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Impressum

 

 

 

 

 

Keine Schneeflocke fällt auf die falsche Seite

 

 

 

 

 

Roman

Copyright 2018 Klaus Leimann

 

 

 

 

Lektorat: Uwe Lanquillon

 

 

 

 

 

1. Episode Der Abschied

  

 Harald war wieder zur üblichen Zeit ohne Wecker aufgewacht. In alter Gewohnheit stand er auf und trat ans Fenster. Seit Marlies mit den Zwillingen schwanger ging, lag sie beim Schlafen nicht mehr auf dem Bauch, sondern auf der rechten Seite. Sie atmete ruhig und gleichmäßig im Schlaf. Harald schob die Gardine ein wenig beiseite und schaute nach draußen. Wie angekündigt waren abends noch die ersten Flocken gefallen, die sich über Nacht zu einem wilden Schneegestöber ausgeweitet hatten. Der Garten lag nun zugedeckt unter einer Schneedecke. Die Verkehrsgeräusche des anbrechenden Tages klangen wie erstickt von der Hauptstraße herüber. Von der angelehnten Verandatür führten Fußspuren durch den Garten zur Pforte.

 

Das Licht der Straßenlaterne fiel funzelig auf die freie Fläche des Rasens. Dort hatte jemand in ungelenker Schrift in den Schnee geschrieben:

Wir sind unheilbar am Leben erkrankt. Und all unsere Handlungen haben nur einen Sinn: uns wohl zu fühlen!

Für den Vormittag war Tauwetter angekündigt.

 

 

 

 

 Jojo: Nachlese über den Abschied

Alles in dieser Welt strebt seinem Ende zu, das ist der natürliche Lauf; er ist nicht umkehrbar. Das gilt für das Leben selber, auch für die Gefühle, so intensiv sie auch am Anfang sein mögen. Liebe, Hass, Begeisterung und auch Trauer werden geschwächt und versickern wie ein Regenguss als Rinnsal in der Wüste der Zeit. So auch mein Aufenthalt hier. Der Reiz des Neuen ist verblasst; das Experiment, hier in einer Großstadt einfach zu leben, ist halbwegs geglückt. Doch nun sehne ich mich nach meiner natürlichen Einfachheit und Einsamkeit in meine Höhle im Himalaya zurück. Dort ist mein Anfang und auch mein Ende.

2. Episode Der Aufbruch

 

Die unbekannten Wege sind die Geschenke des Lebens. Aborigine

 

Der Wetterbericht stimmte diesmal aufs Haar. Als es hell wurde, kam die Sonne durch; es hörte auf zu schneien und begann zu tauen. Jojo ging mit seinen Flipflops durch den Schneematsch die Hauptstraße entlang. Er fror. Mit nassen Füßen ging er ein paar Querstraßen weiter in einen Bäckerladen mit Stehcafe. Er bestellte ein Franzbrötchen mit einem Latte macchiato.

„Geht wie immer auf die Rechnung von Harald“, erklärte er der Verkäuferin, die den Betrag in ein kleines Heftchen eintrug.

Während Jojo am Fenster stand und das Brötchen in den Kaffee tunkte, blickte er in den Himmel und sah einen im Sinkflug befindlichen „Beluga“ mit Flugzeugteilen aus Toulouse die Airbus-Werke auf der anderen Seite der Elbe in Finkenwerder ansteuern.

„Zu dem, der warten kann, kommen alle Dinge von selbst“, dachte Jojo und spülte den letzten Bissen mit dem Kaffee runter.

Er schlug die grobe Richtung wie der Beluga ein. Jojo betrachtete sein Abenteuer im Schanzenviertel als beendet und beabsichtigte nun, in seine Einsiedelei am Fuße des Himalaya zurückzukehren. Wo der Beluga niederging, folgerte er, da müsste auch der Flughafen sein. Von da aus würde er in seine Heimat fliegen. So kam er auf seinem Weg nach einiger Zeit an die Landungsbrücken am Hamburger Hafen, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ein weiteres Flugzeug über die Elbe flog und bei den Airbus-Werken in Finkenwerder nieder ging. Jojo musste pinkeln und ging in die Öffentliche Toilette. Er fragte anschließend die Toilettenfrau: „Wie komme ich über den Fluss zu dem Platz, wo diese Flugzeuge landen?“

„Hast du ein Auto oder ein Fahrrad?“, fragte die Toilettenfrau und hielt ihm fordernd ihren Münzteller hin. Jojo nahm sich mehrere Münzen vom Teller, da er es für eine Gabe an einen Asketen hielt: „Danke! Weder noch, ich bin zu Fuß unterwegs.“

„Dann gehst du am besten durch den alten Elbtunnel, der ist gleich da vorne“, sagte die Toilettenfrau, zog völlig irritiert ihren Münzteller zurück und zeigte mit der freien Hand in die Richtung, „das Gebäude dort mit der grünen Kuppel.“

Jojo legte dankend die Hände vor der Brust aneinander und verbeugte sich leicht. Es waren nur wenige Meter bis zum Eingang des alten Elbtunnels. In der großräumigen Kabine fuhr er zusammen mit zwei Autos, mehreren Fahrrädern und einigen Touristen quietschend und rasselnd nach unten. Dort folgte er den anderen durch den langen Tunnel unter der Elbe und kam am Ende mit dem anderen Fahrstuhl wieder ans Tageslicht. Draußen schaute sich Jojo um und sah, wie sich entlassene rumänische Obstpflücker zu einem Demonstrationszug formierten. Sie forderten Monate nach der Apfelernte eine Weiterbeschäftigung über den Winter bei den Obstbauern. Sie trugen ein Transparent mit der Aufschrift: „Wenn ihr verappelt uns, dann wir machen alles zu Mus!“

 

Diesmal hatten sie sogar gedroht, Scheunen in Brand zu setzen, wenn man ihren Forderungen nicht nachkäme. Um ihre Drohung zu unterstreichen, trugen die Männer in der vordersten Reihe brennende Fackeln. Jojo ging zu ihnen, um sich nach dem Weg zum Flughafen zu erkundigen. Keiner der Rumänen verstand ihn, so fragte sich Jojo immer näher an die Spitze des Demonstrationszuges durch, wo er den Mann mit dem Megaphon fragte: „Wo ist der Flughafen?“

Eine Hundertschaft der Polizei kreiste gerade die Demonstration ein, da man eine mögliche Brandstiftung verhindern wollte. Der ehrgeizige junge Einsatzleiter der Hundertschaft, Jung-Kommissar Roland, hielt Jojo seiner Größe, seinen langen Haaren und seinem Auftreten nach für den Rädelsführer. Er passte genau in Rolands Feindbild. „Schnappt euch diesen langhaarigen Bombenleger!“, forderte er seine Männer auf. Ehe sich Jojo versah, hatten ihm drei Polizisten Handschellen angelegt und ihn in den Mannschaftswagen verfrachtet. Roland hatte auf einem Führungs-Seminar gelernt, man müsse immer zuerst den Anführer aus dem Verkehr ziehen, dann zerfiele die Demo ohne Kopf und Führung innerhalb kurzer Zeit. So befand sich Jojo bald schon wieder auf dem Rückweg durch den Elbtunnel auf die Seite mit den Landungsbrücken, von wo er gekommen war. Er wurde in das Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis eingeliefert und konnte von seinem vergitterten Zellenfenster den Fernsehturm sehen.

„Sehr weit bin ich nicht gekommen“, sinnierte Jojo, „aber schon Laotse sagt: >going on, means going far – going far, means returning<“.

Jojo saß auf seinem Bett und meditierte, als ihn der schwergewichtige Pfarrer Steding, der die Gefängnis-Seelsorge nebenberuflich betrieb, in seiner Zelle aufsuchte. Er hatte gerade die Gefängnisverwaltung wegen der Abschlagszahlung seiner Spesen aufgesucht.

„Mein Sohn“, begann er mit seinem Standardsatz für solche Gespräche, nachdem er sich schwerfällig neben Jojo auf der Liege niedergelassen und sich bekreuzigt hatte, „jeder von uns geht einmal in die Irre und macht einen Fehltritt. Aber Gott, Jesus und der Heilige Geist führen jeden reuigen Sünder, auch dich, wieder auf den richtigen Pfad zurück, der zum Paradies führt. Der Gefängnis-Direktor sagte mir, du bist als Rädelsführer einer ungenehmigten Demo verhaftet worden, die sogar von einer Brandstiftung nicht zurück schreckte. Das ist nun wahrlich nicht christlich, denn Jesus hat gesagt, wenn dich jemand auf die linke Backe schlägt, dann halte ihm auch die rechte hin. Komm, lass uns beide für dich beten!“

Der Pfarrer ging stöhnend auf die Knie und sprach das Vaterunser. Nach dem Gebet gab Jojo dem Pfarrer eine von Haralds Visitenkarten, die er und Hanif immer bei sich trugen. „Das ist mein Freund.“

„Den werde ich gleich mal anrufen“, ächzte Pfarrer Steding, als er wieder prustend auf die Beine kam, steckte die Visitenkarte ein und segnete Jojo noch zum Abschied. Er war kaum aus der Zelle, da stand schon der türkische Anwalt Mehmet Okulücülü, der sich auf Ausländerrecht spezialisiert hatte, in der Tür.

„Bist du Jude?“, fragte er Jojo.

„Nein, ich bin ein indischer Yogi.“

„Schade, aber dann sagen wir einfach, du hättest jüdische und türkische Vorfahren. Wir machen daraus ein dickes Ding. Du hast praktisch finanziell ausgesorgt und bekommst die deutsche Staatsbürgerschaft, wenn ich das in die Hand nehme. Keine Bange!“ Okulücülü zückte sein Smartphone. „Yoga“, sinnierte er, „das kenne ich von meiner Frau, die läuft da zweimal die Woche hin. Sie ist ganz begeistert! Ich auch, sie ist jetzt viel besser im Bett, wenn du verstehst, was ich meine.“ Okulücülü zwinkerte kennerhaft mit den Augen. Dann riss er dem überraschten Jojo das Hemd am Hals auf, wischte mit der Handfläche über den Zellenboden und rieb Jojo den Dreck ins Gesicht. „So, jetzt können wir die Aufnahmen machen. Die Fotos und das Video leite ich gleich an die Presse und das Fernsehen weiter. Mache aber jetzt nicht so ein gleichmütiges Gesicht. Du musst schauen, als hätte man dich misshandelt und in deiner religiösen Zugehörigkeit respektlos gekränkt.“

Mehmet Okulücülü machte mehrere Aufnahmen von dem ramponierten Jojo, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war. „Das reicht, den Rest retuschieren wir. Also, mein Freund, halte durch bis morgen. Dann bist du ein gemachter Mann,“ verabschiedete er sich. Er umarmte Jojo und küsste ihn auf beide Wangen.

Jojo wollte es sich nach dem Besuch von Mehmet Okulücülü gerade auf der Liege wieder bequem machen, als seine Zellentür erneut vom Schließer geöffnet wurde.

„Es hat sich alles aufgeklärt, Amigo“, sagte er, „pack deine Sachen, du wirst sofort entlassen. Aber wasche dir vorher noch mal das Gesicht.“

 

 

Jojo: Nachlese über die Verwechslung

Jeder sieht nur den Teil seiner Welt, den er sehen will und kann. Ich das Flugzeug, die Polizei in mir den Aufrührer. Der Pfarrer den Sünder. Mit mir wird meine Welt sterben.

 

3. Episode Das verschmähte Paradies

 

An einem offenen Paradiesgärtchen geht der Mensch gleichgültig vorbei und wird erst traurig, wenn es verschlossen ist. Gottfried Keller.

 

Von Jojos frühem Fortgehen im Schneegestöber hatte Hanif nichts mitbekommen; er schlief wie immer bis in den späten Vormittag.

„Es ist völlig unnatürlich, sich von einem Wecker aus dem wohlverdienten Schlaf reißen zu lassen. Der Geist und der Körper wachen von alleine auf, wenn es an der Zeit ist. Man muss auf den Rhythmus der Natur hören und nicht gegen ihn ankämpfen“, erklärte er Marlies, die bei den Vorbereitungen des Mittagsessen war, als er in der Küche auftauchte. Sie war im 9. Monat kurz vor ihrer Niederkunft. Sie bewegte sich schwerfällig in der Küche. Harald trug auch jetzt als Arbeitsloser immer noch täglich ein frisches Oberhemd und Schlips. Nur das Jackett hatte er in der Küche abgelegt. Er unterstützte seine schwangere Marlies nach Kräften, schnitzte die Kartoffeln viereckig und putzte das Gemüse. Hanif setzte sich im Pyjama an den großen Esstisch und trank einen Becher Kaffee.

„Ihr lebt hier sehr unnatürlich“, fuhr Hanif fort, „das ist mir von Anfang an aufgefallen. Ihr redet gerne von euren Fortschritten, eurer Freiheit in der Demokratie, aber in Wirklichkeit seid ihr Sklaven und Knechte eurer Gesellschaft. Wie die Leibeigenen schuftet ihr von früh bis spät. Zum Leben selber kommt ihr gar nicht mehr. Für euer sauer verdientes Geld kauft ihr all diesen unnützen Plunder, mit dem ihr eure Wohnungen vollstopft. Liebe, Leidenschaft und Abenteuer lasst ihr euch vom Fernseher vorgaukeln. Einmal im Jahr fahrt ihr in den Süden in Urlaub und lasst die Seele baumeln. Das ist der treffende Ausdruck, eure Seele baumelt tatsächlich und hängt schon lange am Galgen. So vergeudet ihr euer Leben und seid noch stolz darauf.“

„Hanif, dann zeige uns doch mal eine andere Möglichkeit auf“, sagte Harald, strich sich über sein schütteres Haar und blickte von seinen Würfel-Kartoffeln auf.

„Arbeitslos ist eine sehr gute Möglichkeit, Harald. Du arbeitest nicht und bekommst Geld. Was für ein wundervolles Leben! Noch besser ist aber HARZ4! Ich bewundere den Mann HARZ4, er ist ein großer Guru. Ihr denkt hier immer, die richtigen Weisen sind in Indien im Dschungel oder sonst wo in Asien auf einem Berg! Nein, die Weisen sind bei euch und HARZ4 ist der größte Weise. Wenn ich nach Indien einmal zurückkehre, dann will ich helfen, „Arbeitslos“ und „HARZ4“ bei uns einzuführen. Meine Landsleute werden begeistert sein, vor Freude tanzen und mich verehren wie Krishna. Euer Guru HARZ4 zeigt euch die Möglichkeit auf, ein einfaches und gesundes Leben entspannt zu führen. Ihr bekommt eine Wohnung, Kühlschrank, Telefon, Waschmaschine und genügend Geld zum Leben. Jeden Monat! Und ihr könnt jeden Tag in den Park gehen, in der Sonne sitzen, Bier trinken und Domino spielen. Gibt es ein schöneres Leben? Die Reichen bei euch haben für ihr Vermögen schwer geschuftet: sie haben Leute und das Finanzamt betrogen. Und stehen immer kurz vor dem Herzinfarkt. Haben sie wirklich mehr als HARZ4? Nein! Sie sind nicht zufrieden und wollen weiter raffen! Und was macht ihr mit diesen wunderbaren Möglichkeiten von Guru HARZ4? Jetzt im Winter weckt ihr eure Kinder in der Nacht noch auf und bringt eure Babys und Kleinkinder im Dunkeln in den Kindergarten. Auch die größeren Kinder müssen im Dunkeln zur Schule gehen. Was kann aus solch armen Menschenkindern schon werden, denen schon in jungen Jahren so etwas angetan wird? Doch nichts Gescheites! Nur wieder gehetzte Wesen, die am Leben vorbei vegetieren und das eigentliche Leben nie kennenlernen. Ich hoffe nur, Marlies und Harald, dass ihr mit eurem Nachwuchs menschlicher umgeht. Meine Sachbearbeiterin auf dem Arbeitsamt hat mir gesagt, ich werde auch bald HARZ4. Ich freue mich schon darauf und bin sehr dankbar und glücklich.“

„Mal was anderes, Hanif“, sagte Harald amüsiert, der bei der letzten Kartoffel war, „ich konnte heute Morgen von unserem Schlafzimmer aus sehen, wie Jojo aus dem Haus ging. Er trug einen kleinen Beutel über der Schulter. Für mich sah es nicht so aus, als würde er zum Einkaufen gehen. Es wirkte auf mich wie ein Abschied. Er hatte auch etwas in den Schnee geschrieben, was ich nicht richtig verstanden habe: >Wir sind unheilbar am Leben erkrankt. Und all unsere Handlungen haben nur einen Sinn: uns wohl zu fühlen!<, aber inzwischen ist der Schnee weg getaut und ich kann es dir nicht mehr zeigen.“

„Macht nichts, Harald“, erklärte Hanif, der sich nun gerade über eine Pfanne mit Speck, Eiern und Würstchen hermachte, die ihm Marlies zubereitet und serviert hatte, und sich Kaffee aus der Thermoskanne nachschenkte, „Jojo, hat in letzter Zeit schon öfters durchblicken lassen, dass er unser Experiment der Einfachheit hier im Schanzenviertel als beendet betrachtet und er sich nach seiner Einsiedelei am Fuße des Himalaya zurücksehnt. Wir werden es ja sehen, ob er zurück kommt. Ich mache mir da keine Gedanken.“

„Hat er sich denn von dir verabschiedet, Hanif?“

„Nein, natürlich nicht. Das ist bei uns auch nicht notwendig. Außerdem hat er mich vor kurzem aus dem Stand seines Schülers entlassen, da er erkannt hat, dass ich selber inzwischen ein großer Meister und für mich selber verantwortlich bin. Er ist mir zum Schluss sowieso mit seinen nebulösen Belehrungen auf den Keks gegangen. Jojo hat in der Zeit hier bei euch nichts dazu gelernt, er brabbelt immer noch die alten Sachen, die in Indien im Dschungel gelten mögen. Aber egal, ich werde heute noch mal über den Weihnachtsdom gehen und mir im Festzelt „Zum Ochsen“ noch das eine oder andere Bier gönnen.“

„Aber trinke bitte nicht so viel wie beim letzten Kirmes, Hanif“, sagte Marlies besorgt, „da mussten wir dich am nächsten Tag aus der Zentral-Ambulanz abholen. Das hat damals finanziell ein dickes Loch in unsere Haushaltskasse gerissen“.

„Ich hatte aus Versehen die Viagra-Pillen von Harald zu mir genommen, sie lagen auf dem Kühlschrank und ich habe sie für Hals-Pastillen gehalten. Die haben sich nicht mit dem Bier vertragen. Das kann jetzt nicht mehr vorkommen, wo du schwanger bist.“

Tatsächlich hatte Hanif an jenem Tag euphorisiert vom Weizenbier und Enzian im Festzelt „Zum Ochsen“ anschließend unter dem Gejohle der Zuschauer das Riesenrad erklommen und auf dem Dach der Kabine waghalsige Kunststücke aufgeführt. Er hatte sich wie Hanuman, der indische Affengott, bei laufendem Riesenrad von Kabine zu Kabine gehangelt, bis der Betreiber die Feuerwehr alarmierte, die den gut gelaunten Hanif unter dem Gelächter der Zuschauer in die Zentral-Ambulanz fuhren. Dort verbrachte er die Nacht auf einer Matratze auf dem Fußboden zum Ausnüchtern. Die Berichte mit Fotos in den Zeitungen am anderen Tag schnitt sich der stolze Hanif aus und verwahrte sie in einer Zigarrenkiste, mit der er tagelang alle Restaurants und Kneipen im Schanzenviertel abklapperte und manches Freibier heraus schlug.

„Aber erst werde ich mich nach meinem Frühstück noch etwas hinlegen und entspannen“, sagte Hanif und klopfte sich auf seinen Bauch, „der Kirmes läuft ja nicht weg, oder?“

Haralds Handy läutete. Er hörte schweigend zu und schüttelte am Ende den Kopf. „Ich soll Jojo aus dem Gefängnis abholen“ sagte er, „na, dann will ich mal! Ich bin zum Mittagessen wieder zurück, Marlies. Deck man für Jojo mit auf!“

„Ja, das mach du man, Harald“, zwinkerte Hanif mit dem rechten Auge, „du kannst besser als ich mit Kriminellen umgehen.“

 

Unten am Gefängnistor wartete Harald auf Jojo. Er umarmte ihn, als ein Beamter Jojo die Gitterpforte aufsperrte: „Was machst du bloß für Sachen, Jojo, wenn man dich mal alleine lässt.“

„Ich habe überhaupt nichts gemacht, Harald, ich habe nur nach dem Weg gefragt, mehr nicht!“

Zusammen wanderten sie durch den Park Planten un Blomen am Fernsehturm vorbei zurück zur Stadtvilla.

Übrigens, Jojo“, sagte Harald, „du hast in deiner Abwesenheit Besuch von zwei deiner Landsleute bekommen. Du sollst sie anrufen, wenn du wieder Zuhause bist!“

 

 

Harald, ein ehemaliger Leichtfuß und Säufer, der in seiner Firma "Deutsche Assekuranz" wegen alkoholischer Eskapaden als letzte Chance an den Zentral-Kopierer versetzt wurde. Hier entwickelte er sich zum Biedermann und Werwolf der Verwaltung. Sein Standard-Satz am Kopierer: "Aber heute wird das nichts mehr!"

 

Harald: Nachlese über ein einfaches Leben

Irgendwo hat Hanif schon recht. Aber er hat gut reden; er kommt von einem anderen Erdteil mit einer anderen Kultur. Dort sind die Menschen schon glücklich, wenn sie abends satt ins Bett gehen können. Wir versuchen hier weniger zu essen, um nicht fett und krank zu werden. Das ist schon mal ein wichtiger Unterschied. Für uns ist die Arbeit notwendig, um ein sinnvolles Leben zu führen. Ohne Arbeit drehen wir durch und halten uns für Versager. Ich jedenfalls kann nicht wie Hanif den ganzen Tag auf einer Bank im Park sitzen und in den Himmel grinsen.

4. Episode Der Kirmes und noch ein Missverständnis

 

Mögen all meine Fehler sich auf ihre Plätze begeben und möglichst wenig Lärm dabei machen.“ Indianische Weisheit

 

Hanif bummelte nach seinem Verdauungsschläfchen am frühen Nachmittag in der beginnenden Dämmerung über den Kirmes und trank das eine oder andere Bier an den Buden. Es war schon dunkel, als er angeheitert das Festzelt „Zum Ochsen“ betrat, um dort als erstes die Pissrinne aufzusuchen. Er gönnte sich danach noch eine Haxe und ein weiteres Bier, ehe er sich am Tresen eine echte bayrische Watschn' von der stämmigen Serviererin Resi aus Itzehoe einhandelte, als er versuchte, ihr die Schürze über ihrem ausladenden Hintern neu zu binden. Er taumelte in Richtung des Hendl-Grills, konnte sich aber noch fangen. Das trübte jedoch in keiner Weise seine gute Laune.

„Einen Versuch war es wert und Verluste gibt es überall“, tröstete er sich und rieb sich die Wange, „außerdem sind gewalttätige Frauen sowieso nicht mein Fall.“

Er kam auf seinem weiteren Weg an ein Kettenkarussell, wo die Passagiere in luftiger Höhe angekettet in Einzelsitzen ihre rasanten Runden drehten. Durch die Fliehkraft verlor jemand das Kleingeld aus der Tasche, das auf Hanif nieder regnete. Er sammelte es auf und kaufte sich davon an einem kleinen Stand eine riesige Portion Zuckerwatte am Stiel. Beim Weiterschlendern fiel sein Blick auf ein bescheidenes Zelt mit dem Namen „Himalaya“, das indische Fakire und den letzten Auftritt der indischen Zauberin Anadil in diesem Jahr auf einem Plakat ankündigte. Ein leichtes Gefühl von Heimweh wehte Hanif an. Er kaufte sich an der Kasse bei dem mageren Kassierer eine Eintrittskarte und bemerkte auch das kleine Pappschild „Flexibler Mitreisender“ gesucht. Er betrat das Zelt, in dem vorrangig Eltern mit ihren kleinen Kindern im Halbdunkel im Halbkreis auf den Holzbänken vor der kleinen Bühne saßen. Die Zuschauer mussten noch eine Weile warten, ehe sich zu den mystischen Klängen einer Sitar vom Band der geflickte rote Vorhang auf der Bühne einen Spalt öffnete und zwei ältere Inder mit Turbanen, goldfarbenen Pluderhosen und Schnabelschuhen die Bühne betraten. An ihren Gürteln trugen sie gewaltige indische Krummdolche. Den größeren der beiden erkannte Hanif als den Billetverkäufer von der Kasse wieder. Er war jetzt im Gesicht und an den Armen braun geschminkt, als wäre er unter der Sonnenbank eingeschlafen; doch für die Kinder waren es exotische Inder. Im gebrochenen Deutsch, das aber seine Ähnlichkeit zum mecklenburgischen Platt nicht verleugnen konnte, kündigte der Billetverkäufer das Programm an: „In wenig Augenblick kommt indisch große Zauberin Anadil hinter dies Vorhang. Bitte, große Ruhe für ihr!“ Er schlug auf einen riesigen Gong, den golden gefärbten eisernen Deckel einer ehemaligen Mülltonne. Es breitete sich eine angespannte Stille aus. Die beiden Inder zogen langsam den Vorhang auf. Auf einem runden Kissen, eingehüllt in ein weißes Gewand, saß mit dem Rücken zum Publikum die Zauberin Anadil. Die Inder verbeugten sich vor ihr und knieten nieder. Die Zauberin drehte sich nun dem Publikum zu. Sie legte ihre beiden Handflächen vor ihrem mächtigen Busen im Namaste-Gruß aneinander und verbeugte sich im Sitzen. Die Bräune von Anadil war echt; sie war eine Zigeunerin an die Fünfzig, und von ihrem Clan wegen übertriebener Redlichkeit verstoßen worden. So hatte sie sich auf das Schausteller-Gewerbe verlegt. Ihre wilden schwarzen Locken wurden von einem roten Stirnband gebändigt, ihre dunklen Augen glühten feurig. Ohrringe und eine schwere Halskette aus Katzengold vervollständigten ihr malerisches Aussehen. Sie breitete die Arme langsam wie eine hinduistische Göttin aus und warf dabei geschickt Schwarzpulver in eine Messingschale vor sich, aus der jetzt ein wildes Feuer kurz aufflammte. Die Kinder schrien begeistert auf. Sie führte dann routiniert eine Reihe von Taschenspielertricks auf, die Hanif alle in abgewandelter Weise meist kannte. Er hatte in früheren Jahren auf Wanderschaft in Indien über die Dörfer damit seinen Lebensunterhalt als Gaukler bestritten. Der geschminkte Billett-Verkäufer trat jetzt nach vorne und kündigte den Höhepunkt an. „Zauberin Anadil jetzt bewegen Gegenstände mit Magie. Bitte viel ruhig jetzt!“ Der andere Inder trug einen Glasbehälter, so groß wie einen Eimer, der mit Wasser gefüllt war, in den Vordergrund der Bühne. Der Billett-Verkäufer hielt eine kleine gelbe Ente aus Kunststoff in der Hand und ging in die ersten Reihen der Zuschauer und forderte die Kinder und ihre Eltern auf, die Ente zu untersuchen. Sie ging von Hand zu Hand, doch niemand konnte etwas Besonderes an ihr entdecken. Als der Billett-Verkäufer die Ente zurück bekam, hielt er sie hoch über seinem Kopf in der Hand, damit jeder sehen konnte, dass er die Ente nicht gegen ein anderes Exemplar vertauschte und setzte sie dann in den Glasbehälter, wo sie auf dem Wasser schwamm. Die Zauberin Anadil begann jetzt in einer fremden geheimnisvollen Sprache Zaubersprüche zu murmeln und zeigte dann mit ausgestrecktem Finger auf die Ente im Glas. Zum Erstaunen aller tauchte die Ente nun unter Wasser, tauchte wieder auf und verführte wie von Geisterhand eine Reihe von Bewegungen. Das Publikum klatschte begeistert und die Kinder juchzten. Anadil verbeugte sich im Sitzen noch einmal in Richtung der Zuschauer. Der Billett-Verkäufer fischte die Ente aus dem Wasser und reichte sie noch einmal zur Begutachtung ins Publikum. Wieder konnte niemand an der Ente etwas Besonderes entdecken. Hanif musste auf seinem Platz schmunzeln, denn er hatte diesen Trick auch immer als Höhepunkt bei seinen dörflichen Auftritten gewählt und ein fassungsloses Publikum zurück gelassen. Der Trick bestand darin, dass die Ente beim Einsetzen in den Glaseimer unauffällig mit einem Stück Wachs an einen Zwirnsfaden befestigt wurde. Der Zwirnsfaden lief durch ein winziges Loch durch den Boden des Glases in den doppelten Boden und von dort aus durch ein weiteres Loch zu der Zauberin Anadil, wo er unter ihrem Gewand am großen Zeh ihres rechten Fußes gebunden war. Unter ihrem in Falten drapierten Gewand konnte sie nun den Zeh entsprechend bewegen, ohne dass jemand

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 28.03.2018
ISBN: 978-3-7438-6344-6

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieser Roman ist die Fortsetzung des Romans "Die langen Schatten der Erleuchtung". Man kann den Roman jedoch notfalls auch ohne große Vorkenntnisse lesen. 

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