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Das letzte Reservat

Das letzte Reservat

 

Es war wieder der Traum, ich wusste es gleich. Ich erkannte ihn an dem gedämpften Licht. Allerdings waren die Fenster nicht wie sonst aus blauem Glas wie in einer Kathedrale, sondern eher gelb und von einem hellen Braun. Auch die ältere Frau mit den weißen Haaren, die sich mit gütigem Gesicht über mich beugte, war mir unbekannt. Sie war neu in diesem Traum. Am Kragen ihrer hoch geschlossenen Bluse sah ich eine Brosche mit einem roten Kreuz. Ich musste in meinem Traum in ein Krankenhaus gelangt sein.

„Wie fühlst du dich, ehrwürdiger Mensch?“ fragte mich die Frau mit dem weißen Haar. Es musste eine Krankenschwester sein, sie trug ein Häubchen. Ich wollte sagen: „Gut, danke!“ Doch meine Stimme versagte und ich musste mich räuspern, ehe ich einen erneuten Anlauf nahm. Ich hörte meine entstellte Stimme sagen: „Es geht mir gut, Schwester!“ In diesem Augenblick wusste ich, dass ich nicht träumte. Ich war wach und befand mich in der Wirklichkeit.

„Möchtest du etwas trinken?“ fragte sie mich.

Für einen Moment kam es mir vor, als müsste ich mich erst erinnern, was es bedeutete, zu trinken. „Ja, gerne Schwester“, hörte ich meine Stimme antworten, „ich möchte gerne ein Glas Wasser trinken!“

Das gütige Gesicht der Krankenschwester verschwand aus meinem Gesichtsfeld und ich hörte das Geräusch von Wasser, das in ein Glas gegossen wird.

„Kannst du dich aufrichten?“ fragte sie, als sie wieder vor mir stand, diesmal mit einem Glas Wasser in der Hand.

„Ja, natürlich“, antwortete ich und schwang die Beine aus dem Bett und richtete mich gleichzeitig auf. Zu meiner Verblüffung sah ich, dass ich nicht in einem Bett lag. Ich schwebte in ungefähr einem halben Meter Höhe, als säße ich auf einem Luftpolster.

„Ach ja“, lächelte die Krankenschwester mich an, „du hast natürlich ein Bett erwartet. Vieles haben wir berücksichtigt, aber so etwas Naheliegendes haben wir versäumt. Es ist jedoch auch eine lange Zeit seit deinem Tod vergangen!“

„Meinem Tod?“ fragte ich ungläubig.

„Ja, du hörst richtig! Aber es ist nur natürlich, dass du noch nicht über all deine Erinnerungen verfügst. Trinke erst einmal!“

Sie reichte mir das Glas. Ich führte es zum Munde und nippte vorsichtig daran. Nie hatte ich so etwas Köstliches getrunken. Ich war eine Weile abgelenkt. Es gab nichts Wichtigeres als dieses Glas Wasser. Als ich das Glas geleert hatte, reichte ich es der Schwester und sie füllte es erneut.

„Wir haben diese Krankenakte bei dir gefunden. Vielleicht wird es das Beste sein, du liest sie in Ruhe, während ich etwas zu essen hole, Ehrwürdiger!“

Ich nahm die blaue Aktenhülle entgegen.

„Wo kann ich das Glas so lange lassen?“

„Stelle es dorthin, wo du möchtest, dass es dort steht“, antwortete die Schwester und öffnete die Tür, „es ist wie mit dem Bett!“

Ich hielt die Hand mit dem Glas in der Höhe meines Knies und öffnete die Hand. Das Glas schwebte in der Luft. Die Schwester lächelte und verließ den Raum. Ich schlug die Aktenhülle auf und las: „John Carlson. 58 Jahre alt. Am 17. Dezember 2027 um 6.03 Uhr an Krebs verstorben. Nierenkrebs. Metastasen in den Lymphknoten. Konserviert und eingefroren am gleichen Tag um 9.28 Uhr.“ Dann folgte ein umfangreicher medizinisch-technischer Bericht von mehreren Seiten, von dem ich nichts verstand. Ich schlug die Akte zu. Natürlich, ich war John Carlson, ein erfolgreicher schwedischer Makler, der sich in Petersburg niedergelassen hatte und dort ein blühendes Geschäft betrieb. Zum zweiten Male verheiratet. Zwei Söhne aus erster Ehe, die ihr Informatik-Studium an der Elite-Universität Kabul in Afghanistan erfolgreich beendet hatten und schon während ihres Studiums eine erfolgreiche Ideenfabrik im Internet betrieben. Marli, meine zweite Frau, eine Estin. Dann die Diagnose: Nierenkrebs. Operationen, mehrere missglückte Transplantationen, alle möglichen Therapien. Alle erfolglos. Mayo-Klinik. Dann das Eingeständnis des Chefarztes. „Wir können nichts mehr für Sie tun!“ Von Marli ließ ich mich überreden, mich einfrieren zu lassen: „Bald ist die Wissenschaft so weit, es kann sich nur noch um ein paar Jahre handeln!“ Ich erinnerte mich jetzt genau. Marli saß an meinem Bett, als es mit mir zu Ende ging. Sie hatte mich nach Hause holen lassen. Mein Bett stand im Wohnzimmer am Fenster. Mit Blick auf die Terrasse in den Garten zu den großen alten Eichen. Ich erinnere mich noch an das sanfte Glucksen des Tropfes über mir.

 

Die Tür schwang auf und die Schwester kam mit einem Tablett herein und stellte es vor mich in die Luft. Mir fielen ihre geschminkten Lippen auf. Ihre Haare wellten sich dunkel.

„Es ist nichts Besonderes. Nur leichte aromatisierte Kost, nur wenige Happen!“

„Schwester, welches Datum haben wir heute?“

„Nach deiner Zeitrechnung haben wir den 13. März 2373! 8 Jahre nach deinem Tode, im Jahre 2035, muss sich der bedauerliche Unfall ereignet haben!“

„Welcher Unfall, Schwester?“

„Zahlreiche Atomexplosionen, verteilt über den gesamten Planeten! Wir halten es immer noch für einen Unfall, wenn auch für einen höchst merkwürdigen. Nach unserer Erfahrung würde kein intelligentes Lebewesen so etwas selbst bewerkstelligen. Und wir zählen deine Art, Ehrwürdiger, zu den intelligenten Lebewesen. Soweit wir so einfache Formen der Intelligenz richtig einzuschätzen vermögen!“

„Sie reden, Schwester, als würden Sie sich nicht zu den Menschen zählen!“

„Das ist richtig, ich bin kein Mensch!“

„Sondern?!“

„Du würdest es nicht verstehen können! Sagen wir einmal vereinfacht, ich bin Energie, die alle Formen annehmen kann!“

„Eine Energie, die sich die Haare färbt und frisiert. Und sich schminkt? Schwester, Sie sehen jetzt weitaus jünger aus!“

„Das stimmt. Doch du bist der Veranlasser dieser Veränderung. Ich selbst bin in dieser Form nicht real. Ich bin ein Spiegelbild deiner Wünsche. Du hast dich seit deinem Erwachen gut erholt und sehnst dich nach der Gesellschaft einer Frau deines Alters! Dieser Wunsch hat mich verändert!“

„Und wieso lebe ich wieder?“

„Wir fanden dich in einer Kühlbox. Du hast Glück gehabt, deine Kühlbox bezog ihre Energie über Solarzellen. Es war in der Tat keine große Anstrengung für uns, die Krankheit, an der du verstorben bist, zu beheben. Anschließend ließen wir deinen Stoffwechsel rückwärts laufen und dich so bis zu einem Alter verjüngen, das uns am günstigsten für ein glückliches Leben deiner Art erschien: 30 Jahre. Diesen Zustand haben wir in deiner inneren Uhr eingestellt, du wirst nicht mehr altern. Wenn du in einen Spiegel schaust und dich erinnerst, wirst du den Unterschied erkennen. Du hast wieder volle dunkle Haare und noch sämtliche Zähne. Deine Gestalt ist schlank und elastisch! Doch nun, iss etwas, Ehrwürdiger, damit du zu Kräften kommst!“

Ich gehorchte. Es war alles zu viel für mich. Ich aß ein paar Bissen und trank noch etwas. Dann hielt mir die Schwester einen Spiegel hin. Ich sah einen noch jungen Mann. Noch ohne weiße Schläfen, wie ich sie hatte, als ich Marli kennenlernte.

„Schwester, könnten Sie die Vorhänge zurückziehen und das Fenster öffnen? Ich möchte ein wenig frische Luft und nach draußen schauen!“

„Nicht alles auf einmal! Vielleicht morgen!"

Sie berührte sanft meine Schulter. Ich fühlte, wie mich eine wohltuende Müdigkeit durchflutete und ich zurück sank.

Die Sonne schien wieder hell durch die gelb-braunen Fenster, es musste ein schöner Tag sein. Die Schwester hatte sich weiter verjüngt. Ich fühlte mich gut. Ich aß meine Mahlzeiten mit Appetit. Ich bekam Wasser mit dem flüchtigen Geschmack von Himbeeren.

„Der bedauerliche Unfall hat deinen Planeten verwüstet, Ehrwürdiger. So besteht diese Nahrung größtenteils aus Mineralien. Wir haben jedoch alle für dich notwendigen Bestandteile dieser Nahrung beigesetzt. Wie gesagt, dein Planet ist zerstört. Darum wollte ich gestern auch nicht, dass du nach draußen schaust. Der Schock könnte für dich zu groß sein. Doch wir haben einige Tiere retten können. Auch einige deiner engsten Verwandten, - die ehrwürdigen Affen!“

Mein Mund wurde trocken und meine Zunge ein störender Fremdkörper, als ich meine Frage hinaus stieß: „Schwester, gibt es noch andere Menschen?“

Ich ahnte die Antwort und die Stille nach meiner Frage dehnte sich endlos.

„Nach unseren Informationen bist du der letzte Mensch, Ehrwürdiger. Aber die Erde ist groß!“

„Und welche Affen habt ihr retten können!“ fragte ich beklommen.

„Die Gorillas. Wir fanden ihre Eizellen und Samen eingefroren in einem biologischen Institut. Wir haben für die Gorillas ein Reservat geschaffen. Alleine und ohne unsere Hilfe könnten sie in dieser Welt nicht überleben. Nur wenige der Tiere können in dieser Welt für sich alleine sorgen. Die Nahrungskette ist durch den bedauerlichen Unfall unterbrochen. Die ehrwürdigen Insekten scheinen am ehesten mit den veränderten Umständen zu Recht zu kommen. Für alle noch vorhandenen Lebewesen haben wir diese künstliche Nahrung geschaffen. Sie wird für das jeweilige Lebewesen geringfügig verändert und schmackhaft gemacht. Auch die Affen werden mit dieser Nahrung von uns versorgt. Es gibt keine Bäume mehr. Es wird noch lange Zeit vergehen, ehe auf diesem Planeten wieder Bäume ihre Schatten werfen. Möchtest du, wenn du wieder kräftig genug bist, in das Reservat zu den Gorillas? Oder sollen wir dir ein gesondertes Reservat schaffen? Dort wärst du allerdings ohne Gesellschaft! Möchtest du alleine leben?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Wir haben Aufzeichnungen über das frühere Aussehen der Erde und das Leben auf ihr gefunden und danach für dich einiges rekonstruiert!“

„Daten aus dem Computer?“

„Nein! Wir haben 12 Bücher gefunden. Aus dem Jahre 1987. Diese Bücher heißen „Reader‘s Digest“.

 

 

Sie war wieder eine weißhaarige Frau mit einem gutmütigen Gesicht. Sie führte mich nach draußen. Es sah schrecklich aus. Ich war auf diesen Anblick in keiner Weise vorbereitet. Ich hatte vom Krieg zerstörte Landschaften gesehen. Auf Bildern, in Filmen, aber auch als Soldat. Doch dies hier sah wie eine endgültige Zerstörung aus, bei der die Dinge unwiderruflich in ihre Einzelteile zerfallen waren. Wie Teile einer komplizierten alten Uhr, die Säuglingshände auseinander gepflückt und für immer unbrauchbar gemacht hatten. Es sah aus, als wäre alle Farbe der Welt für immer zu einem aschigen Grau verbrannt, selbst der Himmel. Das gelbe Glas meiner Fenster sollte mir die Freude eines sonnigen Tages geben. Sie hatten sich große Mühen gemacht und Skulpturen aufgestellt, die mich an Bäume, Sträucher und Blumen erinnern sollten. So konnte man auf unserem Wege zum Reservat meinen, man verließe die zerschmolzene Steinwüste und betrete einen Park. Die gütige Schwester führte mich an den Skulpturen vorbei, bis wir an eine hüfthohe Betonwand kamen. Es sollte der Graben sein, der das Reservat von der Welt trennte. Alles erinnerte mich an den Zoo meiner Geburtsstadt, die für ihren Tierpark mit seiner artgerechten Haltung lange Zeit weltberühmt war. Der Graben war etwa fünf Meter breit und in zwei Meter Tiefe spiegelte sich der stumpfe Himmel im Wasser.

 

„Dieser Graben schützt die ehrwürdigen Affen vor der Welt. Und die ehrwürdige Welt vor den Affen!“, erklärte mir die Schwester. Sie zeigte auf einen schmalen Eisenträger, der vor der Betonwand lag. „Damit wirst du auf die andere Seite gelangen!“ Mit einer Hand griff sie den Eisenträger und legte ihn ohne Anstrengung über den Graben.

„Und warum macht ihr das alles? Warum kümmert ihr euch um die Lebewesen? Und warum sorgt ihr selbst für mich?“

„Es hätte wenig Sinn, dir das zu erklären. Dir fehlt das Verständnis für die Zusammenhänge. Deine Art kann alles nur in einem Ausschnitt sehen, Ehrwürdiger! Soviel sei gesagt: das Leben existiert nur durch seine eigene Vielfalt!“

Ich schwang mich auf den Rand des Grabens und stellte mich auf den Eisenträger. „Ihr wisst, dass es kein Unfall war!“

Sie antwortete nicht und blickte mich weiterhin gütig an. Für einen Augenblick meinte ich, einen strengen Zug um ihren Mund zu sehen.

„Sehen wir uns wieder?“

„Wohl nicht in dieser Form. Doch du wirst auch in Zukunft nicht ohne Betreuung sein, Ehrwürdiger!“

Ich nickte. Dann machte ich den ersten Schritt auf den Eisenträger. Ich war ein junger Mann, und es bereitete mir keine Schwierigkeiten, auf dem Eisenträger über den Graben zu balancieren. Als ich die andere Seite erreicht hatte, zog die Schwester den Eisenträger wieder ein und lehnte ihn an den Betonrand.

Ich warf einen Blick auf mein neues Zuhause. In einiger Entfernung sah ich eine Gruppe Gorillas. Sie hockten in einem Halbkreis um eine große Schüssel. Es sah so aus, als ob sie aßen.

Ich blickte noch einmal zurück. Die Schwester stand nicht mehr am Graben. Auch der Eisenträger war für mich nicht mehr zu sehen.

 

Ich war 30 Jahre alt. Ein gutes Alter für Herausforderungen dieser Art.

Ich ging auf die Gruppe der Gorillas zu. Auch ich hatte Hunger. Als ich näher kam, konnte ich erkennen, dass es sich bei dem Futter um Nachbildungen von Bananen handelte. Der massigste Gorilla hob bei meinem Näherkommen den Kopf und drehte seinen Blick in meine Richtung. Er war ein gewaltiger Silberrücken und sein Fell glänzte selbst im fahlen Licht. Er schaute mich ruhig an. Ich sah seinen gewaltigen Nacken. Der Wulst auf seinem Schädel glich einer Krone.

 

Vielleicht mag es daran gelegen haben, dass der Silberrücken gerade wieder nach einer dieser Bananen in der Schüssel griff. Auf mich wirkte diese Bewegung, als würde er mich heran winken.

Und erleichtert beschleunigte ich meine Schritte.

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Tag der Veröffentlichung: 04.05.2017

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