Er ist ein hässlicher Mensch. Seine Ohren laufen nach oben hin spitz zu. Seine Stirn ist eine große Beule. Seine Zähne sind wie kleine quadratische Steine und eine Lücke klafft jeweils zwischen Zahn und Zahn.
Man erkennt hässliche Menschen unter anderem daran, dass sie von den Menschen gemieden werden. Sie befreunden sich dann mit anderen hässlichen Menschen oder Menschen, die einen anderweitigen Defekt haben, welcher sie gesellschaftlich ausgrenzt. Sie werden an den Rand gedrängt. Als jemand, der dieser Randgruppe angehört – es liegt im Auge des Betrachters, aus welchem Grund dem so ist - kann ich bezeugen, dass dies kein Nachteil ist. Man befindet sich auf dem Tellerrand und ist in die Lage versetzt über diesen hinauszusehen.
Ich begegne ihm in einer Diskothek.
In der Diskothek wird laut Musik gespielt. Dennoch trägt er einen Walkman. Er will sein eigener Herr sein. Er hat keine Angst die Gegenwart zu versäumen. Womöglich hört er Musik, die Erinnerungen in ihm weckt und ihm Gleichgültigkeit ob der ungewissen Zukunft vermittelt und ihm ermöglicht, mit Gelassenheit in die Vergangenheit zu blicken.
Wir erkennen uns sofort. Meinen Namen hat er vergessen. Meiner Seele erinnert er sich. Seinen Namen kenne ich noch. Er hat die letzten drei Jahre seines Lebens in einer psychiatrischen Klinik verbracht.
Die Leute, mit denen ich hergekommen bin – mit denen mich nur verbindet, dass wir uns ein Auto geteilt haben – werfen mir und meinem frevelhaften Gesprächspartner besorgte Blicke zu. Später zerstreue ich ihre Bedenken und erkläre ich ihnen, dass ich keine Angst vor ihm habe. Wir sind zusammen aufgewachsen, sage ich, er würde mir niemals etwas tun, versichere ich, er kennt mich seit ich dreizehn bin, er hat ja keinem Menschen etwas getan, bewahrheite ich, er hatte eine beschissene Kindheit, rechtfertige ich.
Er stellt mir keine Fragen. All meine Fragen, die ich an ihn habe, bringen mich in Bedrängnis.
Er bittet mich um meine Telefonnummer. Ich bin nicht sicher, ob ich ihm als alte Bekannte gelte oder als attraktive Frau.
Ich erzähle meinem neuen Bekannten am nächsten Tag von meiner Begegnung mit meinem alten Bekannten. Ich brüste mich ein wenig damit, einen Kriminellen zu kennen. Schließlich kann das nicht jeder von sich behaupten. Einige Telefonate später distanziere ich mich von meinem alten Bekannten. Er ist, man nennt es, „hängengeblieben“. Die Zeit und die Erfahrungen haben ihre Spuren hinterlassen.
Die Liebe in abstracto weicht der Vernunft in concreto. In Wirklichkeit ist es vernunftwidrig, von wem immer auch festgelegt, den Kontakt mit ihm aufrechtzuerhalten. Die Wirklichkeit kann man aber verfälschen, indem man lügt und indem man Lügen glaubt.
Ich pflege den Kontakt zu ihm unter der Hand. Überall, wo ich rede, wird er mich erkennen. Er ist mein Freund. Ich bete, er wird nicht erschrecken, wenn er meine Worte vernimmt, denn sein Gesicht wäre mir ein Spiegelbild. Er weiß nicht, was ich die letzten Jahre getrieben habe. Ich selbst erinnere mich nicht. Ich trage keinen Walkman, der mich meine Vergangenheit und meine Zukunft gewahr werden lässt. Mir würde die Musik weder Gelassenheit noch Gleichgültigkeit borgen.
Mein Fehlverhalten ist um vieles schlimmer. Meine Taten sind nicht solche, welche vom Gesetz verboten sind. Meine Taten entbehren jeglicher Moral. Ich habe Herzen gebrochen. Ich habe Menschen vergessen. Mit meinen Taten habe ich Verrat begangen. Verrat an mir selbst. Diesen Verrat kann man erkennen im Angesicht eines Menschen, der einen kennt und der mit seinem Blick zur Scham zwingt. Das Gesetz hat keine Strafe für Fehler dieser Art. Ich befinde mich auf freiem Fuß. Bin lediglich Knecht meines Gewissens.
Ich appelliere an die Fähigkeit der Menschen, von der eigenen Person abstrahieren zu können und der Endlichkeit zu trotzen. In Gedanken sollen wir verbunden sein für ewig und uns vergeben. Lasse jeden seinen Weg wählen, der Weg, der ihn an einen besseren Ort bringt. Zwinge ihn nicht, zu verweilen. Vergib ihm, denn es gibt Gründe, die ihn bewegen, Beweggründe, deren Verursacher nicht man selbst ist, sondern ein Gedanke, der einen überkommt und den man nicht aufzuhalten vermag. Und uns beim nächsten Mal verständnisvoll zunicken, um anschließend, nachdem das geklärt ist, abermals unseren Weg fortzusetzen. Eine Liebeserklärung in abstracto, um sich in concreto nicht zu verirren.
Tag der Veröffentlichung: 23.04.2009
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