Zwischen Tür und Angel
Ich habe vor einiger Zeit meine Seele zwischen Tür und Angel verloren. Wenn man nun für die Angel die Definition annimmt, welche uns geläufiger ist und welche auch an erster Stelle steht, wenn man den Begriff „Angel“ in einem Wörterbuch nachschlägt, also einem Fischfanggerät, gelangt man zu der Methode, mit der ich wieder in den Besitz meiner Seele gekommen bin. Ich habe meine Seele aus der sich zwischen Tür und Angel befindlichen Schlucht angeln müssen.
Es ist schwierig eine verlorengegangene Seele wiederzuerlangen, ebenso, wie es mit Schwierigkeiten verbunden ist, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.
Ich war auf die Hilfe einiger Menschen angewiesen, die ich hier nicht namentlich nenne, weil diese Geschichte meine Seele zum Hauptgegenstand haben soll. Es ist auch schon einige Zeit vergangen, seit sie sich wieder am rechten Ort befindet. Die vorübergehende Heimatlosigkeit hat meiner Seele sehr zugesetzt. Es dauerte lange an, bis sie sich von ihrem Ausflug (oder sollte ich schreiben: Absturz) erholt hatte. Die Nacherzählung dieses Ausflugs soll nicht nur dem Leser dieser Geschichte behelfen, sondern ist auch für meine wiedererworbene Seele heilsam. Es hilft ihr, sich mit mir und der Welt zu verhaften. Auf diese Weise wird sie davor geschützt, noch ein weiteres Mal verloren zu gehen. Sie verhaftet sich mit ihrem heimatlichen Ankerplatz. Sie wird sozusagen dingfest gemacht.
Auch bekenne ich mich mit der Niederschrift zu meiner Schuld und befreie ich mich zugleich von ihr. Den Verlust habe ich selbst verschuldet, dennoch bin von den Folgen sehr überrascht worden. Zunächst bemerkte ich gar nicht, dass ich ohne meine Seele in der Welt unterwegs war. Wie ich vermute, lag diese Unachtsamkeit meinerseits daran, dass man mit dem Verlust der Seele einen inneren Maßstab verliert, womit ein kritischer Standpunkt sich selbst gegenüber erschwert wird.
Zwischen Tür und Angel ist ein Ort, der weder das Zuhause, noch das Gegenteil bezeichnet, was immer das bedeutet, sondern eine Zwischenwelt. Eben dort musste ich auf die Suche gehen. In einer Zwischenwelt kann man sich nur zurechtfinden, wenn man sich mit den dort vorherrschenden Gewohnheiten auskennt. Wie ich heute weiß, spricht man dort eine andere Sprache und entbehrt dem festen Boden unter den Füßen. Es ist eben eine Zwischenwelt.
Ich habe herausgefunden, dass man in der Zwischenwelt, zumindest in dieser, mit der ich es zu tun hatte, ebenfalls Deutsch sprach. Man achtete aber darauf, mit Sprache nicht allzu verschwenderisch umzugehen. Wo wir ganze Sätze und Satzgefüge gebrauchen, um die Dinge zu beschreiben, benutzten die Wesen dieser Zwischenwelt nur ein einziges Wort. Dieses Wort war kein Symbol oder Code, die nur Einheimische verstehen konnten. Nur wenn es absolut notwendig war, durch Sprache etwas sichtbar machen, bedienten sie sich dieser Kommunikationsform. Diese Wesen bevorzugten das Schweigen. Ich musste mich zunächst an den sparsamen, jedoch nicht spärlichen Umgang mit Sprache gewöhnen.
Keinen der Bewohner dieser Zwischenwelt habe ich gesehen, noch seinen Namen erfahren. Bis heute weiß ich nicht, ob es daran liegt, dass sie nicht gesehen werden wollten. Ich halte es ebenso für wahrscheinlich, dass sie nicht sichtbar waren. In einer Welt, wo man seine Seele verlieren kann, kommen Körpern vermutlich gar keine große Bedeutung zu. Ebenso waren Eigennamen nicht vonnöten. Allen gemeinsam war der besondere Sprachgebrauch. Dieser verband sie.
Ich habe bereits erwähnt, dass ich auf Hilfe angewiesen war. Es waren nicht nur die namenlosen und körperlosen Bewohner der Zwischenwelt, sondern auch Menschen unserer Welt an der Rettungsaktion meiner Seele beteiligt. Diese wiesen mir den Weg. Es ist erstaunlich, Hilfe zu erhalten ohne eine Gegenleistung erbringen zu müssen. Ich glaube, sie taten es, weil sie selbst schon einmal ihre Seele verloren hatten und deshalb am eigenen Leib erfahren haben, wie das ist.
Meine Seele erhielt ich innerhalb eines Rituals wieder. Unsere gemeinsame Aufgabe bestand darin, das unterschiedliche Verständnis von Sprache in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Sie erhielten mehr Wörter – man achtete darauf, dass es nicht zu viele auf einmal waren – und zugleich wurde mein Sprachbewusstsein sensibilisiert. Worte, welche wir sehr häufig benutzen, sind ihnen bei diesem Ritual übergeben worden, indem ich sie wiederholt laut aussprechen musste.
Dieses Ritual hatte auch für mich einen positiven Nebeneffekt: Allmählich klangen die Worte befremdlich in meinen Ohren und ich scheue mich seitdem, sie zu benutzten. Ich gebrauche sie nur, wenn es absolut notwendig ist und mir kein Synonym zur Verfügung steht.
In diesem Ritual jedenfalls, wurden Wörter in diese Zwischenwelt eingeführt. Sie waren nämlich mit Sprache nicht deshalb sparsam, weil sie zu wenig Worte gehabt hätten, erklärten sie mir, sondern sie taten es aus einer Überzeugung heraus. Sie hätten früher auch einen großen Wortschatz gehabt. Es sei aber in Folge dessen etwas furchtbares passiert.
Die vielen Worte ließen Gerüchte entstehen, welche den Menschen nicht zuträglich waren. Daraufhin beschloss ein Gericht, das ganze Sprachsystem zu reformieren. Man verordnete ein allgemeines Schweigen für einen bestimmten Zeitraum, solange, bis auch das Aussprechen des letzten Wortes verjährt war. Dann machte man sich behutsam daran, den Wortschatz neu aufzubauen. Dies geschah, indem Leute wie ich, die also ihre Seelen verloren hatten, dieses Ritual durchführten. Wie ich hatten diese keine andere Wahl, als bei dieser Erneuerung ihren Teil beizutragen, denn sie wollten ja, wie ich selbst, ihre Seele zurück.
Ich aber fragte mich - und daraufhin jemanden, der sich besser mit der Zwischenwelt auskannte, ob die Einheimischen nicht sehr von uns abhängig waren, denn sie waren ja darauf angewiesen, dass jemand von uns einen Fehler macht. Man antwortete mir, dass man absolut sicher sein konnte, dass dies geschieht. Es ist immer schon vorgekommen und es wird auch in der Zukunft nicht abbrechen. Die Garantie dafür liege im Wesen des Menschen, erklärte man mir. Es würde immer jemand in der Zwischenwelt auftauchen, einer der umherirrt und nach seiner Seele sucht.
Ich habe noch gar nicht erzählt, wie genau es zu dem Verlust meiner Seele gekommen ist:
Sie ist mir abhanden gekommen, weil ich nicht die Wahrheit gesagt habe – oder, anders formuliert: ich habe gelogen. Ich habe in einer ganz bestimmten Sache bewusst gelogen. Ich habe mir also eine Lüge zurechtgelegt und wollte sie als eine Wahrheit verkaufen. Es ging dabei nicht um ein Schummeln der Behörden gegenüber. Es ging um eine sehr ernste Sache: Liebe. Meine Hauptschuld lag darin, dass ich mir etwas ausgedacht habe, dass nur mit Worten haltbar war. Ich tat es in der Hoffnung, diese Vorstellung, die ich formulierte sich in die Realität fügen würde. Ich tat es aus Rachsucht.
Wie ich nun weiß, ist dies streng verboten. Man darf nur Dinge erzählen, die der Wahrheit entsprechen. Das bedeutet nicht, dass man sich nichts mehr ausdenken darf. Es ist erlaubt, in schriftlicher Form lügen. Wenn etwas bereits schriftlich fixiert ist, darf man es in der Öffentlichkeit selbstverständlich vorlesen, zitieren und nacherzählen. Jede Form von neuem Gedankengut, welches der Phantasie entspringt, muss aber zunächst schriftlich formuliert werden, damit kein Unglück geschieht.
Dieses Ritual und die Einsicht in mein Fehlverhalten reichten aus, um meine Seele wiederzubekommen. Man wies mich aber darauf hin, dass ich noch an mir arbeiten müsste, um den ursprünglichen Zustand meiner Seele wiederherzustellen, also in den Zustand zurückzuführen, in dem sie sich befand, bevor ich dieses Lügenkonstrukt aufgebaut hatte. Sie hatten einen bestimmte Aufgabe für mich. Ich sollte die Menschen in unserer Welt von ihrem Bestehen in Kenntnis setzten. Es war nämlich so, dass sich in letzter Zeit die verlorenen Seelen unserer Welt in ihrer Zwischenwelt gehäuft hatten. Das führte dazu, dass zu viele Rituale durchgeführt werden mussten. Sie wollten aber nicht so viele Worte und sie befürchteten auch, dass die Zahl der Menschen, die ihre Seele bei ihnen suchen müssten, nicht geringer werde, sondern in einem Maß steigen würde, der ihre zeitliche, räumliche sowie finanzielle Verfügbarkeit sprengen würde. Sie haben mehrere Wartezimmer bauen müssen. Um dieser ungünstigen Tendenz entgegenzuwirken, erklärten sie, wollten sie die Menschen davon in Kenntnis setzten, wie man seine Seele verlieren kann. Mit dieser Warnung erhoffte man sich, die Zahl der Besucher in ihrer Zwischenwelt zu verringern.
Ich für meinen Teil glaube, dass man die Menschen damit nur neugierig macht. Ich weiß aber nicht, was geschieht, wenn man das Risiko nicht scheut.
Ich wäre mutig genug, gegen das Gesetz zu verstoßen, nur um zu erfahren, was mich erwartet. Doch man hat mir ausdrücklich verboten, noch einmal meine Seele zu verlieren. Bei der Verabschiedung - ehe die Tür geschlossen wurde, welche unsere Welt von derer trennte und zugleich meine Seele daheim willkommen hieß - musste ich versprechen, nicht wieder bei ihnen aufzutauchen.
Ach ja, man hat mich ausdrücklich darum gebeten, diese Geschichte nur in schriftlicher Form unter die Menschen zu bringen.
Tag der Veröffentlichung: 23.04.2009
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