Goldener Mond, vergängliche Pracht,
unser Lied hallt durch die Nacht.
Wir sind Blutrot und Himmelblau,
vereinen uns mit zartem Band -
Flammend' Feuer und eisig' Tau
tropft vom fernen Himmelsrand.
Immerwährend einsame Wacht,
unser Lied hallt durch die Nacht.
Wir treten aus dem Dunkeln,
weise Hüter dieser Welt -
seht mit uns das Funkeln
am ewig schönen Sternenzelt.
Geschwisterlich geteilte Macht,
unser Lied hallt durch die Nacht.
Wir entflohen in die Leere,
gleich Laub umspielt von Wind -
überquerten stille Meere,
waren gemeinsam wieder Kind.
Ein Schrei vor zugeschloss'ner Tür
Ein letzter Ruf in totem Tal
krepiert hier an der Zeit Geschwür
Wir hatten keine and're Wahl
Wir sind die letzten uns'rer Art
Die Welt vergeht in uns'rem Licht
Wir flohen vor des Wahnsinns Saat
Der Krieg war uns're letzte Pflicht
Ein weiter Wasserlauf verlischt
Du schließt die wunden Augen
vor wilder, salz'ger Meere Gischt
wenn Menschen dir das Blut aussaugen
Wir werfen Flammen auf uns selbst
Wir löschen Menschen lächelnd aus,
sodass du über Leichen fällst
Dein Weg, er führt dich nicht nach Haus
Wir ahnen es und lachen.
Ein Schleier legt sich auf die Welt
Ein Schatten breitet Schwingen aus
Ein Mann der sanft ins Blutbett fällt,
er kehrt nicht mehr zurück nach Haus
Ein Wald, der voller Bäume steht,
er lebte seine letzten Stunden
Die Leiche, die um Gnade fleht,
hat in dein Herz die Reu' gesät
Die Krähen picken im Gedärm
im Wettstreit um die letzten Bissen
Der Irrtum breitet solchen Lärm,
dass Hunde auf die Knochen pissen
Es klingen Glocken in der Nacht
Du blickst in tausend leere Seelen
Der Wahnsinn hat sich breitgemacht
Es ist ein Schrei aus tausend Kehlen
Wir fühlen es und lachen.
Im letzten Licht auf dieser Welt
Ein Phönix steigt aus Asche auf
Der Schmerz, der zwischen Menschen fällt,
er treibt die Zeit in ihren Lauf.
Im roten Untergang der Stunde
entfaltet er die schwarzen Schwingen
wir richten uns nur selbst zu Grunde
alsbald wir uns in Ketten fingen.
Die Welt versinkt im Funkenregen
Der Mensch zersetzt sein kaltes Herz
Auf unsren einsam toten Wegen
erleben wir den letzten März.
Die Knochen sind zu Staub zerfallen
Die alte Haut vom Fleisch gefetzt
Der Krieger ist im Blut gefallen
Hat euren reinen Schein benetzt
Wir wissen es und sterben.
Griechische Säulen, von eingemeißelten Weinranken umschlossen, stützten die hohe, gewölbte Decke der Bibliothek. Neumodische Bücherregale in unauffälligen Farben wie weiß und grau bildeten enge, fast zwei Meter hohe Durchgänge.
Dicke Lederrücken standen neben Taschenbüchern, Notizheftchen und einzelnen Pergamentrollen.
Es roch nach frischem Holz, Reinigungsmitteln und altem Papier.
Auf dem Tresen vorm Eingang konnte man Computer benutzen, um einzelne Bücher oder Themenbereiche ausfindig zu machen.
Eine junge Frau stand gerade dahinter und erklärte einer ungeduldigen Kundin die neue Technik.
Dennoch sah man in einem etwas weiter abgelegenen Bereich aufgeschlagene Wälzer auf dunklen Tischen liegen, teilweise in Vitrinen, die vor der schädlichen Luft und Sonnenstrahlung schützten.
Jedem Besucher stach sofort ein rotgoldener Band ins Auge, dessen einzelne Seiten hauchdünn, fast transparent waren.
Wer die schrägen, handgeschriebenen Buchstaben entziffern konnte, dem enthüllten sich auf den Seiten des Buches unbekannte Sagen und Mythen.
Heute lag eine kurze Legende zuoberst, die mit einem wunderschön ausgeschmückten Titel die Augen der Leser auf sich zog.
Regen fiel in dem Moment, als vor fünftausend Jahren die Erde aufbrach und glühende Lava aus ihrem Inneren spuckte. Erdbeben und Flutwellen zerrissen die wenigen menschlichen Siedlungen, die es damals schon gab.
Die Tiere der Wüsten, Steppen und Wälder hatten die Katastrophen schon länger vorausgeahnt, und nur sie hatten die Macht, den kommenden Untergang der Welt zu verhindern.
Denn ihnen wohnte noch die Magie inne, die in ihren Nachfahren längst verstummte. Sie wollten sich und den Menschen helfen, die Krisen zu überstehen, und taten alles für die Welt, in der sie lebten.
Sobald sich das Land wieder beruhigte, die Vulkane und Meere ihren Zorn kundgetan hatten und das volle Maß der Zerstörung ersichtlich wurde, suchten die Tiere die Fähigsten aus ihrer Mitte aus, um sich zusammenzutun und das Land zu heilen.
Vier Tiere, die ihre jeweiligen Elemente verkörperten, trafen auf diesem Schlachtfeld der ungezähmten Naturkräfte zusammen. Sie erkannten, dass sie als Individuen keine Möglichkeiten hatten, die Vernichtung einzudämmen.
Also gaben sie ihre Körper aus, verbanden ihre Seelen in einem unglaublich lange währenden, anstrengenden Akt zu einer einzigen mächtigen Kraft und erschienen in der Gestalt eines wunderschönen, rein weißen Schneeleoparden mit hellen, silbrigen Schwingen.
Wie man sich berichtet, spross unter dessen Tatzen frisches, dunkelgrünes Gras und frühlingshafte Blumen in allen Farben des Regenbogens.
Wo er flog, klarte sich die Luft wieder auf und das Wasser, das er trank, wurde rein und sauber, wie es vor der Verseuchung gewesen war.
Seine salzigen Tränen ließen das vorher blutrot gefärbte Meer klar und tief blau zurück, und durch einen Blick konnte der weiße Leopard die Wunden von Mensch und Tier heilen.
Der Friedensbringer kam durch zerstörte Dörfer und gab den Menschen Lebensmut und Willen, noch einmal von vorne zu beginnen.
Ein halbes Jahr lang reiste er der Spur aus Verwüstung und Chaos nach, bis er schließlich sein Werk getan hatte und alle Lebewesen gleichermaßen ihr Glück fanden.
Der Schneeleopard legte sich nieder und wurde eins mit der Natur, die er geheilt hatte.
Endlich.
Ein sanfter Windstoß ließ die Seiten weiterblättern. Der Zauber der Geschichte verblasste. Die Legende hatte ein Ende. Der Leser kehrte zurück aus der Welt hinter den Seiten und wieder in seine eigene. Ob die Menschen etwas daraus gelernt haben? Wissen sie jetzt, wie wertvoll jedem Lebewesen unser kleiner blauer Planet ist? Die Zukunft wird es zeigen.
Es ist dieser Moment. Winzige Eiskristalle überziehen das Glas des Fensters. Die Stille ist erfüllt von jenen leisen Augenblicken, die schon immer viel zu schnell vorübergehen.
Warme Sonnenstrahlen lassen jede einzelne Schneeflocke schimmern wie einen kostbaren, zarten Diamanten.
Auf der Uhr an der orangefarbenen Wand streichen die Sekunden vorbei. Ein Windhauch lässt Schnee vom Dach und den Ästen der Bäume rieseln. Beete, Büsche und Hecken liegen unter der weißen Pracht begraben, während die Knollen der Pflanzen sehnsüchtig auf den Frühling warteten, auf den Moment, in dem sie ihre zarten, grünen Köpfe aus der gefrorenen Erde strecken können.
Ein zitternder, aufgeplusterter Spatz sitzt auf der Fensterbank und drückt sich nahe an das Wärme ausstrahlende Glas.
Ein Falke fliegt oben in den Wolke, die Flügel ausgebreitet, als wollte er damit die ganze Welt umarmen. Mancher Mensch wünscht sich, er könnte die Freiheit ebenso genießen, vielleicht, um dem Leben und seinen zweifelhaften Qualitäten einen Schritt voraus sein zu können. Alles wird durchgeplant: Schule, Studium oder Ausbildung. Im Endeffekt nimmt dann das Schicksal alles in die Hand. Man kann niemals vorausahnen, was kommen wird, aber wir nehmen alle Erinnerungen mit, positive wie negative. Was wir mit anderen Menschen teilen, Hoffnungen, Gefühle, Weltanschauungen, Hobbys… Das ist es, was verbindet. Und Liebe ist für viele das, was für viele Menschen ihr Leben lebenswert macht.
Kommt man ohne dieses Gefühl aus? Niemals, sagt das Herz. Vielleicht, meint der Kopf.
Es ist fast unmöglich, stellt man später fest.
Das Leben ist hart, für jedermann, egal aus welcher Region der Welt er kommt, wie viel Geld er hat oder was es sonst noch alles gibt. Jeder Mensch hat seine eigenen Probleme, ohne die er vielleicht viel glücklicher sein würde. Aber wie sinnvoll ist es, sich in diese hineinzusteigern? Verliert man dabei den Verstand?
Niemand kann das Leben an sich genießen, jeden Atemzug in vollen Zügen auskosten. Dennoch sollten wir es versuchen und lernen, einen inneren Frieden zu finden. Sich nicht aus der Welt zurückzuziehen und seinen Mitmenschen zu helfen, ist auch wichtig. Einsam ist man nicht glücklich, denn jeder Mensch braucht Freunde und das Gefühl der Geborgenheit.
Wir müssen weitergeben und teilen, was wir bekommen. Gutes tun, um selbst Gutes zu erfahren. Und dem Schrecken des Alltäglichen seine Macht nehmen.
Unter der schützenden Schneedecke wächst eine neue Blume heran. Später werden ihre Samen vom Wind hinweg getragen und entdecken die Welt. Vielleicht werden sich darüber wundern, was für ein unglückliches Völkchen wir Menschen sind. Und warum wir nicht merken, dass Leichtigkeit und Liebe alles ins Gute wenden kann.
Fahles, bläulich schimmerndes Mondlicht schien auf die Blätter am Waldboden und durchdrang die Finsternis am Fuße der riesigen Nadelbäume.
Ein kühler Wind strich über die moosbedeckten Stämme vom Sturm entwurzelter Kiefern, kräuselte das ruhige Wasser eines Gebirgsbachs und formte das knöchelhohen Gras draußen auf der Ebene zu raschelnden Wellen.
Hier, in dieser Nacht, ruhte das Leben. Füchse schliefen wohlbehalten in ihrem Bau, Mäuse kuschelten sich unter das Laub. Selbst die Tiere der Dunkelheit waren noch nicht erwacht, jene leisen, tödlichen Räuber, deren angestammter Platz die Nacht war, denn sie fürchteten das Licht des Mondes.
Wahrscheinlich war Ich das einzige Wesen, das heute hier einsam durch die Wälder streifte. Denn der Tod und seine Geschöpfe schlafen niemals.
Ein Nebelschleier legte sich über den schnell fließenden Bach, der meinen Weg kreuzte, silbrig schimmernd wie eine endlose Schlange aus geschmolzenem Metall.
Ich sah in das Wasser, um wie so oft mein Spiegelbild zu betrachten, und fand es so wie immer:
Ein weißer, muskulöser Puma mit tiefschwarzen Augen blickte zu mir hoch.
Der Wind ließ meine Gestalt verschwimmen, während ein unheimliches Licht, ähnlich dem der Sterne, mein Fell umspielte.
Es hatte sich nichts verändert. Seit tausenden von Jahren blickte ich nun in diesen Bach, und es hatte sich immer noch nichts verändert.
Ich streifte unter den Mammutbäumen hindurch, die ich schon vom Sprössling an begleitet hatte, und wusste, dass ich keine Wahl hatte, als mich in mein Schicksal zu fügen.
Ich als Wächter des Waldes, als Heiler der Seelen.
Konnte meine jemand retten? Ich rief es in die Nacht hinaus, aber aus den Schatten kam keine Antwort. Niemand kam, um mir die Bedeutung des Lebens zu erklären. Was nutzte der andauernde Kampf, wenn am Ende niemand als Sieger daraus hervorgehen konnte? Warum strebte jeder nach Perfektion? Alles war unvollkommen. Weshalb akzeptierte das niemand?
Die Zeit hatte, wie vieles andere für mich, keine Bedeutung mehr.
Schon lange hatte ich gelernt, meinen Körper aufzugeben, ihn in der irdischen Welt zurückzulassen und durch Raum und Zeit zu reisen.
Meist verzichtete ich darauf, denn solche Ausflüge kosteten sehr viel Kraft, und es gab keine Garantie, dass ich wieder ins Jetzt zurückkehren konnte.
Aber wenn ich mich daran erinnerte…
Es war tatsächlich etwas Besonderes in meinem Dasein, das es wert war, dafür Risiken einzugehen. Wenn man in den letzten Frühling zurückkehren konnte, überstand man jeden Winter.
Das fröhliche, hoffnungsvolle Wesen der Tiere hier in den Wäldern erhellte tags die Erinnerungen an die trüben, einsamen Nächte.
Ich musste sie beschützen, das war meine Aufgabe, schon seit ewigen Zeiten. Ich reiste durch die Jahre und durfte meist doch nur zuschauen.
Der Wind verstärkte sich, während die Zweige der Bäume raschelten und die Blätter in den Böen zu tanzen. Ein kühler Hauch ließ mich schaudern. Schnuppernd hob ich den Kopf und bemerkte sofort, dass Regen in der Luft lag. Oben am tiefschwarzen Himmel dräuten Wolken heran und verschluckten das restliche Licht des Mondes. Noch ehe die ersten Tropfen fielen, hallte der Donner, als würde eine mythische Gestalt auf die Felsen einhämmern und mit Gewalt riesige Stücke aus dem Berg brechen.
Kaum zwei Minuten später brach das Wüten der Natur endgültig los. Kaskadenartig ergoss sich der Regen über den Wald, und alsbald klebte das Fell kalt an meinem Rücken.
Ich zog knurrend die Schultern ein und legte genervt die Ohren an.
Die Dunkelheit vertiefte sich, während ein grausam peitschender Sturm die Kiefern unerbittlich zur Seite drückte. Tiefe Pfützen bildeten sich in den wenigen geschützten Kuhlen am Erdboden.
Ich setzte mich unter den gewaltigen Stamm eines Mammutbaumes und beobachtete lange, wie Blitze am Himmel von einer Wolke zur Nächsten zuckten.
Ein grell Weißer schlug in einen Höhenzug nicht weit entfernt ein.
So, wie es jetzt aussah, konnte der Sturm noch einige Zeit dauern.
Verfluchtes Nordamerika, dachte ich und machte es mir unter einer Wurzel des Baumes bequem, die gewölbt in die Luft ragte und so einen sicheren Platz gegen die Flut bot.
Ich legte die Pfoten übereinander und schaute den Tropfen beim Fallen zu.
Draußen tobte der Wind unvermindert weiter, Donner hallte von der einen Bergflanke zur Anderen, und immer noch trommelten große Hagelkörner auf die Steine.
Ich schloss die Augen, und selbst wenn ich niemals schlafen konnte, so drifteten meine Gedanken dennoch in die Ferne ab, ich sehnte mir den Tag entgegen, den Moment, wo ich wieder die aufblühenden Blumen auf der Ebene sehen und die Nacht hinter mir lassen konnte.
Es juckte mir in den Fingern, einfach durch die Zeit zu reisen, aber ich durfte meine Fähigkeiten nicht wahllos gebrauchen, denn das war es, was mich von den anderen, seelenlos gewordenen Geistern unterschied.
Zwei weitere Stunden später ließ es endlich ein wenig nach.
Ich schüttelte mich und tapste benommen aus meinem Versteck. Zum ersten Mal drang ein Lichtstrahl der Sterne durch das Blätterdach.
Bald würde der Morgen anbrechen, der Horizont färbte sich schon langsam heller.
Ich atmete tief ein und genoss die Stille, die sich über den Wald gelegt hatte. Nachdem das Gewitter weiter gezogen war, lebte die Natur wieder auf und erwachte aus ihrem nächtlichen Schlaf. Tautropfen überzogen das Moos auf den Bäumen, die Luft roch nach frischem Gras und Tannennadeln.
Ich saß einfach nur da und beobachtete, wie die Sonne langsam hinter den Bäumen auftauchte und ihren rosigen Schein über die Welt legte.
Plötzlich und völlig unerwartet drang ein leiser, erschöpfter Ruf an meine Ohren, weshalb ich mich schnell umdrehte und mit großen Augen nach dem Ursprung des Schreis suchte.
Ein kleines Füchschen trottete müde aus einem Dornbusch heraus, das Fell voller Stacheln.
Erstaunt beobachtete ich, wie es den Kopf langsam hob und dann, als es mich erkannte, erleichtert auf mich zu kam.
“Rhydian!”, sagte der kleine Fuchs und hoppelte einige Meter näher.
Besorgt musterte ich ihn. “Was ist denn passiert?”
Er tapste auf der Stelle umher und sah einem Schmetterling hinterher.
“Sag schon”, forderte ich ihn sanft auf und hockte mich hin, sodass ich mit dem Fuchs auf Augenhöhe war.
“Ich hab mich verirrt”, gestand er und fuhr fort: “Bei dem Sturm. Da waren plötzlich so seltsame Schatten unter den Bäumen, und meine Mutter hat gesagt, wir sollten abhauen.”
Vielleicht Wölfe, dachte ich bedrückt und stupste mein kleines Findelkind in die Seite. “Wir finden sie schon wieder. Wo sind denn deine Geschwisterchen?”
“Weiß nicht”, erklärte das Füchschen und blickte sich nervös um. “Ich hab Angst bekommen und bin einfach fortgelaufen. Aber… Rhydian?”
Die letzten Worte hatte ich nicht mehr mitbekommen. Ich schickte meine Sinne auf die Suche nach den Vermissten, schloss die Augen und folgte in Gedanken den Spuren der Füchse.
Das war mehr als eine einfache Konzentrationssache. Als Geist verfügte ich zwar über gewisse Fähigkeiten, aber schwierig war es jedes Mal wieder.
Endlich hatte ich sie entdeckt. “Komm mit”, rief ich dem kleinen Fuchs zu und sprintete los. Meine Füße folgten einer deutlichen Linie, die ich in Gedanken gezogen hatte, und die mich zu einer einsamen kleinen Lichtung führen würden. Nach zwei Minuten nahm ich das Füchschen auf meinen Rücken und flog regelrecht durch die Luft. Vielleicht kam ich zu spät.
Oh bitte, ich musste es schaffen, denn ich spürte auch eine dunklere Gegenwart, die nichts Gutes bedeuten konnte. Je näher wir kamen, desto klarer sah ich im Geiste die Umrisse dreier Wölfe vor mir, die eine kleine Gruppe Füchse umkreisten.
Verdammt.
Mit einem gewaltigen Satz brach ich durch das Unterholz, hinaus auf die Lichtung, und spürte, dass es zumindest für einen von ihnen zu spät war.
Der Fuchs auf meinem Rücken begann, zu wimmern und krallte sich in mein Fell, während ich langsam den Blick zur Seite wandte und sah, wie die Wölfe ehrfurchtsvoll vor mir zurückwichen.
Eigentlich griff ich niemals in den ewigen Kreislauf ein. Fressen und gefressen werden, so lautete das immer wieder zitierte Gesetz.
Die drei Raubtiere warfen einen misstrauischen Blick auf mich und verschwanden dann in den Schatten.
Bedächtig schritt ich auf die vor Angst zitternden kleinen Füchschen zu, die am Boden kauerten und sich um den Körper ihrer toten Mutter geschart hatten.
Ich spürte meinen Begleiter von seinem Sitzplatz springen, fassungslos und unsicher auf den Beinen wie ein junges Reh.
Mühsam setzte ich mich neben sie, begutachtete, plötzlich traurig geworden, die lange, blutende Wunde, die sich über die Seite der Füchsin zog, und bedauerte, dass ich nicht früher gekommen war.
Eine halbe Ewigkeit später fragte ein sehr junger Fuchs mich mit rauer Stimme: “Rhydian, kannst du nichts tun? Kann sie ein Geist werden?”
Ich starrte ihn an. Sollte ich? Schließlich stand es mir frei, ihre Seele nun an die Welt zu bannen.
“Ich tue es”, sagte ich mit belegter Stimme, und beugte mich über den reglosen Körper der Füchsin.
“Erwache”, befahl ich. “Bleib bei uns.”
Ich fing ihren Geist auf, schloss ihn wieder in sein irdisches Gefäß ein und schloss die Augen, als eine Welle aus Erschöpfung über mich hereinschlug.
Ein silberner Schleier wehte durch die Luft und hüllte den toten Fuchs ein. Mit einem Seufzen regte er sich und hob den Kopf.
“Guten Morgen, meine Liebe”, begrüßte ich sie sanft.
“Rhydian… Ich glaub´s nicht!” Sie blickte an sich herunter und bemerkte, dass sich ihr früher rötliches Fell komplett weiß gefärbt hatte. Die Füchse drängten sich um ihre Mutter.
“Danke”, sagte sie.
Und so blickten nun zwei Wächter dem neu beginnenden Tag entgegen.
In dieser Nacht war die Luft klar und kalt, vom dunkelblauen, fast schwarzen Himmel funkelten die Sterne. Mondlicht fiel auf die Betonfliesen eines einsam daliegenden Bahnhofgebäudes, das ins kühles Neonlicht der Straßenlaternen getaucht war.
Der Wind fuhr über die Schienen, zerrte mit unsichtbaren Fingern an meinem Mantel und wirbelte eine zerknitterte Papiertüte über das Gelände.
Ich zupfte den Kragen höher in mein Gesicht, schlenderte langsam an den Automaten vorbei und setzte mich allein auf eine hölzerne, schmutzige Bank.
Die kalten Böen hatten jede menschliche Seele längst von hier vertrieben, zusammen mit der unheimlichen Stille und den leeren Hallen, deren Fenster wie tote Augen in die Düsternis starrten.
Alles um mich herum ignorierend lehnte ich mich weiter zurück, betrachtete einen Fleck auf meinen Schuhen und dachte nach.
Warum war ich hier?
Was in aller Welt würde sich je ändern?
Wie in Trance war ich durch die Straßen der Stadt gewandert - erst viel später sollte mir klar werden, dass ich dort, in den Schatten, etwas Verlorenes gesucht haben musste.
Es schien, als käme die Dunkelheit auf mich zu, streckte ihre Arme aus, um mich freundlich zu empfangen, doch ich würde dieser Einladung nicht nachgeben.
Im Prinzip konnte ich auf den Morgen warten und mich dann vor einen Zug werfen - niemand würde später auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden.
Doch zugegeben, das war eine abstrus widerliche Art des Selbstmordes. Es musste einen anderen, würdevolleren Ausweg geben, ich durfte mein Leben nicht so wegwerfen. Trotz allem war jeder Augenblick zu wertvoll, zu einzigartig. Vielleicht war es albern von mir, immer noch Hoffnung zu verspüren, obwohl es hier eisig kalt war und meine Hände bei dem bloßen Gedanken an den nächsten Tag zitterten.
Ich wollte nicht sterben.
Vielleicht schaffe ich es noch eine Weile, einfach meinen Weg fortzusetzen und zu hoffen, dass die Einsamkeit irgendwann endete.
Ist es nicht naiv, dachte ich, daran zu glauben, dass die Zeit Wunden heilte, selbst wenn auch nur die leichtesten? Viel zu lange hatte ich schon darauf gewartet, sagte ich mir und starrte, ohne etwas zu sehen, die Gleise entlang.
Wieder schlug mir der eiskalte, betäubende Wind mit Wucht entgegen. Jeder Atemzug schmerzte in meiner Brust. Einen Moment dachte ich, ein leises, qualvolles Röcheln läge darin, doch ich musste mir eingestehen, dass meine Erinnerung mir wohl einen Streich spielte.
Grausame Gedanken überkamen mich, und plötzlich schien die dunkle Welt um mich herum ein wenig zu verschwimmen.
Ich war nicht einmal dagewesen, als es geschah. Als der Tod zu meiner Anja ans Bett getreten, ihr die Hand gereicht und sie von ihrem Lungenkrebs befreit hatte. Das Ende war schmerzhaft plötzlich und schnell gekommen, nachdem sie schon mehrere Monate darauf gewartet hatte. Ihr Anblick damals hatte mir ein letztes Mal noch das Herz gebrochen.
Verzweifelt stützte ich meinen Kopf in die Hände und versuchte, alles zu vergessen. Doch diese Gnade war mir nicht gewährt: Verdrängen, ja - wirkliches Vergessen, nie. Bitter musste ich mir eingestehen, dass ich schon vor meiner Hochzeit gewusst hatte, was auf mich zu kam. Und dennoch hatte ich Anja geheiratet, um ihr Hoffnung und Stärke zur Therapie zu geben.
Alles war vergebens.
Als der Krebs zurückgekommen war, wurde Anjas Willen gebrochen. Vielleicht gab auch ich mir die Schuld daran; wenn ich ihr nur etwas mehr geholfen und nicht nur Zuflucht im Vergessen gesucht hätte… Immer wieder musste ich mir sagen, dass nichts, nichts in der Welt ihr Schicksal hatte abwandeln können.
Wahrscheinlich wurde ich langsam tatsächlich verrückt. Es gab keinen Ausweg, jedenfalls keinen, der sich mir jemals offenbart hätte. Was mir blieb, war Verbitterung und Einsamkeit. Schuldgefühle. Schmerzhafte Liebe zu längst vergangenen Erinnerungen. Die Trostlosigkeit dunkler Straßen. Immer wieder enttäuschte Hoffnungen, die Suche nach etwas Besserem, nach einem Ziel.
Plötzlich leuchteten zwei grüne Punkte weiter rechts von mir auf. Ich verschob meine Gedanken auf später; Trauer verging nicht.
Das mit den Schatten verschmelzende Wesen war zu klein für einen Hund, aber auch zu groß, zu elegant für eine Ratte.
Kaum zwei Sekunden später trat eine grauschwarz gestreifte Katze mit buschigem Schwanz und verfilztem Fell auf mich zu und schaute mich taxierend und aufmerksam an. Sie war ein Streuner,
eine halb verwilderte, ausgesetzte Hauskatze. Wie ich, nur mit dem Unterschied, dass ich mich selbst ausgesetzt hatte.
Sie schlich um mich herum und ließ es schließlich zu, dass ich ihr Fell mit der linken Hand noch mehr verwuschelte. Schnurrend sprang sie neben mir auf die Bank, setzte sich aufrecht wie eine Sphinx hin und warf mir einen halb misstrauischen, halb zufriedenen Blick zu.
Wir leisteten uns eine halbe Stunde lang Gesellschaft; zum ersten Mal, seit ich vor dem Leben geflohen war, fühlte ich mich ein wenig wohler. Ihr Schnurren ließ sogar ein Lächeln auf meinem Gesicht erscheinen.
Schließlich streckte sie sich, machte einen Buckel und sprang von ihrem behaglichen Platz auf meinem Schoß herab. Fast wollte ich ,geh nicht´ rufen, doch es war eine Katze, verdammt. Eine Weile ärgerte ich mich, doch dann wurde mir klar, dass der Wunsch, nicht allein zu sein, gar nicht so kindisch war.
Ich konnte nichts dagegen tun, dass ich die nächsten paar Stunden noch deprimierter wurde. Die Kälte drang tief in meine Knochen ein, es war fast, als schnitten mir Eissplitter in die Haut.
Einsamkeit überkam mich wie eine donnernde Gewitterwolke; die Blitze daraus schienen mir den Schädel zu spalten.
Es war Zeit. Verdammt noch mal, ich musste hier weg. Bald würde die Sonne aufgehen, der Horizont wurde schon an den Rändern heller.
Endlich stand ich auf, steif vor Müdigkeit, Enttäuschung und Kälte, und verließ den Bahnhof.
Meine Wege führten mich durch die verlassenen Straßen, eine lange, endlos anmutende Einkaufsmeile entlang und weiter in die Vorstädte hinein.
Ein umzäuntes, begrüntes Grundstück zog meine Aufmerksamkeit an. Steintafeln erhoben sich in Reih und Glied auf dem flachen Rasenstück.
Es war ein Friedhof.
Ihr Grab stand in der fünften Reihe, schlicht und ungeschmückt. Nur ein Name und ihre Daten standen in eleganter Schrift auf dem Stein. Ein tränenförmiger Edelstein war hineingelassen worden, als letztes Geschenk von mir an den besten Menschen, der mir je begegnet war.
Ein leichter Windhauch umspielte meinen Mantel und ließ die herbstlich gefärbten Blätter auf dem Boden wirbeln.
Und ich wusste, dass meine Reise - zweifellos eine sinnlose Suche nach Glück - noch nicht beendet war. Nicht heute. Ich schuldete es ihr.
Das war ihr Name. Akina, die Frühlingsblume, eine Blühte, die niemals ihre volle Schönheit entfalten konnte. Die Dunkelheit ihres kleinen Gefängnisses drang in Akinas gelähmte Gedanken ein und fesselte sie an den rauen Boden.
Ihr weißes Fell hatte all seine Pracht verloren, ihre Augen blickten trüb in die konturlose Schwärze.
Ihre gebogenen Krallen fuhren rastlos über Beton und hatten schon Furchen hineingegraben. Seit ihrer Geburt hatte ihr Besitzer über sie verfügt. Wenn Akina nicht tat was er verlangte, sperrte er sie ein.
Sie legte den Kopf auf ihre Pfoten, stumme Tränen rannen ihre Wange herab.
Sie war zu schwach.
Dies ist ein Drabble, das heißt, es ist die Aufgabe, nur 100 Wörter zu benutzen.
Tropf, Tropf.
Es ist nicht dunkel in dieser Nacht. Es ist nicht still. Nicht friedlich. Vielleicht ist es das draußen, im Park und am Fluss, in den Häusern der Reichen.
Doch hier erhellen Neonlampen die Flure, abgeschattet zwar durch dunkle Vorhänge, aber ihr Licht raubt mir den Schlaf.
Tropf, Tropf.
Ich weiß, was geschehen wird. Aber warum kann es nicht sofort passieren? Warum muss ich hier liegen und warten? Was ist das für ein Schicksal?
Tropf, Tropf.
Ich kann meine Arme nicht heben. Wahrscheinlich nie wieder. Sogar meine Augenlider sind zu schwer geworden. Ich werde sie nie wieder öffnen.
Diese Nacht.
Die letzte meines Lebens. Welches Ende es nehmen wird! Früher habe ich mir manchmal vorgestellt, wie ich vielleicht sterben könnte. Ich dachte, ich sterbe für ein Ziel. Um etwas Sinnvolles zu tun, etwas zu beweisen. Doch jetzt beweise ich nur, dass das Schicksal willkürlich mit den Menschen verfährt und es keinen Gott gibt.
Tropf, Tropf.
Als hätten das nicht schon alle gewusst, denke ich. Was kommt nach dem Tod?, frage ich mich. Wohin gehe ich jetzt? Ich will nirgendwo mehr hingehen. Ich will kein zweites Leben. Das erste hat mich genug gelehrt.
Tropf, Tropf.
Wenn ich doch nur gehen dürfte! Die Sekunden zerrinnen und graben ihre Krallen in meinen Geist. Hätte ich eine Wahl gehabt… Was dann? Würde ich nicht mehr hier liegen?
Es ist niemand da. Warum auch? Die Lebenden weilen an anderen Orten.
Ich schreibe diese Zeilen
ganz still und unerhört
Wenn wir unser Schweigen teilen
gibts nichts, das uns zerstört
Ich schreibe diese Zeilen
mit Blut aus meinen Adern
uns're Welt zu teilen
und liegt sie noch so fern
Ich schreibe diese Zeilen
mit Blut auf dies' Papier
um mein Leid zu teilen
wenn ich neben euch krepier'
Ich gehe diesen Weg
ganz still und ungesehn'
Wenn wir unsre Wege teilen
werden wir die Sonne sehn'
Ich gehe meinen Weg
auf Körpern leer und kalt
Ich steh auf meinem Steg
in zorngem Wind, verlier den Halt
Wir leben leise, leben stumm
haben keine Wahl, vergessen
Der Schmerz ist uns'rer Seele Fressen
Wie leise darf ich sein
Ich schreibe laut, ihr müsst es hörn!
Werd' euch im Schlafe störn!
Was uns fesselt, ist die Angst
wenn du um dein Leben bangst
Was uns fesselt, ist die Macht,
Menschen, gebt gut Acht!
Schrei nicht, Schrei nicht!
du bist zu laut
Wein nicht, wein nicht
du bist zu laut
Es ist dieser Pfad
er führt uns an den Rand
Wir verbrenn' die Saat,
die uns einmal verband
Schrei nicht, Schrei nicht!
zähl die stummen Tränen nur
Schrei nicht, Schrei nicht!
Bist allein auf weiter Flur
Tag der Veröffentlichung: 24.01.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses kleine Büchlein den Momenten der Stille, die mich an ferne Orte gebracht haben, und den Momenten des Sturmes, die immer wieder Neues erschufen.