Es war Nacht. Und es regnete in Strömen. Eigentlich sogar mehr als das. Ein wenig verärgerte es ihn. Immer begannen seine Geschichten auf diese Art und Weise. Immer war es Nacht und immer regnete es in Strömen. Er jonglierte ein wenig mit den Worten seines immerwährenden ersten Satzes, eine Änderung, ein neuer Anfang wollte ihm jedoch nicht so recht gelingen.
Neuanfang.
Ein schönes Wort eigentlich. Wie verzaubert, leuchtete es wie ein Juwel - stach aus den Kieselsteinen der übrigen Wörter hervor. Ein Neuanfang wäre eine gute Sache. Schon oft hatte er darüber sinniert, wie es wohl wäre, all das hinter sich zu lassen und irgendwo anders noch einmal ganz von Vorne anzufangen. Aus dem Wort eine Tat zu machen, zu handeln.
„Es war Nacht. Und es regnete in Strömen.“
Halblaut verließen Worte, die der Anfang einer Geschichte über einen alten, abgehalfterten Detektiv zu sein könnten, seine Lippen. Hätte er es nicht schon hunderte Male zuvor benutzt, um armen Gestalten eine Bühne für ihre grässlichen Taten zu geben, wäre es bestimmt ein dramaturgisch intensiver Anfang. Aber es langweilte ihn. Nicht nur ihn, sondern auch seine Figuren. Er sah die Wesen, welche er geschaffen hatte, vor sich auf dem Bildschirm. Er sah ihnen dabei zu, wie sie sich langweilten. Immer war es Nacht und immer regnete es in Strömen. Verübeln konnte er es ihnen ganz und gar nicht. Wie oft hatte der Eine darum gebeten, weniger depressiv zu sein, nicht mehr alkoholabhängig und vielleicht einst sein Glück in der Liebe zu finden, anstatt sich vor der Welt verstecken zu müssen. Der andere wiederum hatte gefleht und gebettelt, dass er sein Schwert, er liebte es sehr, vielleicht für ein oder zwei Seiten gegen einen alten, amerikanischen Revolver tauschen dürfe. Wie in den alten schwarzweißen Filmen, hatte er gesagt. Jedoch wurde dieses Argument von dem Klagen der weiblichen Figur überschattet, die keine Reporterin mehr sein wollte. Tag ein, Tag aus redete sie ihm, der er durch seine Finger auf der Tastatur sowas wie ein Gott für sie alle war, Mut zu, er solle aus ihr eine Prostituierte machen, eine anstößige, verruchte Hure, um so Spannung und Abwechslung in ihr tristes Dasein zu bringen. Ihr Herz verlangte nach Erotik.
So sah er sie, seine Schöpfungen, seine Kreaturen. Sie und ihre Unzufriedenheit mit dem, was sie waren. Irgendwie waren sie alle kleine Stücke von ihm. Facetten seiner Seele. Er liebte sie, wie seine Kinder, obgleich sie mit ihrer Unzufriedenheit und der, daraus resultierenden Gier nach Veränderung an ihm zehrten, wie Blutegel. Sie brauchten seine Kreativität auf und nahmen ihm die Freude an der Schreiberei.
Manches Mal war er deswegen enorm böse auf seine Schützlinge. Meist jedoch beherrschte er sich, hatte Mitleid mit ihnen. Manchmal jedoch überkam es ihn einfach und er konnte nicht anders, als sie seinen Zorn und in gewisser Weise auch seine Enttäuschung spüren zu lassen. Und deshalb tat er, was er immer tat, wenn sie zu weit gingen.
Den Ersten ließ er die Liebe seines Lebens finden. Haarklein und genau führte er aus, wie er sie traf, sie kennen und lieben lernte. Besonders ihr erster Kuss, er sollte nicht im Gewirr der Gefühle verloren gehen, bekam ein eigenes, kleines Kapitel. Dann, für eine viertel Seite widmete er sich den Gefühlen des Ersten, war er doch der glücklichste Mann der Welt. Den Rest der Seite verbrachte er dann vor dem Grabe seiner Geliebten kniend, voller Unverständnis für diesen grausamen Verlust.
Niemals wieder würde er um die wahre Liebe bitten.
Dem anderen nahm er das Schwert weg und gab ihm den gewünschten Revolver. Und eine Kugel. Nur das schwarz-weiße fehlte noch. Und so fand sich der Andere alsbald in einem Raum wieder, dessen Wände keine Öffnungen für Tür oder Fenster hatten und mit dem Muster eines Schachbrettes verziert waren. Auf fünf Seiten beschrieb er diese beiden Farben und wie sie sich abwechselten. All dies konnte man im Licht der unregelmäßig flackernden Neonröhre erkennen. Lange hielt er sich an der Beschreibung für das Geräusch der Beleuchtung auf.
Ein Mann, ein Raum, eine Kugel und kein Ausweg. In seinen Augen stellte das eine gute und vor allem spannende Kombination dar. Dem langen und schmerzhaften Weg zum Wahnsinn schenkte er weitere fünfzehn Seiten.
Und was seine kleine Reporterin anging, so nahm er sich alle Zeit der Welt, ihr etwas Obszönes und ruchloses zu bieten. Etwas Erotisches. Genau das, was sie wollte.
Ihre Vergewaltigung beschrieb er auf weit über hundert Seiten bis ins kleinste Detail, wobei er auffallend oft das Wort „Blut“ verwendete. Fast genauso oft, wie er die unmenschlichen Schmerzen erwähnte, die sie erlitt. Seine Fantasie tobte sich aus, wie ein hungriger Wolf unter Schafen. Am Ende erschütterte ihn selbst, zu welchen Gedanken er im Stande und er war froh, nicht mit der Reporterin tauschen zu müssen.
Vorerst war der Frieden wieder hergestellt. Er war zwar nicht sicher, ob seine Kinder diese Art der Erziehung auch verstanden hatten, doch am Ende war es einerlei, denn er hatte sie geschaffen und er war es, der ihnen alles antun konnte, was er wollte. Eine Sekunde lang überlegte er, ob der arme, vor dem Grab Sitzende sich in den Selbstmord stürzen sollte, kam dann aber zu dem Entschluss, dass er diese Figur noch brauchen könnte. Solange konnte er ihn weiter mit seiner immer schlimmer werdenden Alkohol- und Nikotinsuch quälen. Sucht war etwas Gutes. Zumindest in der Literatur. Denn sie fegte die Spinnenweben hinfort von den langweiligen Archetypen der Klassiker und gab auch der ärmlichsten Figur sofort etwas wie Tiefe. Die kleine Reporterin schoss ihm durch den Kopf. Sie würde ihre Schändung niemals verkraften und sich der – kurz hielt er inne und überlegte, was er ihr antun könnte – der Nadel zuwenden. Ja, das würde seinen Zöglingen Charakter geben. Sie würden geprägt sein durch eine perfekte Konstellation schlechter bis miserabler Umstände, die das wahre Leben in dieser Kombination niemals zulassen würde. Respekt würde er sie lehren. Niemals wieder würden sie seine Entscheidungen in Frage stellen und gehorsame, gute Figuren sein, denn sie wussten, was ansonsten mit ihnen geschehen würde. Wenn er auch kein guter Autor war, oder zumindest keiner, denn man kennen müsste, so schätzte ihn seine Leserschaft, für seine Kreativität. Dies wiederum bedeutete, dass ihr Tot das einfachste Los sein würde...
Während er so da saß, seinen Whiskey genoss und seiner treuen Anhängerschafft sein jüngstes Werk präsentierte, drängte sich ihm die Überzeugung auf, das leise Klagen eines Verliebten vernehmen zu können. Oder war es das eines Wahnsinnigen? Nur der Buchhändler schwieg zufrieden.
Und so blieb es Nacht und regnete weiterhin in Strömen.
Tag der Veröffentlichung: 04.07.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
~ Für alle, die wissen, dass die einzige Grenze der Welt ihre Kreativität ist ~