Cover

The Story of Amily Smith

Amily war das einzige Kind des Marineoberoffiziers Arne Smith, einem Kriegshelden von Vietnam. Er hatte damals fünf Kameraden vor dem sicheren Tod bewahrt und wurde vom Präsidenten der vereinigten Staaten von Amerika geehrt. Er hatte sich gewünscht, dass sein Kind ein Junge sein würde, doch dann kam Amily auf die Welt. Ihre Mutter Sarah starb bei der schwierigen Geburt, ihre Tochter hatte sich in der Nabelschnur verfangen und wäre fast erstickt. Arne wusste sofort, dass Amily etwas ganz besonderes war.

Er erzog sie so, wie es sich für einen Offizier gehörte. Schon mit sechs Jahren war die kleine Amily in zwei Nahkampfarten ausgebildet und wusste, wie sie sich im Notfall mit der Waffe ihres Vaters verteidigen konnte. Mit zwanzig Jahren wurde Amily und ihr Vater vom Militär in den Krieg geschickt, doch nur sie alleine kehrte zurück. Arne war gefallen, Traurig musste das Mädchen plötzlich alleine zurecht kommen. Nach der Beerdigung ihres Vater fiel Amily in Depressionen, wurde aggressiv und selbst ihre beste Freundin Amber konnte sie nicht aufheitern.

Eines Tages saßen die Beiden auf der Veranda vor Amily's Haus und besprachen das aller Neueste.

„Ich habe mich verliebt“, lachte sie und strahlte Amber an.

„Wer ist es denn?“

„Billy Baker.“

Amber stutzte, sie kannte den Sohn des Sergeant sehr gut. Er war ein ruhiger Mann im gleichen Alter, aber hatte er nicht schon eine Freundin? Amber sagte nichts, sie wollte keine Vermutung äußern, die Amily wieder in die Depressionen fielen ließ.

„Er wird mich morgen von der Schule abholen“, verkündete Amily lachend, es war das erste Mal nach dem Krieg und der Beerdigung, dass sie lachte.
Amber freute sich für ihre beste Freundin, blieb allerdings skeptisch.

 

Als die Beiden am nächsten Tag aus dem Collage traten stand Billy bereits auf dem Gehweg. Er sah gut aus, sein kastanienbraunes Haar fiel im lässig ins Gesicht, seine Lederkleidung schmiegte sich an seine Muskeln.

„Hallo“, begrüßte Amily ihn mit einem roten Schimmer auf dem Gesicht.

„Hallo“, erwiderte Billy und drückte dem Mädchen einen schüchternen Kuss auf die Wange.

Warum küsst er mich nicht richtig?, dachte Amily und sah ihn verzweifelt an.

„Ich habe da was für dich“, sagte Billy und überreichte ihr einen Brief.
„Du schreibst im Zeitalter von Handys und Emails Briefe?“

„Ja, ich bin da etwas old school.“

„Das gefällt mir.“

Doch als Amily den Brief wenig später las war ihre Euphorie für Billy fort, er war bereits an ein anderes Mädchen gebunden. In ihr wuchs Hass für den Jungen, für den sie noch vor wenigen Augenblicken Liebe empfunden hatte. Traurig griff Amily zum Telefon und rief Amber an, diese versprach sofort zu kommen. Wenige Minuten später saßen Beide wieder auf der Veranda und Amily ließ ihren Frust raus: „Dieser Mistkerl, ich werde ihn erhängen, köpfen und danach vierteilen. Eventuell verbrenne ich ihn noch.“

„Langsam Süße, er kann doch nichts dafür, dass du dich in ihn verliebt hast. Und das Billy dir sagte, dass du dir keine Hoffnungen machen darfst finde ich Klasse von ihm. Stell dir mal vor er hätte es nicht getan und dann wäre das raus gekommen“, versuchte Amber ihre Freundin zu beschwichtigen.

„Du hast Recht“, flüsterte Amily traurig, doch so ganz überzeugend hatte das nicht geklungen.

 

Ein paar Tage später trafen sich Amily und Amber für ein paar Besorgungen in der Stadt. Was dann passierte konnte keiner Vorhersehen, noch nicht einmal Amily selbst. Die Stadt war groß, die Chance Billy und seiner Freundin zu begegnen gering, doch das Schicksal sah das anders. Gerade als Amily und Amber den Schuhladen verließen stießen sie mit dem Paar zusammen. Doch mehr als ein schüchternes „Hallo“ kam von Billy nicht, es klang eher nach einer Begrüßung zwischen Fremden. Amber starrte dem Paar verständnislos hinterher, Amily hingegen sackte zusammen. Ihrer besten Freundin schien es so, als sei sie fünf Zentimeter kleiner geworden. Sie war so mit Trösten beschäftigt, sodass Amily ungehindert sehen konnte, wie sich Billy und Rachel küssten. Das war der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte, Amily riss sich weg und lief in eine unbestimmte Richtung. Sie war schnell, Amber kam nur keuchend hinterher und musste zusehen wie sich ihre beste Freundin von der Washington Gedächtnisbrücke warf.

„Nein“, der Schrei hallte in Amber's Ohren nach und sie lief zum Brückengeländer.

Zwei Meter unter ihr lag die schwerverletzte Amily und blutete aus fast jeder Pore. Wie in Trance rief Amber beim Notdienst an und wenige Minuten später wurde Amily in ein Hospital gefahren. Der Arzt war guter Dinge und sagte Amber, dass sie Glück im Unglück gehabt hätte. Das künstliche Koma sei nötig, damit die Verletzte die Schmerzen ertrage und die Heilung besser ablaufen könne. Damit ließ er Amber mit Amily alleine und Schuldgefühle plagten sie. Hätte sie es verhindern können? Nein! Woher hätte Amber wissen sollen was passiert? Nirgendwo her, niemand hätte das. Auf irgendwelchen Wegen war die Geschichte zu Billy geraten, wahrscheinlich durch seinen Vater.

 

Eines Tages, etwa eine Woche nach dem Selbstmordversuch von Amily, stand er im Krankenhaus neben Amber. Sie hätte ihn am liebsten eine Ohrfeige gegeben, unterließ es allerdings. Er hatte genauso wenig Schuld an der Misere, wie sie selbst.

„Wie geht es ihr?“, fragte er vorsichtig und als Amber gerade antworten wollte kam Rachel zu ihnen, blieb aber mit einem zwei Meter Abstand zurück.

„Komm ruhig zu uns“, sagte Amber und sie kam mit traurigem Blick zu ihnen.

„Du brauchst doch nicht dahinten zu stehen, ich beiße nicht“, lachte Amber, doch es klang falsch.

„Ich mache mir Vorwürfe“, sagte Rachel und sah in verständnislose Gesichter.

„Wieso das denn?“, fragte Amber geschockt.

„Ich habe Billy schon tausendmal gesagt, dass er mich nicht in der Öffentlichkeit küssen soll.“

„Das könnt ihr ruhig, es war dummer Zufall, dass wir euch begegnet sind. Du brauchst dir doch keine Vorwürfe zu machen, niemand muss das. Es war Am's Entscheidung“, sagte Amber und sah traurig durch die Glasscheibe zu ihrer besten Freundin.

Nach Monaten im künstlichen Koma wachte Amily auf, weitere vier Wochen später wurde sie entlassen. Amber holte sie ab und fuhren zu ihr.

„Wie geht es dir?“, fragte Amber und sie setzten sich auf die Veranda, gerade ging die Sonne unter.

„Es geht, warum hat es nicht geklappt?“, fragte Amily traurig, sie war depressiv, das konnte man ihr ansehen.

„Am, vielleicht ist das besser so. Sieh mal, andere Mütter haben auch schöne Söhne. Billy ist nicht der Letzte.“

Amily sagte nichts mehr, sie war müde, ihr war alles zu schwer. Das Denken, das Atmen, das Gehen, das Leben.

Einige Wochen später las sie die Morgenzeitung, lange hatte sie nicht mehr geschlafen, Tagelang nicht. Ihr Gehirn konnte kaum noch die Realität vom Traum unterscheiden, Amily hatte stark abgenommen und sie hatte sich mehrfach selbst verletzt. Amber ließ sie auch nicht mehr zu sich, weder emotional noch körperlich. In einer Anzeige wurde bekanntgegeben, dass sich Billy Baker und Rachel Child verlobt hatten, sehr zur Freude vom Sergeant.

Seufzend beendete Amily den letzten Satz auf dem Brief, sie unterschrieb ihn und legte den Füller zur Seite. Das Sonnenlicht draußen kam kaum durch die Vorgänge in das Haus. Amily war nur noch Haut und Knochen, längst war sie magersüchtig geworden. Mit allerletzter Kraft hob sie die alte Waffe ihres Vater an und setzte sich den kühlen Lauf an die rechte Schläfe. Amily wollte nichts mehr dem Zufall überlassen, sie konnte und wollte einfach nicht mehr. Dieses Mal sollte nichts schief gehen, sterben wollte sie, einfach nicht mehr da sein. Kein Schmerz, kein Leid, frei sein.

 

Zaghaft klopfte Amber an der Tür, im Haus war alles ruhig, zu ruhig wie sie fand. Seit Tagen hatte sie nichts mehr von Amily gehört, es war zwar öfters in letzter Zeit vorgekommen, doch die Post türmte sich auf der Veranda und das war definitiv untypisch. Als niemand antwortete ging Amber um das Haus herum, konnte aber durch die zugezogenen Vorhänge nicht hinein sehen.
Das kommt mir aber spanisch vor, dachte sie und hebelte gekonnt die Hintertür aus.

Amily hatte ihr es einst für den Notfall gezeigt und Amber empfand das als absoluten Notfall.

Die Luft war stickig und abgestanden, aber es hatte sich noch ein anderer Geruch darunter gemischt, ein stechend süßlicher Geruch der bei Amber einen Brechreiz verursachte.

Am hat bestimmt wieder etwas vergammeln lassen, dachte sie und ging ins Wohnzimmer, die schweren Vorhänge ließen kaum Sonnenlicht herein.

Amber ging beherzt zu ihnen und zog sie zur Seite.

 

Wann jemand die Schreie gehört und die Polizei gerufen hatte konnte Amber nicht sagen, sie war wie in Trance, als sie das Grauen erblickt hatte. Nachdem Licht in das Wohnzimmer dringen konnte hatte sich Amber umgedreht und direkt in die toten Augen von Amily gestarrt. Erst war sie würgend näher getreten, dann war ein stummer Schrei von ihren Lippen gekommen. Der Schrei wurde lauter und immer lauter, mehr wusste sie nicht mehr. Erst als der Notarzt sie eingehend untersucht, einen Schockzustand diagnostiziert und Medikamente verabreicht hatte, war Amber aus ihrer Starre erwacht.
Der Sergeant war auf die junge Frau getreten und erzählte was passiert war: „Es war eindeutig ein Suizid, der Abschiedsbrief hier, ist das die Handschrift des Opfers?“, er reichte Amber einen Brief in einer Plastikfolie. Sie warf einen Blick darauf und nickte, dass sprach der Mann weiter: „Lesen Sie ihn sich durch, er ist an Sie gerichtet. Ich komme gleich wieder.“

 

Liebe Amber,

ich bin einst stark gewesen, doch ich wurde schwach. Zu schwach um mein Leben noch leben zu können. Mein Vater hat mir einst beigebracht in Würde zu sterben, er starb so, doch ich kann das nicht. Ich kann nicht einfach so weiterleben, ich halte das nicht mehr aus. So werde ich das Einzige tun, was ich bereits einmal versucht hatte. Ich weiß, dass du das nicht verstehen kannst und das brauchst du auch nicht, niemand kann das, noch nicht einmal ich selbst. Ich ziehe die Notbremse, steige aus, gehe in den Nebel und kehre nie wieder zurück. Ich wünschte ich wäre wie Dad im Krieg gefallen, es wäre besser gewesen, für Alle.
Bitte verzeih mir, nimm es nicht so schwer, ich bin jetzt wieder bei Mom und Dad und da will ich sein.

Wir werden uns irgendwann einmal wieder sehen und bis dahin schicke ich dir mit jedem Stern in der Nacht einen Gruß von mir.

Lebe dein Leben, lass dich nicht verbiegen und finde die wahre Liebe. Ich habe sie zwar gefunden, doch sie blieb unerfüllt.

Ich habe dich immer geliebt, wie eine, nein, wie meine Schwester,

Amily

 

Tränen flossen Amber über ihr Gesicht und sie wischte sie mit dem Handrücken weg. Der Sergeant war erneut zu ihr getreten und sah sie mit einem mitleidenden Blick an: „Können Sie sich vorstellen warum Miss Smith den Freitod gewählt hat?“

„Wegen einem Menschen der ihr viel bedeutet hatte und ihre Gefühle nicht erwiderte.“
„Ich verstehe.“
Am liebsten hätte Amber den Sergeant angeschrien, dass nur sein Sohn dran schuld wäre, doch sie wusste, dass es Quatsch war, so schwieg sie.

„Miss Smith hat bereits vier Tage so gesessen, sobald unsere Untersuchungen vollständig abgeschlossen sind, dürfen Sie sie beerdigen. Hat Miss Smith noch Familie?“

Amber schüttelte den Kopf, es gab Niemanden mehr.

 

Drei Wochen später wurde der weiße Sarg mit der Flagge der USA in die Erde gelassen, eine Schusssalve des Militärs unterbrach die Stille des Friedhofs. Amber trat an das Loch heran, Tränen fielen auf den Sarg, dann ging sie. Billy stand am Tor des Friedhofs und sah Amber traurig an.

„Wo ist dein Ring?“, fragte Diese, als sie die leere Stelle an seinem linken Ringfinger sah.

„Wir haben die Verlobung aufgehoben.“

„Und Rachel?“

„Sie ist zurück nach Kanada zu ihrer Familie, vielleicht ist das auch besser so.“

„Gehen wir ein Stück?“, fragte Amber, das Letzte was sie wollte war alleine zu sein.

Die schrecklichen Bilder verfolgten sie nicht nur in der Nacht, sondern auch am Tag. Die Beiden gingen stundenlang spazieren, unterhielten sich über die Ereignisse und Billy bat Amber ihm von Amily zu erzählen. Am Ende des Tages verabredeten sie sich für den Nächsten und ein halbes Jahr später waren die meisten Tränen von Amber getrocknet. Amily hatte ihr geschrieben, dass sie die wahre Liebe finden sollte und in der Zeit war ihr Billy nicht nur ans Herz gewachsen, nein, sie hatte sich in ihn verliebt.

So saßen sie, wie einst Amily und Amber, auf der Veranda von Billy's Elternhaus und unterhielten sich über den Tag, als Amber sich ein Herz fasste.

„Ich mag dich Billy Baker“, sagte sie und schmiegte sich an ihn.

„Ich mag dich mehr, als du glaubst“, erwiderte er.

„Wie sehr?“

„Ich liebe dich, Amber.“

„Und ich dich“, ein langer Kuss folgte.

 

Ein weiteres halbes Jahr später eröffnete Amber Billy, dass sie schwanger sei und er nahm sie sofort zur Frau. Eine Wohnung reichte den Beiden aus und als die Zwillinge, ein Mädchen und ein Junge, geboren wurden wusste die stolzen Eltern bereits, wie sei heißen sollten. Zur Erinnerung an die beste Freundin wurden die Kinder Amily und Arne genannt. Wie Amily es versprochen hatte schickte sie jeden Abend eine Sternschnuppe.

 

Egal was uns nach dem Tod erwartet, Amber war sich sicher, dass Amily jetzt viel glücklicher und bei ihren Eltern war.

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Dean Douglas Hormann
Bildmaterialien: Google
Lektorat: S. Hormann
Tag der Veröffentlichung: 14.05.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Die Verzweiflung ist die Krone aller Sünden. Sándor Petöfi (1823 - 1849 (gefallen)), eigentlich Alexander Petrovics, ungarischer Schauspieler, Soldat, Student und Dichter, übersetzte u.a. Schiller und Shakespeare

Nächste Seite
Seite 1 /