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Nachtmensch

Allein steh ich in der Menge umgeben von schwarz gekleideten Menschen. Einige schreiten rhythmisch vor und zurück auf der vertieften Fläche aus weißem Marmor. Andere tanzen auf der Stelle und nehmen zu den dunklen Klängen sich ständig verändernde Posen ein, die in einen seltsamen Zusammenhang mit der dämonischen Klangwelt stehen.

Der Wechsel zwischen Dunkelheit und grellen weißen, roten und blauen Lichtblitzen lässt mich eine Sonnenbrille tragen, durch die ich nur Gestalten sehe, schemenhafte Reflexionen menschlicher Wesen, deren mystischer Aspekt auf diese Weise in den Vordergrund tritt. Die Atmosphäre des Raumes versetzt mich in eine tranceartige, düstere Stimmung, die meinen Geist weitgehend ausschaltet und die Musik direkt auf das Unterbewusstsein wirken lässt. Mein linkes Sprunggelenk, in dem sich seit einem Arbeitsunfall vor sieben Jahren kein Knorpel mehr befindet, so dass die Knochen aneinander reiben, schmerzt.

Ich beobachte eine kleine Frau mit schwarz gefärbten Haaren und bleichem Gesicht, in dem die schwarz geschminkten Lippen, Augenbrauen und Fingernägel dämonische Akzente setzen. Ihr schlanker Körper ist mit zwei Ketten, einem Geflecht und einer kurzen, knappen, eng anliegenden Hose bekleidet sowie einem schmalen Tuch, das die kleinen Brüste verbirgt. Bis auf die Ketten ist alles schwarz, eigentlich überflüssig, es zu erwähnen. Die Komposition aus Körpersprache, fettem, strähnigen, mittellangen Haar und den vollen Lippen mit dem harten Ausdruck fasziniert mich.

Ihr durchtrainierter Leib bewegt sich huschend zu dem schnellen, monotonen Stakkato der ineinander verflochtenen elektronischen Rhythmen vor und zurück. Genau im Takt ein Schritt zu jedem Beat. Sie nimmt eine leicht gekrümmte Haltung ein. Ihre nackten X-Beine mit den runden Stiefeln sind dabei in den Kniekehlen leicht gebeugt. Ich bewundere ihre Kondition. Es sieht so leicht aus und wirkt nicht gehetzt. Durch ihre schnellen Bewegungen bringt sie die Dynamik des Rhythmus zum Ausdruck, ohne die Tragik der düster-magischen Klänge mit den verzerrten Stimmen und den sarkastisch makabren Texten zu vernachlässigen, denn ihr Oberkörper bleibt dabei weitgehend unbeweglich.

Das Stück wechselt. Kurzfristig vermengen sich die Songs zu einer Soundkollage, aus der sich die bekannten Konturen eines EBM-Hits herausschälen. Malerische Gestalten, strömen aus allen Richtungen auf die marmorweiße Fläche. Der Light-J bläst Unmengen milchigen Rauches in die tanzende Menge, bis die einzelnen nur noch schemenhaft in den kurzen Momenten, in denen Lichtblitze die Dunkelheit zerreißen, zu erkennen sind. Langsam lichtet sich der Nebel.

Still steht ihre kleine Gestalt inmitten zahlloser Menschen, deren Individualität unter dem intensiven Eindruck, den sie auf mich macht, verblasst. Blaue tanzende Dreiecke aus Licht zeichnen sich auf dem Marmor zu ihren Füssen ab und vereinen sich immer wieder kurzfristig zu einem Pentagramm, in dessen Mittelpunkt sie steht. Sie posiert. Mit dramatischer Geste hält sie die angewinkelten Arme hoch, die Handflächen nach außen, die Finger gespreizt, so dass das Gesicht mit den vollen harten Lippen und den weit geöffneten schwarzumrandeten Augen, die ausdruckslos ins Leere starren, auf eigenartige Weise betont wird. Seltsamerweise hat sie jetzt O-Beine. Diese scheinen mit dem Boden verwachsen zu sein; lediglich ihr leicht nach vorn gebeugter Oberkörper gleitet in langsamen und zuckenden Bewegungen hin und her, vor und zurück, während sie den Kopf in den Nacken legt und die Brust herausstreckt. Ihr ganzer Körper scheint unter Spannung zu stehen als ob ihn die Musik zerrisse, denn alle ihre Bewegungen vollziehen sich in vollkommenem Einklang zu den akustischen Abgründen, die mit tausenden von Watt durch die Stille des Raumes peitschen.

Ich erwache durch den Schmerz in meinem Sprunggelenk und ziehe mich auf die Bühne hinter mir an der Kopfseite des sporthallengroßen Raumes zurück. Darauf steht ein bizarres quaderförmiges Eisengestell. Es erinnert an eine Maschine aus der Frühzeit der Industrialisierung und ist etwa einen Meter achtzig hoch und ungefähr genau so breit. In dem etwa zwei Meter hohen rechteckigen Metallrahmen an der Frontseite ist ein X geschweißt. Die Kreise der Enden der Diagonalen sind in ihrer Mitte durch eine knochenartige kurze Stange durchbrochen, auf die jeweils eine Kugel aufgesetzt wurde. Man könnte ohne weiteres jemanden daran anketten, der dann mit gespreizten Beinen und Armen ausgestreckt in dem Rahmen stehen würde. Das Gestell mit dem X und der daran gefesselten Person lässt sich mit einem Flaschenzug in die Waagerechte bringen. Die Bretter auf der Rückseite weisen Aussparungen für Kopf und Gelenke auf. Kleine Scheinwerfer beleuchten gespenstisch die vier Eckstangen des Quaders. Rechts an der Verstrebung hängen noch ein paar schmale Kunststoffhandschellen. Ich finde das Ding etwas unpraktisch, verfolge den Gedanken aber nicht weiter, sondern setze mich unter die Maschine, wo ich mein verletztes Bein auf eine der Haltevorrichtungen aufstützen kann, um mich dann entspannt mit dem Rücken an eine vergitterte Querstrebe zu lehnen.

Zufrieden betrachte ich meinen linken Stiefel mit der Spezialpolsterung und dem grobstolligen Profil der Sohle aus meiner Augenhöhe. Das matte Leder passt gut zu der uralten, grauen Jeans mit den zerfransten Säumen, die sich im Laufe der Jahre perfekt an meinen Körper angepasst hat. Genüsslich drehe ich mir eine Zigarette, nachdem ich das Päckchen Tabak mühsam aus der engen Tasche gezogen habe und inhaliere tief. Ich fühle mich wie ein alter lädierter Veteran, dessen abgetragene Ausrüstung wegen ihrer hohen Qualität noch intakt ist. Doch es wird Zeit für die letzte Schlacht. In meinem Lebensentwurf war das Alter, das ich inzwischen erreicht hatte, einfach nicht vorgesehen... Was bin ich eigentlich? Freak, Hard Core, Wave? Nichts passt mehr. Eine Urform der Kids, die sich auf der Tanzfläche vor mir bewegen, ein Fossil aus den Achtzigern.

„Hey, hey, my, my Rock´n Roll will never die… out of the blue and into the black…“ Ein alter Song von Neil Young kommt mir in den Sinn, als ich mich erinnere, wie sich die endlose Euphorie der Siebziger mit ihrer strahlend warmen Sonne, den hellblau verwaschenen Jeans und der verlogenen Naivität des Love, Peace and Happiness in das tiefe Schwarz der Achtziger verwandelte und ich lernte, meine Melancholie zu genießen.

Langsam lasse ich den Blick durch den Raum wandern. Ich suche die kleine Frau oder jemand anderen, dessen Charisma meine Aufmerksamkeit fesseln könnte. Meine Augen finden sie am Rande der Tanzfläche stehend. Sie hat sich inzwischen in ein junges Mädchen verwandelt, das eifrig mit seiner Freundin schwatzt.

Auf dem Rücken trägt sie einen dieser süßen Plüschtaschenteufelchenrucksäcke in dem sie ihren Kram aufbewahrt, für den sie in ihrer knappen Kleidung ja auch gar keinen Platz hat. Wenige Augenblicke später steht sie allein und schaut gedankenverloren in meine Richtung. Sie ist wieder die kleine Frau mit der tragisch-düsteren Aura, den vollen schwarz geschminkten Lippen und dem harten Gesichtsausdruck... „Oh, Alte, du hast den Wahn, und du wirst ihn nie wieder los.“ Endlich leert sich die Tanzfläche, weil ein unbekanntes Stück mit komplizierterem Rhythmus gespielt wird. Ich krieche unter der Foltermaschine hervor und schwinge mich unter dem Geländer, das die Bühne sichert, durch, sorgfältig darauf achtend, auf dem rechten Bein zu landen. Es tut so gut, wenn der Körper wieder funktioniert und wenigstens ein Teil der alten Kraft zu spüren ist. Ich schließe die Augen, nachdem ich mich kurz umgesehen habe, um sicherzugehen, dass niemand in meiner Nähe tanzt und beginne, langsam den Oberkörper zu den magischen Klängen, die mich in ihren Bann ziehen, zu bewegen, wobei ich vorsichtig mein linkes Sprunggelenk belaste. Der Fuß hält, und ich steigere mich mit raumgreifenden Schritten in die Musik. Das Bewusstsein schaltet sich aus und ich kann endlich vergessen.

In den folgenden Monaten sehe ich diese faszinierende, kleine Frau jeden Mittwochabend, wenn die Kreaturen der Nacht sich im Kick versammeln. Es sind immer wieder dieselben Gestalten in ihrer malerischen Aufmachung, die der Veranstaltung allmählich etwas Rituelles geben. Twilightzone, etwa 50 Personen verteilt in einer Halle spulen in jeder Nacht das gleiche Programm ab, vollziehen dieselben Bewegungen zu denselben Klängen, im Zwielicht der gedämpften Scheinwerfer, die immer neue Muster auf den weißen Marmor zeichnen. Nur gelegentlich zerreißen Lichtblitze das Halbdunkel und lassen für den Bruchteil einer Sekunde die Tänzer wie erstarrte Schaufensterpuppen wirken.

Eines Nachts sitze ich neben einer Säule an der Tanzfläche. Sie setzt sich auf die andere Seite und schaut mich verständnisvoll an. Wir haben schon oft nebeneinander getanzt. Ich ignoriere sie dann, um besser in der Musik versinken zu können. Danach bin ich jedes Mal zu sehr in Trance, um ein Gespräch zu beginnen.

Auch dieses Mal bleibe ich teilnahmslos am Boden sitzen. Ich bin ausgebrannt. Nach einer Weile steht sie ärgerlich auf und sieht beim Weggehen in einer Mischung aus Trauer, Verachtung und Zorn auf mich herab. Es berührt mich nicht. Denn meine innere Leere verleiht mir eine stoische Ruhe, die durch nichts zu erschüttern ist. Ich warte auf den nächsten Song, der DJ spielt „Bauhaus“. Der Refrain des Stückes hat ein Wort das sich in mein Hirn brennt: „undead, undead, undead...“, und wieder vergesse ich tanzend die Welt um mich. In den folgenden Monaten wartete ich vergeblich auf die kleine Frau mit dem schwarzen Haar, dem harten Mund und dem Kettendress. Ich vermisste die Inspiration, die mir ihr Tanz gab.

Irgenwann sah ich sie mit ihrem neuen Freund. Sie trug jetzt keine selbstgefertigten Sachen mehr, sondern eine weiße Bluse zu schwarzem Mini und ein paar überdimensionierte Schnürstiefel mit enorm dicken Sohlen. Ihr Begleiter war ein vollbärtigem Mann in Lederhose und Stoffjacket. Er trug Lederhanschuhe. Beide entsprachen damit vollkommen dem sadomasochistischen Dresscode der Szene, die neben schwarz nur etwas weiß und rot zuließ. Sie konnte leider kaum noch tanzen in ihren klobigen Stiefeln.
Ich bedauerte, dass sie ihre Kreativität und Unbefangenheit verloren hatte. Vorbei war es mit der Inspiration und ich verlor sie engültig aus den Augen.

Gelangweilt wandern meine Blicke durch die weite dunkle Halle mit dem weißen Marmorboden. Ich sitze wieder unter der Foltermaschine, als sich eine ausdrucksstarke Tänzerin der EBM und Industrials zu mir herunterbeugt. Ihre grazile Laszivität hatte mich zu dem Gedicht „Scharfe Schwester“ angeregt. Sie konnte wegen einer Schwangerschaft nur noch Posen einnehmen, hatte sich in ihrer lässigen Art aber auch vorher nicht überanstrengt. Ich fragte sie nach der kleinen Tänzerin: „Sag mal, hast du die Lütte mit den Ketten in der letzten Zeit gesehen?“ Sie schaute mich seltsam an und sagte: „Ach die, die kommt nicht mehr, die liegt mit 30 kg auf der Intensiv... Magersucht.“ Nachdem die Bedeutung dieser Worte durch mein Hirn verarbeitet worden war, rufe ich aus: „Mein Gott...“ und fange plötzlich an zu lachen.

„Ach, ganz vergessen – Gott ist ja schon lange tot.“


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.07.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Den Kindern der Nacht in den Labyrinthen der Macht.

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