Leerlauf
Ein Funken seines Verstandes glomm noch im trüben Grau des späten Nachmittages eines viel zu kalten Mais, als er sich der Aussichtslosigkeit seiner Lage bewusst wurde. Nur die Trägheit seines vollen Bauches hielt seine Instinkte davon ab, ihn in Angst und Verzweiflung zu stürzen.
Stattdessen verlor sich sein Blick auf das schwarz-weiße, florale Muster des Gardinenstoffes, den er
straff vor das Fenster gespannt hatte. Der Tinitus hatte sich gleich beider Ohren bemächtigt und nur das Klappern der Tastatur und das ewig gleiche, leise Heulen des Lüfters seines alten PC's, der nur noch als nacktes Skelett seinen Dienst verrichtete drang an sein Ohr.
Er schrieb ziellos vor sich hin. Eigentlich liebte er es Gedichte zu schreiben, doch die Virtuosität, mit der er manchmal seine Sprache beherrschte, schien längst am profanen Sein zerbrochen. Bedächtig strich er mit dem Daumen über die Stoppeln an seinem Kinn, als er über den weiteren Verlauf des Textes nachdachte. Die Muße um Schreiben hatte er nun, doch, es fehlte an Inspiration. Die Ereignislosigkeit seines einsamen Lebens hatte seiner einst blühenden Fantasie die Flügel gestutzt. Auch konnte er sich nicht mehr dem Rausch der Musik hingeben und die kindliche Kraft zu träumen, welche ihm bis in das fortgeschrittene Alter Trost gespendet hatte, war versiegt.
Er hatte ein paar Seiten Oscar Wilde aus einem Buch gelesen, indem sich das englische Original seitenweise mit der deutschen Übersetzung abwechselte und war noch ein wenig erschüttert, von dem Verlust an Eleganz und Ausdruckskraft, der sich aus der Übersetzung ergab. Und doch musste er immer wieder auf die Übersetzung zurückgreifen, um die altertümliche, poetische Sprache des genialen Romantikers zu verstehen.
Voller Genuss zog er an seiner selbst gedrehten Zigarette und fand etwas Befriedigung darin, dass sich die leeren Zeilen auf dem alten Bildschirm füllten. Er sann gerade darüber nach, welche Wendung er seiner Geschichte geben könnte, um sich nicht gänzlich in der inhaltsleeren Schilderung seines Befindens zu verlieren, als ihm der Gedanke an eine Schale Tee in den Sinn kam. Gesagt, getan und schon sah er den Dampf über der goldbraunen Flüssigkeit in einer ockerfarbenen Keramikschale aufsteigen und meinte den süßlichen Geschmack des heißen Getränkes zu schmecken, welches er auf der Stelle zubereitete.
Als er in die Küche kam, hing noch der strenge Geruch des Atlantik Seelachses in der Luft, welchen er sich zusammen mit einer großen Portion von ungeschältem Reis und etwas Tiefkühlgemüse zum Mittagessen zubereitet hatte. Er beobachtete den Teebeutel, dessen Konturen langsam im heißen Wasser verschwanden, als es sich allmählich eintrübte und versuchte sich daran zu erinnern, vor wievielen Minuten er das Getränk aufgegossen hatte. Als das Papiersäckchen endgültig aus einem Sichtfeld verschwunden war, beschloss er es an dem dünnen Faden aus der Schale zu ziehen und in der großen Kaffeetasse zu deponieren, die gleich daneben stand. Während er den Süßstoffspender mit der roten Kappe betätigte, stieß er leicht an die leere Plastikflasche einer billigen Cola-Light, deren Geschmack er nur mit etwas industriell gepresstem Zitronensaft ertrug. Sizilia stand auf dem gelben, zitronenförmigen Plastikfläschchen mit der lang gezogenen Spitze. Sizilien, dachte er, das Land wo die Zitronen blühen … Er bedauerte, dass er keine romantische Aufwallung in sich verspürte, da die Assoziationen von Mafia, Staatsverschuldung und verfallenen Sozialwohnungsblocks dieses nicht zuließen.
Während er erneut zur Teeschale griff, stieß er vor die gelbe Plastikflasche, die mit leisem, hohlem Klang auf den alten, defekten Drucker fiel, den er bei seiner Schwester abgestaubt hatte. Er sammelte alte PCs und alles was damit zusammenhing. So war immer irgendetwas zum Schreiben verfügbar. Fast so wie der Schrottplatzbesitzer, der sich aus seinem Vorräten ein Auto zusammenbastelt. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, auch für nur kleines Geld etwas Neues anzuschaffen, solange das Alte noch seinen Dienst versah. Man konnte Jahrzehnte auf die neuesten Errungenschaften der Elektronikbranche verzichten, ohne auch nur im Mindesten auf eine Funktionalität, oder gar auf Qualität zu verzichten. Sein Fernseher war bestimmt schon an die zwanzig, dreißig Jahre alt. Ein Spitzengerät der Firma Grundig, welches sich nach einiger Zeit von selbst ausschaltete, wenn man es über die Fernbedienung standby schaltete. Irgendwie hatte es mit der Temperatur zu tun, jedenfalls sprang der grüne Knopf zum Einschalten dann mit einem lauten Knall heraus. So etwas wird heute gar nicht mehr gebaut. Flachbildschirme überleben gerade mal die Garantiezeit und haben auch kein schärferes Bild.
Er beobachtete eine Weile die Tabakkrümel auf seinem schwarzen Sweatshirt und überlegte, ob er sich heute noch vollständig anziehen würde. Doch es war sinnlos. Zwar hatte er die Heizung schon vor mehreren Wochen ausgestellt, doch die bunten Wollsocken, welche im seine Mutter vor einigen Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, hielten ihn warm. Lieber schaltete er die orange Leuchtstoffröhre aus dem Baumarkt ein, die den Raum mit einem warmen, spätsommerlichem Licht erfüllen würde. Mühelos fand er den Schalter, der zwischen den drei alten Computern verborgen lag, von denen noch zwei klaglos ihren Dienst verrichteten, während der Dritte als Ersatzteillager diente. Doch nur trübe erhellte die Leuchtstoffröhre den Raum. Sie würde seine Stimmung kaum heben und seine Seele mit der sanften Wärme erfüllen, die ihm so fehlte.
Sein Leben war in Unordnung geraten und obwohl er sich schon seit Wochen von den Strapazen seiner letzten Erwerbstätigkeit erholte, wollte es ihm nicht gelingen sich aufzuraffen um irgendetwas Befriedigendes mit dem Reichtum an Zeit, der ihm geschenkt worden war anzufangen. Wie erzählt man eine Geschichte? Er drehte sich eine weitere Zigarette und dachte darüber nach, dass diese Frage eigentlich müßig sei. Er hatte ja doch nichts zu erzählen und eine jahrelange, mühselige Recherche erschien ihm nicht sehr verlockend.
Er spuckte die Tabakkrümel aus, die ihm in den Mund geraten waren und beschloss diesen Text als Kurzgeschichte unter dem Titel „Keine Geschichte“ zu veröffentlichen, verwarf diesen Gedanken aber sofort und strich sich die Tabakkrümel von den Lippen. Stillleben vielleicht? Mit drei L, ein glatter Stilbruch. Aber auch diese Idee war nur ansatzweise kokett und wenig originell. Schließlich entschloss er sich diesen Text „Schriftstellerischen Leerlauf“ zu nennen und einige Leser in den Literaturforen des Internets damit zu beglücken. Mit Rücksicht auf sie betätigte er die automatische Rechtschreibkorrektur … und hoffte auf eine akzeptable Interpunktion.
Texte: Urheberrecht beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 07.07.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Den Träumerinnen