Cover

Eins


Der stechende Geruch des Desinfektionsmittels dringt mir tief in die Nase und raubt mir mit jeder Minute mehr den Atem. Der Boden unter meinen Füßen scheint zu schwanken und mein Blickfeld wird immer mehr eingeschränkt. Die Luft scheint dünner zu werden und mir nicht mehr genug Sauerstoff zu spenden. Es fühlt sich an als ob man durch einen Tunnel gehen würde dessen Ende einfach nicht in Sicht kommen will. So geht es mir jeden Monat um diese Zeit. Die Zeit vor dem Gesundheitscheck. Die meisten fürchten ihn. Ich kann sie verstehen, sehr gut sogar. Es ist wirklich schrecklich wie die Ärzte einen beäugen, so als wäre man mehr ein Gegenstand als ein Mensch. Viele fürchten sich auch vor der Blutabnahme. Doch ich habe keine Angst, sehne diesen Tag sogar herbei. Es ist der einzige Tag im Monat an dem ich die Außenwelt zu sehen bekomme. Der Gesundheitscheck findet im medizinischen Zentrum des Geländes statt. Es ist abgesehen von dem Wohnheim das größte Gebäude auf dem Gelände. Und um vom Wohnheim dorthin zu gelangen müssen nach draußen. Es ist nur eine Sache von Sekunden bis wir unser Ziel erreicht haben aber das genügt mir. Hauptsache ich kann den Geruch von frischer, reiner Luft tief in meine Lungen saugen und den Wind über mein Gesicht streichen lassen. Der Gedanke an die vorübergehende Freiheit die uns so gewährt wird lässt mich meine jetzige Situation nur bewusster werden. Diesen großen Saal in dem wir dicht an dicht gedrängt stehen. Er unterscheidet sich nicht groß von unserem Beobachtungsraum, den Ort den wir nur zum Schlafen und Essen verlassen. Seine hohen Wände sind ebenfalls von diesem grauenvollem weiß das einen auf seinem Weg in den Wahnsinn begleitet. Man fühlt sich klein und unbedeutend, und dass sind wir für die Wissenschaftler, wahrscheinlich sogar für die gesamte Gesellschaft. Obwohl wir hier an die hundert sein müssen ist es so still wie der Tod. Niemand wagt es das Schweigen zu durchbrechen, es ist wie ein Fluch. Ich sehe in die Gesichter der anderen. In den meisten kann ich Angst und Schrecken sehen,doch in anderen sehe ich nichts,nur Leere. Sie haben aufgegeben und wünschen sich nur noch dass ihr Aufenthalt hier schnell enden möge. Sie wünschen sich den Tod, denn sie haben erkannt dass es hier keinen Ausweg geben wird. Als ich ein leises wimmern an meiner rechten höre zucke ich unwillkürlich zusammen. Ich wende den Kopf zu dem Geräusch und erblicke ein kleines Mädchen mit hellbraunen Haaren, dass die Augenbrauen ängstlich zusammen gezogen hat. Sie ringt die Hände und zittert am ganzem Leib. Marchelle ... So gerne würde ich mich zu ihr hinknien und ihr ein paar tröstende Worte sagen. So gerne würde ich ihr über den Kopf streichen und ihr sagen dass alles gut wird, dass sie keine Angst zu haben braucht. Aber ich fürchte mir vor Veränderung, wenn sie auch noch so minimal ist. Alles was ich mich traue ich mit meiner Hand ihren Arm leicht zu streifen, doch sie bemerkt es nicht. Ich unterdrücke ein verzweifeltes seufzen blicke mich weiter im Raum um. Marchelle ist meine kleine Schwester. Sie ist einer der jüngsten hier, knappe sechs Jahre alt. Ich verstehe nicht warum sie hier ist, hier in diesem schrecklichem Labor. Doch es gibt zu viel was ich nicht verstehe um dieses Rätsel zu lösen. Ich weiß ja noch nicht einmal warum ich hier bin. Wir alle haben hier keine Gemeinsamkeiten. Wir sind so unterschiedlich dass es scheint wir wären alle zufällig auserwählt worden. Ich stockte in meinen Gedanken. Auserwählt. Was für eine widerliche Wortwahl. Wir wurden aus unseren Häusern gezerrt, unseren Familien gestohlen, in großen grauen Lastwagen an irgendeinen uns unbekannten Ort transportiert, in diese scheußlichen Labore mit den erdrückend weißen Wänden gesperrt und unserer Zukunft beraubt, und ich benutze das Wort auserwählt. Welch grausame Ironie. Aber im Grunde stimmen meine Gedanken. Hier sind alle Kulturen vertreten. Es gibt Blonde, rothaarige, Brünette und schwarzhaarige. Manche haben blaue Augen, andere grüne und wieder andere braune. Auch unsere Hautfarben sind unterschiedlich. Wir haben nur eine kleine Gemeinsamkeit die so winzig ist dass sie schon wieder unbedeutend ist. Wir alle sind am achtem März geboren. Mit Ausnahme von Marchelle. Das ist es was ich nicht verstehe. Und auch dass sonst alle anderen im Alter von acht bis achtzehn Jahren sind. Einzig Marchelle ist erst sechs. Ich muss zugeben ich habe unsere Geburtstage immer für den Grund gehalten, auch wenn ich nicht verstand wieso. Doch dann kam Marchelle und warf diese Erklärung über den Haufen. Ich erinnere mich noch ganz genau an diesen Tag. Ich würde mich immer an ihn erinnern. Es war einer der schlimmsten gewesen die ich bis jetzt erlebt hatte.

Zwei


Ich saß regungslos auf einem der harten Plastikstühle die überall im Raum verteilt standen. Es war Abend, ich vermutete 19 Uhr. Bald würden die Betreuer kommen und uns in die Schlafkabinen führen. Ich starrte geradeaus vor mich hin und versuchte die Geräusche des Leids der anderen auszublenden. Das stetige wimmern und leise weinen war nicht einmal das schlimmste. Das was einen wirklich von Grund auf zerstörte waren die flachen und stockenden Atemzüge die verkündeten wie sehr sie sich wünschten verschwinden zu können. Doch ich war anders. Ich würde alle meine Gefühle nach und nach töten um langsam zu einer unerschütterlichen Festung zu werden. Ich würde mich von niemandem zerstören lassen, ich würde sogar das Schicksal besiegen. Doch warum konnte ich nicht aufhören meinen pessimistischen Gedanken freien Lauf zu lassen ? Durch ein gedämpftes schreien wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Hektisch sah ich mich im Raum um. Von wem stammte der Schrei ? Alle anderen sahen verwirrt zur Tür. Der Schrei kam also nicht aus diesem Raum. Schon wieder ertönte der Schrei. Laut und langgezogen, voller Panik. Es hörte sich bekannt an ... Fast so wie ... Ein Schock durchfuhr mich. Nein, das konnte nicht sein. Bitte nicht ! Bitte, falls es dort oben einen Gott gibt, lass das nicht wahr sein ! Ohne es wirklich zu bemerken stand ich auf und rannte Richtung Tür. „Marchelle ! MARCHELLE!“. Ein weitere Schrei antwortete mir. Ich glaubte, meinen Namen zu hören. Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken herunter. Kein Zweifel, sie war es. Ich hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür und war mir bewusst dass ich in diesem Moment beobachtet wurde. Ich war mir bewusst dass sie wohl so etwas wie ,äußert aggressives Verhalten‘ in meine Akte eintragen würden, aber das war mir egal. Ich musste Marchelle retten, sie durfte nicht hier her kommen ! Sie sollte nicht unser Schicksal als eher tote als lebendige Marionetten und Versuchskaninchen teilen ! Die anderen Kinder im Raum beobachteten mich schweigend. Sie taten nichts, rein gar nichts. Verzweifelt drehte ich mich zu ihnen rum. Von ihnen konnte ich keine Hilfe erwarten. Marchelles Schreie wurden lauter, sie kamen hier her. Meine Atemzüge wurden flach, verletzlich. Und ich wusste dass mein Plan unzerbrechlich zu werden gescheitert war. Ich würde vom Schmerz und meinen Erinnerungen überrannt werden, ich würde unter dem Druck diesen Lebens langsam zerstört werden. Das alles war mir Recht, ich würde diese Bürde gerne auf mich nehmen wenn ich Marchelle dadurch retten könnte, aber es war schon zu spät. Sie war hier. „MARCHELLE!“, ein Schrei voller Wut und Hass brach aus mir hervor. Ich hätte nie gedacht dass ich so etwas was hervorbringen könnte. Kein weiterer Schrei antwortete mir darauf. Auch ich schwieg. Einzig das leise Geräusch von qualvollen Atemzügen war zu hören. Was ging da vor sich? Taten sie ihr weh ? Warum antwortete sie nicht ? Die Ungewissheit nagte an mir wie Rost an Metall. Dann, endlich, hörte ich wie eine Stimme von der anderen Seite der Tür „Zurück treten!“, rief. Ich war so benommen und geschockt, ich konnte nicht anders als zu gehorchen. Ich trat ein paar Schritte rückwärts und fixierte den immer größer werdenden Türspalt. Und da war sie. Marchelle, die hinein geschubst worden war, taumelte ein paar Schritte nach vorne und ich fing sie auf bevor sie fallen konnte. „K-kohta !“, schluchzte sie. Ich drückte sie ganz fest an mich während meine Welt unwiderruflich aus den Fugen geriet.

Impressum

Texte: Deadeyes
Bildmaterialien: http://deeperintotherabbithole.tumblr.com/post/16203970240
Lektorat: leilalou
Tag der Veröffentlichung: 08.06.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Lou, eine meiner besten Freunde die mir immer Kraft gibt und die ich unendlich lieb habe ♥. Lou, du bist etwas besonderes und ohne dich wäre ich nicht diejenige die ich heute bin ♥

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