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Inhalt

Vorbemerkung

 

Der hier vorliegende Text enthält nicht die Anmerkungen des Originaltextes!

 

 

Inhalt

 

 

Einleitung

 

Die Vorlagen des Eneasromans

a) Die Dido-Handlung in der Aeneis des Vergil

b) Der siebente Brief der 'Heroides' des Ovid

c) Dido und Eneas im 'Roman d'Eneas'

 

Die Dido-Handlung im 'Eneasroman'

 

Die Dido-Lieder in den 'Carmina Burana'

 

Vergleich

 

Einzelprobleme

a) Venus: Die antike Göttin im mittelalterlichen Gewand

b) Didos 'Liebestod' von eigener Hand bei Heinrich von Veldeke

 

Didos Minne - Didos Schuld?

 

Anhang: Die Dido-Lieder der 'Carmina Burana'

 

Literatur

 

Der Autor

Einleitung

 

Der römische Epiker P. Vergilius Maro [1] schuf mit seiner Gestaltung der Didosage [2] in der 'Aeneis' eine Liebesgeschichte, deren literari­sche Bedeutung weit über seine Wirkungszeit hinausreicht. Mit der Wiederaufnahme des Aeneasstoffes im Mittelalter, zunächst durch die französische Bearbeitung im 'Roman d'Eneas', dann in der deutschen Übersetzung und Bearbeitung dieses Werkes durch Heinrich von Velde­ke, erweckte die unglücklich endende Liebe der karthagischen Königin Dido zu dem aus dem brennenden Troja geflohenen Aeneas wieder In­teresse. Die beiden Liebenden wurden so bekannten Paaren der höfi­schen Literatur wie Tristan und Isolde an die Seite gestellt. [3]

Das Interesse am Didostoff beruhte im Mittelalter allerdings nicht aus­schließlich auf der vom 'Roman d'Eneas' und Heinrich von Veldeke ge­lieferten Grundlage. In der Sammlung der Carmina Burana finden sich mehrere Lieder, die ebenfalls von der Liebe der karthagischen Königin Dido zu Aeneas handeln, aber direkt auf Vergil und Ovid beruhen. Hier liegen nun Bearbeitungen in lateinischer Sprache vor. Diese Lieder be­fassen sich nur mit der Liebe der Dido zu Aeneas und sind ansonsten völlig losgelöst von der übrigen Handlung der 'Aeneis'.

Die Forschung hat sich nur wenig mit Dido und Aeneas auseinanderge­setzt. Einige wenige Aufsätze und Monographien behandeln die Dar­stellung bei Heinrich von Veldeke. Ausführliche Auseinandersetzungen mit den Bearbeitungen des Didostoffes in den Carmina Burana fehlen völlig. In einen Zusammenhang werden die Bearbeitungen Heinrichs von Veldeke und der 'Carmina'-Dichter bisher nicht gebracht.

Im folgenden soll die Bearbeitung des Didostoffes bei Heinrich von Veldeke mit den Liedern der 'Carmina Burana' verglichen werden. Da­bei ist auf die von den Autoren vertretenen Auffassungen im einzelnen einzugehen, die für die jeweilige Darstellung der Liebe der Dido zu Ae­neas verantwortlich waren. Es ist darzustellen und zu untersuchen, wie Heinrich von Veldeke und die Dichter der Carmina Burana mit den vorgefundenen Handlungssträngen und Motiven umgingen. Dies soll zunächst für beide Bearbeitungen gesondert geschehen, worauf ein Ver­gleich der herausgearbeiteten Punkt vorgenommen werden soll.

Der zwischen 1170 und 1190 von Heinrich von Veldeke verfaßte 'Ene­asroman' ist der früheste deutsche Roman mit einem antiken Stoff und bildet den Beginn der Geschichte des Didostoffes im deutschen Sprach­raum. Als direkte Vorlage diente dem Autor der um 1160 verfaßte 'Roman d'Eneas' eines unbekannten französischen Dichters, der das an­tike Epos schon in einen mittelalterlichen Roman umgewandelt hatte. [4] Die Arbeit an diesem Werk wurde im Jahr 1174 unterbrochen, als es schon zu zwei Dritteln fertiggestellt war, da dem Autor sein Manuskript ge­stohlen wurde. Erst um 1186 konnte er sein Werk abschließen, nach­dem ihm Pfalzgraf Hermann von Sachsen (1181-1217) das Manuskript wiedergegeben hatte. Heinrich von Veldeke muß des Lateinischen mächtig gewesen sein und "... seine Belesenheit in lateinischen Schul­autoren wie Vergil, dessen Kommentator Servius (4. Jh.) und Ovid wird an manchen Stellen des 'Eneasroman' sichtbar, an denen er über die fran­zösische Vorlage hinausgeht oder sie korrigiert." [5] Daneben weist Kar­tschoke auch noch auf den Einfluß der lateinischen Va­gantendichtung auf den 'Eneasroman' hin, was in Hinsicht auf einen Vergleich mit den 'Carmina Burana' nicht unwichtig sein kann. [6]

Erhalten blieb der im hochdeutschen (oberdeutschen) Dialekt verfaßte 'Eneasroman' in sechs Handschriften und Bruchstücken von fünf weite­ren Textzeugen. Die Eigenständigkeit Heinrich von Veldekes zeigt sich insbesondere darin, dass der französische Dichter noch sklavisch dem von Vergil vorgegebenen Erzählschema folgte, er aber die Erzählung chronologisch umstellte. Beide mittelalterlichen Dichter zeigen bei ih­rer Bearbeitung die Tendenz, die von Vergil aufgebauten Verknüpfun­gen zwischen den einzelnen Episoden allein auf die Schilderung des reinen Ablaufs des Geschehens zu reduzieren. Die Didogeschichte, bei Vergil nur eine Art "Zwischenstück" und die Rahmenhandlung für die Troja-Erzählungen des Aeneas bildend, wurde bei Heinrich von Velde­ke "... zu einem unerläßlichen, dem übrigen gleichberechtigten Roman­stück, überhaupt zum Inhalt des ganzen ersten Teils", schreibt Semrau. [7] Die bei Vergil der restlichen Handlung deutlich untergeordnete Ge­schichte von Dido und Aeneas wird bei dem deutschen Dichter zu einer der Haupthandlung nebengeordneten, gleichberechtigten Episode. Als höfischer Roman präsentiert der 'Eneasroman' zwei Minnegeschichten, die der Dido und die der Lavine. [8] Was bei Vergil völlig fehlte, die Geschichte des Entstehens einer Liebe zwischen Lavine und Eneas, wird hier breit ausgearbeitet. Da Heinrich von Veldeke der Lavine-Min­ne so breiten Raum gibt, erhält auch die Didominne eine stärkere Posi­tion innerhalb der Romanhandlung. In der Bearbeitung ist die Ge­schichte des Eneas nicht mehr die Erzählung von einer abenteuerlichen Flucht des Trojaners nach Italien, wo er sich ein neues Reich erwirbt, sondern die Geschichte von zwei Liebesbeziehungen, die er auf seinem Weg eingeht, einer zum Scheitern verurteilten und einer erfüllten. Die Minne tritt in den Vordergrund, die heroischen Taten, Kämpfe und Abenteuer bilden den Rahmen und die verbindenden Handlungsteile zwischen den Liebesgeschichten.

Die unglückliche Liebe der Dido war in der literarischen Kultur des Mittelalters der perfekte Gegenentwurf zu den zahllosen glücklichen Paaren der weltlichen Dichtung. Für die Dichter der Liebeslieder der Carmina Burana, vertraut mit der lateinischen Literatur der Antike, aber auch mit der zeitgenössischen Liebesdichtung, war eine Auseinan­dersetzung mit Dido sicherlich interessant und herausfordernd. Die Handschrift der Carmina Burana, als clm 4660 in der Bayerischen Staatsbibliothek in München aufbewahrt, wurde im "sinkenden 13. Jahrhundert" [9] angelegt. Die Verfasser der hier gesammelten Lieder waren Vaganten, fahrende Kleriker oder Scholaren, die, auf milde Ga­ben für ihren Lebensunterhalt angewiesen, die Lande durchzogen. Das Aufblühen der Universitäten im 12. und 13. Jahrhundert hatte zur Ent­stehung dieses "Gelehrtenproletariats" geführt. [10] Aus diesem Umfeld kamen die lateinischen Lieder der Carmina Burana, die Lieder, in de­nen alle Spielarten der Liebe beschrieben werden, die auch deren derbe und düstere Seiten nicht auslassen.

Die Vorlagen des 'Eneasromans'

 

Es erscheint sinnvoll, zunächst kurz den Inhalt der 'Aeneis' des Vergil, des siebenten Briefes der 'Heroides' des Ovid und des französischen 'Roman d'Eneas' vor zu stellen. Zum einen liefert Vergil letztendlich die Grundlage für alle mittelalterlichen Bearbeitungen des Didostoffes, andererseits folgt Heinrich von Veldeke an einigen Punkten den Umdeutungen des unbekannten französischen Dichters, die sich so bei Vergil nicht finden. Manche Konstruktion innerhalb der Didohandlung des 'Eneasromans' wird besser verständlich, wenn diese beiden Vorstufen mit in Betracht gezogen werden. Es ist auch zu erkennen, dass Heinrich von Veldeke nicht allein den 'Roman d'Eneas' als Vorlage für sein Werk benutzte, sondern stellenweise auch auf Vergil zurückgriff.

Die Bedeutung der 'Heroides' für alle mittelalterlichen Bearbeitungen des Didostoffes liegt in der Umdeutung der Haltung der Dido, die Ovid vornahm und die dann den mittelalterlichen Autoren, auch den Dichtern der Carmina Burana, als Grundlage für ihre neue Sicht der Didogeschichte dienten.

 

a) Die Dido-Handlung in der 'Aeneis' des Vergil

 

Die hier zu betrachtenden Teile der Didohandlung verteilen sich in der 'Aeneis' des Vergil auf das I. und IV. Buch. Dabei enthält das IV. Buch den Hauptteil und berichtet über die Liebe der Dido zu Aeneas bis zu seiner Abreise und ihrem Tod. Aeneas landet mit seinen durch einen Sturm angeschlagenen Schiffen an der libyschen Küste. Auf einem Er­kundungsgang wird er von seiner Mutter, der Göttin Venus, angespro­chen und schließlich, in eine Wolke gehüllt, an den Hof der karthagi­schen Königin Dido gebracht. Dort sind schon einige seiner Gefährten angelangt, die der Königin vom Schicksal der flüchtigen Trojaner be­richten.[Aeneis I 586-594.]

Aeneas, nachdem er wieder für alle sichtbar geworden ist, dankt der Karthagerin für die gastliche Aufnahme. [Aeneis I 596-610] In ihrem Palast läßt Dido ihren Gästen ein Mahl bereiten. [Aeneis I 631-655] Ve­nus fürchtet um ihren Sohn Aeneas, weil er bei der die Iuno verehren­den Dido zu Gast ist. Sie will dafür sorgen, dass Dido dem Trojaner gut gesinnt ist. Deshalb beauftragt sie ihren Sohn Cupido, die Gestalt des Ascanius, des Sohnes des Aeneas, anzunehmen. Dann solle er zu Dido gehen und in ihr, wenn sie ihn küsse, mit seinem "venenum" die Liebe zu Aeneas zu entfesseln. [Aeneis I 657-688] Cupido entführt den Ascanius, nimmt dessen Gestalt an und bringt an seiner Statt die Geschenke des Aeneas zu Dido. [Aeneis I 689-696] Als Dido den vermeintlichen Ascanius auf den Schoß nimmt, wirkt Cupido dahin, dass sie ihren verstorbenen Ehemann Sychaeus vergißt, und in ihr die Liebe erneut erweckt wird. [Aeneis I 709-722] Die Didohandlung wird nun vom II. und III. Buch der 'Aeneis' unterbrochen, in denen die Erzählungen des Aeneas über den Trojanischen Krieg und seine Abenteuer auf seiner bisherigen Flucht geschildert werden.

Das IV. Buch, das sich ausschließlich Dido und Aeneas widmet, be­ginnt damit, dass Dido ihre Schwester Anna aufsucht und ihr gesteht, sich in Aeneas verliebt zu haben. [Aeneis IV 9-23] Doch sie will dem nicht nachgeben, da sie sich noch immer ihrem verstorbenen Gemahl Sychaeus verpflichtet fühlt. [11] Sie will nicht noch einmal heiraten. [Aeneis IV 24-29] Anna rät ihr allerdings, sich Aeneas zuzuwenden. In ihm sieht sie die Bewahrung vor den ringsum herrschenden Bedrohun­gen für Karthago. Dido soll Aeneas mit seinen Gefährten für den Win­ter in Karthago zurückhalten. [Aeneis IV 31-53] <font;_italic>"His dic­tis impenso animum flammavit amore spemque dedit dubiae menti sol­vitque pudorem."</font> (Mit diesen Worten läßt heftige Liebe sie in der Schwester aufflammen, und schenkt Hoffnung der Zweifelnden und läßt sie ihre Scham vergessen.) [Aeneis IV 54-55] Dido opfert im Tem­pel für ihre Liebe, zeigt Aeneas ihre Stadt und läßt alle Regierungsge­schäfte liegen, sich nur noch dem Geliebten widmend. [Aeneis IV 56-89] Die Göttin Iuno stellt nun Venus zur Rede, sie bietet ihr an, durch eine Verbindung von Aeneas und Dido Frieden zu stiften. [Aeneis IV 90-103] Doch Venus wittert Verrat und verlangt von Iuno, bei ihrem Gatten Iupitter nachzufragen, ob dieser Plan ausgeführt werden soll. [12] Iuno schlägt nun vor, bei dem für den kommenden Tag geplanten Jagdausflug der Karthager und Trojaner ein Gewitter losbrechen zu las­sen. Dabei sollen Dido und Aeneas von ihren Gefährten getrennt wer­den, um von Iuno in <font;_italic>"conubio stabili"</font> verbunden zu werden. [Aeneis IV 115-127] Dido und Aeneas brechen am nächsten Morgen zur Jagd auf. Als das Gewitter losbricht, suchen sie gemeinsam Zuflucht in einer Höhle. [Aeneis IV 130-166] <font;_italic>"ille dies primus leti primusque malorum causa fuit; neque enim specie famave movetur nec iam furtivum Dido mediatur amorem: coniugium vocat, hoc praetexit nomine culpam."</font> (Jener Tag war des Todes und alles kommenden Unheils erster Beginn; jetzt sorgt sie um Ehre sich nicht und um Anstand, Dido denkt nicht mehr an heimliche Freuden der Liebe, nennt sie Ehe nunmehr, verhüllt ihre Schuld mit dem Worte.) [Aeneis IV 169-172]

Das Gerücht über die Verbindung von Dido und Aeneas verbreitet sich in Libyen, bis es auch zu König Iarbas gelangt. [Aeneis IV 173-197] Vor dem Altar des Iuppiter klagt Iarbas über Dido, die ihn einst als Ge­mahl verschmähte, aber nun dem Aeneas ihre Gunst gewährt. [Aeneis IV 198-218] Darauf sendet Iuppiter den Götterboten Mercur zu Aeneas, um diesen zur baldigen Abfahrt nach Italien zu drängen. Mercur trifft Aeneas beim Bau der karthagischen Stadtmauer an und teilt ihm den Spruch des Göttervaters mit. [Aeneis IV 223-276] Der Trojaner ist so­fort bereit, dem Götterspruch zu folgen und gibt den Auftrag, seine Schiffe in aller Heimlichkeit klarzumachen. Dido erfährt von den Vor­bereitungen und stellt den Geliebten zur Rede. Sie wirft ihm vor, er sei treulos und klagt, nicht einmal die Liebe halte ihn zurück. [Aeneis IV 305-308] Sie hält ihm vor, sich den Gefahren der winterlichen Über­fahrt aus zu setzen, um vor ihr zu fliehen. Auch weist sie auf die Libyer hin, die sie wegen ihrer Verbindung zu ihm nun hassen und auf ihr <font;_italic>"extinctus pudor"</font>. [Aeneis IV 309-330] Auch klagt sie, keinen Sohn von Aeneas zu haben, der ihr das Gefühl geben würde, nicht gänzlich verraten worden zu sein. [Aeneis IV 327-330] Doch die Einwendungen der Dido können Aeneas nicht halten, er er­klärt, Dido nie die Ehe versprochen zu haben. [Aeneis IV 338-339] In hellem Zorn droht Dido nun mit ihrem Selbstmord. Ihre Wut treibt sie zu Beleidigungen: <font;_italic>"nec tibi diva parens generis nec Dar­danus auctor, perfide, sed duris genuit te cautibus horrens Caucasus Hyrcanaeque admorunt ubera tigres."</font> (Weder gebar dich eine Göttin noch war Dardanus dein Ahn, Treuloser, sondern es zeugte dich aus hartem Gestein der grausige Kaukasus und hyrkanische Tigerinnen säugten dich. ) [Aeneis IV 365-367] Die Königin zieht sich zurück, während sich Aeneas daranmacht, seine Schiffe für die Abfahrt vorzu­bereiten. Als letzten Versuch, ihn zurückzuhalten, sendet Dido ihre Schwester Anna zu Aeneas, nochmals darauf dringend, für die Abfahrt günstigere Winde abzuwarten. [Aeneis IV 416-436] Sie erwartet von dieser Frist, dass sie sich beruhigt und mit der Situation abfindet. Doch Aeneas geht auf ihren Wunsch nicht ein. Bedrängt von Alpträumen be­schließt Dido, sich den Tod zu geben. [Aeneis IV 450-476] Sie schickt Anna weg, um eine Priesterin zu holen, die einen Zauber beherrscht, die Liebe zu lösen. Auch sollen alle Geschenke des Aneas auf einem Scheiterhaufen verbrannt werden. Sie bringt Opfer dar, ist aber zum Selbstmord entschlossen. Dabei beklagt sie, dem Sychaeus die Treue gebrochen zu haben. [Aeneis IV 416-552] Aeneas segelt ab. Dido ver­flucht ihn, dass in Zukunft keine Freundschaft zwischen ihren Völkern sei. [Aeneis IV 621-629] Auf dem schon vorbereiteten Scheiterhaufen rammt sich Dido das Schwert des Aeneas in den Leib und stirbt in den Armen ihrer Schwester. [Aeneis IV 642-705]

 

b) Der siebente Brief der 'Heroides' des Ovid

 

Die Bearbeitung des Didostoffes im siebenten Brief der 'Heroides' des Ovid ist für die mittelalterliche Rezeption der Didosage von größter Bedeutung. Die darin vorgenommene Umdeutung der Haltung der Dido wirkt sich stark auf die mittelalterlichen Bearbeitungen aus. Im Gegensatz zu Vergil entdeckt Ovid eine völlig neue Seite der Dido. Es gelingt Dido nun, den aufkommenden Haß gegen Aeneas zu überwinden und dem Geliebten zu verzeihen. Ovid läßt Dido vor ihrem Selbstmord einen Brief an Aeneas schreiben, in dem sie ihr Schicksal beklagt. Darin läßt er sie andere Töne anschlagen als in der 'Aeneis'. Während Vergils Dido im Haß stirbt und Aeneas und seine Nachkommen zur Feindschaft mit den Karthagern verflucht, schildert Ovid sie weicher. Dido sagt, sie habe dem Geliebten ihren Ruhm (merita), ihren Ruf (fama) und ihre Unschuld (animum pudicum) hingegeben. [Heroides VII 7] Sie wirft Aeneas vor, seinen Schwur zu brechen, indem er mit seinen Schiffen das Land verläßt. Er verzichtet auf Karthago, läßt Dido schmählich zurück. Die klagende Karthagerin erwartet, dass es eine andere Frau geben wird, die der Trojaner ebenso betrügen wird wie sie. Sie hält sich für töricht; "sim stulta", sagt sie von sich. [Heroides VII 28] Doch sie verzeiht dem geliebten Mann: "Non tamen Aenean, quamvis male cogitat, odi; sed queror infidum questaque peius amo". [Heroides VII 29-30] Dido fleht Venus und Amor an, den Geliebten dazu zu bringen, dieselbe Liebe zu empfinden wie sie. Die Gefahren der Winterstürme, so Dido, nimmt Aeneas auf sich, nur um ihr zu entfliehen. Die See soll den Eidbrecher bestrafen. Doch soll Aeneas nicht sterben, sondern in den Gefahren des Meeres soll ihm seine Schuld entgegentreten: "Protinus occurent falsae periuria linguae et Phrygia Dido fraude coacta mori. Coniugis ante oculos deceptae stabis imago, tristis et effusis sanguinulenta comis." [Heroides VII 67-70] Aber Aeneas soll auf besseres Wetter zur Abfahrt warten, er soll an Iulus denken, dessen Mutter von Aeneas in Troja zurückgelassen worden war. [13] Dido bereut, Aeneas nicht nur nach seinem Schiffbruch geholfen, sondern ihm auch noch Ehre und Unschuld geopfert zu haben. [Heroides VII 91-92] Als sie sich Aeneas in der Höhle hingab, hätten nicht Nymphen, [14] sondern die Furien ihre Stimmen erhoben, und sie fordert von ihrer beleidigten Scham und dem Sychaeus ihre Strafe. Dido glaubt sich von ihrem verstorbenen Gemahl gerufen, [15] noch zögert sie aber, ihm in den Tod zu folgen.

Aeneas gab ihr allen Grund, ihm zu trauen, was nun ihre Schuld abschwächt. Dido beklagt ihr bisheriges Schicksal, den Bruder, der ihr den Gatten erschlug, ihre Flucht nach Libyen. Aeneas solle sie dem Iarbas geben, sagt die verzweifelte Königin, "praebuerim sceleri branchia nostra tuo." [Heroides VII 126] Durch seine Tat, sie zu verlassen, wird Aeneas auch zum Mörder des Kindes, das Dido von ihm erwartet. [16] Schließlich klagt Dido darüber, dass der Gott zwar bestimmte, Aeneas müsse sie verlassen, aber nicht verhinderte, dass der Trojaner überhaupt zu ihr kam. Als letztes Flehen bietet Dido dem Aeneas die Herrschaft über Karthago an: hier könne er herrschen. In ihrer Liebe zu ihm sieht die Karthagerin ihre einzige Schuld. Wenn er sie schon nicht heiraten wolle, will sie wenigstens seine "hospita" sein: "Dum tua sit, Dido quodlibet esse feret." [Heroides VII 168]

Zuletzt bittet sie noch um eine letzte Verzögerung der Abfahrt, wenn Aeneas diese nicht gewährte, bleibe ihr nur noch der Tod. Sie besingt das Schwert, das ihr den Tod geben wird, dann bittet sie den fernen Geliebten um ihr Epitaph: "Praebuit Aeneas et causam mortis et ensem; ipsa sua Dido concidit usa manu." [Heroides VII 195-196]

 

 

c) Dido und Eneas im 'Roman d'Eneas'

 

Der 'Roman d'Eneas' enthält die erste mittelalterliche Bearbeitung des Didostoffes. Es zeigen sich schon deutliche Unterschiede in der Aus­deutung der Motive und Handlungen der Personen zur antiken Vorlage. Unverkennbar hatten auch die 'Heroides' des Ovid einen gewissen Ein­fluß. Bestimmend für die Umarbeitung der 'Aeneis' in dieser Überset­zung ins Altfranzösische war der Umstand, dass nun die antiken Götter, die bei Vergil als Handlungsträger entscheidend zu den Schicksalen der Personen des Epos beitragen, weitgehend aus der Handlung herausge­nommen wurden. Dadurch ergab sich für den Dichter an einigen Punk­ten der Handlung die Schwierigkeit, die Taten der Beteiligten zu moti­vieren. Wo bei Vergil der Rat eines Gottes die Handlung beeinflusste, mußte nun ein innerer Entschluss des Betroffenen zu einer Entschei­dung führen. Allerdings löste sich der Dichter des 'Roman d'Eneas' noch nicht völlig von der heidnischen Götterwelt, dazu blieb er zu nah an der Vorlage. Die Götter treten zurück und werden nur dann erwähnt, wenn es unumgänglich für den Handlungsablauf ist. Es werden auch ganze Passagen der 'Aeneis' weggelassen, die Gespräche zwischen den Göttern enthalten, die Vergil sehr ausführlich schildert.

Auch findet sich eine erste Umdeutung der Handlung in Hinsicht auf die gesellschaftlichen Normen und Werte des Mittelalters. Von seinem Landeplatz an der libyschen Küste sendet Eneas zehn Boten aus, die das Land erkunden sollen. Diese gelangen auf ihrem Weg nach Kartha­go. [RdE 373-376] Dort gehen sie zu Dido, der Herrin der Stadt, und berichten von ihrem Schicksal. [RdE 549-598] Dido kennt die Fährnis­se der Trojaner und bietet ihnen an, so lange in Karthago zu bleiben, wie sie wollen. Eneas ist ihr willkommen. [RdE 600-640] Die Boten berichten dem Eneas von diesem Gespräch. Sein Fürstenrat heißt die Annahme der Einladung der Karthagerin gut. So zieht Eneas mit rei­chen Geschenken versehen zur Stadt. [RdE 641-719] Dido begrüßt den Trojaner und läßt sich von seinen Abenteuern berichten. [RdE 721-728] Eneas schickt seinen Kämmerer zu den Schiffen zurück, um Ascanius, seinen Sohn, zu holen. [RdE 729-732] Venus fürchtet für Eneas: "La mere Eneas sot et vit, que ses fiz esteit en Cartage; molt redotot en son corage, qu'il nel menassent malement: molt ert entre salvage gent." (Die Mutter des Eneas wußte und sah, dass ihr Sohn in Karthago war; in ih­rem Herzen fürchtete sie sehr, dass sie ihn schlecht behandelten: er be­fand sich unter sehr wildem Volk.17).[ RdE 764-768] Sie küßt den As­canius. "En cel baisera li a donŽ del feu d'amor espris sera." (Mit die­sem Kuß hat sie ihm große Macht verliehen, Liebe zu erwecken; wer ihn nach ihr küssen wird, wird vom Feuer der Liebe entflammt wer­den.) [RdE 773-776] Venus weist alle an, dass Ascanius nur Eneas und Dido küssen dürfe. In Karthago kommt Ascanius zu Dido. Als diese ihn küßt, "nimmt sie eine solche Liebesraserei (rage d'amor) auf, dass ihr Herz entbrennt." [RdE 813-814] Als nun Eneas seinerseits Ascanius und dann Dido küßt, ist die Liebe übertragen. [RdE 815-819] Dido läßt sich nun von Eneas ausführlich von seinen Abenteuern erzählen. [RdE 839-1196] Am Ende des Mahls bringt die Königin ihren Gast in sein Schlafgemach. Sie selbst aber findet keine Ruhe. [RdE 1205-1271]

Am nächsten Morgen offenbart sie sich ihrer Schwester Anna. Hätte Dido ihrem verstorbenen Gatten Sychaeus sich nicht für ihr ganzes Le­ben versprochen, ließe sie Eneas ihren Liebhaber sein. [RdE 1304-1310] Sie will Sychaeus treu bleiben. Anna dagegen hält die Treue zu dem Toten für töricht: "Ne peut estre longue par femme bien maintenue enor ne regne; ..." (Nicht lange können Königtum und Herrschaft gut von einer Frau aufrechterhalten werden; ...) [RdE 1349-1350] sagt sie. Die Herren des Umlandes habe Dido sich verhaßt gemacht, weil sie diese verschmähte. [RdE 1355-1364] Für Dido und vor allem Karthago wäre die Verbindung mit Eneas vorteilhaft. Er solle zunächst den Win­ter über bei ihr bleiben. [RdE 1365-1382] "D'amor se desve la reine, ..." (Vor Liebe wird die Königin wahnsinnig). [18] [RdE 1321] Dido zeigt Eneas Karthago und vernachlässigt die Regierungsgeschäfte. [RdE 1393-1432] Nach einer Woche der Liebesqualen [19] veranstaltet Dido eine Jagd, um sich abzulenken. Um den Mittag kommt ein Gewitter auf. Dido und Eneas, von den Jagdgefährten getrennt, flüchten sich in eine Höhle, in der sie sich lieben. "Estes les vos andeus ensemble, cil fait de li ce que li semble, ne li fait mie trop grant force, ne la reine ne s'estorce." (Dort sind sie nun beieinander, jener tut mit ihr, was er will, er tut ihr keineswegs zu große Gewalt an, noch verweigert sich die Kö­nigin ...) [RdE 1521-1524] Seit dem Tode ihres Gatten "beging die Her­rin in der Hinsicht [nie; J.D.] irgendeine schamvolle Tat." (onc mais puis la mort son seignor n'en fist la dame nul hontage) [RdE 1528-1529] Nun bezeichnet sich Dido als Gattin des Eneas, <font;_italic>"ainsi covreit sa felonie"</font> (so bemäntelte sie ihre Schande) [RdE 1535].

Das Gerücht verbreitet sich, Eneas habe sie entehrt. ("que Eneas l'a ver­gondee" RdE 1540) Als dies den Fürsten des Landes zu Ohren kommt, die Dido zuvor nicht hatte ehelichen wollen, sind diese entrüstet. [RdE 1579-1614] Ein von den Göttern gesandter Bote [20] kommt und for­dert Eneas auf, abzureisen. [RdE 1615-1624] Er fürchtet den Abschied von Dido, bereitet aber heimlich die Abreise vor. [RdE 1625-1660] Dido bemerkt die Vorbereitungen und stellt Eneas zur Rede. Als dieser von seinem Vorhaben nicht ablassen will, beklagt sich die Königin we­gen der Wohltaten, die sie ihm erwies. [RdE 1685-1690] Sie bezeichnet sein Verhalten als <font;_italic>"merveillose traison"</font> (unerhör­ten Verrat) [RdE 1693]. Der Winter wird von ihr als Grund vorgescho­ben, die Abreise zu verschieben. [RdE 1703-1712] Auch weist sie auf die Bedrohung durch die abgewiesenen Brautwerber hin. [RdE 1721-1734] Sie droht mit ihrem unaufschiebbaren Tod. Ein Kind von Eneas würde sie alledings trösten. [RdE 1739-1745] Eneas beruft sich noch­mals auf den Götterspruch, der ihn weitertreibt. [RdE 1749-1789]

In ihrer Wut beleidigt Dido Eneas. Sie sagt: <font;_italic>"anceis fustes de pierre nez"</font> (ihr wurdet von einem Stein geboren) [RdE 1800]. Er segelt ab. Didos Liebe hat "weder Vernunft noch Maß" (<font;_italic>amors nen a sens ne mesure</font>) [RdE 1882] Sie be­auftragt Anna, eine Hexe zu holen, die einen Liebeszauber vornehmen soll. [RdE 1905-1940] Anna muß einen Scheiterhaufen vorbereiten, auf dem die Geschenke des Eneas verbrannt werden sollen. Dido klagt über ihr Schicksal. Sie will lieber sterben, als einen der verschmähten um­wohnenden Fürsten zu ehelichen. [RdE 1999-2006] Anna hat sie weg­geschickt, damit niemand sie an der "wahnsinnigen Tat" (<font;_italic>la desverie que vuelt faire</font>) [RdE 2027] hindern kann. Dido stürzt sich ins Schwert und wirft sich auf den Scheiterhau­fen. Sie klagt, sie wäre klug gewesen, "bevor die Liebe mir die Raserei eingab" (<font;_italic>que me donast amors la rage</font>) [RdE 2058]. Aber sterbend verzeiht sie Eneas: <font;_italic>"ge li pardoins ici ma mort"</font> [RdE 2064]. Nachdem Dido verbrannt ist, wird ihre Asche eingesammelt und beigesetzt.

Die Dido-Handlung im 'Eneasroman'

 

Heinrich von Veldekes Bearbeitung der 'Aeneis' ist nicht völlig eigenständig, gibt sie sich doch als Übersetzung der französischen Bearbeitung des 'Roman d'Eneas'. [21] Doch ist diese 'Übersetzung' auch, wie die Übertragung ins Altfranzösische, eine eigene Schöpfung. Heinrich von Veldeke folgt seiner Vorlage an einigen Stellen, an anderen aber gewinnt seine eigene Ausgestaltung der Handlung die Oberhand. Einflüsse, die schon zu Unterschieden zwischen dem 'Roman d'Eneas' und der 'Aeneis' führten, nimmt er auf und führt sie aus. Eine große Rolle spielt hierbei die Umsetzung des antiken Stoffes in die höfische Umwelt. Das Handeln der Personen wird nicht mehr mit den ethisch-moralischen Vorstellungen der Antike begründet, sondern es wird umgedeutet in Hinsicht auf die Ideale des ritterlichen Lebens des 12. Jahrhunderts. Der reine Ablauf der Handlung und die einzelnen geschilderten Episoden bleiben an Vergil orientiert, die Handlungsmotive wechseln aber.

Die Handlungen der Götter treten noch mehr zurück als im 'Roman d'Eneas'. Allein Venus und Cupido bleiben als handelnde Person erhalten. Nach seiner Landung an der libyschen Küste sendet Eneas zwanzig Boten [22] aus, die das Land erkunden sollen. Sie gelangen nach Karthago, wo Dido herrscht. [ER 259-291] Dort fragen sie sich zu Dido durch und werden von ihr freundlich empfangen. [ER 454-456] Ilioneus berichtet ihr vom Schicksal der flüchtigen Trojaner. [ER 464-516] Dido gewährt Eneas und seinen Leuten Hilfe. [ER 517-572] Die Boten berichten zu den Schiffen zurückgekehrt dem Eneas das Erlebte und er berät sich mit allen, was zu tun sei. Auf den Rat der Männer hin entschließt er sich, nach Karthago zu ziehen. [ER 603-659] Bei der Ankunft wird Eneas von Dido mit einem Kuß empfangen [ER 734]. Eneas sendet die Boten zu seinen Schiffen, um Ascanius herbeizuholen. [ER 759-763] Als dieser sich auf den Weg macht, <font;_italic>"rurdin frouwe Venus mit ir fure an sinen munt"</font> [ER 808-809]. "swer s™ in kuste ... von minnen quâle verholne und offenbâre da infenget ware mit der minnen fure." [ER 816-819] Dido küßt Ascanius, als er am Hof eintrifft. [ER 820-822] Sie wird so von der Liebe ergriffen, "da si ir selber umbe vergaz" [ER 839]. Die Liebe zu Eneas verbirgt Dido aber, so dass dieser nichts davon weiß. [ER 844-863] Sie läßt sich nach dem Mahl von Eneas seine Abenteuer schildern.23 [ER 911-1230] Am Ende des Abends führt Dido den Trojaner in sein Schlafgemach. Sie selbst findet keinen Schlaf in dieser Nacht. [ER 1317-1448] Am folgenden Morgen spricht sie mit ihrer Schwester Anna. Sie will sich nicht verlieben, da sie ihrem verstorbenen Gatten Sicheus "swur unde gehiez" [ER 1487], sich nicht wieder zu verheiraten. Anna nennt die Einhaltung dieses Versprechens unnütz. Dido kann den Namen des Geliebten nur buchstabieren. [ER 1525-1533] Anna lobt Eneas über alle Maßen, er ist 'scone', 'lussam', 'frumech' und 'gut'. [ER 1545-1546] Die Schwestern beschließen, dafür zu sorgen, dass Eneas von Didos Liebe erfährt. Er aber will nicht auf die 'ere' verzichten, nach Latium weiterzusegeln [ER 1626], doch er verschweigt sein Vorhaben. Dido bereitet nun eine Jagd vor, mit der Absicht, sich die Zeit zu vertreiben. [ER 1669-1677] Als ein Gewitter losbricht, [24] flüchten sich Eneas und Dido unter einen Baum. [ER 1827-1829] "do nam der here Eneas die frouwen under sin gewant. wol geschaffen her si vant. her begreif si mit den armen. do begunde ime ir warmen al sin fleisch und sin blut. do heter manlichen mut, da mite gwan er di oberen hant; der frouwen her sich underwant." [ER 1834-1842] Als Dido es nicht mehr verbergen kann, sich dem Fremden hingegeben zu haben, "do wart si offenbare brut" [ER 1910], womit sie ihre Schande beschönigen will. Die Fürsten des Landes, die Dido verschmähte, sind zornig. [ER 1919-1941] Nun senden die "gote" die Botschaft, "her muste varen dannen mit sinen mannen". [25] [ER 1960-1961] In aller Heimlichkeit läßt er darauf die Schiffe klarmachen, um Dido nicht zu beunruhigen. [ER 1971-1994] Dido erfährt durch ein Gerücht von den Vorbereitungen. [ER 1999-2003] Sie ist sehr unglücklich, "aller ir sinne si vergaz" [ER 2015] und stellt Eneas zur Rede. Er erklärt, nur auf Geheiß der Götter abzureisen. [ER 2049-2066] Eneas rückt von seinem Entschluß nicht ab, woraufhin Dido ihre "missetat", sich ihm hingegeben zu haben [Vers 2034], bereut. Sie sieht ein, dass sie ihn nicht ihretwegen zurückhalten kann, und versucht, ihn mit dem Hinweis auf den Winter zum Bleiben zu bewegen. [ER 2137-2151] Dann verweist sie auf die Feindschaft der von ihr abgewiesenen Fürsten. [ER 2175-2191] Sie wünscht, sie hätte ein Kind von Eneas. [ER 2192] Schließlich beleidigt sie Eneas, sagt, er stamme von Untieren ab, und er habe ein Herz aus Stein. [ER 2206-2229] Eneas segelt ab. Die Schuld für ihr Leid nimmt Dido auf sich. [ER 2298-2305] Auf einem Scheiterhaufen will Dido die Geschenke des Eneas verbrennen, die Anna herbeiholen muß. [ER 2323-2338] Nun soll Anna eine Zauberin herbeiholen, die, wie Dido sagt, die Liebe besiegen kann. Allein geblieben klagt Dido, sie habe Eneas "zunmazen" geliebt [ER 2365]. Sie sei von der Minne bezwungen worden: "ouwe, unsenfte minne, wie du mich hast bedwungen!" [ER 2374-2375] Sie klagt darüber, dass ihre Schmach bekannt geworden sei. [ER 2418-2419] "al ware sie ein wise wib, sie was do vil sinne los." [ER 2426-2427] Durch "unrehtiu minne" [ER 2430] muß sie sterben. Vom Schwert durchbohrt vergibt die Sterbende dem Eneas. [ER 2446-2447] Die Schwester findet Dido noch lebend und beklagt den Selbstmord um eines Mannes willen. "daz quam von unsinne" [Vers 2472], klagt sie, und: "ez was unrechtiu minne, diu sie dar zu dwanc" [Vers 2430-2431]. Der Selbstmord um der Liebe willen bedeutet auch einen Ehrverlust: "ir mindet in zunmazen: dorch daz habt ir verlazen uwern lib und groze ere." [Vers 2473-2475] Dass Dido sich das Leben nahm, "daz was wunderlich genuch, so wise so si was." [Vers 2520-2521] Die karthagische Königin muß vor Liebe den Verstand verloren haben, dass sie solches tun konnte. Die Asche der Toten wird in eine Urne gefüllt und beigesetzt.

Dem in der 'Aeneis' und im 'Roman d'Eneas' vorgegebenen Ablauf der geschilderten Ereignisse bleibt Heinrich von Veldeke, wenn er auch die Erzählung selbst nach seinen Vorstellungen von einem chronologischen Erzählen anpaßt, treu. Doch erlaubt sich der deutsche Dichter dem erzählten Geschehen und dem geschilderten Verhalten der Personen ein höfisches Gepräge zu geben, wie es dem Geschmack seines Publikums entsprochen haben dürfte. Desweiteren griff er da ein, wo die antike Vorlage seine christlich geprägten moralischen Ansichten nicht erfüllen konnte. So war auch schon der unbekannte französische Dichter verfahren; Heinrich von Veldeke setzt diese Überarbeitung nur weiter fort. Dabei wird der 'Eneasroman' allerdings nicht zu einem rein christlichen Epos. Die Götter Vergils hatten einen zu großen Raum in der Handlung der 'Aeneis', als dass sie ohne schwerwiegende Auswirkungen auf die innere Logik der Handlung gänzlich hätten eliminiert werden können. So wird Iuppiter bei Heinrich von Veldeke nie namentlich erwähnt. Von den zahlreichen bei Vergil genannten Göttern nennt Heinrich von Veldeke nur Venus, Cupido, Amor und Vulkan als handelnde Personen. Auch mag eine völlige Eliminierung unterblieben sein, weil weder der französische Dichter noch Heinrich von Veldeke die Fähigkeit besaßen, gänzlich neue Motivationen zu finden. So bleibt es bei dem Eingriff der Venus, die rasende Liebe in Dido entfacht. Heinrich von Veldeke, in seiner Bemühung, die Götter weitestgehend aus dem Vordergrund des Geschehens zu verdrängen, bewegt sich bei seiner Schilderung dieser Szene allerdings am Rande der Unverständlichkeit. Hatte noch der 'Roman d'Eneas' das Eingreifen der Venus durch ihre Angst um die Sicherheit des Eneas "entre salvage gent" [RdE 768] begründet, fehlt eine solche Motivation nun völlig. Venus [26] benutzt Ascanius, um in Dido die Liebe zu entfachen. Weshalb dies geschieht, erklärt der Dichter nicht. Im folgenden wird Venus nicht mehr als handelnde Person erwähnt. Nachdem sie sich in Eneas verliebt hat, versucht Dido höfisch-kontrolliert zu bleiben. Sie verhält sich äußerlich korrekt und befolgt die Spielregeln des Anstands. Innerlich befindet sich sich aber schon in höchster Liebesnot. Diese Verliebtheit, die Dido bis in den Wahnsinn treiben wird, hat verschiedene Stufen.

Als Dido Eneas in sein Schlafgemach bringt, ist sie zwar sehr verliebt, aber "idoch konde si die ere vile wol bedenken." [ER 1304-1305] Noch ist sie also in der Lage, sich nicht gehen zu lassen und auf ihre Stellung zu achten. Die Minne hat noch keine Oberhand gewonnen. Als Dido zu Bett geht, findet sie keine Ruhe, denn "diu minne was ir alze na, diu si ze unsanft ane quam ..." [ER 1342-1343]. Die zuht hält aber nicht lange vor. Bevor sie sich dem Eneas offenbart, weiht sie ihre Schwester Anna ein. Heinrich von Veldeke hatte in der Gestaltung dieser Passage leichte Hand, denn schon die 'Aeneis' gab die Situation vor, in der Dido sehnsuchtsvoll ihren Geliebten betrachtet, sich aber nicht überwinden kann, sich ihm zu offenbaren. Alle Rücksicht gibt Dido auf, nachdem ihr die Schwester geraten hat, den toten Gemahl zu vergessen und die Liebe des Eneas zu suchen.

Das Intrigieren von Venus und Iuno fällt bei Heinrich von Veldeke nun völlig aus. Die Jagd veranstaltet Dido, um sich von ihren Liebesqualen abzulenken, [27] das Gewitter, bei Vergil ein Werk der Iuno, ist ein Zufall. Das Ergebnis bleibt freilich dasselbe: es folgt die Liebesvereinigung.

Hatte Vergil die folgende Liebesszene noch schamhaft übergangen, [28] so erlaubte sich schon der Dichter des 'Roman d'Eneas' eine deutlichere Ausarbeitung der erotischen Seite des Geschehens in der Höhle. Heinrich von Veldeke geht nun wieder einen Schritt weiter, und so "... übernimmt der höfische Dichter den Gedankenstrich des Römers nicht, sondern führt die Situation in sehr zarter, ein wenig an Walthers 'Unter der linden' erinnernder Weise weiter." [29] Dabei findet er Allegorien für den Beischlaf, die weniger das Geschehen bemänteln, als es sprachlich anspruchsvoll umkleidet um so plastischer darstellen. Wenn Eneas "die frouwen under s”n gewant" [ER 1835] nimmt, schwingt hier eine vertraulich-zärtliche Geste mit, die auch aus anderen Dichtungen bekannt ist. Auf diese 'Schutzmantelgeste' weist Jacob Grimm in seinen 'Deutschen Rechtsaltertümern' hin, wo er sie als Zeichen des Schutzes, insbesondere bei Königen und Königinnen, Fürsten und Fürstinnen nennt. [30] In seiner Darstellung fehlt allerdings gänzlich die erotische Komponente, wogegen diese in den von ihm angeführten Textzeugen die eigentliche Rolle spielt. In 'Graf Rudolf' ist es die Königin, die den Geliebten unter ihren Mantel nimmt: "si tvanc in zu iren brusten, lipliche sie in cžste. sie nam in under iren mantel, do begonde sie gote danken daz her ire in wider hatte gegeben." [31] Mit einer ebenso eindeutig erotischen Konotation wird diese Geste auch von Konrad von Würzburg im 'Engelhard' gebraucht: "d™ kam geslichen Engeltržt über gras und über kržt hingegen Engelharte. er wart von ir vil zarte empfangen an der selben stete. den mantel si žffe tete, und empfieng in drunder. si vuort in dann besunder žf einen senften matraz ein wミnic hin dannen baz." [32] Als im 'Parzival' des Wolfram von Eschenbach Kaylet von der Königin von Frankreich unter den Mantel genommen wird, liebkost diese anschließend seine Wunden. [33] Auch hier findet sich also eine enge Verbindung dieser Schutzgeste mit der Erotik. Rennewart wird im 'Willehalm' von Königin Gyburg unter den Mantel genommen, was er als große Ehre empfindet. [34] Diese Vertraulichkeit dient hier dazu, um von dem so geehrten mehr über seine Herkunft zu erfahren. Schließlich fleht die schutzsuchende Königin Berchmunde, deren Sohn erschlagen wurde, im 'Rolandslied' König Paligan um Schutz an, worauf dieser "uie sie unter sinin mantel" [35] und sie tröstet. Nach diesen Belegen nimmt üblicherweise eine hochgestellte Frau einen Mann unter ihren Mantel. Diese Geste enthält dabei immer eine gewisse erotische Komponente, die in einzelnen Fällen mehr oder weniger zur Geltung kommt. Im 'Eneasroman' wird diese Geste, hier von einem Mann ausgeführt, eindeutig erotisch verwendet, von einer rechtlichen Seite ist nichts zu bemerken. Daher sollte dieser Interpretation in diesem Fall auch nicht zu starkes Gewicht zugemessen werden, wohlmöglich ging es Heinrich von Veldeke tatsächlich nur um den Gedanken, dass die beiden vom Gewitter Versprengten sich unter dem Baum aneinanderschmiegen, der Herr der Dame seinen Mantel läßt und dadurch die Situation zu Intimitäten führt.

Als nun Eneas die Schönheit der Dido erkennt und sie umarmt, kommt Heinrich von Veldeke nicht umhin, auch die offensichtliche Erregung des Trojaners zu erwähnen: "do begunde ime irwarmen al s”n fleisch und s”n blžt." [ER 1838-1839] Wenn schon die alte Schutzgeste des Unter-den-Mantel-Nehmens hier einen Platz im Liebesspiel erhält, erscheint auch die ebenfalls rechtlich gebrauchte Formel "dâ mite gwan er di oberen hant" [ER 1841] nicht fehl am Platz. [36] Aber Eneas wendet nicht Gewalt an, er bittet um Didos Gunst, und diese gewährt ihm die Bitte. Die <font;_italic>zuht</font> bestimmt es ihr aber, noch ein letztes Mal aufzubegehren. Dann aber kann Eneas sie überwinden: "her tete ir daz her wolde, s™ daz her ir holde manl”che behielt." [ER 1852-1855] Nun deckt Heinrich von Veldeke doch den Mantel des Schweigens über die Szene. Er schließt mit dem Satz: "ir wizzet wol, waz des gewielt." [ER 1856] Die Folgen des Beilagers sind die Gerüchte, die bald umlaufen. Dido sieht sich zwar von der Wunde, die Venus ihr schlug, geheilt, doch wirft sie sich vor, dem Drängen des Eneas zu schnell nachgegeben zu haben. Beide Liebhaber verheimlichen ihr Beisammensein, doch gelingt dies nicht. Mit einem Fest will Dido bezeugen, dass sie Hochzeit mit Eneas gehalten hat, aber dies nützt ihr nichts.

Während es bei Vergil und auch im 'Roman d'Eneas' unzweifelhaft klar ist, dass Dido und Eneas keine Ehe eingegangen sind, hinterlassen die Formulierungen Heinrich von Veldekes den zwingenden Eindruck, er schildere eine geschlossene Ehe. Nachdem das Liebesverhältnis zwischen der karthagischen Königin und dem Trojaner offenbar wurde, und Eneas als der Geliebte (tržt) der Dido bekannt war, "d™ wart si offenbâre bržt." [ER 1910] Heinrich von Veldeke bleibt zwar dabei, dass die Hochzeit nur gehalten wurde, um Didos Schande zu bemänteln, aber er stellt Eneas von da ab als ihren Ehemann dar. So schreibt er: "d™ der hミre ænミas ir man worden was, si sprâchen, ez wâre rehte komen, daz si hâte genomen den vertriben Troiâre." [ER 1943-1947] Noch weiter wird die eheliche Verbindung dadurch bekräftigt, dass es heißt, "allez stunt ze sine gebote" [ER 1957]; Eneas wird nun also als Herr in Karthago beschrieben. Diese eigentümliche Darstellung einer geschlossenen Ehe bleibt aber ansonsten ohne Folgen. Selbst als Eneas erklärt, Dido verlassen zu wollen, wirft sie ihm nicht vor, die Ehe zu brechen. Die Feindschaft der "hミren after lande" [ER 1921] wächst und man wirft ihr vor, diese verschmäht zu haben und nun einen Fremden zum Mann genommen zu haben. Es kommt so weit, dass Dido "ミre unde gemach" [ER 1950] gleichgültig sind, wenn sie nur mit Eneas weiter beisammen sein kann. Konnte Dido überhaupt auf die Beständigkeit einer Beziehung mit Eneas hoffen? Für die höfische Welt zeigt Dido ein unverzeihliches Verhalten. Sie gibt sich dem Eneas allein aus ungezügelter Leidenschaft hin, ohne dass in dieser Beziehung eine Beständigkeit erwartet werden kann. Auch ergreift sie die Initiative. Eneas selbst äußert sich nicht zu seinen Gefühlen. Sie fragt auch nicht danach. [37] Dass dem Beisammensein keine Dauer beschieden sein kann, weiß Dido. Dafür gibt es zahlreiche Hinweise. Zunächst hatten die Boten des Eneas ihr von ihrem Reiseziel Italien berichtet. Und auch Eneas hatte davon gesprochen, als er von seiner Flucht aus Troja erzählte. [38] Auch die von Dido beschworene "Ehe" bleibt einseitig.

Eneas selbst betrachtet das Beisammensein unter dem Baum als peinliche Entgleisung, denn sonst würde er dieses nicht gemeinsam mit Dido zu verheimlichen versuchen. Der Umschwung hin zum Ende der Liebe der Dido wird bei Vergil durch den eifersüchtigen Fürsten Iarbas verursacht. Er beklagt sich bei Iuppiter wegen des landfremden Geliebten der von ihm begehrten Königin. Wieder fällt bei Heinrich von Veldeke eine Götterszene aus. Gänzlich überraschend "enboten die gote ein vil starkez mâre". [ER 1958-1959] Kein Iuppiter gibt den Befehl, kein Mercur besucht Eneas. Auf den Götterspruch ganz zu verzichten, das war Heinrich von Veldeke an dieser Stelle nicht möglich, wollte er beim bekannten Ablauf bleiben. Diese fehlende Götterszene hat einen gewissen Ersatz in einem kleinen Exkurs, den Heinrich von Veldeke selbständig in die Handlung einfügte. Nach dem Gespräch zwischen Dido und Anna findet sich eine kurze Passage, die von den wirklichen Absichten des Eneas spricht: "ænミas der mâre swie wol s™ her wâre emphangen unde gミret, her hete s™ gekミret s”n herze unde sinen mut, daz her dorch dehein gut iemer da niht belibe noch der ミren sich verscribe dar umbe her wart gesant zž Italjen in daz lant. dâ hine was s”n wile, des gesweich her uber stille." [ER 1619-1630]

Dieser Exkurs stammt allein aus der Feder Heinrich von Veldekes, weder Vergil noch der 'Roman d'Eneas' haben einen solchen Einschub. In den Vorlagen wurde die Entschlossenheit des Aeneas, seine Reise nach Italien weiter fortzusetzen, nicht ausdrücklich betont. Es entsteht sogar der Eindruck, der Trojaner habe in Karthago sein Vorhaben völlig vergessen, oder aufgegeben. [39] Dies hebt Heinrich von Veldeke nun auf. Möglicherweise störte auch ihn das plötzliche Fehlen der ursprünglichen Entschlossenheit des Aeneas, seinen göttlichen Auftrag zu erfüllen.

Dieser Exkurs macht im 'Eneasroman' allerdings auch die Haltung des Trojaners der verliebten Dido gegenüber verständlich. Für die weitere Handlung ist es von einiger Bedeutung, dass er sein Vorhaben verschweigt. Die Beziehung zwischen Aeneas und Dido, deren Schwerpunkt auf der Karthagerin lastet, erhält dadurch eine besondere Note für das Publikum. Nach dem Exkurs ist nicht mehr zu erwarten, dass es zu einer Erfüllung der Liebe kommen kann. Das schnelle Befolgen des aus dem heiterem Himmel kommenden Götterbefehls durch Eneas findet demnach bei Heinrich von Veldeke in der nie erloschenen Entschlossenheit, nach Italien zu gehen, seine Begründung.

Die Haltung des Eneas bei seiner Abreise ist in der Darstellung Heinrichs von Veldeke problematisch. Der französische Dichter hatte verhindert, dass die Abreise des Eneas nach Latium als Schwäche hätte gedeutet werden können, indem er die Seelenqualen des Trojaners vor seiner Abreise schildert. [40] Darauf verzichtet Heinrich von Veldeke, der Eneas dem Spruch der Götter ohne Widerrede folgen läßt. "Traurig ist er, das Scheiden tut ihm weh, er ist betrübt, es tut seinem Herzen leid; aber die Not zwingt ihn, und darum bleibt ihm nichts übrig, als Dido zu trösten, ihr zu versichern, dass er nie so geliebt habe, sie zu bitten, ihm zu vergeben. Mit leeren Phrasen setzt er sich über seine Untreue hinweg." [41] Diese Haltung des Eneas führt Semrau auf die begrenzten Fähigkeiten Heinrichs von Veldeke zurück, dem er vorwirft, allzu großen Wert auf die äußere Form gelegt zu haben. Bei Vergil hatte Aeneas Dido gegenüber nur mit klaren Argumenten auf seine Pflicht verwiesen und nicht versucht, ihr Trost zu spenden. [42]

Die beiden mittelalterlichen Dichter versuchten dagegen, die innere Bewegung des Aeneas, die Vergil nur knapp schildert, [43] auszuführen. Es zeigt sich aber zwischen dem Dichter des 'Roman d'Eneas' und Heinrich von Veldeke ein entscheidender Unterschied, der natürlich, in Semraus Augen, zu Ungunsten des deutschen Dichters sprechen muß: Heinrich von Veldeke versuchte, sich doch wieder enger an Vergil anzulehnen. Bei dem Versuch, die trockene, lieblose Erklärung des Aeneas durch eine Antwort zu ersetzen, die zwar mehr das Verhältnis zwischen den Liebhabern beleuchten, aber andererseits dem Leser die innere, vergilianisch-pflichtbewußte Haltung des Eneas dem Götterspruch gegenüber deutlich machen soll, hat Heinrich von Veldeke auf den pragmatischen Aeneas des Vergil zurückgegriffen, der nun erst recht als oberflächlicher Schönredner dasteht. Heinrich von Veldeke hat vielleicht besser als der französische Dichter das bei Vergil geschilderte Wesen des Aeneas erfasst, ihm aber eher ins Schema der Minnedichtung passende Worte in den Mund legen wollen. Da Eneas abreisen muß, was außer Frage steht, muß er als der "Untreue" dastehen. Als Dido ihn wegen seiner heimlichen Abreisevorbereitungen zur Rede stellt, sucht Eneas nach Worten der Entschuldigung. Er sagt, es sei nicht sein Wille, der ihn zur Abreise zwinge, und dass es ihm Leid bereite, abzureisen. [ER 2029-2030] Als sie klagt, seine Liebe verloren zu haben, beteuert er, dass er sie nicht verließe, wenn er die Wahl hätte. Schließlich sagt er: "ich wart nieman s™ holt, s™ ich ž bin unde was." [ER 2090-2091] Als Dido sich seiner Entschuldigung und Tröstung verweigert, bittet er sie um Verzeihung. [ER 2172] Darauf kommt es zu einem heftigen Ausbruch der Dido gegenüber Eneas, auf den dieser nicht mehr antwortet.

Der Wahnsinn der Dido nimmt im 'Eneasroman' erst seinen Anfang, als sie entdeckt, dass Eneas sie heimlich verlassen will: "aller ir sinne sie vergaz". [ER 2015] Heinrich von Veldeke gestaltete diesen Punkt demnach völlig frei, denn im 'Roman d'Eneas' bricht der "Liebeswahnsinn" (rage d'amor) schon aus, als die Liebe erregenden Küsse zwischen Ascanius, Dido und Eneas ausgetauscht werden. [44] In der deutschen Bearbeitung zerbricht erst das Verlassenwerden den Geisteszustand der Dido. Durch die Verbindung mit Eneas glaubte sie sich von ihrer von Venus entfachten Liebesqual geheilt. Die haßerfüllten Äußerungen über ihre Ehe ignoriert sie, "ere unde gemach" [ER 1950] stellt sie hinten an für den Genuß der Liebe. Bei ihren Vorwürfen gegenüber Eneas fällt Dido wieder in die schon gegenüber Anna gebrauchte Terminologie der "Liebeskrankheit" zurück. Sie ist von der Idee besessen, sterben zu müssen, wenn ihr Verlangen nicht gestillt wird.

Da es nun aber gewiß ist, dass es keine weitere Verzögerung der Abreise gibt, führt dies zu Wahnsinn und in den Selbstmord. Als sich Dido das Schwert in den Leib rammt, spricht Heinrich von Veldeke nochmals von ihrem Geisteszustand: "al wâre si ein w”se w”b, sie was d™ vil sinne l™s, daz si den t™t als™ k™s, daz quam von unsinne." [ER 2426-2429] Dies sagt auch Anna, als sie die Schwester tot [45] im brennenden Gemach entdeckt. [ER 2472]

Heinrich von Veldeke kommentiert die Tat der Dido als Erzähler nicht. Anna und Eneas drücken aus, was von Didos Verhalten zu denken ist. Eneas spricht es nicht aus, aber wenn er sagt, Dido sei noch eine junge Frau, und es sei ein "schade vil groz" [ER 2105], wenn sie ihr Leben wegwerfe, dann ist hier gemeint, sie würde noch eine andere Liebe finden. Nach Annas Worten hat Dido "zunmâzen" geliebt [ER 2473], und dies wäre ihr Fehler gewesen. Die karthagische Königin hat sich demnach zu heftig in die Liebe zu Eneas verrannt und sich allen weiteren Perspektiven verschlossen. Dies waren offensichtlich die Fehler, die sie in den Augen Heinrichs von Veldeke beging und die zu ihrem Selbstmord führten. Dido verlor durch die "unrechtiu minne" und ihren Selbstmord ihre "ere". Dabei schildert Heinrich von Veldeke ausschließlich Didos Liebesqualen, Eneas nimmt er davon aus. Der Trojaner blieb auch ehrenhaft, als er Dido unter dem Baum verführte. Dido klagt ihn zwar als Urheber ihres Leides an [ER 2442-2445], er bleibt aber ohne Schuld.

Die Liebe der Dido zu Eneas schildert Heinrich von Veldeke als fehlgeleitete Liebe, die nur Dido Unglück bringt. Ihr als Frau wird kein Recht zur Leidenschaftlichkeit zugestanden. Zwar rät ihr Anna, sich Eneas zu nähern, aber als sie es tut, wird ihr dies von den Fürsten des Landes schlecht angerechnet. Didos Minne beruhte nicht auf einer Gemeinsamkeit mit dem Geliebten. Sie wird von der Minne 'befallen', ist aber nicht dazu ausersehen, Eneas recht zu minnen, was eine dauerhafte Verbindung bedeuten würde. [46] Heinrich von Veldeke ließ den Beweggrund, weshalb Venus die Minne in Dido entfacht, weg, wodurch die Situation der karthagischen Königin völlig undurchsichtig wird. Damit fällt aber auch die Möglichkeit weg, Mitleid mit der von den intriganten Göttinnen Iuno und Venus für ihre Zwecke eingespannten Dido zu haben. So wird für das höfische Publikum Dido zu einer Frau, die von ihren Leidenschaften beherrscht wird, und die keine Chance hat, eine wirkliche Erfüllung ihrer Liebe zu finden, die allein in einer dauerhaften (ehelichen) Verbindung mit dem Partner gesehen wird. Die Minne der Dido wird von Venus entfacht, allerdings nur in ihr, nicht in Eneas. Der Weg zu einer erfüllten Liebe führt aber allein über beiderseitige Minne.

Das Gegenbeispiel zur Didominne ist die von Heinrich von Veldeke ausführlich geschilderte Entstehung der Minne in Lavine. Bei dieser zweiten Begegnung mit einer Frau entsteht die Zuneigung nicht durch das Eingreifen der Götter, sondern allein durch den Anblick des Geliebten. Auch wird in diesem Fall das Entstehen der Minne bei Eneas beschrieben. Dieser Aspekt fehlt bei der Didominne völlig. Dido ist für Eneas nur ein Abenteuer. Als auf der Jagd sich die Situation ergibt, mit der Königin allein zu sein, nutzt er die Lage und die Bereitwilligkeit der verliebten Frau, um mit ihr intim zu werden. Dass auch er sich bewußt ist, nicht recht und ehrenvoll gehandelt zu haben, zeigt sich darin, dass er zusammen mit der Geliebten das Geschehen verheimlichen will.

Im folgenden bezeichnet sich Dido zwar als Gemahlin des Eneas, aber es gab keine wirkliche Hochzeit. Von Liebe spricht Eneas erst, als er Dido verlassen muß. Bei diesen Beteuerungen unterstellt Semrau, es wären nur leere Phrasen, die Eneas da von sich gäbe. Doch hätte Heinrich von Veldeke seinen Eneas zu einem gefühlskalten Lügner machen wollen, hätte er nicht diese Beteuerungen erfinden müssen. Vergil präsentierte Aeneas als hartherzigen Erfüller der göttlichen Befehle, dessen Antwort auf Didos Frage nur die trockene Erklärung des Sachverhalts ist, aber keinen Trost, keine Entschuldigung und keine Bitte um Verzeihung enthält.

Einen Schritt zur Vermenschlichung des Eneas hatte der Autor des 'Roman d'Eneas' schon getan. Die von dem französischen Dichter geschilderten Seelenqualen des Trojaners lassen die Abreise nicht mehr als Schwäche erscheinen. Und auch Heinrich von Veldekes Eneas reist nicht leichten Herzens ab. Er wehrt sich zwar in keinster Weise gegen den Auftrag der Götter, gesteht Dido gegenüber aber, lieber bei ihr bleiben zu wollen, als abzureisen. Eneas gesteht ein, Unrecht zu tun, indem er Dido verläßt, bittet sie aber um Verzeihung, was der vergilische und auch der französische Eneas nicht taten. Dido aber sieht in seiner Bitte nur Schmeichelei und unterstellt Eneas, er würde abreisen, weil er ihrer überdrüssig sei. Die Worte des Eneas gehen ins Leere. Kurz vor ihrem Selbstmord klagt Dido die Minne an, die sie so weit trieb. [ER 2374-2375] Zum letzten Mal beschreibt sie die "Symptome" der "Liebeskrankheit". [ER 2387-2394] Erst im Tod vergibt sie Eneas seine Schuld. [ER 2446-2447]

Die Dido-Lieder in den 'Carmina Burana'

 

In sechs Liedern der 'Carmina Burana' [clm 4660] findet Dido Erwähnung (CB 59, CB 98, CB 99, CB 99b, CB 100, CB 102). Dabei wird Dido in CB 59, CB 99b und CB 102 lediglich erwähnt, während CB 98-100 sich gänzlich dem Thema der Didominne widmen. Daher sei der Blick zunächst auf CB 59, CB 99b und CB 102 gerichtet.

 

a) CB 59

 

In CB 59 [fol. 19v-20r] wird Dido nur in der dritten Strophe erwähnt:

 

"Acies virginea redimita flore - quis enarret talia! quantoque decore prenitent ad liquidum Veneris occulta! Dido necis meritum proferat inulta. Refl. Cypridis in voto fronde pausa tilie, Cypridis in voto!" [47]

In dem Kreis, der sich unter der Linde versammelt hat, findet auch Dido ihren Platz. Sie kann eingestehen, weshalb sie sich den Tod gab, ohne Strafe befürchten zu müssen. Für den Dichter dieses Liedes hat der Liebestod keine negative Konnotation. Das am Rand von fol. 75r von Schreiber h2 nachgetragene Epigramm CB 99b gibt die beiden abschließenden Verse von Ovids Bearbeitung des Didostoffes in den 'Heroides' wieder. Daher fällt es einerseits zwar inhaltlich aus der Betrachtung der mittelalterlichen Bearbeitungen des Didostoffes heraus, aber in seiner Verwendung hat es doch seine Funktion, worauf weiter unten einzugehen ist.

 

b) CB 102

 

Eine weitere Erwähnung der Dido findet sich in CB 102 (fol. 77r). Dieses aus 29 Distichen bestehende Lied entstand in der zweiten Hälfte des 12. Jhd. und der Dichter benutzte CB 101 als Vorlage. [48] Es erzählt in knapper Form die Ereignisse um den Trojanischen Krieg, wobei es auf die Geschichte des Paris und der Helena und auf die Flucht des Aeneas ausgreift. Dabei berichten die 22. und 23. Strophe auch vom Aufenthalt des Aeneas in Karthago und seine Folgen:

 

22. Dux [49] errat pelago, rotat illum mortis imago, obvia Kartago dat loca certa vago.

23. Didonem cecat furor et se crimine fecat; se feriendo necat, dux fugit, alta secat.

 

Der Dichter bringt hier das Schicksal der Dido auf den Punkt. Die karthagische Königin wird vom (Liebes-)Wahn umfangen, wird schuldig und tötet sich schließlich selbst. Sie ist schuldig, worin ihre Schuld bestand, wird nicht ausgesprochen. Der Dichter gibt sich nicht den Raum, die Geschichte weiter auszuführen. Sie ist nur erwähnenswert als wichtiger Punkt auf der Flucht des Aeneas nach Italien.

 

CB 98

 

Die drei im folgenden zu betrachtenden lateinischen Lieder sind, grob gesprochen, Kurzfassungen der Didosage. CB 98 [fol. 73v-74r; Text siehe den Anhang] beschreibt, wie in Dido die Liebe zu Aeneas erwacht und sie ihn als Liebhaber gewinnt. Die Entstehungszeit des Liedes ist nicht bekannt.

In der einleitenden Strophe wird davon berichtet, wie Aeneas nach Karthago gelangt. Die zweite Strophe schildert dann, wie Dido in Liebe zu dem Trojaner entflammt, als dieser vor ihr steht. Nicht das Eingreifen der Venus löst hier die Liebe aus, wie bei Vergil vorgegeben, sondern allein der Anblick des Fremden, sein Angesicht (facies), sein Haar (cesaries) und seine Freigiebigkeit (larga). Der Dichter hat hier schon einen gewissen Abstand zu seiner Vorlage entwickelt, hat sich freigemacht von dem bei Vergil fremdbestimmten Entstehen der Liebe und führt das Verliebtsein der Dido auf den reinsten menschlichen Hintergrund zurück: den Anblick des Geliebten. Ihre so entzündete Liebe gesteht Dido ihrer Schwester Anna.

In der dritten und vierten Strophe fragt die Königin nach dem Fremden. Schon verlangt es sie danach, seine Gemahlin (coniux) zu sein. In seinem Anblick scheint ihr Amor entgegenzutreten. Doch dieser Amor ist keine konkret handelnde Göttergestalt mehr. Er ist zum Synonym für die "Liebenswürdigkeit" des Aeneas geworden, für seine Ausstrahlung, derentwegen sich Dido in ihn verliebt. Noch weist aber Dido die Liebe zu Aeneas von sich, wie die fünfte Strophe sagt, sie will sich nicht ablenken lassen von der Liebe zu ihrem verstorbenen Gemahl Sychaeus. Der Blitz des Zeus solle sie treffen, bevor sie dem Fremden nachgebe. Dagegen erwidert Anna in der sechsten Strophe, Dido solle sich dem "amori blando" ergeben, da sie sich von einer Verbindung mit dem Trojaner nur Gutes für Karthago erhoffen könne. Diese beiden Strophen bilden in kurzer Form den Dialog der Schwestern in der 'Aeneis' nach. [50] Dabei gelingt es dem Dichter, Annas lange Antwort, in der sie rät, sich von der Liebe zu dem Toten abzuwenden und unter Hinweis auf die Bedrohung Karthagos durch die umwohnenden Fürsten zu einer Verbindung Karthagos mit den Trojanern drängt, in knappe Worte zu fassen.

In der Hauptsache folgt der Dichter Vergil: Anna rät, den Toten zu vergessen. Nun schildert die siebente Strophe, wie Dido, durch den Rat ihrer Schwester erst recht in ihrer Liebe zu Aeneas bestärkt, sich Aeneas auf der Jagd während des Gewitters in der Höhle hingibt. Eine kleine eigenständige Deutung erlaubt sich der Dichter hier, indem er unterstellt, die Jagd wäre ein Vorwand gewesen. Dies legt die Vorlage aber nicht nahe. Als Venus und Iuno beschließen, Dido und Aeneas einander nahezubringen, ist die Jagd für den nächsten Tag schon geplant, Vergil verliert kein Wort darüber, Dido habe die Absicht gehabt, die Jagd zu veranstalten, um bei dieser Gelegenheit Aeneas näherzukommen. Dieses Motiv findet sich dagegen im 'Roman d'Eneas' und Heinrich von Veldeke führt die Absicht, die Dido mit der Jagd hat, deutlich aus: "do quam ir daz in ir mut, daz si des wart ze rate eines abends spate: ir mut truch si dar zu, daz si eines morgenes fru in den walt riten wolde und sich banechen solde ..." [ER 1668-1674]. Welche Abhängigkeiten zwischen dem CB-Dichter, der französischen Fassung der 'Aeneis' und möglicherweise auch dem 'Eneasroman' bestehen, ist nicht zu entscheiden. Gegenseitige Kenntnis der Motivierung der Jagd durch Dido sind aber sicherlich vorauszusetzen. Die achte Strophe [51] schildert die Erfüllung der Liebe in der Höhle. Hier steht die erotische Seite der Vereinigung der beiden Liebenden deutlich im Mittelpunkt. Die verwendeten logischen Termini in dem Satz "propositionibus tribus dux expositis syllogizat" stehen hier für die männlichen Zeugungsorgane, geben der ganzen Schilderung somit einen recht drastischen Anstrich. [52] Wenn Hilka/Schumann auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass diese Strophe entbehrlich sein könnte, so besteht doch zumindest ein inhaltlich-bedeutungsmäßiger Zusammenhang mit dem Schluss der siebenten Strophe, der den Gedanken nahelegt, die achte Strophe habe sicherlich zum ursprünglichen Bestand des Liedes gehört. Am Ende der siebenten Strophe wird vom "Unterliegen" (supposuit) der Dido gesprochen. Von der Wortbedeutung her lässt sich bei dieser Wortwahl der Gedanke an einen vorangegangenen "Kampf" nicht von der Hand weisen. Dieser wird dann in der anschließenden achten Strophe näher ausgeführt. Dies geschieht allerdings nicht in den üblichen "Kampf"-Termini, was sich in den 'Carmina Burana' des Öfteren findet. [53] Der Liebes-"Kampf" ist in diesem Fall in eine scholastische Disputation umgedeutet. [54] Wahrscheinlich ein großer Spaß für die dem Lied lauschenden Scholaren.

Die Erfüllung dieser Liebe besingt der Dichter in der neunten und letzten Strophe des Liedes. Die Liebe erhebt sich hier aus dem Bereich des Lebens hinaus in die "etherea regio". Dido ist in diesem Lied nicht das Opfer ihrer Liebe. Sie gewinnt den Geliebten, und es bleibt kein Leid zurück, allein die Liebe zwischen den beiden Partnern. Der erste Zweifel an der Sehnsucht nach Aeneas wird von der Schwester schnell zerstreut. Es ist keine Frage, den Toten zu vergessen und dem lebenden Liebhaber sich zu ergeben. Die Liebe waltet hier als eigene, unpersonifizierte Macht. Amor ist lediglich ein Name für die Liebe, die Dido aus dem Antlitz des Aeneas entgegenstrahlt. Es ist hier die körperliche Liebe, die vom Geliebten erwartete Lust, die zum Tragen kommt und auch ihre Erfüllung findet. Höhepunkt ist die achte Strophe mit ihrer eindeutigen Dreistigkeit in der Schilderung der Vereinigung der Liebenden. Um diese geht es in diesem Lied, nicht um eine hehre höfische Liebe.

 

CB 99

 

Schon wesentlich anders sieht CB 99 [fol. 74r-75r; Text siehe den Anhang] die Beziehung zwischen Dido und Aeneas. Wiederum liegt hier eine kurze Wiedergabe des Didostoffes in der Bearbeitung eines unbekannten Dichters vor, nun aber auch das unglückliche Ende der karthagischen Königin beschreibend. Einige Hinweise deuten auf eine enge Bindung zum folgenden Lied CB 100 hin. [55] Auffällig ist auch die Zweiteilung des Liedes. So bilden die Strophen 1-10 und die Strophen 11-20 je einen eigenen Teil. Es wird davon ausgegangen, dass diese Teile auch unterschiedliche Verfasser haben. Dies wird damit begründet, dass sich der Dichter des ersten Teils sehr eng an Vergil hält, während der Dichter des zweiten Teils zwar seinen Part ebenfalls durch eine Vergil-Stelle [Aeneis VI 456-466] motiviert, aber sich ansonsten frei entfaltet. Der zweite Dichter gilt als "... formal sorgloser, dafür aber an Erfindungsgabe und Mut zur Selbständigkeit seinem Vorbild augenscheinlich überlegen ...". [56] Der erste Teil stellt sich auch als abgeschlossen dar, da die zehnte Strophe mit dem Anruf an die unglücklich Liebenden einen einsichtigen Schlusspunkt setzt. Anscheinend hat es den Dichter des zweiten Teiles gereizt, der Klage der Dido die Antwort des Aeneas entgegenzusetzen. Die ersten beiden Strophen schildern knapp die Ausgangssituation, die Tat des Paris, ihre Folgen und die Flucht des Aeneas zu Didos Thron. Die dritte Strophe schildert, dass die liebeskranke Dido die Hindernisse nicht hinnehmen will, die eine Ehe mit Aeneas verhindern könnten. [57] Amor, der Liebesgott, wird in der folgenden vierten Strophe angeklagt, mit seinen Kräften alles zu besiegen, wobei seine (Liebes-)Freuden dem Tode nahestehen. Der Dichter richtet hier sein Wort direkt an den für Didos Schicksal verantwortlichen Gott. Immerhin hatte schon Vergil von dem "venenum" des Cupido gesprochen, das dieser auf Dido übertragen sollte. Die ungute Wirkung der Liebe steht in der Vorlage wie im vorliegenden Gedicht im Mittelpunkt der Betrachtung, nur akzentuiert der Dichter dies nun deutlicher. Dass aus der Liebe zu Aeneas für Dido nichts Gutes wachsen kann, steht hier wie dort von vornherein fest. Aeneas muss nach Italien weiterreisen, wovon Dido erfährt [Str. 5], die ihn fragt, ob er sie "dabis exitio" [Str. 6]. Den entscheidenden Punkt bringt Dido in der siebenten Strophe vor: "... deos offenderat nostrum conubium ...". Der Unmut der Götter ist es, der sich gegen die Ehe zwischen Aeneas und Dido wendet. Nun wendet sich Dido in der achten Strophe an ihre Schwester Anna. Die Schiffe der Trojaner sind unterwegs und die verbitterte Dido sieht ihr Leben am Ende. Mit der neunten Strophe wird gegen Aeneas ein Vorwurf erhoben, der in dieser Art bei Vergil nicht formuliert wird: Dido wird von Aeneas schmählich verlassen, die Verbindung mit Lavinia steht Didos Liebe im Wege. Hier ist der Vorwurf gegen den Geliebten der einer verlassenen Ehefrau. Aeneas, der bei Vergil zum Zeitpunkt der Abreise noch nichts von Lavinia weiß, [58] trägt, wie die schon in diesem Zusammenhang genannten Götter, die Schuld am Unglück der Dido.

Der erste Teil des Liedes schließt in der zehnten Strophe mit Didos Anruf an das Schwert, mit dem sie sich den Tod gibt, und dem Ausruf des Dichters: "amantes miseri, timete talia!" Hier wendet sich der Dichter direkt an die unglücklich Liebenden. Sie sollen das Schicksal der Dido fürchten. Es geht ihm also darum, das Schicksal der Dido in geradezu didaktischer Weise vorzuführen. Dido gilt ihm als Beispiel nicht allein für eine unglückliche Liebe, sondern auch für das schreckliche Ende einer solchen Liebe. Die Gefahr sieht er anscheinend nicht in der unglücklichen Liebe an sich, sondern in dem Zustand, in den Dido dadurch geriet. Erst dieser führte zu ihrem Selbstmord und er ist auch die Gefahr für die unglücklich Liebenden. Insgesamt betrachtet weist der erste Teil dieses Gedichts die Schuld an Didos Tod einerseits den Göttern [Str. 7], andererseits Aeneas zu [Str. 9]. Keine Rede ist von Didos Furcht vor den umwohnenden Fürsten, vor dem Bruder, oder von dem Eid, den sie Sychaeus gab. Auch geht dieser Liebe aller Wahnsinn ab. Allein die Liebe zu dem Mann, der auf Geheiß der Götter, die gegen eine Verbindung mit ihm sind, die Geliebte verlässt, um sich mit einer anderen Frau zu verbinden, ist letztendlich die Ursache für den Selbstmord. Der Dichter verdammt nicht die unglückliche Liebe, oder gar die unglücklich Liebenden, sondern er präsentiert ein Exempel, wie weit sich ein unglücklich Liebender nicht treiben lassen soll.

Im zweiten, zugedichteten Teil des Liedes ergreift Aeneas das Wort. Die elfte und zwölfte Strophe schildern, wie Aeneas in Italien vom Schicksal der Dido erfährt [59] und daraufhin, sein Haupt bedeckend, [60] eine Klage erhebt. Er will nicht glauben, was er gehört hat, dass Dido sich mit seinem Schwert den Tod gab, und dass er der Grund für diesen Selbstmord sei. [Str. 13] Dann lobt er die gastliche Aufnahme, die Dido ihm, dem Schiffbrüchigen, gewährte. [Str. 14] Nun klagt er: "Tu michi fueras vite subsidium sed ego sum tibi mortis exitium; quam detestabile est hoc commercium!" [Str. 15] Diese Strophe nimmt Didos Klage in der sechsten Strophe auf: "quam dura premia pro beneficio!" Aeneas klagt, dass die, die ihm das Leben gab, durch ihn den Tod fand.

In der sechzehnten Strophe verweist Aeneas darauf, dem Iarbas vorgezogen worden zu sein, den Libyen fürchtet, und das, obwohl er selbst arm und fern der Heimat war. Den Anblick der Geliebten, der in Strophe 17 beschrieben wird, [61] reißt die Pflichterfüllung aus dem Herzen des Aeneas. [Str. 18] So klagt er zwar in Strophe 19 über den Befehl der Götter, doch beruft er sich auf deren Befehl.

Zuletzt richtet Aeneas seinen Dank für ihre Wohltaten an die im Elysium weilende Dido. [62] Dieser zweite Teil des Liedes nimmt die Klage des Aeneas im VI. Buch der 'Aeneis' [Vers 456-466] auf, als er in der Unterwelt auf Dido trifft. Doch wenn er bei Vergil lediglich seine alten Argumente wiederholt, so stellt der CB-Dichter ihn hier anders dar. Aeneas ist entsetzt, dass sich die verlassene Geliebte mit seinem eigenen Schwert umbrachte. In den Strophen 14, 15 und 20 wiederholt er zwar seine üblichen Argumente, doch gehen die Strophen 17 und 18 dann weiter. Zunächst erinnert er sich an den Anblick der Dido, doch auch, dass er sich von diesem losreißen mußte, um dem Befehl des Götter zu gehorchen. Er selbst bezeichnet sich hier als "Gatte" der Dido. Doch abschließend bleibt Aeneas bei einem einfachen Dank für Didos Hilfe, einen Trost hat er nicht.

Die beiden von Schreiber h2 am Rand von fol. 74r und fol. 75r am Anfang und Ende von CB 99 hinzugefügten Versus CB 99a und CB 99b sind schon von ihrer Stellung zum Text her als direkt zugehörig zum Haupttext zu sehen. CB 99a faßt in knappen Worten Ursache und Folgen des Trojanischen Krieges zusammen:

 

"Armat amor Paridem; vult Tyndaridem, rapit illam; Res patet; hostis adest; pugnatur; menia cedunt."

 

Dabei wird der Inhalt der ersten Strophe von CB 99 mit anderen Worten wiedergegeben:

 

"Superbi Paridis leve iudicium, Helene species amata nimium fit casus Troie deponens Ilium."

 

Dieser Vers, der keinem Autor zugewiesen werden kann, charakterisiert das Lied als dem Troja-Kreis zugehörig, von Dido ist keine Rede. Dagegen setzt das am Ende von CB 99 stehende Epigramm CB 99b einen deutlichen Akzent in Hinsicht auf die Liebe Didos. Der Schreiber wählte den letzten Satz des Didobriefes aus den 'Heroides' des Ovid:

 

"Prebuit Eneas et causam mortis et ensem; Illa sua Dido concidit usa manu." [63]

 

Wie schon bei CB 99a nimmt dieser Vers das Thema der Strophe auf, der er zugeordnet ist. Wenn es vom Dichter auch nicht beabsichtigt gewesen sein mag, runden diese beiden hinzugefügten Versus das Gedicht ab. Der zweite Zusatz zeigt die Vertrautheit des Bearbeiters [64] mit den 'Heroides' des Ovid. [65] Durch ihn wird die Klage der Dido, bei der schon weitgehend Ovids Auffassung mitschwingt, vollends auf den Punkt gebracht.

 

CB 100

 

Das Lied CB 100 [fol. 75r-75v; Text siehe den Anhang], der längste Dido-Text in den 'Carmina Burana', ist eine Klage der Dido vor ihrem Selbstmord. Der Verfasser ist unbekannt, aber es wird davon ausgegangen, dass der Text um 1150 verfaßt wurde.66 Weitere Überlieferungen dieses Liedes finden sich in dem in der Linzer Studienbibliothek aufbewahrten Cod. CCIII 6 s. XII aus Garsten (L), fol. 1r/60v, und in Clm. 4598 s. 13, fol 61r/v.67 Das Lied hebt an mit einer Klage der Dido um Karthago. Dann schildert Strophe 2a knapp die Schicksale des Aeneas bis zu seinem Eintreffen bei Dido. Mit der Strophe 2b setzt ihre eigentliche Klage ein. Dido hat die Trojaner aufgenommen und diese den eigenen Leuten vorgezogen. Die Klagerufe ("Achi dolant!"), mit denen die dritte Strophe eingeleitet wird, sind romanisch, was Spanke für den Beweis einer westlichen Herkunft des Liedes hält.68 Mit den Schiffen des Aeneas flieht auch die Hoffnung der Dido. Durch die Liebe des "phrygischen Räubers" (Phrygius praedonis) wird sie umkommen. Aeneas wird hier beschuldigt, sich der Liebe der Dido unrechtmäßig bemächtigt zu haben. Strophe 4a nennt Aeneas und Iarbas, den Numiderfürsten, gleichermaßen als Bedränger der Dido. Doch die Bedrohungen, die von den beiden Männern ausgehen, sind unterschiedlich. Hier spielt der Dichter darauf an, dass die Liebe zu Aeneas Dido in den Tod treibt, wogegen Iarbas, der Dido zur Gemahlin begehrt, als äußere Bedrohung angesehen wird. Dido sieht Aeneas zu Lavinia streben und es regiert eine "andere Dido" (Dido regnat altera). Die verlassene Frau wirft dem Mann die Untreue und die Hinwendung zu einer anderen vor. Dieser Aspekt spielte bei Vergil keine Rolle, wo Aeneas zum Zeitpunkt seiner Abfahrt von Karthago noch nichts von einer künftigen Verbindung mit Lavinia weiß. Mit dieser Klage stellt der Dichter Dido, unter Voraussetzung der Kenntnisse um das weitere Schicksal des Aeneas, als verlassene Geliebte dar. Diese Strophe entspricht vom Inhalt her nahezu völlig CB 99,9. Es ist also naheliegend, die beiden Gedichte als gegenseitig beeinflußt anzusehen. Die Bedrohung durch die Wüstenbewohner, aber auch den Neid ihres Bruders, der sie in die Flucht trieb, beklagt Dido in Strophe 4b. Das Gerücht vergleicht Dido mit Helena. Der Dichter parallelisiert Dido mit Helena, da beide Frauen sich einem Trojaner zuwandten. Auch Helena lebte mit Paris zusammen, ohne dass dies einen Gewissenskonflikt für sie bedeutete. Mit diesem Gerücht dreht der Dichter die Vorwürfe ins Gegenteil: Hier gilt Dido als die Schuldige, nicht Aeneas. Aber dies ist nur der Vorwurf ihrer Gegner. Sie selbst sieht darin einen ungerechtfertigten Vorwurf. Die Wohltaten, die sie dem Aeneas angedeihen ließ, werden nur Strafen für sie bringen. Dass dieser Vorwurf dem Aeneas gemacht wird, macht Strophe 5a deutlich. Dido weist gegenüber ihrer Schwester Anna darauf hin, dass der "deceptor perfidus", sie betrügerisch allein zurücklässt und Phönizien verlässt. Dido bleibt allein der Tod. Die in Strophe 4b angesprochenen Bedrohungen gründen sich auf dem Verhalten des Aeneas. Sie würden nicht bestehen, bliebe der Trojaner in Karthago. Unter seinem Schutz bräuchte die Karthagerin die Feinde nicht zu fürchten. Doch Aeneas reist trotz der auf dem Meer drohenden Gefahren ab, was Dido in Strophe 5b ausführt. Sich selbst zu töten zögert sie noch. In Strophe 6a wird die Ausfahrt des Aeneas auf das gefährliche Meer besungen. Der Trojaner legt mit seinem Floß ab und gibt Dido das Schwert für ihr Blutopfer in die Hand [Str. 6b]. Sie ruft ihm noch nach, er habe das "Siegeszeichen" seiner vielen Untaten nun zu tragen. Der Dichter spielt hier geschickt mit seiner Sprache und mit den Objekten. Dido tötet sich immerhin mit dem Schwert des Aeneas. Dies wird nun so gedeutet, dass er ihr nicht nur Übles antat, sondern ihr auch noch die Waffe gab, sich zu richten. Die Schuld wird sozusagen verdoppelt. Aeneas wird so als Mörder der Dido dargestellt, der erst ihre Liebe ausnutzte, sie dann schnöde verließ und indirekt ihr auch noch das Werkzeug zu ihrem Tod lieferte. Die abschließende siebente Strophe ist der Seele der Dido gewidmet. [69] Diese soll den Abstieg in die Unterwelt nicht fürchten. Aeneas aber soll weder die "suaves illecebras amoris" noch die "dulces nodos Veneris" vergessen, sondern sich der Schmerzen bewusst sein, die er anrichtete.

Diese Klage gibt Aeneas die alleinige Schuld am Schicksal der Dido. Sie gibt sich den Tod, weil er sie betrog. Die Ehe ist gescheitert, eine andere Frau, Lavinia, ist des Aeneas Ziel. Es ist hier keine Rede von einem übertriebenen Liebesbegehren der Dido, oder von rein fleischlichem Verlangen. Sie stirbt als treulos verlassene Ehefrau. Die List des Aeneas, sich zum Gemahl der Dido zu machen, und sie dann wegen einer anderen zu verlassen, steht auf einer Stufe mit dem drohenden Numider Iarbas. Aeneas hat die Wohltaten der Dido schlecht vergolten.

 

Neben der Beurteilung des Inhalts der Dido-Lieder in den 'Carmina Burana' ist auch noch ein Blick auf ihre Anordnung innerhalb des Liederbuches zu werfen. Auf fol. 73r beginnt mit CB 97 eine Gruppe von Liedern, die bis CB 125 auf fol. 52r reicht. [70] Bei CB 97 handelt es sich um eine Zusammenfassung des Apolloniusromans. Darauf folgen die vorgestellten Dido-Lieder CB 98 bis CB 100. CB 101 ist eine Klage auf den Fall Trojas, die wohl aus thematischen Gründen hier ihren Platz erhielt. Es folgt CB 102, die kurze Geschichte des Trojanischen Krieges mit der Erwähnung von Didos Schicksal, womit die Untergruppe der sich auf antike Stoffe beziehenden Klagen abgeschlossen wird. Bei den Liedern CB 103 bis CB 120 handelt es sich um Liebesklagen, "die sich also an die Dido-Gedichte inhaltlich ganz gut anschließen." [71] Es folgen verschiedene Klagen, darunter eine zum Tod eines englischen Königs (CB 122), eine Klage Walthers von Châttillon über das Weltende (CB 123) und eine Klage über die Ermordung Philipps von Schwaben (CB 124). Die ganze Gruppe, von Hilka/Schumann als Nr. 17 gezählt, versammelt also Lieder, die das gemeinsame Thema 'Klage' haben. Innerhalb dieser großen Gruppe von 28 Liedern bilden die Dido-Lieder eine eigene Untergruppe.

Abgeschlossen wird diese durch eine Miniatur auf fol. 77v. Wie auch bei anderen Gruppen innerhalb der 'Carmina Burana' dient diese Miniatur als Abschluß. [72] Sie zeigt zwei Szenen aus der Dido-Sage: im oberen Register die Ankunft des Aeneas in Karthago, eine Begegnung zwischen Aeneas, Dido und Anna und Didos Selbstmord, im unteren die Ankunft des Aeneas am Ufer, sein Übersetzen und die Abfahrt mit dem Schiff. [73]

Mit der Einbindung in eine größere Gruppe von Liedern kommt auch das Interesse des Sammlers zutage, alle in der Handschrift vereinten Lieder thematisch anzuordnen. Dies zeigt sich bei den Dido-Liedern nun besonders deutlich, da sie direkt hintereinander stehen. [74] CB 98 stellt die positive Sicht der Dinge an den Anfang der Gruppe. Es ist nur von der Erfüllung der Liebe die Rede, nichts trübt die positive, lustvolle Grundstimmung. CB 99 und CB 100, die so eng miteinander verzahnten Texte, sehen in Aeneas den Schuldigen am Unglück der Dido. Sie stirbt, weil er sie wegen einer anderen verlässt und ihrer feindlichen Umgebung ausliefert.

Vergleich

 

Während die Dido-Episode bei Heinrich von Veldeke zum Handlungs­ablauf der weit umfangreicheren Geschichte des Eneas gehört, bildet sie in den Bearbeitungen der 'Carmina Burana' eine eigenständige Er­zählung. So bildet die Didominne bei Heinrich von Veldeke ein "we­sentliches und notwendiges Element des Handlungsschemas", [75] na­türlich vorgebildet bei Vergil und im 'Roman d'Eneas', durch den deut­schen Dichter aber auch in eigener Weise gedeutet. Heinrich von Velde­ke stellt mit Dido und Eneas sein erstes Minne-Paar vor. An Didos Bei­spiel schildert er die unglückliche, unerwiderte Liebe. Dem stellt er die sehr ausführlich geschilderte Lavine-Minne des Eneas [76] gegenüber. Diese zweite Paarung, bei der das Verlangen der Liebenden gestillt werden kann, und die Liebe auf beiden Seiten bestätigt wird, ist die glückliche und tragende. Die Didominne gehört somit innerhalb des 'Eneasromans' zu einem Gegensatzpaar, das die Leiden und Freuden der Liebe aufzeigt. Die Dichter der 'Carmina Burana' haben dieses Gegen­satzpaar aufgelöst. Dies insbesondere in CB 98, wo es allein um die er­füllte Liebe der Dido geht. Doch wird für den Hörer des Liedes mit der Erwähnung der Dido schon der letztendlich unglückliche Ausgang die­ser Liebe präsent gewesen sein. Im Lob auf die Liebe zu dem fremden Mann schwingt die Strafe schon mit. So in der fünften Strophe, in der Dido die Strafe des Zeus, der sie vom Thron herabstürzen soll, auf sich herabbeschwört, vergäße sie die Treue zu Sychaeus. Aber eben das tut sie. Das Glück der letzten Strophe ist überschattet von der bösen Er­wartung der fünften. Aber es gibt hier kein Gegengewicht, keine Lavi­nia, die auf Aeneas wartet.

Das Zögern der Dido vor der erwarteten und erhofften Liebesvereini­gung, das Vergil [77] und Ovid nicht kannten, tritt in CB 98,8, im 'Ro­man d'Eneas' [RdE 1521-1524] und bei Heinrich von Veldeke [ER 1834-1842] gleichermaßen auf. Eine Abhängigkeit dieser Stellen von­einander ist unbedingt vorauszusetzen, da Vergil die Liebesszene über­haupt nicht schildert. Erst die mittelalterlichen Autoren malten diese mehr oder weniger drastisch aus. Dass sich Dido dem Begehren des Eneas nicht ohne Sträuben hingab, war ohne Zweifel eine Reminiszenz an die Moralvorstellungen des Publikums der Dichter. Das erotische Moment der Begegnung in der Höhle wird von dem CB-Dichter dras­tisch herausgearbeitet. Während der 'Roman d'Eneas' und Heinrich von Veldeke nur die Hingabe der Dido beschreiben, nennt er die Ge­schlechtlichkeit des Aeneas beim Namen. [78] Hier ist es offensichtlich nicht die Gewalt, wie bei RdE 1524, sondern des Eneas offensichtliche Erregung, die Dido sich ihm hingeben lässt. Heinrich von Veldeke ge­staltet das erotische Geschehen unter dem Baum drastisch aus. So fan­den der Dichter des 'Eneasromans' und der CB-Dichter ihre eigenen Wege, der Erotik ihren Raum zu geben, die der Episode bei Vergil völ­lig abgeht. CB 99 widmet sich der ganzen unglücklichen Liebe der Dido und ihrem Ende. Wie in ER 2034 wird hier in der siebenten Stro­phe dem "Fehltritt" die Schuld am Elend der Dido gegeben. Entschei­dend ist das Nachgeben gegenüber der übermäßigen Liebe zu Eneas, nicht die Verliebtheit selbst.

Negativ aufgerechnet wird bei Heinrich von Veldeke und in CB 99,7 nur die Tatsache des Beilagers, des Offensichtlichwerdens des Fehl­tritts. Der Dichter von CB 100 weicht vom Schema der epischen Bear­beitungen ab und lässt Dido ihre Klage vortragen. Darin folgt er dem Vorbild bei Ovid. Doch nicht verzeihend wie bei Ovid, dem 'Roman d'Eneas' und Heinrich von Veldeke, sondern dem Aeneas fluchend wie bei Vergil [79] gibt Dido sich den Tod. Aeneas ist schuldig an Not und Leid der Dido, er muss es sich zuschreiben, dass sie sich selbst tötet. Von Liebe ist keine Rede mehr, Aeneas wird dem Iarbas als Bedränger der Dido an die Seite gestellt. Hier stirbt eine zornige, eine hassende Ge­liebte, von dem untreuen Geliebten schnöde verlassen.

Die Schuldzuweisung dieses Liedes steht ganz im Gegensatz zur Dar­stellung des Eneas bei Heinrich von Veldeke und den anderen 'Carmina Burana'. Dass Didos Minne unrecht gewesen wäre, spielt hier keine Rolle. Sie ist die Verlassene, die dem Geliebten Hilfe gewährt hatte. Sie bezichtigt sich selbst des Verrats am eigenen Volk, indem sie den Troja­nern half. [80] Während Dido im 'Eneasroman' den flüchtigen Trojaner weiter liebt, hat sie in CB 100 alle Liebe verloren. Auch wird ihr Selbstmord nicht verdammt. Dieser Tod ist die einzige Lösung für das Problem, christliche Gebote und Moralvorstellungen stehen nicht im Wege. Die Anrufung der Unterweltflüsse und Sols geben dem ganzen ein antik-heidnisches Gepräge, das den anderen CB-Bearbeitungen und Heinrich von Veldeke völlig abgeht.

Einzelprobleme

 

a) Venus: Die antike Göttin im mittelalterlichen Gewand

 

In der 'Aeneis' des Vergil entfaltet Venus, die Mutter des Aeneas, eine rege Tätigkeit zum Nutzen ihres menschlichen Sohnes und ohne Rücksicht auf das Schicksal anderer. Das Handeln der Götter ist in dem Epos überhaupt das die Handlung vorantreibende Element, die Menschen sind weisungsgebunden und gehorchen. Auch werden sie zu Opfern der Intrigen der Götter untereinander. Dido, von Venus in Liebe zu Aeneas entflammt, wird so zum Spielball zwischen Iuno und Venus. Vergil lässt die Götter in seiner Geschichte frei handeln, was sich die mittelalterlichen Bearbeiter des Stoffes nicht mehr erlaubten. So bleiben von den zahllosen Göttern und Halbgöttern bei Heinrich von Veldeke allein Venus und ihr Sohn Cupido übrig. [81] Venus, in der höfischen Literatur als "frouwe minne" zur stehenden Figur geworden, [82] hat einen unproblematischen Platz. Sie kann von der Höhe der heidnischen Gottheit herabsteigen und als personifiziertes Synonym für die Liebe weiterbestehen, ohne Anstoß zu erregen. Die anderen Götter verschwanden als die "gote" in der Beliebigkeit. Sie sind allein Stichwortgeber an Stellen, die selbst Heinrich von Veldeke nicht im mittelalterlich-christlichen Sinne abändern konnte.

Die Liebe zu Eneas entbrennt in Dido, als sie Ascanius, von Venus mit der Liebe "infiziert", küsst. Venus wird von Heinrich von Veldeke aber nicht völlig entpersonifiziert, sie behält auch ihre Benennung als Göttin, tritt also als übernatürliche Person auf. Sie ist es, die in Dido die Minne erweckt, die Göttin ist also nicht selbst die Minne. Für Dido ist die von Venus beigebrachte Minne das Unglück, da nur gegenseitige Minne Heilung von der "Liebeskrankheit" bringen könnte. 883] Das Elend der karthagischen Königin besteht darin, dass sie nicht dazu auserwählt war, Eneas recht zu minnen, was heißt, mit ihm eine dauerhafte Beziehung einzugehen. [84] Eneas ist bei Heinrich von Veldeke nicht von der "Liebeskrankheit" befallen. Er kann dem Auftrag der Götter, nach Italien weiterzufahren, ohne Zögern gehorchen. Bei den Dichtern der CB spielt Venus praktisch keine Rolle mehr. In CB 59,3 werden noch "der Venus Herrlichkeiten" besungen, aber mehr im Sinne einer auf antike Bezeichnungen anspielenden Umschreibung der Liebe, nicht in der Nennung der Göttin als personifizierte, waltende Kraft. In den übrigen Liedern handelt Venus nicht mehr. Ihr Sohn Amor, in CB 99,4 wegen seiner zerstörerischen Seite angeklagt, nimmt ihren Platz ein, bleibt aber im Ungewissen. Die Didolieder der CB sind christlich geprägt, die heidnischen Götter sind zu Stereotypen für die Liebe herabgesunken. Die Dichter spielen mit ihrer klassischen Bildung. Bei Heinrich von Veldeke spielt beim Umgang mit den Göttergestalten, und so auch mit Venus, seine Nähe zur Vorlage eine Rolle. In seiner Bearbeitung hätte ein Verzicht auf die Göttin Venus die innere Logik des geschilderten Geschehens völlig zerstört. Die innere Logik ist schon dadurch erheblich gestört, dass kein Grund genannt wird, warum Venus der Dido die Liebe zu Eneas einimpft. Bei Vergil wollte sie die Iuno-Verehrerin zur Helferin des Flüchtlings machen. Dieser Beweggrund fehlt nun. Die CB-Dichter waren dagegen durch ihre Herauslösung des Didostoffes aus dem Gesamtzusammenhang der 'Aeneis' frei, den Hintergrund der Didominne in ihrem Sinne auszugestalten. Andererseits fehlte bei Heinrich von Veldeke offensichtlich auch die Kreativität, Dido aus ihrer Verstrickung in das Handeln der Venus zu lösen. Er sah sich offensichtlich nicht in der Lage, einen rein inneren Ansatz als Erklärung für ihre Liebe zu Eneas zu finden. In den CB sahen die Dichter die Liebe der Dido zu Aeneas als allein in ihr entstanden an. Dies ist bei Heinrich von Veldeke nur bei der Lavine-Minne so. "Positive" Minne entsteht nur durch den Anblick des Geliebten in beiden Beteiligten. Dies ist in CB 98 der Fall, wo am Ende die Erfüllung steht. Damit sind die Dichter der 'Carmina Burana' schon einen Schritt weiter als Heinrich von Veldeke. Auch zeigen sie sich frei von Standesdenken. Zeigte Heinrich von Veldeke Dido noch völlig eingebunden in ein höfisches Geschehen, so schildern die CB-Dichter die ungebundene, durch keine gesellschaftliche Konvention eingeschränkte Liebende. Allein die moralische Seite ihrer Verliebtheit wird beleuchtet.

b) Didos 'Liebestod' von eigener Hand

 

"Die Motive für den Selbstmord liegen meist in einer für unüberwindbar gehaltenen Diskrepanz zwischen Lebens­anspruch und Realität, in einem subjektiven und objektiven Schei­tern oder einem schicksalhaft als unerträglich ein­geschätzten Leidensdruck" [85]

 

Diese Formulierung der Brockhaus-Enzyklopädie lässt sich auch auf den Selbstmord der Dido anwenden. Ihr Lebensanspruch bestand darin, Eneas als Ehemann an ihrer Seite zu behalten, während die realen Umstände dies nicht zuließen, da er entschlossen war, dem Drängen der Götter nachzugeben und sie zu verlassen. Ihr Scheitern zeigen ihre sinnlosen Versuche, den Geliebten mit verschiedenen Argumenten zu überreden, wenigstens noch eine Zeit bei ihr zu bleiben. Schließlich wird der unerträgliche Leidensdruck einerseits durch ihre Scham, sich dem Fremden hingegeben zu haben, andererseits durch ihre Angst vor den erzürnten Landesfürsten ausgelöst. Dido wird durch die Erfüllung aller genannten Motivationspunkte zu einer geradezu klassischen Selbstmordkandidatin. Und doch enthält die Motivation des Selbstmordes in den Bearbeitungen durch Heinrich von Veldeke und die Dichter der 'Carmina Burana' eigene Schwerpunkte in der Gewichtung der einzelnen Komponenten. Bei Vergil stirbt Dido im Zorn. Sie ereifert sich über den Treubruch des Aeneas und steigert sich in eine Wut hinein, die sich gegen sie wendet und sie zerstört. Der Selbstmord der Karthagerin wird von Vergil moralisch nicht gewertet. In der Philosophie der Antike gab es zwar starke Strömungen, die den Selbstmord ablehnten, wie sie sich bei Platon86 und Aristoteles [87] manifestieren. Dagegen akzeptierten die Stoiker und Epikureer den Selbstmord in Fällen, "in denen der Lebenssinn unerfüllbar scheint, als letzten Weg der Freiheit." [88] Dabei war es so, dass ein Selbstmord aus "edlen Beweggründen und zwingender Notwendigkeit", so bei Seneca und Cato, des Öfteren als Kennzeichen einer "heldenmütigen" Seele angesehen wurde. Cicero stellt in seinen Reden 'Pro Sestio' und 'Pro Scauro' Listen von Persönlichkeiten zusammen, die in ihrem Handeln ihre Todesverachtung zeigten, und mit denen er den Heroismus der Römer betonen will. [89] In diesem Zusammenhang weist Cicero aber auf die platonische Ansicht hin, dass der Selbstmord nicht erlaubt sei. Es wird also deutlich unterschieden zwischen der bewußten Inkaufnahme des möglichen Todes beim Handeln für andere und der Selbsttötung. Der Selbstmord hatte auch in der antiken Literatur eine gewisse Tradition. Zahlreiche literarische Gestalten suchten ihrem Leid durch Selbsttötung zu entkommen. Als bekannte Beispiele sind in diesem Zusammenhang Iokaste, die Mutter und Gemahlin des Oidipos, [90] und Aias [91] zu nennen. Allerdings galt der Selbstmord aus Liebe, wie Dido ihn beging, in der Regel als Selbstmord aus verbrecherischer Liebe und erschien so als Selbstbestrafung. [92] Diesem Schema folgt Vergil allerdings nicht. Didos Tod von eigener Hand ist bei ihm nicht die Strafe für ihre Liebe zu Aeneas, sondern sie begeht die Tat im von der Liebe verursachten Wahn; sie stirbt "... misera ante diem subitoque accensa furore ...". [Aeneis IV 697] Nun ist die Wertung des Selbstmords im christlichen Mittelalter eine völlig andere geworden.

Das Wegwerfen des eigenen Lebens galt grundsätzlich als verwerflich. Allein der Selbstmord einer von Vergewaltigung bedrohten Jungfrau wurde von Eusebius, Johannes Chrysostomos und Ambrosius vom sonstigen Selbstmord-Verbot ausgenommen. [93] Hatte noch Tertullian in seiner Schrift 'Ad martyras' Dido zusammen mit Lucretia, Heraklit, Empedokles, Kleopatra und anderer als Beispiel für den "Sieg des Geistes über das schwache Fleisch" genannt, [94] so folgte die christliche Tradition später Augustinus, der den Selbstmord als unzulässigen Eingriff in die Ordnung der göttlichen Schöpfung verwarf und für das unumschränkte Verbot des Selbstmords eintrat [95]. Auch fand hier das sechste Gebot, "Du sollst nicht töten", [96] Anwendung. In der Bibel findet sich keine ausdrückliche Verdammung des Selbstmordes, es werden im Alten Testament sogar mehrere Selbstmorde geschildert, die im antiken Sinne als "heroisch" anzusehen wären. [97] Der Selbstmord des Judas Ischariot nach seinem Verrat an Jesus [98] wurde als unrühmliches Beispiel angeführt. Zwischen dem 5. und 11. Jhd. wird zwar Judas immer wieder verdammt, "sonst findet die kirchliche Lehre aber in jener Zeit nur in den Verordnungen der Synoden und Bußbücher ihren Niederschlag." [99] Dass bei einem Selbstmord der Satan seine Hand im Spiel haben muss, wurde mit dem Hinweis darauf bewiesen, dass er Jesus dazu verleiten wollte, von der Tempelzinne zu springen. [100] Staatliches und kirchliches Recht des Mittelalters erklärten den Selbstmord für strafbar. Auf dem Konzil von Braga im Jahr 563 war es verboten worden, einen Selbstmörder kirchlich zu bestatten. Der sonstige rechtliche Umgang mit dem Selbstmörder und seinem Nachlass war unterschiedlich. So ließ der Sachsenspiegel [Ldr. II 31,1] den Nachlass eines Selbstmörders seinen Erben, während dieser seit Ende des 13. Jhd. in einigen Territorien als verfallen galt. Vor diesem rechtlich-moralischen Hintergrund muss auch die Beurteilung von Didos Tat durch Heinrich von Veldeke und die Dichter der 'Carmina Burana' gesehen werden. Heinrich von Veldeke war durch seine Vorlage gezwungen, den Selbstmord der Dido zu schildern. Ihm war dabei aber die Darstellung seiner eigenen Ansichten zu dieser Tat möglich. Schon der Dichter des 'Roman d'Eneas' hatte dem Tod der Dido den Charakter eines Sühnetodes genommen, während er ihre schuldhafte Verstrickung teilweise abzuschwächen versuchte. [101] Ein Selbstmord, wie Heinrich von Veldeke ihn aufgrund seiner Vorlage zu schildern hatte, musste eine nachvollziehbare Begründung erfahren, die es dem Dichter erlaubte, die Tat zu schildern, ohne beim Publikum allzu großen Anstoß zu erregen. Anlass zum Selbstmord der Dido ist natürlich ihre 'unrehtiu', nicht wirklich erwiderte Minne. Durch diese steigert sie sich, als Eneas abreist, in eine sinnlose Raserei hinein. Die Meinung des Dichters des 'Eneasromans' findet mehrmals einen sehr deutlichen Ausdruck in seinem Werk. Dabei hat er aber auch immer Dido im Blick, die letztlich nicht verdammt wird. Das entscheidende Kriterium der weitestgehenden Entlastung der Dido von ihrer schweren Schuld findet sich in zwei Punkten, ihrem Wahnsinn und ihrer Besessenheit. Es war schon oben [102] festgestellt worden, dass der Wahnsinn der Dido in der Darstellung Heinrich von Veldekes erst ausbricht, als Dido von der bevorstehenden Abfahrt des Geliebten erfährt. Damit hängt ihr Weg in den Selbstmord ursächlich zusammen. Sie ist nicht mehr bei Verstand, als sie ihre letzten Vorbereitungen trifft. Der zum Entschluss zum Selbstmord führende Wahnsinn ist schon bei Vergil vorgegeben, der Dido als Rasende beschreibt, die in ihren Träumen von Aeneas umgetrieben wird. [103] Ihr Wahnsinn wird mit dem des Pentheus und des Orestes verglichen, die von den Furien verfolgt wurden. Im Wahn (lat. furor), beschließt sie, sich zu töten. [104] Dieses Wahnsinnsmotiv nahm auch der Dichter des 'Roman d'Eneas' auf, der von der 'rage d'amor' spricht, in der Dido sich tötet. Hier folgt ihm Heinrich von Veldeke, bei dem Dido sich im Wahn tötet. Insbesondere Anna spricht davon, dass ihre Schwester sich im Wahn den tödlichen Stich beigebracht habe. Allen diesen Autoren ist gemeinsam, dass in ihrer Darstellung der durch die Liebe ausgelöste Wahnsinn die Ursache des Selbstmordes ist. Dabei ist Dido aber immerhin noch soweit bei Sinnen, dass sie ihre Schwester Anna trickreich von sich fernzuhalten weiß, um allein in den Tod zu gehen. In der Beschreibung der Vorbereitungen findet sich keine Wertung. Erst als Anna das Geschehen zu spät für ein Eingreifen entdeckt, spricht sie davon, "daz quam von unsinne" [ER 2472], der Wahnsinn, entstanden aus übermäßiger Liebe, erklärt die Tat. Und doch beinhaltet dieser Tod auch einen Verlust an Ansehen. Anna klagt, Dido habe "groze ere" [ER 2475] verloren: "do het ir rat unde ir sin ubel ende genomen, do sie dar zu was komen." [ER 2506-2508] Zum Wahnsinn tritt bei den mittelalterlichen Autoren aber auch noch die Besessenheit. Von dieser Ursache des Selbstmords ist bei Heinrich von Veldeke nur an einer Stelle die Rede. Eingeflochten ist diese Bemerkung in die überleitende Erzählung von der †berfahrt des Eneas, wobei der Erzähler selbst zu Wort kommt: "noch enwester des niet, daz der v”ant dâ geriet der frouwen, daz si sich erslžch." [ER 2533-2535] Knapp kommentiert dies folgendermaßen: "Die Erwähnung des Teufels als des Verführers zum Selbstmord läßt als solche dann die Frage nach der vollen Freiwilligkeit des Entschlusses, sich das Leben zu nehmen, völlig offen." [105] und geht davon aus, Heinrich von Veldeke habe damit zum Ausdruck gebracht, den Selbstmord als Todsünde einzuschätzen. Bis zu dieser Stelle war immer vom Wahnsinn als Ursache des Selbstmords die Rede gewesen. Ist die Besessenheit106 nun eine "zweite Ursache"? Zur Beantwortung dieser Frage ist der Blick wieder auf die Vorlagen zu richten, die 'Aeneis' und den 'Roman d'Eneas'. Wie schon festgehalten wurde, tötet sich Dido bei Vergil im Wahn, ohne dass es eine weitere Ursachenkomponente gäbe. Dies ändert sich aber schon in der französischen Dichtung. Vom Wahnsinn ist Dido dort von Anfang an umfangen, ihre ganze Liebe zu Eneas ist immer 'rage d'amor'. Als Anna ihre sterbende Schwester [107] findet, spricht sie von Hexerei: "Ci a molt enchantement, ce veion nos apertement, beü avez poison mortal por entrobli‘r le vasal" (Hier ist eine sehr üble Hexerei, das sehen wir unverhüllt, ihr habt tödliches Gift getrunken, um den Krieger zu vergessen.) [RdE 2105-2108] Während Anna hier also nicht Wahnsinn, sondern Zauberei als Grund angibt, tut dies der Erzähler in seinem einleitenden Erzählteil zur Selbstmordepisode, wo die bevorstehende Tat als "la desverie que vuelt faire" (der Wahnsinn, den sie tun will) [RdE 2077] bezeichnet wird.108 Wenn auch die Benennung der Ursache zwischen dem Erzähler und Anna jeweils ausgetauscht ist, nennen aber beide mittelalterlichen Dichter beides, Wahnsinn und Besessenheit als Ursache des Selbstmords. Heinrich von Veldeke denkt hier wie sein französischer Dichterkollege. Auch die Wertigkeit der beiden Ursachen ist deutlich: der Wahnsinn der Liebe zu Eneas führt Dido zu dem Punkt, an dem sie außer dem Tod keinen anderen Ausweg mehr sieht. Doch die Ausführung der Tat selbst geschieht auf Zuraten des Satans hin. Die Gewalt gegen das eigene Leben kann nach Auffassung Heinrich von Veldekes offensichtlich nur so motiviert sein. Es bedeutet offensichtlich keine Schuld, im Wahnsinn den Einreden des Satans zu folgen. Erst mit der vor Liebe und Verzweiflung wahnsinnig gewordenen Dido hat der 'viant ' leichtes Spiel. So kommt in der mittelalterlichen Bearbeitung aber ein Element ins Spiel, das die Antike nicht kennen konnte. Der Satan nimmt Dido die Entscheidung über ihr Leben ab. Damit ist die Selbstmörderin von ihrer Schuld weitgehend gereinigt, denn letztendlich ist nicht sie für ihren Tod verantwortlich zu machen. Die Ansichten Heinrich von Veldekes zum Selbstmord zeigen sich nicht so sehr in der Schilderung der Tat. Dort spielt, wie gezeigt, der Wahnsinn als Ursache die größte Rolle. Was Dido aber nach dem Tod zu erwarten hat, wirft weiteres Licht auf die Einschätzung der Tat durch den Dichter. Bei Vergil wird Dido während der Unterweltfahrt des Aeneas unter einer Gruppe von Toten genannt, die sich aus unglücklicher Liebe selbst den Tod gaben. Auf diese stößt Aeneas nahe dem Ufer des Totenflusses. Nach dessen Überquerung begegnet er zunächst den verstorbenen Kindern, dann den wegen eines falschen Verdachts zum Tode Verurteilten und trifft schließlich auf die, "qui sibi letum insontes peperere manu lucemque perosi proiecere animas. [...] hic quos durus amor crudeli tabe peredit, ..." [Aeneis VI 434-435.442]. Unter dieser Gruppe befindet sich auch Dido: "inter quas Phoenissa recens a volnere Dido errabat silva in magna." [Aeneis VI 450-451] Aeneas erkennt die Geliebte und gibt sich die Schuld an ihrem Tod, von dem das Gerücht schon zu ihm gedrungen war. Sie aber blickt ihn nicht an und flieht zu einem Hain, in dem sich ihr verstorbener Gatte Sychaeus aufhält. [109] Bei dieser Beschreibung liegt die Betonung darauf, dass die Selbstmörder schuldlos seien, und dass sie sich aus unglücklicher Liebe töteten. Andere Typen von Selbstmördern werden nicht erwähnt. Die schuldlose Dido hat sogar die Gnade gefunden, wieder mit ihrem Ehemann vereint zu sein. Der französische Autor erzählt im 'Roman d'Eneas' die Begegnung zwischen Eneas und Dido an derselben Stelle der Handlung. Wenn auch nach den Vorstellungen des Mittelalters dem Selbstmord die Höllenstrafen folgen müssten, bleiben der französische Dichter und Heinrich von Veldeke doch bei der Vorgabe Vergils. Allein die Wiedervereinigung mit Sychaeus bleibt der Dido in beiden Bearbeitungen verwehrt. [110] Für den Autor des 'Roman d'Eneas' sieht Knapp keinen Widerspruch zwischen seiner Realität und der literarischen Vorlage: "Im französischen Roman liegt in diesem Falle kein krasser

logischer Widerspruch vor, da Didos Schuld als nicht schwer genug gedeutet werden konnte." [111] Aber Heinrich von Veldeke steigert den entstehenden Widerspruch zwischen christlichem Anspruch und literarischer Ausarbeitung nach Knapps Worten noch: "Sein christliches Gewissen hat es ihm offenkundig nicht erlaubt, die ewige Verdammnis der Selbstmörder zur Höllenqual unerwähnt zu lassen." [112] Dazu verweist er auf ER 2941-2971 und 2979-2987, wo Heinrich von Veldeke eigenständig einen Teil der Unterwelt beschreibt, in dem die, "den daz leben was benomen von ir selber scholden" [ER 2982-2983] sich aufhalten. Dieser Ort in der Unterwelt befindet sich direkt hinter dem Eingang zur Unterwelt, noch auf dem diesseitigen Ufer des Totenflusses. [ER 2933-2937] Unter diesen Toten trifft Eneas die karthagische Königin aber nicht an, sondern er sieht sie erst an der schon von Vergil für die Selbstmörder aus Liebe bestimmten Stelle in der Unterwelt. [ER 3231-3306] Aus der Schilderung eines eigenen Aufenthaltsortes der Selbstmörder und der Schilderung des Aufenthaltsortes der Dido meint Knapp einen Widerspruch erkennen zu können, der auf Heinrich von Veldekes "... differenzierte Haltung gegenüber dem Selbstmord hin[-weise; J.D.], je nachdem, ob die konkrete, handlungsmäßig unabdingbare Tat der Königin Dido in Rede steht, oder vielmehr das abstrakte moralische Problem an sich." [113] Hierbei übersieht Knapp, dass Heinrich von Veldeke den zunächst genannten Selbstmördern einen Ausweg aus ihrer Lage lässt, denn sie sollten ihre Qualen nur so lange dulden, "unz es den meister duhte zit, daz man si furde uber den flut" [ER 2986-2987]. Als vollends verdammt sieht Heinrich von Veldeke die Selbstmörder also nicht an. Sie verweilen eine gewisse unbestimmte Zeit an dem Ort der Qualen, bis sie den Totenfluss überschreiten dürfen. Dass Dido schon unter den in der Unterwelt befindlichen Seelen weilt, wenn auch nur in dem Teil, der denen, die aus unglücklicher Liebe den Tod suchten, zugewiesen ist, bildet zu dem, was über die Selbstmörder zunächst gesagt wurde, keinen Widerspruch. Da keine Zeitspanne angegeben wird, nach der ein Selbstmörder in die eigentliche Unterwelt eingelassen wird, und dies zu erlauben der völligen Willkür des Herrn der Unterwelt überlassen ist, kann dieser die Dido schon längst in die Unterwelt eingelassen haben. Heinrich von Veldeke hat also seinen "Selbstmörderexkurs" keineswegs unbedacht in den Text eingeführt, sondern diesen so gestellt, dass die Begegnung zwischen Dido und Eneas an der von Vergil vorgegebenen Stelle im weiteren Handlungsablauf trotz möglicher moralischer Bedenken weitestgehend problemlos blieb. Der Leser wurde so auch bei höchsten theologisch-moralischen Ansprüchen zufriedengestellt. Die Selbstmörder erhielten ihre Strafe, doch dann finden sich die aus Liebe in den Tod gegangenen in der Unterwelt wieder. [114] Aus diesem Umgang mit dem Liebes-Selbstmord der Dido lässt sich ein sehr differenzierter Umgang Heinrichs von Veldeke mit dem ihm vorliegenden Stoff erschließen. Zumindest an diesem Punkt ist er in der Umsetzung des Geschehens von der antiken Gedankenwelt in die Vorstellungen seiner Zeit weiter gegangen als sein französischer Dichterkollege. Die Dichter der 'Carmina Burana' geben in ihren Liedern keinen offenen Kommentar zum Selbstmord der Dido ab. In CB 59,3 heißt es, Dido solle ungestraft die Schuld an ihrem Tode bekunden. Dass sie sich mit ihrer Tat schuldig macht, steht außer Frage. Doch gewinnt diese Schuld eine andere, schwächere Qualität durch die Erlaubnis, frei darüber zu sprechen. Der Selbstmord aus Liebe ist hier nicht so anstößig, wie es einer aus Angst vor Strafe wohl wäre. CB 99 beklagt indirekt, dass in solchem Liebesleid, wie es Dido widerfährt, allein der Tod Erlösung verheißt. Nur auf diese Weise ist der Bruch des göttlichen Gebots [CB 99, 7] zu sühnen und nur so sind die Seufzer zu beenden [CB 99, 10]. Der Schlußsatz des Liedes "Amantes miseri, timete talia!" ist eine deutliche Aussage zum Selbstmord. Der Dichter weiß, dass eine unglückliche Liebe ein solches Ende haben kann, aber er ruft den unglücklich Liebenden zu, dieses Ende zu fürchten. Dies natürlich wegen der bekannten Verdammungsurteile über den Selbstmord. Damit zeigt sich der Dichter von seinen Ansichten her als rein christlich denkender Mensch.

Die lange Dido-Klage CB 100 gibt keine direkte Äußerung ab, die den Selbstmord bewertet. Schuld trägt Aeneas, nicht Dido. Er wird geradezu als ihr Mörder beschrieben. Wie auch in CB 99 ist Dido nicht vom Wahnsinn umfangen, ihr Handeln somit wohl auch nicht von den Vorgaben mittelalterlicher Vorstellungen geprägt. In CB 100 wird der Selbstmord sogar in jeder Strophe erneut motiviert, die ihn erwähnt. Das Thema des Liedes ist in erster Linie dieser freiwillige Tod und sein Anlass. Für die Dichter der 'Carmina Burana' ist der Liebestod der Dido ein Grund zur Warnung vor solch einer Liebe, aber auch zum Mitleid für die große Liebende.

Abschließend kann festgehalten werden, dass Heinrich von Veldeke und die Dichter der 'Carmina Burana' nicht von der zu ihrer Zeit üblichen Verurteilung des Selbstmordes abweichen. Dass sie ihn thematisieren, mag schon auf eine gewisse Offenheit für diese Problematik hinweisen, doch sollte dies nicht überbewertet werden. Jedenfalls zeigen sich bei den Autoren deutlich Ansätze eines Verständnisses für einen Selbstmord, wie Dido ihn beging. Heinrich von Veldeke räumt den Opfern der Liebe einen Zugang zu den Gefilden des Jenseits ein, während die Dichter der 'Carmina Burana' die schuldhafte Verstrickung der Dido abzuschwächen versuchen und um Mitleid für die Verlassene heischen.

Didos Minne - Didos Schuld? – Schlussbetrachtung

 

Insbesondere die Bearbeitungen des Didostoffes in den Carmina Bura­na zeigen eine Auseinandersetzung mit dem Problem der unglücklich liebenden Frau. Neben die großen Liebenden der höfischen Romane tritt mit Dido und Eneas ein Paar, dessen Liebe keine Zukunft und Hoffnung hat. Dabei bleibt in dieser Beziehung der Mann außen vor. Schon Heinrich von Veldeke bemüht sich um eine ausführliche Schilde­rung des Schicksals der Dido, während er keine Worte für das innere Geschehen bei Eneas hat, der sich mit einer halbherzigen Liebeserklä­rung, die mehr nach Höflichkeit aussieht, herauswindet und seine Ge­spielin [115] beruhigen will. Dido aber, die unglücklich liebende Frau, tritt vor. Dabei zeigt sie deutlicher ein Eigenleben als so manche ande­re, glücklich liebende Frau der mittelalterlichen Literatur. Heinrich von Veldeke wirft ihr zwar noch ihre "unrehtiu minne" vor und ihren Selbst­mord, aber die Dichter der 'Carmina Burana' haben auch hier einen dif­ferenzierten Standpunkt. Während sich CB 98 eine starke Dido er­träumt, die ihr Liebesgeschick, wenn auch nur indirekt, selbst in die Hand nimmt und höchstes Glück erringt, klagt CB 99 über den unseli­gen Liebesgott, der es so weit kommen ließ, dass die Karthagerin in ih­rem Unglück nur den Selbstmord als Ausweg sah. Er versteht ihr Schicksal als Warnung. Ein unglücklich Liebender soll sich dem Schicksal der Dido bewusst sein und, was er allerdings nicht ausspricht, seine Qualen anders bezwingen als sie. Als Beispiel für eine unglück­lich Liebende war Dido den mittelalterlichen Bearbeitern offensichtlich willkommen. Unumgänglich wurde aber die Ovid-Bearbeitung des Stoffes, die nachweisbare Spuren hinterließ. Dass selbst die volkss­prachliche epische Dichtung einen Einfluss auf die Vagantenkreise hat­te, zeigt der nachweisliche Einfluss des 'Eneasromans' auf CB 98. Das weitere Interesse am Didostoff zeigen insbesondere die bisher bekann­ten Abschriften von CB 100 und das nachgeformte Gedicht 'Anna soror'. Auch die knappe Erwähnung Didos in CB 59 zeigt die Verbrei­tung des Themas. Es ist wohl davon auszugehen, dass Heinrich von Vel­deke eine nicht unwichtige Bedeutung für die Verbreitung dieser Lie­besgeschichte hatte.

Anhang: Die Dido-Lieder der 'Carmina Burana'

 

a) CB 98 (clm 4660, fol. 73v-74r)

 

1. Troie post excidium dux Eneas Latium errans fato sequitur; sed errat feliciter, dum in regno taliter Didonis excipitur: si hospes felicior, hospita vix largior aliqua percipitur.

2. Troas actos per maria Dido suscepit Tyria, passisque tot naufragia larga pandit hospitia, et Eneam intuito, supplex, miratur, quod ita leta nitescat facies, larga, crispata sit cesaries. mox ad sororem properat eique clausam mentem reserat:

3. "Anna, lux mea, dux iste quis sit, ambigo; quis honor, quis color vultu, vix intelligo. at reor, vereor hunc nostra conubia poscere; id vere portendunt insomnia.

4. Ecce quam forti pectore, Amoris quasi facie! heu, sors hunc que per bibula Scylle traxit pericula!

5. Si Sychei coniugis mei hymenei pacti rei non detraherem, non cogerem, non lederem, huic uni me forsa subdere possem culpe; me prius perdere velit Iupiter turpiter, fulmine de culmine deiectam Carthaginis, ... Dido committat dominis."

6. Anna refert: "Assiste, mi soror, nec resiste amori blando: si iste iungetur tibi suisque extollet te virtutibus, Carthago crescet opibus."

7. His accensa Phenissa in furores Elissa116 venandi sub imagine, effuso nimbi turbine, antro cum duce latuit eique se supposuit.

8. Propositionibus tribus dux expositis syllogizat; motibus fallit hec oppositis; sed quamvis cogentibus argumentis utitur, tamen eis brevibus tantum horis fallitur.

9. Et sic amborum in coniugio leta resplenduit etherea regio; nam ad amoris gaudia rident, clarescunt omnia.

 

 

b) CB 99 (clm 4660, fol. 74r-75r)

 

1. Superbi Paridis leve iudicium, Helene species amata nimium fit casus Tro•e deponens Ilium. 2. Hinc dolens Eneas querit diffugium, ascendit dubios labores navium, venit Carthaginem, Didonis solium 3. Hunc regno suscipit Dido Sidonia, et plus quam decuit amore saucia moras non patitur iungi connubia. 4. O Amore improbe, sic vincis omnia, sic tuis viribus redduntur mollia, et morti proxima sunt tua gaudia! 5. Eneas igitur egre corripitur et in Italiam ire precipitur. quod amans audiens Dido concutitur: 6. "Eneas domine, quid est, quod audio? Didonem miseram dabis exitio? quam dura premia pro beneficio! 7. Nudum exceperam, egentam omnium; deos offenderat nostrum conubium quidagam, nescio; mors et consilium. 8. Anna, quid audio, soror dulcissima? iam volant carbasa ora finitima. abrumpe miseram lucem asperima!" 9. Dido nobilis spreta relinquitur atque Lavinie thalamus gueritur, et Anna propere pro maga mittitur. 10. "O ensis, perfode117 fortiter ilia mea pertransiens deme suspiria!" amants miseri, timete talia! 11. Eneas audiens, iam in Italia, in quanta obiit Dido miseria, et quod dispersa sit eius famlia, 12. Mox crines dissipat cum veste serica; qui fortis viderat tot damna bellica, tunc demum clamitat voce yrcanica118: 13. "Non hoc credideram, Dido, quod audio, quod interficeres te meo gladio, ut essem, heu, tibi mortis occasio. 14. Naves refeceras quassas naufragio, et me susceperas plus quam hospitio et sublimaveras in regni solio. 15. Tu michi fueras vite subsidium, sed ego sum tibo mortis exitium; quam detestabile est hoc commercium! 16. Quamvis essem pauper, procul a patria, preponebar tamen in tui gratia Iarbe nobili, quem tremit Libya. 17. Quam sepe commovet119 me clara facies, dulcis anhelitus, grata cesaries, membrorum omnium miranda species! 18. Pro his exciderant a corde penitus dolores patrie et graves gemitus gentis, et coniugis et patris obitus. 19. Non semper utile est diis credere, nec, quicquid ammonent, velle perficere; nam instigaverant me te relinquere. 20. Dido, possideas sedes Elysias, et inter gaudia Eneam audias pro beneficio reddentem gratias!"

 

 

 

c) CB 100 (clm 4660, fol. 75r-75v)

 

1. O decus, o Libye regnum, Carthaginis urbem! O lacerandas fratris opes, o Punica regna! 2a. O duces Phrygios, o dulces advenas, quos tanto tempore dispersos equore iam hiems septima iacaverat ob odium Iunonis, Scylla rabies, Cyclopum sanies, Celeno pessima traduxert ad solium Didonis; 2b. Qui me crudelibus exercent odiis, arentis Libye post casum Phrygie quos regno naufragos exceperant. me miseram! quid feci, que meis emulis, ignotis populis et genti barbare. Sidonios ac Tyrios subieci! 3. Achi dolant! achi dolant! iam volant carbasa! iam nulla spes Didonis! ve Tyriis colonis! plangite, Sidonii, quod in ore gladii deperii per amorem Phrygii predonis! 4a. Eneas, hospes Phrygius, Iarbas, hostis Tyrius, multo me temptant crimine, sed vario discrimine. nam sitientis Libye regina spreta linquitur, et thalamos Lavinie Troianus hospes sequitur! quid agam misera? Dido regnat altera! hai, vixi nimium! mors agat cetera! 4b. Deserta siti regio me gravi cingit prelio, fratris me terret feritas et Numadum crudelitas. insultant hoc proverbio: 'Dido se fecit Helenam: regina nostra gremio Troianum fovit advenam!' gravis conditio, furiosa ratio, si mala perferam pro beneficio! 5a. Anna, vides, que sit fides deceptoris perfidi? fraude ficta me relicta regna fugit Punica! nil sorori nisi mori, soror, restat, unica. 5b. Sevit Scylla, nec tranquilla se pro mittunt equora; solvit ratem tempestatem nec exhorret Phrygius. dulcis soror, ut quid moror, aut quid cessat gladius? 6a. Fulget sidus Orionis, sevit hiems Aquilonis, Scylla regnat equore. tempestatis tempore, Palinure, non secure classem solvis litore! 6b. Solvit ratem dux Troianus; solvat ensem nostra manus in iacturam sanguinis! vale, flos Carthaginis! hec, Enea, fer trophea, causa tanti criminis! 7. O dulcis anima, vite spes unica! Phlegethontis, Acherontis latebras ac tenebras mox adeas horroris, nec Pyrois te circulus moretur! Eneam sequere, nec desere suaves illecebras amoris, nec dulces nodos Veneris perdideris, sed nostri conscia sis nuntia doloris!

Abkürzungen

 

CB Carmina Burana

ER Eneasroman

RdE Roman d'Eneas

Str. Strophe

 

Literaturverzeichnis

 

a) Text-Ausgaben

 

Aristoteles, Nikomachische Ethik [Werke, Bd. 6], Hellmut Flashar (Hg.), Darmstadt 1974

Carmina Burana, Schmeller, J.A. (Hg.), Breslau 1904

Carmina Burana, Alfons Hilka/Otto Schumann (Hg.), 1: Text, 2: Die Liebeslieder, Heidelberg 1941

Carmina Burana, Alfons Hilka/Otto Schumann (Hg.), 2: Kommentar, 1: Die moralisch-satirischen Dichtungen, Heidelberg 1961

Carmina Burana (Faks.), Bernhard Bischoff (Hg.), München 1967

Carmina Burana, Günter Bernt (Anm. u. Nachw.), Zürich/München 1974

Carmina Burana, Benedikt Konrad Vollmann (Hg.) [Bibliothek des Mittelalters, Bd. 13], Frankfurt a.M. 1987

Carmina Burana (Auswahl, lat./dt.), Günter Bernt (Hg.), Stuttgart 1995

Gottfried von Straßburg, Tristan (3 Bde.), Rüdiger Krohn (Hg.), Stuttgart 1994

Graf Rudolf, Peter F. Ganz (Hg.), Philologische Studien und Quellen, Heft 19, Berlin 1964

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Heinrich von Veldeke, Eneasroman (mhd./nhd.), Dieter Kartschoke (Hg.), Stuttgart 1989 Konrad von Würzburg, Engelhard [Altdeutsche Textbibliothek, Nr. 17], Ingo Reiffenstein (Hg.), Tübingen 1982

Ovidius Naso, P., Heroides - Briefe der Leidenschaft (lat./dt.), Wolfgang Gerlach (Hg.), München 1952

Ovidius Naso, P., Fastorum Libri VI, Rudolf Ehwald/Friedrich Walter Levy (Hg.), Leipzig 1924

Roman d'Eneas (altfrz./dt.), Monica Schöler-Beinhauer (Hg.), München 1972

Sophokles, Tragödien, Wolfgang Schadewaldt (Hg.), Zürich/Stuttgart 1968

Tertullian, Opera, Pars I: Opera Catholica, Adversus Marcionem [Corpus Christianorum, Series Latina I], Turnholti 1954

Tullius Cicero, M., Orationes, Bd. 5, Wilhelm Peterson (Hg.), Oxford 1952 Tullius

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Vergilius Maro, P., Aeneis (dt.), Emil Steiger (†bers.), München 1985

Vergilius Maro, P., Aeneis (dt.), Wilhelm Plankl (Hg.), Stuttgart 1987

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Vergilius Maro, P., Dido und Aeneas - Das 4. Buch der 'Aeneis' (lat./dt.), Edith und Gerhard Binder (Hg.), Stuttgart 1991

 

b) Sekundärliteratur

 

Bauss, H., Studien zum Liebesdialog in der höfischen Epik, Diss., Marburg 1937

Bischoff, Bernhard, Carmina Burana, Einführung zur Faksimile-Ausgabe der Benediktbeurer Liederhandschrift, München 1967

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Grimm, Jacob, Deutsche Rechtsaltertümer, Bd. 1, Leipzig 41922

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Kaschnitz, Marie Luise, Griechische Mythen, Hamburg 1943

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Der Autor:

 

Jörg Dendl, Jahrgang 1964, studierte an der Freien Universität Berlin Alte und Mittelalterliche Geschichte und Ältere Deutsche Literatur. Von 1991 bis 1998 war er redaktioneller Mitarbeiter des historisch-archäo­logischen Magazins G.R.A.L., in dem zahlreiche Aufsätze und Rezen­sionen von ihm erschienen. Neben der Literatur des Mittelalters befaßt er sich intensiv mit der Geschichte des Heiligen Landes im Mittelalter. Seit 2006 betreibt er den Verlag Jörg Dendl. Bisherige Publikationen: Herkunft und Verbleib der Bundeslade aus historischer Sicht (Berlin 1992), Platons Atlantis - Mythos, Forschung und Kritik (Berlin 1994), Fliegende Schilde und Schlachten am Himmel (Berlin 1997), Chinas phantastische Vorzeit (Berlin 1998), Wallfahrt in Waffen - Der erste Kreuzzug ins Heilige Land (München 1999), Eine kurze Geschichte der Kreuzzüge, Saxa et Libri, Bd. 1, Lahr 2007, Der Tempel Salomos und seine Schätze, Saxa et Libri, Bd. 2, Lahr 2007, Die Templer und ihr Mythos, Saxa et Libri, Bd. 3, Waldkirch 2007, Amerikafahrten vor Columbus, Saxa et Libri, Bd. 4, Waldkirch 2008, Friedrich II. im Heiligen Land, Saxa et Libri, Bd. 5, Waldkirch 2008, Bethlehem: Die Geburtskirche, Saxa et Libri, Bd. 6, Waldkirch 2008, Nostradamus und die Apokalypse, Saxa et Libri, Bd. 9, Emmendingen 2008

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Tag der Veröffentlichung: 19.02.2009

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