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Verkleidung

Eine meiner Freundinnen ist Schriftstellerin. Ich kenne sie seit vielen Jahren. Bei unserem letzten Treffen, das sich erstens als ungewöhnlich beschreiben lässt, weil es ganz zufällig und überraschend zustande gekommen ist und zweitens allein deshalb einprägsam ist, weil es eben das letzte Treffen gewesen ist und zum dritten, was dieses Treffen erwähnenswert macht, war sie wie ausgewechselt. Wenn man dunkle Schatten unter den Augen etwas übrig hat, konnte man immer schon Gefallen an ihr finden. Ich mochte diese Eigentümlichkeiten, denn sie waren es ja, die sie diese Person sein ließen, mit der mir eine Freundschaft wert ist. Beim letzten Treffen – wir liefen uns am Bahnhof über den Weg, was mich angesichts ihrer gewöhnlichen Neigung, niemals auf Reisen zu gehen, und stattdessen die meiste Zeit in ihrer abgedunkelten Wohnung zu verbringen, sehr verwunderte. Ich wurde nicht etwa auf sie aufmerksam, weil ich sie als meine Freundin unter lauter Fremden erkannte, sondern weil ich eine Frau beobachtete, deren Klamotten in den buntesten Farben leuchteten. Meine Freundin pflegte schwarze Kleidung zu tragen. Die schwarze Kleidung war Teil des Schemas, nach dem ich sie in meinem Gedächtnis bewahrte und deshalb erkannte ich sie erst auf den zweiten Blick. Sie habe eine Lesereise unternommen, erklärte sie, um neue Erzählungen vorzustellen. Wir nahmen uns die Zeit zu einem Kaffee. Sie sprühte vor Energie und wühlte nach wichtigen Gegenständen in ihrer Handtasche, während sie plauderte. Wie gesagt, wir kennen uns seit einiger Zeit. Deswegen fiel es mir nicht schwer, danach zu fragen, selbstverständlich, nachdem meine anfängliche Verwirrung etwas abgeklungen war, was sie so verändert hätte. Es widersprach nämlich ihrem Wesen, Lesereisen zu unternehmen. Sie konnte ihre Menschenscheu, um nicht zu sagen Menschenabneigung, nicht gut verbergen, weshalb sie es vermied, Fremden stundenlang ihre Texte vorzulesen.
Meine Frage überraschte sie nicht, doch erfreut war sie auch nicht. Es schien, als riefe ich unnötig vergangene Dinge in ihr Gedächtnis. In Anbetracht unserer langjährigen Freundschaft war sie mir eine Erklärung schuldig, worüber wir uns in dieser Situation beide im klaren waren.
Sie antwortete, ihre Schreibgewohnheiten hätten sich grundlegend geändert und mit ihnen ihr Leben. Als sie anfing zu schreiben, folgte sie einem lang gehegten Wunsch, es ihren Peinigern einmal heimzuzahlen. Sie habe schon als Jugendliche sich ausgemalt, wie sie eines Tages an einem Podium stehen würde und in einer Dankesrede für einen wichtigen Literaturpreis all denen vor den Kopf zu stoßen, die in ihrer verhassten Schulzeit immer besser gewesen seien als sie selbst. In ihrer Wahl, Schriftstellerin zu werden, war sie einem Ruf gefolgt, nämlich dem der persönlichen Rache und der Gerechtigkeit für ihre früher empfundene Minderwertigkeit. Die negativen Emotionen, die sie mit ihrer Kindheit und ihrer Jugend verband, waren ihr der Anlass, ihre besondere Position, man könnte auch sagen, ihre Rolle als Außenseiterin zu dokumentieren. Sie bemühte sich sehr darum, zu beschreiben, wie ihr damals zumute war. Sie schilderte unüberlegt die Wahrheit. Die Zielgruppe hatte sie dabei nicht im Visier. Sie schrieb mit dem Wissen, dass man sie lesen, aber nicht verstehen würde. So hätte sie ihre Rolle als Einzelgängerin fortführen können. Es wäre auch ein leichtes gewesen, sich in diese Rolle zu fügen, denn sie hätte einfach so bleiben können, wie es ihr eigen war.
Die Rede am Podium, in dem sie sich bei all denen bedanken würde, dafür, dass man sie zu einem besonderen Menschen geformt hätte, die ihr die Bürde auferlegt hatten, sich in Einsamkeit zu üben, wären es gewesen, die sie diesen Erfolg jetzt zu verdanken hätte. Es kam nicht zu dieser Rede, jedenfalls vorläufig nicht. Sie habe aber stattdessen ein denkwürdiges Erlebnis gehabt. Sie hatte beim Stöbern in einem Buchladen eine ihrer Mitschülerinnen entdeckt. Sie beobachtete sie so lange, bis sie schließlich gefragt würde, ob etwas nicht stimme. Sie war irritiert. Es war schier unglaublich, doch diese Frau, welche täglich eine Rolle in ihrem Leben gespielt hatte, nämlich als überwältigte Zuhörerin im Publikum und als ständige Begleiterin ihrer Gedanken als Objekt ihres Hasses, konnte sich nicht an sie erinnern. In den nächsten Sekunden wurde ihr klar, dass ihr Lebenszweck lächerlich war. Sie stellte fest, dass nicht Menschen wie sie es waren, weswegen sie eine Schriftstellerin sein sollte, jedenfalls nicht unmittelbar. Die Fronten hatten sich verändert. Sie begriff, dass es nicht lohnenswert war, sich weiter ihrer Verbitterung hinzugeben. Als sie auf dem Nachhauseweg durch die Strassen ging, sah sie die Welt mit anderen Augen, was für eine Schriftstellerin ungeahnte Folgen hatte. Es war nicht nur eine Floskel, eine vielgebrauchte Redewendung, sondern ein neuer Blick auf den Sinn ihres Daseins. Nach einiger Zeit stellte sich ein bemerkbarer veränderter Schreibstil ein. Sie ging häufiger außer Haus. Wenn sie dann auf dem Nachhauseweg sich ihre Geschichten zurechtlegte, tat sie das, in Gedanken an ihr zukünftiges Publikum. Sie malte sich aus, dass man sie zu privaten Leserunden einladen würde. Sie sah freundliche Gesichter. Sie sah sich, wie sie es genoss, den Menschen mittels ihrer Texte Freude zu bereiten, sie zu unterhalten. Sie sah sich lesen und Pausen machen, bis das Gelächter und das zustimmende Nicken abgeklungen war. Sie sagte, sie schreibe jetzt aus Liebe. Vorher hatte sie aus Hass geschrieben. Ihr Schaffen richtete sich nicht länger gegen ihre Vergangenheit, sondern ging in Richtung ihrer Zukunft. Sie bemühte sich nicht mehr darum, auf dem Papier die Gefühle, die nicht jeder kannte, die deswegen so besonders waren und schwer beschreibbar, zu beschreiben. Nun hatte sie sich darauf spezialisiert, Geschichten zu erfinden. Sie log. Sie entwarf Wahrheiten. Sie entwarf Wahrheiten mit dem Blick auf ihr Publikum. Nicht dass sie die Menschen zum Narren hielt, nein, ganz und gar nicht, sie unterhielt die Menschen. Sie gedachte ihnen nicht als ihre Feinde, sondern als ihre Freunde. Es wäre ihr selbst zuweilen unheimlich. Bisher hatte sie sich nie jemanden zugehörig gefühlt. Sie sah sich als Einzelkämpferin. Nun, wo sie für und nicht gegen jemanden schrieb, stellte sich ihr Erfolg ein. Sie wäre manchmal schon ein wenig enttäuscht darüber, dass sie nicht als eigenwillige Schriftstellerin in die Geschichte eingehen würde. Stattdessen war sie nun beliebt und brachte sich immer mehr in Leben ein, welches sie früher verachtend beobachtet hatte. Sie gestehe sich inzwischen ein, dass es nicht Verachtung, sondern Neid gewesen ist. Ihre Botschaften vermittle sie trotzdem noch. Doch sie tat es, indem sie mit gutem Beispiel voranging. Ihr höherer Bekanntheitsgrad brachte es mit sich, dass die Menschen sich auch für ihre früheren, erfolglosen Arbeiten interessierten. Die Menschen hielten diese alten Arbeiten für Fiktion, für düstere Geschichten, die sich von einem Krimi nur dadurch unterschieden, dass kein Mord geschah. Meine Freundin hat die Menschen nie über den wahren Verlauf dieser Dinge aufgeklärt. Sie liebte ihre alten, ehrlichen Geschichten. Sie bewahrte sie wie einen Schatz, denn obwohl sie der Öffentlichkeit zugänglich waren, bleiben sie ein Geheimnis. Man hielt sie für erfunden. Man habe der netten Frau niemals solche düsteren Gedanken zugetraut. Wie gesagt, sie bewahrte sie. Sie waren ein Geheimnis, von denen keiner ahnte, dass sie eines waren. Sie waren ihr Kern, der noch von Bedeutung, jedoch nicht von Wichtigkeit war. Sie musste nicht den Menschen ihren Kern nahe bringen. Die Menschen wollten das Äußere der Frucht sehen. Sie wollten es farbig. Sie wollten gesunde Geschichten. Den Kern einer Sache zu erfassen, hatte meine Freundin inzwischen begriffen, sei die Aufgabe der Philosophen. Die Schriftsteller hatten die Aufgabe, den Kern einer Sache auszuschmücken, den Kern mit einem Polster zu umgeben, so dass der Kern zwar vorhanden, aber nicht erkennbar war. Sie hatte sich darauf spezialisiert (- und hatte Spaß daran -), die Wahrheit zu verkleiden und ansehnlich zu machen. Anders formuliert, sie hatte sich darauf spezialisiert, zu lügen und war dabei so glaubhaft, dass sie die Gestalt ihrer Verkleidung annahm.

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Tag der Veröffentlichung: 24.04.2009

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