?", fragte Isabell kurze Zeit später.

Ich lehnte mich nach vorne und versuchte am Beifahrersitz vorbei zu sehen.

"Ja, das müsste es sein", antwortete ich.

Wow, das war ein riesen Gebäude. Es sah viel größer aus als auf den Bildern. Nachbarn hatte es auch kaum. Vorsichtig mussten wir aber trotzdem sein. Mit ausgeschalteten Lichtern fuhren wir einen noch schmaleren Weg entlang, um hinter dem Gebäude parken zu können. Es war schwierig zwischen Feld und Straße zu unterscheiden.

Langsam näherten wir uns dem Hinterhof. Verbogene Gitterzäune umrahmten das gesamte Grundstück. Gespannt betrachtete ich das Gebäude, als wir kurz vor den Zäunen zum Stehen kamen. Leise verließen wir das Auto und schalteten unsere Taschenlampen an.

"Sicher, dass das Haus nicht gleich einstürzt?", fragte Isabell misstrauisch, während sie auf eine mit Rissen übersähte Wand leuchtete.

Mein Blick folgte dem Licht.

"Ich denke nicht, dass das ausgerechnet heute passiert. Wir waren schon in viel heruntergekommeneren Häusern und es ist nichts geschehen", erinnerte ich sie an unsere vergangenen Ausflüge.

Sie seufzte nur und trat näher an den Zaun heran, ihr Blick zum Gebäude gerichtet.

Neugierig beleuchtete ich den Eingangsbereich. Die mit Graffiti besprühte Holztüre stand völlig schief im Rahmen.

"Es war wohl schon vor uns jemand da", äußerte sich Mike. "Das erklärt vielleicht den Lärm, den die Nachbarn laut dem Interneteintrag immer hörten. Die flackernden Lichter kamen bestimmt von den Taschenlampen der hier gewesenen Leute."

"Aber glaubst du wirklich, sie verhalten sich so auffällig? Sie müssen doch auch aufpassen, dass sie nicht von einem der Anwohner erwischt werden", hakte ich nach.

"Weiß ich doch nicht", maulte er bloß und wandte sich wieder seinem Kumpel zu.
Ich verdrehte die Augen und seufzte. Was hatte er denn nun schon wieder?

Ohne mich lange darüber aufzuregen, leuchtete ich weiter das Gebäude ab, während Mike und Nick über den Zaun kletterten. Isabell sah den Jungs hinterher.
"Wollen wir?", fragte ich und steckte meine Taschenlampe in die Jackentasche, um die Hände frei zu haben, wenn ich über den Metallzaun kletterte.
Sie nickte und wartete, bis ich den Zaun hinaufgeklettert war, ehe sie mir folgte. Die Jungs leuchteten uns den Weg. Endlich hatten wir den Zaun überwunden.

Jetzt gab es kein Zurück mehr. Vorsichtig, fast schon schleichend, näherten wir uns dem Gebäude, während ich es mit dem Licht meiner Taschenlampe fesselte. 

Hinter den verdreckten und kaputten Glasscheiben im ersten Stock lugten plötzlich zerrissene Vorhänge hervor, die von einem Windstoß mitgerissen wurden. Dicke, mit Staub übersähte, Spinnenweben hingen an ihnen und wurden vom Wind umspielt.

In den fünf Stockwerken darüber sah es nicht anders aus. Überall Risse in den Wänden und eingeschlagene Scheiben, als hätte hier ein Tornado gewütet.

Glassplitter lagen überall verteilt auf dem Boden, getarnt durch etliches Unkraut, das dort Wurzeln schlug. Bei jedem Schritt knirschte das Glas unter unseren Füßen, als wir uns vorsichtig der Eingangstür näherten. Jedes Mal zuckte ich kurz zusammen, aus Angst, die Anwohner würden uns hören. Oder war das Knacksen der Scherben gar nicht so laut, wie ich es mir einbildete?

Ich blickte noch einmal zurück, bevor ich den anderen geduckt durch den schiefen Türrahmen folgte, um sicher zu gehen, dass sich keine weiteren Personen hinter mir befanden.

„Jetzt komm schon, da ist niemand“, motzte Mike, als er im Flur wartete, während die anderen beiden schon das erste Zimmer betraten.

Schweigend ging ich an ihm vorbei, während ich die mit Graffiti beschmierten Wände des ewig langen Ganges beleuchtete. So etwas wie 'Er wird dich holen' oder 'Lauf, so schnell du kannst' stand dort immer wieder mit rot geschrieben. Noch bevor ich weiter drüber nachdenken konnte, hielt mein Freund mich an der Hüfte fest und bewegte mich langsam zu den anderen, die hinter vielen, kaputten Holzregalen verschwunden waren. War das hier eine Bibliothek? So viele dicke, mit Staub bedeckte Bücher waren in den Regalen gestapelt. Scheinbar waren sie zu schwer für das morsche Holz.

 

"Hier! Noch eine Tür!", rief Nick uns zu, "Glaubt ihr, hier geht es schon zum Keller?"

Ich sah ein letztes Mal zurück, bevor ich Isabell und Mike zu Nick folgte.

Die Tür war hinter etlichen, kaputten Regalen und Büchern versteckt, doch der silber schimmernde Rahmen stach heraus.

Wollte jemand, dass wir diese Tür finden?

 

 Noch bevor ich etwas sagen konnte, traten Mike und Nick die Holzbretter mit Gewalt zur Seite, sodass es im kompletten Raum hallte, als die Bretter umfielen. Herumfliegender Staub nahm uns die Sicht.

"Seid doch mal leiser!", mahnte ich.

"Mach's doch selber, wenns dir nicht passt!", maulte Mike bloß, während er die restlichen Hölzer mit dem Fuß zur Seite schob.

Wäre er nicht so voreilig gewesen, hätte ich es auch selber gemacht. Würde ich ihm das vorwerfen, käme es zum Streit und ich wollte sicher nicht in einer verlassenen Anstalt alleine gelassen werden.

Mit wütender Miene sah ich ihm bei seiner Arbeit zu, die Arme verschränkend.

Isabell stand, ohne ein Wort zu sagen, neben mir. Was sollte sie auch sagen? Sie könnte es weder meinem Freund, noch mir recht machen. Egal was sie sagte. Aber sollten Freundinnen nicht eigentlich zusammenhalten? Sich gegenseitig verteidigen?

Naja gut, sie kannte ihn ja länger als mich. Aber war das wirklich ausschlaggebend?

 

"Was schaust du so?", fragte Mike und riss mich aus meinen Gedanken.

Sofort blickte ich herab, zu den vielen Glasscherben und Holzsplittern, die den Boden bedeckten.

Ich hoffte, er wollte jetzt keine Antwort von mir hören. Was sollte ich denn sagen?
'Ich schaue dich böse an, damit du endlich mal merkst, dass du so nicht mit mir umgehen sollst!?'

Oder sollte ich vielleicht etwas direkter werden: 'Du darfst ruhig merken, dass du grad ein Arschloch warst!'

Beide Varianten würden ins Nichts führen. Er würde es ja doch nicht verstehen.

Zu meinem Glück fragte er nicht nach.

 

Ich sah langsam wieder auf. Nick schob gerade das letzte Brett beiseite, welches unserem Zugang zur Tür als einziges noch im Weg stand. 

Da war sie schließlich. Kaputt und morsch. Gespannt musterte ich die alte Tür.

Sie hing völlig schief in ihren Angeln und der Türknauf war verrostet. An manchen Stellen hatte sich sogar der Rahmen von der Wand gelöst und Putz bröckelte immer wieder herunter.

"Nun geh schon!", forderte Mike mich auf.

 Ich zögerte einen Moment lang. Was würde mich wohl hinter der Tür erwarten?

Ich hatte keinerlei Waffen bei mir. Wie sollte ich mich wehren, wenn mich ein bösartiges Tier angriff? 

Ich atmete einmal tief durch.

"Es wird schon nichts passieren", dachte ich mir nur, während ich die Tür vorsichtig beiseite schob.

 

Bis jetzt sah ich noch nichts auffälliges, außer einer grauen Betontreppe, die uns ein Stockwerk tiefer führte.

An manchen Ecken war der Beton bereits abgebrochen. Hoffentlich würde sie uns noch tragen.

"Na los, geh schon", drängte Mike mich.

Er wollte ja nicht zuerst gehen, aber hauptsache etwas zum Meckern haben.

"Nun warte doch mal", gab ich nur zurück.

 Mit jedem einzelnen Schritt, den ich hinab in die Tiefe wagte, wurde mir mulmiger zumute. Ich wischte die schweißnassen Hände an meiner Jeans ab und packte die Taschenlampe fester, aus Angst, sie könnte mir entgleiten. Plötzlich spürte ich, wie ein eisiger Schauer über meinen Nacken kroch. Die Temperatur fiel schlagartig und der schwache Lichtkegel vor mir begann zu verblassen. Meine Schritte verlangsamten sich, als es plötzlich dunkel um mich herum wurde. 

"Schatz?", stotterte ich und blickte zurück. Nichts. Nur Dunkelheit. 

"Geh weiter", hallte es aus dem tiefen Schwarz.

Es hörte sich so ewig weit weg an. Ich hätte doch gemerkt, wenn mich die anderen auf der Treppe überholt hätten.

Oder etwa nicht?

"Mike, ich sehe dich nicht!", antwortete ich, "Wo bist du? Das ist nicht lustig!"

Vorsichtig tastete ich mich voran. Sie mussten doch hier irgendwo sein.

 

Plötzlich schaltete sich das Licht meiner Taschenlampe an und leuchtete auf einen Operationstisch direkt vor mir.

An ihm befestigt waren Schlingen für die Beine, die Arme und den Kopf. 

"Denkst du, du könntest mir damit Angst machen, Mike?", rief ich mit zittriger Stimme durch den Raum, "Zeig dich!"

Wie aus dem Nichts erschien mir eine weiß gekleidete junge Frau, gefesselt an den Tisch. Ihr schwarzes, langes Haar völlig zerzaust, wie nach einem Kampf.  Um sie herum waren zwei Männer mit weißen, langen Kitteln mit je einem Skalpell in der Hand. Der eine schnürte die Fesseln so eng, bis die Frau aus Leibeskräften schrie, während der andere sich ihrem Bauch näherte. Ohne Rücksicht setzte er langsam unter dem Bauchnabel an. Sie wälzte sich hin und her, doch die Schlingen lösten sich nicht. Mit jedem Ruck schnürten sie sich enger, bis ihre Füße und Hände blasser wurden und blau anliefen.

"Du bist bald geheilt", sprach einer der Männer mit ruhiger Stimme auf sie ein.

Blut rann von ihrem Bauch abwärts auf den OP-Tisch. Tropfen für Tropfen.

"Neeein!", schrie sie und plötzlich verblasste das Bild vor mir.

 

Ich stand vor dem Operationstisch, neben mir Mike, Nick und Isabell. Die Lichter ihrer Taschenlampen erhellten den gesamten Raum.

"Wow, meint ihr, das ist echtes Blut?", fragte Nick völlig begeistert und deutete auf ein Kissen auf dem Tisch.

Mein Blick fiel auf das mit Blut beschmierte Skalpell auf dem Boden, daneben lauter einzelne schwarze, gekräuselte Haare.

Wo ist die Frau? Wie war das möglich?

"Seht mal, eine alte Akte!", rief Mike uns zu sich her.

Auf einer völlig verstaubten Kommode lag sie. Daneben kaputte Reagenzgläser und Pipetten.

"Lies vor, Mike", drängte Nick ihn gespannt.

"Ihr Name war Anna Mortim, sie war 23 Jahre alt, als sie hier eingeliefert wurde", fing er an.

"Und warum?", hakte ich nach.

"Sie litt an schweren Depressionen", setzte er fort.

"Depressionen? Wegen dem wurde sie aufgeschnitten?", kam es aus mir herausgeschossen.

"Was sagst du da? Woher weißt du das?", fragte er verdutzt.

Ein kurzer Blick auf die Krankenakte verhalf mir zu einer Ausrede:" Na, das steht doch da unten. Sie führten Tests an ihrem Körper durch, um ihr 100% Heilung gewährleisten zu können. Sie starb an den Folgen der OP und galt als unheilbar krank."
"Hier ein Brief", rief Isabell. 

Sie fand ihn in einer der Schubladen, zwischen einem Haufen Skalpellen und dicken Medizinbüchern.

Sie begann einen Teil zu lesen:

 

[...]

Sie lieferten Ihre Tochter, Anna Mortim, am 23.06.1979 zu uns, in die Harvey-Gold-Anstalt, ein.

Die Depressionen waren weit fortgeschritten, was die Chance auf Heilung um die Hälfte reduzierte.

Nach monatelanger Therapie mussten wir schließlich operieren.

 

Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihre Tochter nach der OP nicht mehr aufgewacht ist.

Wir werden den Leichnam eine Woche aufbewahren, damit Sie sich von ihr verabschieden können.

 [...]

 

 

 "Moment mal", begann ich zu grübeln, "Noch im selben Jahr wurde die Anstalt geschlossen. Meint ihr, das hat was mit diesem Vorfall zu tun?"

"Mag sein, aber warum genau nach diesem Vorfall? Laut deinem Internetbericht sind hier mehrere Menschen ums Leben gekommen", erklärte mir Isabell.

Sie hatte Recht. Was hatte es mit Anna Mortim auf sich? Warum sah ich genau sie und keinen anderen Patient?

 "Hier gibt's nichts mehr zu sehen, gehen wir wieder hoch", beschloss Mike, während er bereits auf der ersten Treppenstufe stand und wartete.

Ich verließ den Raum als Letzte. Immer wieder blickte ich zurück, doch Anna erschien mir nicht mehr.

 

Ein lautes Donnern hinter mir ließ meine Schritte schlagartig schneller werden.

Aufgewirbelter Staub stahl mir die Sicht zur Tür. Ich war gefangen. Gefangen in einer Staubwolke.

Sie ähnelte einem Tornado, wie man ihn in Dokus und Berichten immer sah.

"Renn weiter, nicht stehen bleiben", ermutigte Isabell mich, "Du hast es gleich geschafft!"

Ich rannte die Treppe hoch, als hätte ich Jahre lang nichts anderes in meinem Leben gemacht.

So schnell war ich noch nie. Nicht einmal beim Sportunterricht, wenn es um eine gute Note ging.

"Lauf!", brüllte sie erneut.

Ich rannte und rannte. Endlich! Es wurde wieder heller!

"Komm her!"

Bella packte mich am Arm und zog mich zu sich.

Völlig am Ende meiner Kräfte ließ ich mich vor ihr zu Boden fallen.

Doch was war das? Ein immer größer werdender Riss vor uns. Ich beobachtete ihn kurz. Der Weg, den er einschlug, führte direkt zu uns. Vorbei an allen morschen und beschädigten Holzregalen, die kurz davor waren umzufallen. Vorsichtig richtete ich mich auf. Der Boden unter uns begann wie wild zu zittern. Kam jetzt etwa die nächste Umweltkatastrophe?

 

"Wir müssen hier weg!", rief ich, als ich den Ernst der Lage erkannte.

Ich rannte vor. Dicht gefolgt von den anderen. Keine Ahnung wohin, aber erstmal weg hier. 

"Stop!", rief Nick plötzlich.

"Wir haben keine Zeit um Pause zu machen!", schrie ich, doch alle blieben stehen.

"Sieh doch mal!" 

Isabell zeigte zurück. Es krachte ein paar Mal, bis eine dichte Wolke aus dem Raum trat und sich langsam vor uns im Flur niederlegte, bis sie komplett verschwand. Die Sicht wurde klarer und das Donnern leiser. War das etwa Anna? Wollte sie mir damit etwas sagen?

Vorsichtig wagte ich mich zurück. Vor mir sah ich ein tiefes Loch im Holzboden, darin zusammengekrachte Regale und aufgeblätterte Operationsbücher.

Es ging zu weit hinunter, um mir die Bücher genauer ansehen zu können.

Der komplette Operationstisch wurde unter ihnen begraben. Ich trat näher an die Grenze des Abgrunds, doch ich konnte nicht entziffern, was auf den zerissenen Bücherseiten geschrieben stand. 

 

Wie besessen starrte ich auf das Kleingedruckte. Plötzlich packten mich kühle Hände an den Schultern, schubsten mich nach vorn. Ich verlor das Gleichgewicht. Taumelte. Stürzte, beinahe auf den begrabenen Operationstisch. War das etwa Anna gewesen?

Panisch versuchte ich mich noch am Holzboden gegenüber festzukrallen, bis mich zwei rettende Hände in letzter Minute wieder nach oben zogen. Im Hintergrund großes Gelächter. Mike. Wer auch sonst.

"Hast du Gleichgewichtsstörungen?", fragte er, während er sich gekrümmt vor Lachen an Nick festklammerte.

"Jungs, es hätte ernsthaft etwas passieren können! Das ist nicht mehr lustig!", mahnte Bella die beiden, als sie versuchte, sich das Grinsen zu verkneifen.

 

Ich sah mich weiter um, durchstöberte das Durcheinander am Boden, während ich gekonnt den lachenden Blicken den Rücken zu kehrte. Lauter herausgerissene Buchseiten, nur leider völlig durchnässt durch die Wassertropfen, aus den Öffnungen an der Decke kommend. Zerlaufene Tinte und gelbe Seitenränder, manche sogar von Schimmel befallen, wie viele Teile der mit Rissen übersähten Tapete, wo das Wasser seine Bahnen zog. Das Plätschern war aus jedem Eck des Raumes zu hören, erfüllte ihn als einziges mit Leben.

 

"Willst du dir vielleicht ein paar Bücher für unterwegs mitnehmen?", scherzte Mike, als er mich fest von hinten umarmte, wahrscheinlich nur, um herauszufinden, auf was ich die ganze Zeit starrte. 

"Gehen wir weiter, die Bilder im Gang sahen auch interessant aus", beschloss Bella, die schon mit einem Fuß außerhalb des Raumes stand, an ihrer Seite klebend Nick. Mike natürlich sofort hinterher, dicht gefolgt von mir. Alleine wollte ich auch nicht zurückbleiben, obwohl mir die Ruhe bestimmt ganz gut getan hätte.

 

Die Schwarz-Weiß-Bilder im Flur, auf die Bella so scharf war, wirkten mehr als verstörend. Ausschließlich Frauen waren darauf zu erkennen, meist gekrümmt inmitten eines leeren Raumes sitzend oder auf einer Behandlungsliege, neben der Glasvitrinen mit sämtlichen Medikamenten standen. Ob die Bilder von diesem Gebäude stammen?

 

Ich schlenderte weiter den langen, gefliesten Gang entlang, gefolgt vom Rest, der mit den Taschenlampen den Weg leuchtete. Bei einem Portrait blieb ich allerdings stehen. Es war das größte und gleichzeitig am besten erhaltene Bild in der Reihe am Endes des Flurs. Kein abgesplitterter Rahmen oder rissiges Glas. Außerdem glich der Hintergrund keinem Behandlungsraum, sondern eher einem kleinen, schlicht eingerichteten Wohnzimmer aus der damaligen Zeit. Ein Kastenfernseher stand auf einer kleinen Holzkommode, gegenüber ein Sofa, dessen Sitzfläche schon Falten geschlagen hatte. Vermutlich in die Jahre gekommenes Leder. Auf der Couch saß die Frau. Das Gesicht der Dame auf dem Portrait wurde mit einem schwarzen Stift unkenntlich gemacht. War dies etwa nur dem Vandalismus zu verdanken? 

 

Ich striff mit dem Zeigefinger vorsichtig über das Gemälde, über die schwarze Farbe, die das Gesicht der Frau unkenntlich machte. Das Papier war noch etwas nass und die schwarze Farbe färbte meine Fingerkuppe ein. Dem Geruch und der Konsistenz nach zu urteilen könnte es schwarze Tinte sein. Aber wieso schüttet jemand schwarze Tinte auf ein Gemälde? Die Frage nach dem 'Wer' beunruhigte mich jedoch umso mehr. Das hieß, wir waren nicht alleine hier und derjenige konnte auch nicht allzu weit weg sein. Vielleicht waren es auch nur Kinder, die sich hier ebenso verbotenerweise aufhielten und nach dem Gewissen Kick suchten oder aber es waren Obdachlose, die sich hier niederließen und ungebetenen Gästen Angst einjagen wollten.

Ein Tropfen verließ das Gemälde, glitt die Wand entlang Richtung Boden und versank in einer Rille einer aufgesplitterten Fliese. Der Tropfen glich einer Träne.

Aber vielleicht interpretierte ich einfach viel zu viel hinein in das Portrait. Es sind Bilder kranker Menschen, die hier zur Behandlung waren. Nur kranke Menschen. Mehr nicht. Auch Anna gehörte dazu.

 

Ich schloss mich wieder meiner Gruppe an, die gerade hinter einer dicken Glastür, die eine Etage höher führte, verschwand. Die dunkelbraunen Fliesen der Treppe waren zum Teil beschädigt oder wurden gar herausgerissen. Der Tapeten des Treppenhauses lösten sich und der Putz der Decke schmiegte sich an den Boden, blieb teilweise sogar schon haften, durch die Nässe, die durch die Wände eintrat.

 

 Mit Bedacht setzte ich einen Fuß vor den anderen, immer prüfend, ob die Stufen der Treppe nicht gleich in sich zusammen fallen würden. Sehr konzentriert blickte ich stets auf den Boden. Jedes klirrende Geräusch einer brechenden Fliese, die meinem doch sehr niedrigen Körpergewicht nicht standhielt, ließ mich zusammenzucken. Mein Körper war eine kurze Zeit wie versteinert. Ich hörte mein Herz laut schlagen. Es übertönte beinahe alle anderen Geräusche um mich herum. Von dem großen Fenster rechts neben mir, das beinahe die ganze Wand in Anspruch nahm, konnte ich die Balkone der Etage über mir gut sehen. Trotz der tiefen Sprünge in den Scheiben, hatte man fast klare Sicht nach draußen. Es waren Balkone aus Holz. Vermutlich mittlerweile sehr morschem Holz. Umschlungen von Efeu, der sich vom Garten an der Wand hoch schlängelte und die Geländer der Balkone bedeckte.

Würde man die Geschichte dieses Gebäudes nicht kennen, könnte man glatt meinen, es handelte sich hier um einen Kurort, statt um eine Klinik, in der bereits viele Menschen verstarben.

 

Ich verlor die hölzernen Balkone aus meinem Sichtfeld, als ich oben in der ersten Etage ankam. Dort traf ich auch auf die anderen. Hier staute sich die ganze Hitze, die sich scheinbar in den letzten Tagen angesammelt hatte. Die Luft war sehr dampfig, fast wie am heißesten Tag im Hochsommer, wo selbst im Schatten eine wahnsinnige Hitze herrschte und die Luft zum Atmen gefühlt immer knapper wurde.

 

"Wie viel Grad es hier wohl hat?", fragte ich in die Runde. Bella fächerte sich mit ihrer Hand Wind zu. Vergebens.

Dieses Stockwerk sah auf den ersten Blick besser erhalten aus als das Erdgeschoss, in dem wir waren. 

Laut einem Schild an der Wand, handelte es sich hierbei um den Wohnbereich der Patienten. Dort hielten sie sich vermutlich die meiste Zeit während ihres Aufenthalts auf. Die Tür des ersten Zimmers war dicker als eine normale Tür, in ihr ein kleines rechteckiges Fenster, welches man von außen öffnen konnte. Vorsichtig öffnete ich die Tür zuerst nur einen Spalt weit. Sie war sehr schwer, ihre Angeln rostig. Ich warf einen Blick hinein und konnte sofort ein Metallgestell erkennen, an dem Fixierungsschnallen hingen. Schräg über dem Bett lag eine total von Schimmel befallene Matratze. Als ich das Zimmer betrat, fiel mir sofort auf, dass es sehr beengt war. Gerade so, dass man vom Bett aufstehen und sich mit ausgestreckten Armen um sich selbst drehen konnte. Es gab noch einen kleinen separaten Raum, in dem sich eine Toilette, ein Waschbecken und eine Dusche befand. An den Wänden hingen selbstgemalte Zeichnungen des Patienten. Man konnte nicht genau erkennen, was sie darstellen sollten.

 

"Schatz?", rief eine Stimme. Vermutlich Mike.

"Ja? Ich bin hier!", antwortete ich, während ich mit der Hand über die Zeichnungen streifte und mich in Richtung Ausgang bewegte.

"Die Zimmer sehen alle gleich aus", berichtete mir Mike enttäuscht. Was hatte er erwartet? Dass es hier einen VIP-Bereich gab?

Wir begaben uns auf die andere Seite des Flurs. Mike nahm meine Hand und lächelte mir zu.

"Kurz hatte ich mir Sorgen um dich gemacht."

"Es ist doch alles gut", antwortete ich und gab ihm einen Kuss.

Ich schenkte ihm ein erzwungenes Lächeln und ging mit ihm in das nächste Zimmer.

Es war eine Art Büro. Sehr minimalistisch eingerichtet. Ich lehnte mich an den Schreibtisch, während ich das Bücherregal vor mir an der Wand betrachtete.

 

Mike näherte sich mir und sah zu mir herab.

"Die anderen sind schon weiter gegangen", fing er an, während seine Hand zu meinem Kinn glitt.

 

"Anna?", kam es aus mir heraus.

Eine Frau mit langen, gepflegten schwarzen Haaren nahm neben mir am Schreibtisch Platz. Ihr Blick fiel auch zu dem Bücherregal.

Dort war wieder einer dieser Männer im Kittel. Sie wirkten vertraut. Nicht wie Patientin und Arzt. 

Er näherte sich ihr und streichelte ihr über die Wange. Sie lächelte und ließ ihr Füße baumeln, während sie sich mit ihren Armen am Schreibtisch abstützte. Als würde sie gespannt auf etwas warten. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und wandte sich dann wieder den Büchern zu. Er wirkte ihr gegenüber abweisend und kühl.

 

"Anna? Denkst du jetzt schon an andere Frauen?", fragte Mike mit böser Miene.

Geschockt blickte ich neben mich. Nichts. War ich nun endgültig verrückt?

"Mike, das war so nicht gemeint", versuchte ich mich zu retten, während ich ihn fest umarmte.

Er riss sich los und rief nach den anderen.

"Wo sind die denn schon wieder hingegangen?", fragte er sich sichtlich genervt.

"Mike", fing ich nochmal an.

"Wir müssen die anderen suchen", motzte er nur und verließ dann den Raum. 

Ich hinterher.

 

Plötzlich riss ein ohrenbetäubender Knall die Stille auseinander, wie das Echo einer zuschlagenden Tür, das durch die leeren Gänge hallte. Mike und ich sahen uns entsetzt an, erstarrt wie Statuen, während unsere Blicke durch die Dunkelheit huschten, auf der Suche nach der Quelle des Geräuschs. Mein Herz begann wie ein wilder Trommelschlag in meiner Brust zu hämmern, und ein Adrenalinschub durchflutete meinen Körper, während wir zögerlich weitergingen, Hand in Hand, wie zwei verlorene Kinder im Wald.

Ein schwarzer Schatten huschte an uns vorbei, schneller und bedrohlicher, als ich es wahrhaben wollte. Mein Herz raste, meine Adern fühlten sich an, als wäre das Blut darin zu Eis gefroren. Meine Atmung wurde flacher, langsamer, fast erstickend. Dann, plötzlich, durchbrach eine Stimme die Dunkelheit: "Hey, wir sind hier!"

Ich schreckte hoch, mein Körper bebte, als Nick unvermittelt um die Ecke bog. "Wir sind ein Stück weitergegangen," erklärte er hektisch, "da hinten, bei dem offenen Fenster, hat der Wind richtig zugeschlagen." Mike und ich atmeten tief durch, die Anspannung entwich mit jedem Atemzug. "Wir dachten schon, es wäre etwas Schlimmes passiert," versuchte ich, die Angst aus meiner Stimme zu verbannen. Nick lächelte beruhigend. "Nein, alles gut. Bella wartet vorne auf uns. Oder wollt ihr lieber alleine sein?"

Mikes Blick brannte auf mir, bohrte sich in meine Seele, doch ich wich ihm aus, als hätte ich etwas zu verbergen. "Nein, alles okay. Schauen wir uns die anderen Räume an, bevor es hell wird," stimmte ich zu, meine Stimme seltsam distanziert.

Aber in meinem Kopf tobte ein anderer Sturm. Sex in einer verlassenen Anstalt? Während unsere Freunde in der Nähe waren? War ich wirklich so langweilig, wie er es mir immer wieder vorwarf? Der Gedanke allein ließ meine Haut kribbeln, nicht vor Vorfreude, sondern vor Unbehagen. 

 

Trotzdem streckte ich meine Hand nach ihm aus, in der Hoffnung, er würde sie ergreifen. Doch sein vorwurfsvoller Blick traf mich wie ein Schlag, und ich spürte, wie meine Hoffnung zerschmetterte. "Wir haben später auch noch Zeit," versuchte ich, ihn zu beschwichtigen, doch meine Stimme zitterte, mein Kopf war gesenkt. "Dieses Hin und Her macht mich fertig," schnauzte er, bevor er sich abwandte und Nick in den nächsten Raum folgte. Ich stand allein im Flur, unfähig, ihm nachzugehen, obwohl ich wusste, dass ich mich ihm hingeben würde, wie so oft zuvor. Nur damit er mir später vorhalten konnte, dass er mich erneut ertragen hatte, und es nun an mir sei, die Last unserer Beziehung zu tragen.

Gegen meinen Willen folgte ich ihnen, während die Wände um mich herum sich zu bewegen schienen, die Kritzeleien wie lebendige Schatten, die mir nachstellten. 

 

Dann sah ich sie: Anna. Zusammengekauert am Boden, die Knie an die Brust gezogen, schaukelte sie vor und zurück, wie ein Kind, das sich vor der Dunkelheit schützen wollte. Ihre Augen starrten ins Leere, tiefschwarze Ringe umrahmten ihren starren Blick, und ihr Haar hing in zersausten Strähnen um ihr blasses Gesicht. Das war nicht die Anna, die ich vorhin gesehen hatte. Etwas stimmte nicht, das spürte ich jetzt mit unerbittlicher Gewissheit.

Vorsichtig näherte ich mich ihr, doch anstatt Angst zu empfinden, war da nur Leere. War ich selbst schon so abgestumpft? Doch je näher ich kam, desto mehr verblasste das Bild vor meinen Augen, bis nichts als Dunkelheit blieb.

Die Dunkelheit umhüllte mich, wie ein dichter Nebel, der jede Kontur verschlang. Ich blinzelte, versuchte die Umrisse von Annas Gestalt festzuhalten, aber sie löste sich auf, wurde eins mit den Schatten. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, während ich die Leere anstarrte, wo sie eben noch gewesen war. Ich rieb mir die Augen, unsicher, ob das, was ich gesehen hatte, überhaupt real war.

"Mike?" rief ich zögerlich, doch meine Stimme verhallte im Nichts. Keine Antwort. Nur die allgegenwärtige Stille, die mir nun noch drückender erschien. Ich drehte mich um, doch die Gänge waren leer. Nick und Mike waren nirgends zu sehen. Die Realität schien sich um mich herum zu verzerren, die Wände zogen sich zusammen, der Raum schien kleiner zu werden, während das Dunkel tiefer wurde.

 

In der Ferne hörte ich plötzlich ein leises Geräusch, ein Flüstern, das sich wie ein Echo an den Wänden entlangschlich. Es war kaum mehr als ein Hauch, aber es zog mich in seinen Bann. Ohne wirklich darüber nachzudenken, setzte ich einen Fuß vor den anderen, ließ mich von dem Flüstern führen. Jeder Schritt schien eine Ewigkeit zu dauern, die Dunkelheit wurde dichter, bedrückender.

Dann, ganz plötzlich, erhellte ein schwaches Licht den Flur. Es flackerte wie eine alte Glühbirne, die jeden Moment den Geist aufgeben könnte. Ich blieb stehen, unsicher, ob ich dem Licht folgen oder in die entgegengesetzte Richtung rennen sollte. Aber meine Beine schienen wie von selbst den Weg zu gehen, den mein Verstand nicht wagte.

Das Licht führte mich zu einer alten Tür am Ende des Flurs, halb offen, als hätte jemand es eilig gehabt, hindurch zu schlüpfen. Ich zögerte, spürte, wie mein Herz erneut schneller schlug, mein Puls in meinen Ohren dröhnte. Aber etwas zog mich weiter, eine unbestimmte Neugier oder vielleicht pure Verzweiflung. Vorsichtig schob ich die Tür weiter auf und trat in den Raum.

Das Licht kam von einer schwach flackernden Lampe, die an der Decke hing und kaum die Schatten vertreiben konnte, die in den Ecken lauerten. Der Raum selbst war kahl, bis auf einen alten, abgenutzten Sessel in der Mitte und einem zerbrochenen Spiegel an der Wand. Es schien, als wäre er mit der Faust durchbrochen worden, die Risse um die Einschlagstelle bahnten sich ihren Weg bis zum Rahmen.

 

Ich trat näher und beugte mich über den Sessel, spürte, wie die Luft um mich herum kälter wurde. Dann fiel mein Blick auf den Spiegel, und ich starrte in mein eigenes, verzerrtes Spiegelbild. Doch etwas stimmte nicht. Das Gesicht, das mir entgegenblickte, war nicht mein eigenes. Es war Annas Gesicht, blass, mit leeren, toten Augen, die direkt in meine Seele zu blicken schienen.

Ich stolperte rückwärts, meine Hände griffen nach dem Sessel, um nicht zu stürzen. Der Raum begann sich zu drehen, meine Gedanken wirbelten, und Panik packte mich mit eiserner Faust. Ich musste hier raus, sofort.

Doch bevor ich mich zur Tür wenden konnte, hörte ich es erneut: das Flüstern, jetzt klarer, lauter. Es kam aus dem Spiegel, schien aus Annas Mund zu fließen, als würden ihre Lippen sich zu einem verzerrten Lächeln verziehen.

"Es ist längst zu spät", flüsterte sie, ihre Stimme ein Hauch von Wahnsinn.

Plötzlich explodierte das Licht der Lampe in einem grellen Blitz, und der Raum versank wieder in Finsternis. Mein Schrei verhallte im Nichts.

 

"Willst du etwa, dass uns das ganze Dorf hört?", stürmte Mike wutenbrannt zur Tür herein. 

"Ich dachte, ich hätte etwas gesehen," begann ich, meine Stimme fest und mein Kopf hoch erhoben. "In diesem Raum brannte Licht." Ich versuchte, Selbstsicherheit auszustrahlen, doch die Worte verließen meine Lippen zittrig, wie die eines verunsicherten Kindes, das genau wusste, dass es einen Fehler gemacht hatte.

 

Sein Blick durchbohrte mich, und seine Wut war förmlich greifbar. Einen Moment lang herrschte eine drückende Stille, in der nur mein rasender Herzschlag zu hören war. Dann trat er einen Schritt näher, seine Stimme gefährlich leise: "Licht? In diesem verfallenen Loch? Glaubst du wirklich, dass hier jemand außer uns ist?"

Ich wollte widersprechen, ihm sagen, dass ich mir sicher war, doch die Worte blieben mir im Hals stecken. Der Raum um uns herum schien sich zusammenzuziehen, die alten Wände bedrückend nah. In Mikes Augen sah ich nicht nur Wut, sondern auch etwas anderes—eine Spur von Angst, die er verbissen zu unterdrücken versuchte.

„Du bist paranoid,“ fuhr er fort, seine Stimme ein raues Flüstern. „Es ist dunkel, deine Fantasie spielt dir Streiche."

 

Ich spürte, wie meine Entschlossenheit schwand, während ich Mikes Worte auf mich wirken ließ. War es wirklich nur meine Einbildung gewesen? Aber das Licht, der Schatten—es hatte so real gewirkt. Dennoch konnte ich mich Mikes eiserner Logik nicht entziehen, und ich nickte langsam, als ob ich ihn überzeugen wollte, dass ich seiner Meinung war.

„Lass uns einfach weitergehen,“ sagte ich schließlich, meine Stimme nur ein Flüstern, fast wie eine Bitte.

 

Mike musterte mich noch einen Moment, dann seufzte er schwer und wandte sich zur Tür. „Gut,“ murmelte er, fast schon reuemütig, weil er mich so angebrüllt hatte.

Aber eine Entschuldigung oder eine Umarmung bekam ich nicht. Das wäre das Mindeste gewesen.

 

Er ging hinaus, und ich folgte ihm widerwillig, meine Gedanken immer noch bei dem Licht, das ich gesehen zu haben glaubte. Der Flur draußen war genauso düster und still wie zuvor, aber nun lastete eine unerklärliche Beklemmung auf mir. Etwas stimmte nicht, das wusste ich tief in meinem Inneren, doch ich zwang mich, Mikes Schritt zu folgen.

Als wir den nächsten Raum erreichten, zögerte ich kurz vor der Tür. Ein leises Rauschen drang an mein Ohr, als würde jemand flüstern, ganz in der Nähe. Ich hielt inne und lauschte, doch Mike bemerkte es nicht, seine Aufmerksamkeit war auf das Schloss der Tür gerichtet. Das Flüstern wurde deutlicher, und ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufstellten.

„Mike,“ sagte ich zögernd, doch er reagierte nicht. Die Tür öffnete sich mit einem leisen Quietschen, und Mike trat ein. Ich atmete tief durch und folgte ihm, die Dunkelheit verschlang uns und das Flüstern erstarb.

Drinnen herrschte eine unnatürliche Kälte, und das Licht unserer Taschenlampen warf gespenstische Schatten an die Wände. 

Der Raum war leer, bis auf ein paar verrottete Möbel und Kleidung. Es waren die Kleider einer Frau. Bunte Kleider. Nicht zu vergleichen mit der Kleidung einer Patientin.

 

"Hier ist nichts", stelle Nick enttäuscht fest. Bella stimmte nickend zu, während sie sich dicht neben ihn stellte, als würde sie auch dieses beklemmende Gefühl spüren.

Sie versuchte meinen Blicken auszuweichen, als ich den Augenkontakt suchte. Sie musste es auch spüren. Aber ich konnte sie nicht fragen. Sie würde es nur leugnen, um nicht als verrückt abgestempelt zu werden, wie ich. Neben ihrem Freund sah sie plötzlich nicht mehr so selbstbestimmt aus, wie ich sie eingeschätzt hatte.

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Tag der Veröffentlichung: 05.07.2016

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