Poste: "McBeal wird kritisch"
Wieso? Was steht noch im Zeitungsartikel?
Die Fassade des großen Backsteinhauses ragte vor ihr auf wie eine Festung. Langsam wanderte ihr Blick über die abgenutzten Steine, die zu der Sorte gehörten, wie man sie in der Innenstadt nur noch selten fand. Das rissige Gestein erzählte eine Geschichte, die sie noch nicht kannte, aber ihr Magen kribbelte, als sie daran dachte, dass es bald so sein würde. 'Nathan McBeal - Private Detective'. Sein Name klang rau und abgenutzt, wie das Schild selber und sie konnte nicht verhindern, dass ihre Finger leicht zitterten, als sie den Klingelknopf durchdrückte.Das Kreischen des Summers erfüllte das Haus wie der Laut eines lang verstorbenen Tieres, es ging ihr durch Mark und Bein und plötzlich bekam sie furchtbare Angst, dass etwas schief laufen würde. "Es ist Ihr erster Undercover-Einsatz, aber ich glaube an Sie, Judie", hörte sie die Stimme ihres Vorgesetzten in ihrem Kopf. Der stickige Geruch nach Leder in seinem Büro erschien ihr plötzlich viel verlockender als der beißende Geruch des hallenden Treppenhauses. Weit oben öffnete sich eine Tür. Das Gesicht, das am Geländer erschien, war gezeichnet von den wenigen Jahren, die es mit sich trug und schickte den Gestank nach Zigaretten und Scotch die Treppen hinunter. "Was wollen Sie?!", fragte er unwirsch. "Ich erwarte keinen Besuch."
Im ersten Moment war Judie geschockt, weil sie nicht wusste, wie sie jetzt reagieren sollte. "Judie Williams mein Name. Ich bin hier wegen der freien Stelle", antwortete sie ihm schließlich. Ihre Stimme klang ziemlich zittrig und unsicher. Er kam ihr kein Stück entgegen, sondern musterte sie nur mit einem strengen Blick. Unangenehme Stille herrschte. "Wir haben vor ein paar Tagen telefoniert, wissen Sie noch?", versuchte sie ihm auf die Sprünge zu helfen. "Judie, kommen Sie hoch", bat er sie endlich. Verdutzt über die positive Antwort folgte sie ihm in seine Wohnung. War der Geruch nach Zigaretten und Alkohol im Treppenhaus unangenehm gewesen, war er nun beinahe unerträglich. Er ließ sie nicht weiter als ein paar Schritte in den Flur der engen Wohnung, in der sich Pappkartons stapelten und noch gar nichts eingerichtet war. "Oh... wie lange wohnen Sie hier?", fragte sie, um die unangenehme Stille zu brechen. "Drei Jahre", antwortete er knapp. "Oh." Dann wieder Stille. "Warum sind Sie nochmal hier?", fragte er nach einer halben Ewigkeit. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er noch im Bademantel vor ihr stand. Ihr Blick huschte zur Uhr. Es war vier Uhr nachmittags. "Wegen... wegen der Stelle, Sir", antwortete sie zögernd. Worauf hatte sie sich hier bloß eingelassen?! Er war ein Verrückter. Am liebsten hätte sie die Zeit zurück gedreht, in das stickige Büro und sich selbst ein 'Nein, Danke für das Angebot, aber ich denke, ich bin noch nicht soweit' auf die Lippen gelegt. "Die Stelle..", wiederholte er kritisch. "Sind Sie überhaupt schon aus der Ausbildung?" "Würde ich sonst hier auftauchen?", antwortete sie mürrisch. Er lächelte sie provokant an, zündete sich eine Zigarre an und ging in den nächsten Raum, wo er sich dann auf einem schwarzen Sessel hinter einem braunen, alten Schreibtisch niederließ. Auf dem Tisch stand wie befürchtet eine Flasche Scotch und daneben ein halbvolles Glas. "Setzen Sie sich doch", bat er mich und lehnte sich weit zurück. Das ganze Zimmer sah ein wenig veraltet und doch gemütlich aus. Hunderte von Büchern standen in einem großen Regal, dass eine ganze Zimmerseite beanspruchte. Sie waren alle verstaubt. "Nun", fing er an "Du würdest hier gerne arbeiten?" Judie versuchte höflich zu klingen, damit man ihr nicht ansah, dass ihre Geduld mit diesem Mann am Ende war: "Ja, deswegen bin ich hier." Er zog ein letztes Mal an seiner Zigarre und hauchte den Rauch in Judies Richtung, während er den Stumpen im Aschenbecher ausdrückte.Sie versuchte weiterhin ruhig zu bleiben, auch wenn sie dem Mann sofort an den Hals fallen könnte.
Ihre Blicke kreuzten sich und Judie wusste, dass alles, was er tat, reine Provokation war. Er war einer dieser Menschen, die es liebten, andere auf die Probe zu stellen. Sie wollte nach Hause. "Also, Miss...?" "Williams." "Williams. Was stellen Sie sich denn darunter vor, mit mir zu arbeiten?" Ihr Blick wanderte erneut über den Alkohol, den Aschenbecher, die unzähligen Bücher und schließlich über seine Augenringe und das unrasierte Kinn. "Zurzeit sieht's so ziemlich so aus als würden Sie einen Watson suchen", antwortete sie schließlich mit einem leichten Lächeln auf den Lippen."Wie bitte?" Plötzlich sah sie in aufgewecktere Augen, als hätte sie ihn aus einem langen Schlaf geholt. "Na... Sherlock und Watson. Jemand der so lebt wie sie und den Genuss von Drogen derartig zelebriert muss doch ein Superhirn sein, um sich über Wasser zu halten, oder etwa nicht?"Ein paar Sekunden herrschte Stille im Büro. Von irgendwo konnte sie das Ticken einer Uhr hören, aber sie war zu angespannt, um mitzuzählen. Wenn er sie jetzt rauswarf...Eine Weile hielten sich ihre Blicke stand und sie dachte beinahe, ihre Mission wäre gescheitert, doch dann entspannten sich seine Gesichtszüge und er begann, leise zu lachen. "Miss Williams, also... Watson. Ja, ich denke, das bringt es auf den Punkt."
"Also?", fragte sie ungeduldig nach: "Hab ich nun den Job?"Er tat so, als müsse er nachdenken, aber Judie wusste, er kannte die Antwort schon längst. "Ich denke, wir können es mal versuchen", sprach er schließlich, zündete sich wieder eine Zigarre an und lehnte sich zurück. "Sherlock", murmelte er vor sich hin und lachte leise."Nun Mister McBeal, wann soll ich anfangen?", fragte Judie gespannt, während sie versuchte unauffällig die Luft anzuhalten, wenn der Zigarrenrauch in ihre Richtung kam. "Überstürtzen wir mal nichts", sagte er nun und nahm noch einen langen Zug seiner Zigarre. War Judie im falschen Film? "Wollen Sie mich eigentlich ärgern?", motzte Judie ihn an, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. "Judie, beruhigen Sie sich erstmal. Du weißt noch gar nicht, wie das Geschäft hier abläuft", erklärte er mir. Was sollte hier denn groß ablaufen? Ihr Chef saß bloß herum und rauchte was das Zeug hielt. Wahrscheinlich suchte er nur jemanden, der seinen Aschenbecher ein paar mal am Tag ausleerte und ihm neue Zigarren kaufte. Mit großen Augen starrte sie ihn an: "Dann zeigen Sies mir?" "Wollen wir das nicht bei einem Kaffee bereden?", fragte er höflich und war schon dabei aufzustehen, um sich umziehen zu gehen. Als Judie sich nicht rührte, redete er weiter: "Ich lade Sie ein. Das beste Cafe gibt es nur in der Stadt. Wir nehmen mein Auto." Das sind ja mal neue Seiten. "Gerne, Mr. McBeal.""Nathan." Er lächelte und kam wenige Zeit umgezogen wieder zu mir zurück, ins Büro. Er hielt mir die Haustür auf und öffnete mir die Autotür der Beifahrerseite seines großen, schwarzen Kombies, der direkt neben dem großen Haus parkte."Nicht schlecht", musste sie zugeben.
Wenige Minuten später saßen sie tatsächlich in einem Cafe und auch, wenn er noch immer unrasiert und verwuschelt war, in T-Shirt und Lederjacke war er wie ein komplett neuer Mensch. Nicht unattraktiv, zugegeben. "Nathan", rief die Bedienung erschrocken, als sie ihn sah. "Wer hat dich denn aus deinem Loch geholt?" Ihr Blick wanderte weiter zu Judie. Ein Lächeln fuhr über ihr Gesicht. "Oh... verstehe." Sie lachte und warf die blonden Haare zurück. "Darauf können Sie sich was einbilden, Miss. Diesen Mann habe ich das letzte Mal vor 6 Monaten vor der Tür gesehen und das war, um die Teenager anzuschnauzen, die seinen Briefkasten angezündet haben." Sie grinste. "Was darfs sein?" Dann watschelte sie mit der Bestellung ab. "Hören Sie nicht auf sie", brummte Nathan und begann, mit den Zähnen zu knirschen. "Sie erzählt Schwachsinn." "Natürlich", lächelte sie verschmitzt. Wenn das so weiter ging, wäre es kein Problem, alles aus ihm heraus zu bekommen, was sie brauchte. Der Kaffee kam endlich und Judie bedankte sich noch einmal für die Einladung.Die Kellnerin schenkte ihr ein unauffälliges Lächeln. "Nun, Nathan. Was sind meine Aufgaben?", kam sie zur Sache."Ganz oben steht auf jeden Fall ganz viel Papierkram." Judie verdrehte ihre Augen: "Ja, das ist logisch." "An zweiter stelle stehen dann unsere Fälle, die bearbeitet werden müssen. Wir sind hier ein Geheimdienst und übernehmen die kritischen Fälle der örtlichen Polizei. Natürlich können wir auf ihre Hilfe auch zählen", erklärte er endlich. Das wollte Judie den ganzen Tag schon hören.
"Klingt wirklich interessant", schwärmte Judie mit großen Augen. "Das ist es aber nicht, besonders nicht, wenn man zusehen muss, wie dein Plan nicht aufgeht und ein kleines Mädchen elendig sterben muss", vermieste er die Stimmung. "Oh, mein Beileid", sprach Judie ihm halblaut zu. Ihre Augen wurden wässrig und sie konnte sich die Tränen gerade noch verkneifen. Der Mann nahm einen großen Schluck seines Kaffees, um Judies traurigen Blicken zu entkommen.
Sie versuchte, sich auf andere Gedanken zu bringen und besann sich auf ihren Job. "Die Anschläge in letzter Zeit, die gezielten Morde - was ist mit denen?" Sein Blick verhärtete sich augenblicklich. Innerlich ohrfeigte sie sich dafür, so plump nachgefragt zu haben. "Die sind nicht in unserem Interesse", meinte er knapp. "Und ich würde Ihnen empfehlen, es dabei zu belassen." Ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus. Mit brennenden Wangen starrte sie in ihren Tee. Jetzt hieß es klug handeln. "Und was ist, wenn...", sie sah auf und bemerkte sofort, dass seine Beherrschung zum Reißen gespannt war. "Was, wenn... nur weil wir uns nicht damit beschäftigen... was, wenn... deswegen... kleine Mädchen sterben, die wir hätten retten können?" Die Zeit zu seiner Antwort dehnte sich ins unendliche und sie dachte, gleich würde es ihr die Brust zersprengen, bis etwas Anderes kaputt ging. Es war seine Kaffeetasse, die er mit einer einzigen Bewegung vom Tisch geschleudert hatte. In seinen Augen brannte ein Feuer, wie sie es noch nie gesehen hatte. Er erhob sich und war im Begriff, zu gehen. "Es... es tut mir Leid...", stammelte sie. "Ich wollte nicht..." "Morgen früh um 8", wies er sie an. "Sind Sie da. Ich habe viel Papierkram zu erledigen." Dann wandte er sich ab und verschwand ohne ein weiteres Wort. Na das war ja gründlich in die Hose gegangen...
Er ließ Judie im Cafe mit der Rechnung und ohne Auto sitzen. "Jetzt darf wieder mein Geldbeutel dran glauben", flüsterte sie zu sich selbst. "Nimm ihm das nicht so übel. Er musste viele Enttäuschungen in seinem Leben hinnehmen", erklärte die nette Kellnerin, als sie den Tisch abräumte und das Geld entgegen nahm.
Judie nickte langsam, dann fiel ihr ein, dass das auch eine Chance war. "Was ist passiert?", fragte sie, als die Kellnerin gerade gehen wollte. Sie blieb stehen. Judie hielt den Atem an. "Er hat vieles verloren. Seine Frau ist vor einer halben Ewigkeit gestorben, er hat eine kleine Tochter. Das Leben ist nicht wirklich fair gewesen, für ihn", antwortete sie dann und ließ Judie mit ihren neuen Gedanken allein.
"Ich habe seinen wunden Punkt getroffen. Gar nicht gut", dachte Judie sich und seufzte.Langsam begab sie sich nach draußen, wo auch schon ihr Taxi stand und stieg ein.Anfangs verlief die Fahrt still, doch Judie konnte diese Frage unterdrücken: "Haben sie schon mal jemanden sehr wichtigen verloren?""Ja, Lady. Wer hat das nicht?", antwortete er mir höflich."Dumme Frage, entschuldigen Sie.""Nein ganz und gar nicht. Es geht um McBeal, liege ich richtig?"Verdutzt sah Judie ihn an: "Woher wissen Sie das?""Als ich vorhin meine Runden drehte habe ich ihn aus dem Cafe gehen sehen. Er sah nicht gerade glücklich aus. Da haben sie wohl einen Nerv getroffen." "Das stimmt leider. Ich wusste doch nicht, dass ihn das so trifft."Mein Gewissen wurde immer schlechter."Der kriegt sich wieder. Dieser Mann war weit bekannt für seine guten Einsätze, trotz Rückschläge. Er versucht die Vergangenheit zu verdrängen, aber wenn sie ihn einholt, kann es schon mal sein, dass er komisch reagiert", beruhigte mich der nette Taxifahrer. "50, 25€ macht das dann", sprach er schließlich, als er vor meinem Haus parkte. Judie überreichte ihm 55€. "Stimmt so und vielen Dank." Sie verließ das Auto und sah diesem hinterher, bis es hinter der nächsten Kurve verschwand.
Wohin jetzt? Der Wind zerrte an ihren Haaren und es roch nach Frühlingsregen. Nach Hause? War vermutlich am besten, aber ihr stand nach etwas Unvernünftigem. Ihre Lieblingsbar würde helfen. Das 'Bailey's' hatte gerade aufgemacht und die dunkle Schankstube war noch leer, als sie sich setzte und ein Bier orderte."Früh dran, heute", stellte Joe, der Wirt, fest. "Was ist los, Schätzchen?"Sie brummte eine halbherzige Ausrede und starrte auf das gemaserte Holz der Theke. So würde sie ihren Job niemals gut machen.Sie musste sich anstrengen, wenn sie ihren Job behalten wollte.
Sie gab dem Wirt ihren letzten Notgroschen, schob die leere Bierflasche zur Seite und verabschiedete sich: "Robert, das Bett ruft." Er schenkte ihr ein herzhaftes Lächeln und räumte die leere Flasche weg.
Der nächste Morgen war grau und verregnet. England.Judie stöhnte und zerrte sich ihre Decke über den Kopf, als der Wecker sie unsanft aus ihren Träumen riss. "Williams", tönte die Stimme ihres Chefs von ihrem Anrufbeantworter. "Sie müssen zur Sache kommen. Jeder Tag kostet uns mehr Kohle als sie sich jemals in ihrem Leben zusammen sparen könnten. Ich will Ergebnisse sehen, morgen Abend."Genervt warf sie das Telefon mit ihrem Kissen ab. Das hatte sie gerade noch gebraucht - Zeitdruck. Als ob dieser Auftrag nicht schon anstrengend genug gewesen wäre. Mühsam schaffte sie es, sich aus ihrem kuscheligen Bett zu schleppen. Ihre Augen öffneten sich nur einen Spalt weit, sodass Judie nur Umrisse ihrer Wohnung sah und aufpassen musste, wo sie hinlief. Ihre Wohnung glich einem Schlachtfeld. In Der Küche stapelte sich das Geschirr beinahe bis zur Decke hoch, im Bad lagen überall Handtücher am Boden verteilt, weswegen man auch den schönen Fließenboden nie zu Gesicht bekam und in ihrem Schlafzimmer stapelten sich die Wäschehaufen.Sie schaffte es zu ihrem Schreibtisch, in dem ihr Laptop schon bereit stand."Dann schaue ich mal, was sich im Internet so finden lässt", redete sie sich leise zu, während sie kräftig ihre Augen rieb.
"Nathan McBeal". Sie hatte seinen Namen in letzter Zeit so oft gehört und gelesen dass er ihr leicht wie ihr eigener von der Hand ging. Sogar einen Vervollständigungsvorschlag hatte Google bereits parat - anscheinend war sie nicht die einzige, die sich für den undurchsichtigen Mann interessierte.Judie begann eine Melodie zu summen, während sie durch die offensichtlichen Suchvorschläge scrollte; interessant wurde es ab Seite 7.Von dem Namen des Forums hatte sie noch nie gehört, der Post war dafür umso interessanter."McBeal wird kritisch", stand da, mehr nicht. Keine Antworten, 36 Klicks in den letzten zwei Jahren. 'McBeal wird kritisch'. Was sollte das heißen?
Judie suchte gespannt weiter und fand auch einen Zeitungsartikel. Er war schon einige Jahre alt, aber dort stand, dass McBeal einer der berühmtesten Detektive hier im Umkreis war.Er sorgte hier für Recht und Ordnung.Das war der letzte Artikel, den Judie über den Mann fand. Anscheinend lief danach seine Karriere den Bach runter.
Ob es einen bestimmten Grund dafür gab? Widerwillig musste sie zugeben, dass es nur einen Weg gab, das herauszufinden, und der beinhaltete, dass sie jetzt duschen und sich fertig machen musste, um ihren ersten Tag der neuen Stelle anzutreten. Hoffentlich würde er sie überhaupt hineinlassen, nach dem gestrigen Vorfall. Ein flaues Gefühl kroch durch Judies Magen, als sie eineinhalb Stunden später erneut vor der gewaltigen Backsteinfassade stand. Noch bevor sie wusste, was sie sagen sollte, wenn er öffnen würde, hatten ihre Finger den Klingelknopf durchgedrückt. Er öffnete beim fünften Mal, dieses Mal persönlich. Heute sah er noch schlechter aus, als gestern. Seine Augenringe waren noch tiefer geworden. "Was wollen Sie noch hier?"
Judie wusste nicht so recht, was sie sagen sollte.
"Heeey", begrüßte sie ihn.Dabei klang ihre Stimme unsicher und ihr Gesicht blickte den Detektiv fragend an, als würde sie versuchen ihn indirekt aufzufordern etwas zu sagen.
Er starrte sie ein paar Sekunden an und kurz dachte Julie, jetzt würde er sauer werden. Im Kopf ging sie die Selbstverteidigungskünste durch, die sie gelernt hatte, aber als er die Hand hob, tat er es bloß, um sich an den Kopf zu fassen und belustigt zu grinsen. "Mein Gott, Sie haben Nerven, noch hier aufzukreuzen..." Hatte er getrunken? Es stank fürchterlich nach Schnaps. Sie sah ihn unsicher an, als er schließlich verstummte und sie ernst ansah. "Genau das, was man braucht, als Privatdetektiv. Ignoranz. Penetranz. Also gut... kommen Sie rein." Er öffnete den Weg in die vermüllte Wohnung.
Judie folgte ihm, während sie auf den Boden blickte, damit sie nicht doch über irgendetwas stolperte und in eine peinliche Situation geriet. Schon Meter entfernt sah sie den vollen Aschenbecher und eine daran angelehnte Zigarre, dessen Rauch in die Luft drang. Er musste sie sich wohl gerade erst angezündet haben. Sie betraten den Raum, in dem nun ein weiterer kleiner Tisch mit dem dazugehörigen Stuhl stand. Judie blieb mit einem Lächeln davor stehen. "Für mich?"
"Sie arbeiten doch nun hier, richtig?"
Sie nickte und strahlte übers ganze Gesicht.
"Jetzt flippen Sie mal nicht gleich aus, vor Freude. Wahrscheinlich wünschen Sie sich, den Job niemals angenommen zu haben, sobald Sie das erste Mal drei Stunden im Regen stehen, um einen Kunden zu beschatten", brummte er, aber McBeal konnte nicht verhindern, dass leichte Belustigung in seinen Augen aufblitzte. "Ich denke, ich werde erstmal duschen gehen. Nichts anfassen!" Mit diesen Worten verschwand er aus der Tür und plötzlich fand Judie sich allein im Raum wieder. Na wenn das nicht die optimale Chance war...
Langsam schlich sie am Bürotisch des Chefs vorbei, den sie mit ihren Fingern striff, als sie es sich anschließend auf dem Chefsessel bequem machte und das Durcheinander auf dem Tisch begutachtete.
Es herrschte wirklich ein undurchdringliches Chaos, aber nach ein paar Sekunden entdeckte sie eine gewissen Symmetrie. Die ältesten Papiere lagen links, die neueren rechts. Und dabei war alles. Ausgedruckte Emails, Rechnungen, Briefe von der Bank, Versicherung und Autovermieter... im Grunde war es der Himmel für Beweisstücke, aber Judie wusste einfach nicht, wo sie anfangen sollte.
Judie begann in dem Chaos durchzublicken und sah McBeal nun als einen ordentlichen Mann. All die Kisten die hier herumstanden, waren wie bei normalen Menschen die Regale. Er war gar nicht der, für den sie ihn anfangs hielt. Ihr Blick wanderte zur Badezimmertür. Die Dusche lief noch. Behutsam begann sie, die Schubladen des Tisches aufzuziehen und durch die Papiere zu stöbern.
Sofort fiel ihr eine etwas ältere Zeitung auf, die in der letzten Schublade versteckt war. Von dem Titel hatte sie schon etwas gehört: "McBeal wird kritisch." Judie las den ersten Absatz. Es war der, den sie schon im Internet gesehen hatte, nur ging es darunter noch weiter. "Warum stand der Rest nicht im Internet?", fragte sie sich.Judie entfaltete die Zeitung und machte einen unglaublichen Fund: Anzeige über Anzeige.Lauter Briefe an und von der Presse. Das klärte ihre Frage. Die Dusche wurde abgeschaltet und Judie vernahm, wie McBeal aus der Dusche stieg. Sie sammelte die teilweise ungeöffneten Briefe der Presse vom Boden auf und versuchte die Zeitung wieder in ihren vorherigen Zustand zu bringen. Plötzlich drehte sich der Türknauf.
"Darf ich fragen, was Sie hier suchen?", fragte Nathan kritisch und musterte Judie misstrauisch. Schnell verschloss sie ihre Tasche über den eingesteckten Papieren und räusperte sich."Entschuldigung... ich habe nach etwas zu Trinken gesucht." Er glaubte ihr nicht, das sah man. Dennoch nickte er langsam und winkte sie hinter sich her, heraus aus dem Büro. "Kommen Sie. Auch wenn man es nicht glaubt, es gibt eine Küche in dieser Drecksbude."
Am liebsten wäre Judie im Erdboden versunken, so peinlich war ihr die Situation.Sie folgte McBeal in eine moderne, weiß gehaltene Küche, dabei hielt sie ihre Tasche dicht an sich, damit man sie ihr nicht so leicht entreißen konnte. So gerne hätte sie in den Schubladen des Schreibtisches weiter herum gewühlt. "Hier oben sind die Gläser, bedienen Sie sich", sprach der Detektiv, während er auf ein Schränkchen neben dem Kühlschrank zeigte.
Erstaunlicherweise war die Küche sogar ziemlich ordentlich gehalten - eine kleine Oase im Hort des Chaos. "Danke", murmelte sie und nahm sich mit hochrotem Kopf eines der Gläser. Na das begann ja wunderbar. "Also, was steht für heute an?", fragte sie also, um das Thema zu wechseln.
Judie schenkte sich Leitungswasser ein und trank einen großen Schluck davon."Nun, der Papierkram in meinem Zimmer ist Ihnen ja schon aufgefallen. Der müsste erledigt werden", erklärte er mir."Und was ist mit den Fällen?", fragte Judie. "Die arbeiten wir langsam nach und nach ab", sprach er und steckte sich eine Zigarre in den Mund. Während er sein Feuerzeug aus der Hosentasche zückte, überlegte ich schon, welche Ausrede ich ihm nun aufschwärzen könnte, um endlich nach Hause gehen zu dürfen, damit ich mir die gestohlenen Papiere anschauen konnte.
Leider musste sie sich eingestehen, dass das keine wirkliche Option war, auch wenn sie die Ungeduld beinahe umbrachte. Aber nun hieß es Augen zu und durch. Mit einem Seufzen kehrte sie zurück ins Büro und widmete sich den Rest des Morgens dem Sortieren von alten Rechnungen, Akten und Briefen, während Nathan sich einen Kaffee machte und demotiviert in ein paar Ordnern hin und her blätterte. Obwohl sie versuchte, sich möglichst viel zu merken, hieß das, dass es keine Chance gab, erneut etwas mitgehen zu lassen.
"Suchen Sie nach was Bestimmtem?", fragte Judie ihren Chef, der total beschäftigt zu sein schien. Er überflog Seite für Seite und würdigte Judie keines Blickes.
"Nur Rechnungen", murmelte er vor sich hin. "Mahnung, Mahnung, Mahnung...ach da ist es ja!"
"Entschuldigen Sie, aber..."
"Ich habe nach einem eigentlich abgeschlossenen Fall gesucht", klärte er mich schließlich doch noch auf.
Lange Zeit betrachtete er das bedruckte Papier und lächelte wie ein Kind an Weihnachten, wenn es all die Geschenke unter dem Baum entdeckte.
"Wir nehmen die Fährte wieder auf", sprach er völlig entschlossen. "Aber erst schmeißen Sie die ganzen Mahnungen und Rechnungen weg. Die brauchen zu viel Platz."
Er blieb bei mir im Zimmer und las sich das Blatt gründlich durch.
Judie bückte sich, um den Papierkram aufzuheben und konnte dabei die dickgedruckten Buchstaben auf den Papieren erkennen: Mahnung wegen unbezahlter Ware.
Sofort fielen ihr die ganzen Kisten ein, die überall herumstanden.
Vielleicht waren es ja keine Umzugskisten, sondern die unbezahlten Waren.
"Ein Haufen Hightechmist, mit dem ich versuchte, damals meine Detektei zu retten", erklärte er Judie, als ihm auffiel, dass ich das Blatt länger in Augenschein nahm.
"Ich habe nun nicht einmal Geld für ein paar neue Möbel, da jetzt mein ganzes Geld weg ist", redete er weiter und Judie begann tatsächlich Mitleid mit ihm zu haben.
Unwillkürlich kam ihr der Gedanke, ob er sich ihre Anstellung überhaupt leisten konnte. Entschlossen verbannte sie die Schuldgefühle aus ihrem Kopf und griff nach einem Haufen Blätter, um sie in ein anderes Regalfach zu packen, dass noch nicht am überquellen war.
"Was für ein Fall ist das?", fragte sie möglichst beiläufig. Nicht auffällig sein. Uninteressiert wirken. Vielleicht war er gar nicht wichtig.
"Haben Sie von dem Rosencrantz-Fall gehört?"
Ihre Bewegung stockte. Judies Finger lagen auf dem Papierstapel. Nicht zusammen zucken. Haltung bewahren.
"...Ja...", antwortete sie also unsicher, "Ja, habe ich. Stand in allen Zeitungen... ist aber lange her."
Mit einem kurzen Seitenblick stellte sie fest, dass er seltsam abwesend wirkte.
"Ja...", meinte er. "Ja, das ist es."
"Und Sie wollen die Fährte wieder aufnehmen", fing Judie an, während sie den letzten Stapel Papiere beiseite räumte. "Hat das einen bestimmten Grund?"
Völlig konzentriert starrte er auf seine Unterlagen und würdigte Judie keines Blickes. "Ich denke, ich hab da was gefunden."
"Es ist doch ewig her, McBeal. Sollten wir die Sache nicht ruhen lassen? Der Täter ist bereits hinter Gittern", versuchte Judie ihm klar zu machen, aber sie bemerkte schnell, dass all ihre Worte da rein und da raus gingen.
"Der Fall wurde zu leicht gelöst, sowas kann es nicht geben", murmelte er weiter, als würde er die junge Frau gar nicht hören. Plötzlich kam er Judie merkwürdig blass vor. Das waren nicht mehr nur noch die Augenringe oder seine hohlen Wangen, von all dem Schlafentzug und den Zigaretten, nein. Er wirkte abwesend - und alt. Furchtbar alt.
Sie räusperte sich und augenblicklich veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Seine Augen, bis eben noch abwesend und seltsam melancholisch, verhärteten sich wieder und er richtete den Blick aus dem Fenster.
"Haben Sie schon einmal aktiv ermittelt?", fragte er dann ohne sie anzusehen.
"In der Theorie, ja...", antwortete sie zögernd. "Aber noch nie so... richtig."
Das war eine glatte Lüge, schließlich ermittelte sie ja gerade jetzt, aber diese Aussage ging ihr leicht über die Zunge. So langsam bekam sie Übung.
Lügen ohne rot zu werden. Das war ein großer und ihr bis jetzt einzigster Fortschritt in ihrer Karriere.
"Dann wird das ja für Sie ein Klacks. Wir sehen uns morgen Punkt acht wieder hier", sprach McBeal und verließ den Raum. Er ließ Judie im Ungewissen zurück.
Vermutlich war er nur müde - totmüde.
"Gute Nacht", rief Judie ihrem Chef hinterher, doch das dieser sie gehört hatte, war unwahrscheinlich.
Tag der Veröffentlichung: 28.03.2015
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