Der erleuchtete und athletische Meister Jojo
Ausgesprochen klingt sein Name wie „Dschodscho“. Seine japanische Mutter bestand schon bei der Zeugung darauf, dass er eine spirituelle Karriere einschlagen solle, und nahm dem indischen Erzeuger – Vizemeister der Asia-Spiele im Hammerwurf - das Versprechen ab, das künftige Baby „Regungslosigkeit“ = Jo oder „ruhig“ = Jojo zu nennen, da sie befürchtete, der Rotationseinfluss des Vaters könnte einen kreiselnden Zappelphillip aus dem Kind machen.
Jojos schlitzohriger Schüler Hanif Pagalparam
Erst im fortgeschrittenen Alter begann Hanif, sich erfolglos um die Weisheit zu bemühen. Daher wirkt er manchmal noch etwas unreif. Bei Meister Jojo hatte er sich vor 15 Jahren mit dem Argument beworben, er sei der ideale Schüler, da er saudumm sei. Andererseits weiß Hanif jedoch, wo das Pulver in der Ecke steht. Man könnte ihm ohne weiteres seine Ersparnisse anvertrauen, weniger seine Verlobte oder Ehefrau.
Der Privatgelehrte Hubertus von Kessel
Er befindet sich schon seit 30 Jahren auf der Wahrheitssuche. Ist die Weisheit endlich in Reichweite, beschließt er, dass es nicht die Wahrheit sein kann und treibt seine Suche in eine andere Richtung voran. Seine Erlebnisberichte findet man in verschiedenen esoterischen Magazinen. Er ist auch Autor mehrerer hochgelobter Bücher, die jedoch keiner lesen will.
Mathilda, seine stille Gefährtin
Mathilda ist eine dieser Ehefrauen, die ihren Männern scheinbar bedingungslos folgen und sich immer bescheiden im Hintergrund halten. In Wirklichkeit jedoch steuert sie aus dieser Position ihren wilden Hengst Hubertus wie einen Droschkengaul.
Die Eheberaterin Marlies
Als Eheberaterin hat sie mit ihrem eigenen Ehemann einen satten Missgriff getan und sich selbst widerlegt. Aber aus Fehlern wird man endlich schlau. So haben Irrtum und Enttäuschung Marlies sicherlich zu einer der gefragtesten Eheberaterinnen qualifiziert.
Marlies´ Göttergatte Harald
Ursprünglich war er einmal ein flotter und leichtsinniger Bursche, der Wein, Weib und Gesang mehr als zugetan war. Als Harald sich notgedrungenermaßen zur Abstinenz entschließen musste, um im Versicherungskonzern „Deutsche Assekuranz“ als letzte Chance die Bedienung des Zentralkopierers zu übernehmen, verwandelte er sich über Nacht zu einem Werwolf der Verwaltung - ein Langeweiler, der nur bei den Heimspielen von St. Pauli zeitweise über seinen übermächtigen Schatten springt.
Die lebenslustige Jutta
Kleingeistige und engherzige Menschen würden sie als mannstolle Nymphomanin bezeichnen. Dabei beschränkt Jutta lediglich ihre Liebe und Zuneigung nicht auf einen einzigen Mann, da sie in der Liebe keine Einengung duldet. Sie war schon mit dem halben Schanzenviertel glücklich verlobt. Ihre Ehemaligen reden nur gut über sie, auch wenn sie erleichtert waren, nach ihr eine weniger umtriebige Partnerin gefunden zu haben.
Das superschwergewichtige Käthchen
Das über 300 Pfund schwere Käthchen ist die ehemalige Besitzerin der Stadtvilla, in der die WG lebt. Seit den traumatischen Hungerzeiten der Kriegsjahre leidet Käthchen an einer Angstneurose: Sie befürchtet, sie könne über das Wochenende Skorbut bekommen, wenn der Kühlschrank am Sonnabend nicht bis ins Gefrierfach gefüllt ist.
Der hochspirituell verwirrte Gary
Er hält sich für die Wiedergeburt eines Brahmanen. Von der Natur ist er im Aussehen etwas benachteiligt worden. Was bleibt ihm anderes übrig, als seine äußere Erscheinung mit allen Mitteln aufzurüsten und sich mit esoterischen Konzepten zu betäuben.
Die politische und äußerst kritische Vera
Sie ist eine erprobte Feministin - an die fünfzig - und arbeitet im alternativen Buchladen um die Ecke. Gary nennt sie nur die „Kampflesbe“, weil sie keinen Zweifel aufkommen lässt, dass sie für plumpe, männliche Komplimente seiner Art nicht zugänglich ist.
Hanifs Versuchung Melinda
Rätselhaft wie Mona Lisa und strahlend schön sitzt sie täglich in einem Schaufenster der berüchtigten Herbertstraße auf St. Pauli. Ihr geschnürtes, schwarzes Korsett hält ihre üppigen Reize nur mühsam im Zaum. Melindas Herz und Fenster sind weit geöffnet für alle Männer, die sie für ihre Liebeskünste mit Geldgeschenken überhäufen.
Die modebewusste Punkerin Lissy
Lissy hat zeitweilig das rüde Benehmen einer waschechten Punkerin. Sie macht sich allerdings nur die modischen Attribute zunutze. Ansonsten ist sie die verlässliche Stütze im Sekretariat der Speditionsfirma Wenzel & Menzel.
Das charmante Verkaufsgenie Giaccomo
Feuriger, kleinwüchsiger Halb-Italiener, dessen Körper durch rege sexuelle Aktivitäten seit frühester Jugend nicht mehr die Kraft hatte, entsprechend in die Höhe zu wachsen. Jutta betet ihn an und schaut liebevoll auf ihn herunter.
Gottfried Teufel alias Gotti, auch bekannt als Devian.
Zwielichtiger Bettler mit mehr Filialen als Optiker Fielmann. Als einstmals gescheiterter Philosophiestudent der ersten Semester ist er immer noch gewitzt und schlagfertig. So wechselt er nach Bedarf die Rollen und mutiert nach eigener Ankündigung zum Erleuchteten Devian, der seiner Kundschaft die Probleme ausredet.
Der geschulte Festredner Egon Maltzahn
Hauptabteilungsleiter von Gottes Gnaden bei der Versicherung „Deutsche Assekuranz“. Perückenträger und Liebhaber von strammen jungen Männern. Bevorzugt hochprozentigen Magenbitter in Gallonen-Einheiten.
Elvira, auch bekannt als Tante Autogenia
Gattin von Egon mit starkem Hang zum Übersinnlichen. Sie hatte gerade vom Meditieren zum Pendeln gewechselt, als sie ihre endgültige Berufung als Gottis Medium erfährt.
Zarathustra lächelte und sprach:
„Manche Seele wird man nie entdecken,
es sei denn, dass man sie zuerst erfindet“
Friedrich Nietzsche
Als Trudi Hagen an diesem Tag auf ein Läuten an der Haustür wie immer erst einmal argwöhnisch durch den Spion äugte, erblickte sie einen dunkelhäutigen, älteren Mann in einer grünen Latzhose, der sie durch das Okular angrinste, als posiere er für ein Bewerbungsfoto. Und völlig gegen ihre Gewohnheit begann sieohne weitere Nachfragen die Haustür zu öffnen - ein zeitraubender Vorgang, denn es galt, mehrere Ketten, Schlösser und Riegel zu entsichern. Das Rentnerehepaar Trudi und Jan Hagen stand grundsätzlich allem Fremdländischen ablehnend gegenüber, und auch die kleinste Veränderung der gewohnten Umstände konnte sie in eine tiefe Krise stürzen. Selbst wenn eine brave, biedere Familie in die Siedlung zog, unterstellten sie den neuen Nachbarn alle möglichen Laster und dunklen Absichten, für die die Ahnungslosen Jahre und den Zuspruch der übrigen Nachbarn benötigten, um von Trudis und Jans innerer Fahndungsliste gestrichen zu werden. Umso verwunderlicher war es, dass Trudi bereits vor dem Öffnen des letzten Riegels zur Küche hin rief: „Jan, komm´ doch mal! Unser neuer Mieter!“
Nach einem kurzen Stuhlrücken erschien der Gerufene – weißhaarig, auf Pantoffeln schlurfend - im Flur. Eine grobe Manchesterhose wies ihn als ehemaligen Zimmermann aus. Der dunkelhäutige Mann in der grünen Latzhose stand schon fast in der geöffneten Tür und stellte sich gerade als Hanif Pagalparam vor. Er wedelte mit dem Stadteilanzeiger herum, in dem Trudi und Jan ihre heruntergekommene Schrebergartenlaube schon seit mehreren Wochen als rustikales Appartement in zauberhafter Umgebung angepriesen hatten. Bislang ohne Erfolg. Die meisten scheuten vor der behelfsmäßigen chemischen Toilette und dem Kanonenofen zurück, andere vor dem leichten Schimmelgeruch in der Laube.
„Ja, Herr Hanif“, meinte Trudi aufgeräumt, da ihr der Nachname Pagalparam so schwer von der Zunge ging wie das Abrakadabra, „dann wollen wir mal!“ Schon auf dem Weg durch den Garten zur Laube hin waren sie sich so gut wie einig, denn Hanif geriet über die vielen Blumen, Büsche und Bäume geradezu in Verzückung. Bereits am nächsten Tag zog Hanif ein. Er kam zu Fuß und sein einziges Gepäck bestand aus einem Pappkoffer.
Hanif lebte sich rasch in seiner neuen Behausung ein. Er grüßte immer freundlich und ging auch hin und wieder Trudi bei den anfallenden Arbeiten im Garten zur Hand. Er harkte das Laub zusammen oder zupfte das Unkraut in den Gemüsebeeten und stellte sich sehr geschickt an. Dabei erfuhr sie von ihm, dass er aus einem unbekannten, kleinen Dorf namens Milster in der Nähe von Laxmanjhoola am Fuße des Himalaja kam. Hanif war schlank, fast mager. Sein langes, schneeweißes Haar endete auf seinem Schädel in einem Knoten wie das Dach einer asiatischen Pagode. Er wusste noch nicht einmal genau, wie alt er war. In seinem Pass stand „Alter unbekannt“. Er mochte an die Sechzig sein, doch sein schelmischer Blick ließ ihn manchmal fast jugendlich erscheinen. Alles in allem, lebte Hanif Pagalparam wie ein Einsiedler. Jan und Trudi konnten sich nicht entsinnen, je Besuch bei ihm gesehen zu haben. Wenn Jan abends noch einmal mit dem Hund ausging, brannte in der Laube immer noch Licht.
Neugierig geworden, was ihr seltsamer Mieter insgeheim so trieb, arbeitete Jan in den folgenden Wochen auffällig oft an der Laube. „Um Kleinigkeiten auszubessern !“, wie er Trudi weiterhin versicherte. In Wirklichkeit jedoch hatte er sich mit dem kauzigen Inder angefreundet und leerte mit ihm die eine oder andere Flasche. Ein Laster, das Trudi nur tolerieren konnte, wenn es außerhalb ihres puppenartigen Häuschens mit den unzähligen Kissen, Läufern, Plüschtieren, gehäkelten Tischdecken und Untersetzern stattfand.
Als Jan und Hanif eines Abends wieder einmal bei ein paar Weizenbieren in der Laube beisammen saßen, hatte Jan diesmal auch eine Flasche eisgekühlten Korn auf den Tisch gestellt und die Gläser gefüllt. „Hanif, das musst du auch mal probieren! Das nennt sich hier Beschleuniger! Sag mal, hast du eigentlich Heimweh nach Indien?“
„Ein wenig schon“, meinte Hanif nachdenklich, nachdem er den ungewohnten Schnaps gekippt und sich kurz geschüttelt hatte, „aber das hier ist ein ganz unglaubliches Land. Ich bin immer wieder überwältigt von dieser Einrichtung, die ihr Arbeitslosigkeit nennt! Ich finde sie sehr praktisch! Schade, dass wir so etwas in Indien noch nicht kennen! Diese Arbeitslosigkeit ist wirklich etwas, was wir vom Westen übernehmen sollten. Wenn ich nach Indien zurückkehre, werde ich sie bekannt machen. Und dann das hier noch!“ Hanif riss seinen Mund weit auf und holte sein Gebiss heraus. Er legte es neben sein Bierglas vor sich auf den Tisch. „Rate mal, Jan, woher ich diese wunderbaren Zähne habe? Vom Sozialamt! Sie überhäufen einen mit Geschenken, wenn man nur fragt! Kühlschränke, Fernsehen, Brille, - was du dir nur wünschst. Wenn du mal was brauchst, Jan, musst du es mir nur sagen! Ich besorge es dir dann, ich habe sehr gute Beziehungen zum Sozialamt! So mangelt es mir an nichts. Ob Essen oder Kleidung, ich habe mehr als ich benötige, wie ich es noch nie gekannt habe. Ich bin glücklich, meinen Überfluss mit den Bettlern hier teilen zu können. Und ich habe jeden Morgen eine Münze in der Hosentasche, die ich dem gebe, der mich als erster fragt: -Hassumoalnemoark<“
Der Abend fand seinen Höhepunkt und Abschluss, als Jan und Hanif noch einmal ins Haus gingen, um Nachschub zu holen. Während Jan in den Keller stieg, wo seine Bierkiste lagerte, jagte Hanif, stimuliert durch den ungewohnten Schnaps, Trudi um den Küchentisch. Das tat der Freundschaft jedoch keinen großen Abbruch. Von da an wurde allerdings bei den weiteren Zusammenkünften der Korn von der Getränkekarte gestrichen.
Im nächsten Spätsommer verschwand Hanif so urplötzlich, wie er gekommen war. Mit allerlei Befürchtungen betrat Trudi die Laube. Doch alles war sauber und ordentlich. In einem der Schränke fand sie einen in Packpapier eingewickelten Stapel Blätter. „Hier, Jan“, meinte sie und legte ihrem Mann den Stapel auf den Wohnzimmertisch, „schau dir das mal an. Ich hätte es fast in den Papier-Container geworfen. Also, wenn du mich fragst: irgendwie verrückt!“
Jan zog aus alter Gewohnheit den Zollstock aus der Seitentasche seiner Manchesterhose und maß den Stapel aus: „Exakt 13 Zentimeter! Vielleicht 13,2!“
Nach dem Abendessen gönnte sich Jan wie immer eine Zigarre auf der Terrasse und sah sich die Blätter genauer an. Mysteriös und unbegreiflich erschienen ihm die einleitenden Hinweise auf dem Deckblatt. Als erstes fiel ihm jedoch ein fremdartiges Zeichen ins Auge. Wie er später von seinem Zahnarzt erfuhr, handelte es sich dabei um Hanifs unaussprechlichen Nachnamen - Pagalparam - in der altindischen Sprache Sanskrit und bedeutete „der höchste Verrückte, der jenseits von allem ist“.
Darunter stand in ungelenken Buchstaben:
Leuchtende Klarheit. Entspanne und sei offenen Geistes!
Menschen und körperlose Geister –
Ihr, die ihr diese bedeutungslosen Träume zu Gesicht bekommt –
fläzt euch nicht hin in liederlicher Haltung.
Vergesst euch nicht in gemeinem Gegröle
und in ausschweifenden Fieberträumen!
Möge der magische Tanz einer Menge unsinniger Buchstaben
gewöhnlichen Sterblichen zur Unterhaltung dienen!
Unterschätzt nicht die Kraft des grenzenlos stillen Raumes,
der die bedeutungslosen Zeichen spiegelt.
Einzig dieser Geist wird den Dämon der dreigeteilten Zeit
und die langen Schatten der Erleuchtung verschlingen.
Über Jan Hagens Gesicht huschte ein lüsternes Grinsen in der Hoffnung, „´mal ein bisschen anderen Schweinkram“ zu lesen als in seinem illustrierten Blut-Blatt. Gespannt begann er, Hanifs ungelenke Schülerschrift zu entziffern:
….. An jenem Tage, als Jojo uns verließ, sagte er mir noch einmal, wie wichtig es sei, Schluss zu machen mit den Unterscheidungen der Alltagswelt, … dass ich schon lange kein Schüler und er kein Meister mehr sei! Auf seine Frage, ob ich mich nun endlich erleuchtet fühle, konnte ich nur ehrlich antworten, dass ich mich wie immer fühle - wie von Anfang an, worauf er mir antwortete:
„Das ist nicht ungewöhnlich, mein lieber Hanif! Mir ergeht es ebenso! - Wir haben uns eine Weile auf dieses wundervolle Spiel des Lebens in einer fremden Welt eingelassen, um unsere Einfachheit auf die Probe zu stellen. Sind wir gescheitert? Ich glaube es nicht, trotz aller Schwächen! Auf jeden Fall haben wir keinen Schaden davongetragen – im Gegenteil, wir sind um viele köstliche Erfahrungen und Erlebnisse reicher geworden. Ich bin zufrieden mit uns. Ich sehne mich nun wieder zurück nach unserer Höhle in den majestätischen Bergen des Himalajas. Ich freue mich auf die Einsamkeit und die Stille dieser Berge, wie jemand, der genug gesehen und erlebt hat und des Umherirrens müde ist. Auch in mir ist nun alles still geworden. Doch ich sehe dir an, Hanif, dass du noch etwas bleiben möchtest. Das ist gut so..“.
Dann riet er mir, mich noch eine Weile zurückzuziehen und das Erlebte vor meinem inneren Auge vorüberziehen zu lassen. So schreibe ich nun, nicht um ein weiteres totes Buch der Weisheit zu hinterlassen, sondern nur für mich, um des Schreibens willen. Vielleicht verbrenne ich die Seiten oder lasse sie liegen und eine empfängliche Seele findet sie und zieht vielleicht Nutzen daraus…
Die Weisheiten, denen ich in diesem Land mit Meister Jojo begegnen durfte, waren so seltsam und unvergleichbar, dass sie es wert sind, bewahrt zu werden!“
Neugierig geworden las Jan weiter. Vor seinen Augen begannen die Buchstaben wie aufsteigende Staubkörnchen in einem Sonnenstrahl zu tanzen. Schon meinte er, die vertraute, melodische Stimme von Hanif in einem fremdartig hypnotischen Singsang zu hören:
All dies hat sich wirklich ereignet.
Lob und Tadel, Ruhm und Schande
sind in mir eins geworden.
Ich habe alles zurückgewiesen, was sich tugendhaft gab.
Ich habe alles umarmt, wie schamlos es auch erschien.
Erst jetzt bin ich wirklich rein.
Ein Mönch fragte: „Was ist die letztgültige Wahrheit?“
Meister Joshu Joshin hustete.
Der Mönch meinte: „Ist es das?“
Joshu antwortete: „Oh je, jetzt lassen sie mich
nicht einmal mehr husten.“
Anfangs glaubte Hanif an eine Täuschung, wie sie die tiefe Stille hervorrufen konnte. So wusste er manchmal nicht, ob er das kosmische OM oder nur wieder das dröhnende Motorengeräusch eines Lastwagens am gegenüberliegenden Ufer des heiligen Ganges hörte. Doch diesmal gab es keinen Zweifel mehr: Es war ein männliches Lachen, das aus dem Dschungel tönte und sich auf ihre Höhle zubewegte. Ein breites, volles Lachen, das tief aus dem Bauch hervorsprudelte und mit der Macht einer Brandungswelle an den Strand schlug und sich dort verströmte. Das Lachen kam näher, und jetzt war auch die helle Stimme einer Frau zu hören, die wie ein Glockenspiel die lärmende Heiterkeit des Mannes begleitete.
Selten kamen Menschen aus dem Dorf bis hierher. Hanif musterte Meister Jojo aus den Augenwinkeln. Seine Haltung glich einer Statue. Auch jetzt, als das dröhnende Lachen ins Sprechen überging, zeigte er keinerlei Regung.
„Mathilda, meine Schülerin und Meisterin“, hörte Hanif die dunkle Stimme, die sich vor Heiterkeit und Spott überschlug, „wir müssen gleich da sein! Hier muss der alte Knabe irgendwo hausen! Ich spüre es geradezu! Gehe bitte voraus und kündige mich feierlich an: Hubertus, die Krone der Weisheit aus dem Abendland! Die Weisheit beendet ihre Wanderung durch die Zeiten und kehrt heim in den Osten. Mit dem Staub dieser Welt an den Füßen! Doch wir wollen diese Einsiedler nicht erschrecken! Sie sollen Gelegenheit haben, sich auf mein Kommen einzustimmen. Ich werde mich dort auf diesen Baumstamm setzen und mich für den Empfang zurecht machen!“
Jetzt sah Hanif die beiden. Es war gerade der Schrei eines Pfaus zu hören, als sie auf dem winzigen Trampelpfad den Urwald verließen und die Lichtung betraten. Hanif beobachtete, wie die mittelgroße, blonde Frau mühsam die in den Kalksandstein geschlagenen Stufen erklomm. Vor ihr lagen nur noch wenige Schritte bis zur Felsgrotte. Ihr Begleiter machte jedoch vor den Stufen halt, um zu verschnaufen. Es war ein kleiner, dicker Mann mit einem dunklen Vollbart und einem, bis auf einen spärlichen Haarkranz, kahlen Kopf. Mit einem tiefen Seufzer befreite er sich von seinem Rucksack, entnahm der Seitentasche eine grüne Flasche, deren Etikett einen Hirsch mit einem Geweih zeigte. Er nahm einen tiefen Zug, ehe er sich ächzend auf den Baumstamm niederließ. Dann wischte er sich mit dem Ärmel seines rechten Armes den Schweiß aus dem Gesicht.
Mathilda ging die letzten Schritte auf den mageren Hanif zu, der bis auf einen Lendenschurz unbekleidet war. Sein langes, schneeweißes Haar endete auf seinem Schädel in einem Knoten. Hanif hatte noch nie in seinem Leben einen Menschen mit blonden Haaren gesehen. Er erhob sich und ging Mathilda entgegen. Sie ließ ihren Rucksack vor Hanifs Füßen auf den Boden gleiten. Ihre blonden Haare waren zu einem dicken Zopf gebunden, der ihr bis zur Taille reichte. Staunend bemerkte Hanif, dass die Farbe ihrer Augen blau war.
„Meister Jojo?“, fragte sie noch schwer atmend und deutete müde eine Verbeugung an.
Hanif blickte Mathilda aus verschmitzten Augen an. Er lächelte mit mehreren Zahnlücken hinter seinem grauen, struppigen Bart. Verneinend schüttelte er den Kopf und zeigte mit der linken Hand in das Innere der Höhle. Erschöpft ließ sich Mathilda auf dem Felsen vor der Höhle nieder. Der Schweiß lief ihr in Rinnsalen über das gerötete Gesicht. Als sie sich ein wenig erholt hatte, winkte sie mit einer müden Geste ihren glatzköpfigen Begleiter heran. Hubertus nahm noch einen Schluck aus seiner Flasche, ehe er sich das Gewicht seines Rucksacks wieder auflud und schwankend auf die Treppen zusteuerte. Hanif ging ihm entgegen und bot ihm seine Hilfe an. „Keine Umstände, bitte, Meister Jojo!“, protestierte Hubertus scherzhaft. Trotz seiner körperlichen Erschöpfung war selbst jetzt noch sein schelmisches Wesen zu erkennen. Mit einem Lachen glitt er dankbar aus der Schlinge des Rucksacks und überließ ihn bereitwillig Hanif, der ihn die letzten steilen Stufen emporhob.
„Meister Jojo“, meinte Hubertus, der noch erschöpft nach Atem rang, „wir sind sehr glücklich, dich gefunden zu haben!“
Mathilda hatte ihrem Rucksack ein silbernes Zigarettenetui entnommen und hielt es Hanif einladend hin. Mit freudigem Gesichtsausdruck nahm Hanif eine Zigarette. Hubertus` Hand zitterte noch von der überstandenen Anstrengung, als auch er zugriff und den beiden Feuer gab. Schweigend rauchten sie. Als Mathilda ihre Zigarette ausgedrückt hatte, holte sie aus den Tiefen ihres Rucksacks einen winzigen Campingkocher hervor.
In diesem Augenblick trat ein großer, athletischer Mann aus der Höhle. Er bewegte sich mit der Trägheit einer Raubkatze. Er war kaum über dreißig und wie Hanif nur mit einem Lendenschurz bekleidet. Sein schulterlanges Haar war pechschwarz, sein Gesichtsausdruck ruhig und heiter. Im Gegensatz zu Hanif war er bartlos. Man hätte ihn einen Schönling nennen können, wäre nicht dieser beherrschte Zug um seine Lippen gewesen. Er nickte den beiden Neuankömmlingen zu und setzte sich wortlos zu ihnen auf die Felsplatte. Mathilda hielt ihm einladend das geöffnete Zigarettenetui hin, doch er lehnte mit einer Handbewegung dankend ab. Hanif deutete auf den Hünen und brach in ein kicherndes Greisenlachen aus: „Das ist Meister Jojo!“
Die Verwirrung von Hubertus und Mathilda hätte nicht größer sein können. Ihre Blicke wanderten zwischen dem älteren Hanif und dem jüngeren Mann hin und her, bis auch dieser nickte und mit einer tief tönenden Stimme bestätigte: „Ja, es stimmt! Ich bin Jojo!“
„Wieso...“, stotterte Hubertus, „wieso ist der Schüler so viel älter als der Meister!!!??“
Hanif brach wieder in sein meckerndes Lachen aus. Als er sich halbwegs beruhigt hatte, meinte er: „Die Sache ist einfach zu erklären! Ich habe mich erst im fortgeschrittenen Alter um die Weisheit bemüht! Und ich konnte keinen Meister mehr finden, der älter war als ich!“ Von Lachkrämpfen geschüttelt hatte Hanif Mühe, zu Ende zu sprechen. Und selbst Jojo lächelte jetzt zustimmend.
Es dauerte eine Weile, ehe sich Hubertus und Mathilda mit dem Umstand abfinden konnten, der ihre Vorstellungen von einem Meister und seinem Schüler auf den Kopf stellte. Nachdem Hubertus noch eine weitere Zigarette geraucht hatte, wobei auch Hanif sich allzu gerne noch einmal bediente, kramte er jetzt in seinem Rucksack herum und stellte zwei Konservendosen, einen Dosenöffner, Teller und Gabeln aus Plastik auf dem Boden ab. Unter den Blicken von Jojo und Hanif entzündete Hubertus den Kocher und stellte die erste geöffnete Konserve auf die Flamme. Es handelte sich um ein schlichtes Nudelgericht, und schon bald stieg der liebliche Duft von aufgewärmten Spaghetti auf.
„Kommt ihr auch wegen der Berge?“, wandte sich Meister Jojo an die beiden. Er erinnerte sich an die italienische Bergsteigergruppe, die sich auf dem Weg zum Mount Everest verlaufen hatte. Sie hatten ähnliche Gerichte warm gemacht und sie mit Hanif und ihm geteilt. Als ihre Vorräte nach einer Woche aufgezehrt waren, kehrten sie singend und unverrichteter Dinge wieder heim.
„Nein“, ergriff nun Hubertus das Wort, „wir sind deinetwegen gekommen!“
„Meinetwegen...“, fragte Jojo erstaunt, „wieso meinetwegen?“
„Die Leute in der Gegend sagen, du bist ein erleuchteter Weiser!“
„Ach, die Leute! Das sagen sie wohl den Reisenden, damit sie mit ihnen Geschäfte machen können! Nein, ich bin nicht erleuchtet und auch kein Weiser! Ich weiß noch nicht einmal, was das sein könnte! Hanif und ich führen nur ein einfaches Leben hier, das ist alles!“, antwortete Jojo, wobei Hanif einen Blick auf die Spaghetti riskierte, während er seine Zigarette ausdrückte.
„Sie sagen aber“, beharrte Mathilda, „du kennst die Wahrheit! Als einziger!“
„Welche Wahrheit?“
„Die Wahrheit von allem! Die Wahrheit des Lebens!“
„Denen vor euch haben sie gesagt, ich könnte in die Vergangenheit und in die Zukunft blicken! Aber alles, was ich sehen kann, ist dieser Augenblick – mehr ist da nicht!“
Wie unter Schock verteilte Hubertus die erwärmten Spaghetti auf zwei Teller und reichte sie dann Jojo und Hanif. Dann stellte er die zweite Konserve auf die Flamme. „Ist das dein Ernst, Jojo?“
Jojo legte Besteck und Teller beiseite. Er nickte. „Ja, das ist mein Ernst. Soweit man bei solch einem Thema ernst bleiben kann! Es schmeckt gut!“, setzte er hinzu und nahm noch eine Gabel Spaghetti.
Mathilda standen Tränen der Enttäuschung und der Erschöpfung in den Augen.
„Es ist nicht zu fassen“, stöhnte Hubertus, „da reist man um die halbe Welt, holt sich die Ruhr und fast noch die Malaria, klappert sämtliche Klöster und Gurus ab, nimmt alle Strapazen auf sich, bis man endlich den Eremiten gefunden hat. Und dann sagt der, er führe nur ein einfaches Leben. Und der Rest ist nichts als Gerüchte, die die Leute über ihn verbreitet haben!?“ Hubertus´ anfängliches Jammern war in ein Kichern übergegangen, er ließ sich rückwärts auf die Felsplatte gleiten und bebte vor Lachen. „Das darf nicht wahr sein!“
Auch Mathilda hatte sich von der Enttäuschung erholt und lächelte tapfer unter Tränen, schlug die Hände vor das Gesicht und begann zu lachen.
Hubertus hatte sich wieder aufgerichtet, nahm die Konserve von der Flamme, verteilte den Inhalt auf die Teller und reichte Mathilda ihre Portion. „Sei nicht verzweifelt, Mathilda, die anderen haben nur vorgegeben, etwas zu wissen. Dieser Typ hier täuscht wenigstens nichts vor! Er führt nur ein einfaches Leben........!“ Dann brach er wieder in sein brüllendes Gelächter aus, das sich überschlug. Als er sich wieder gefangen hatte, begann er die Reste aus der Konserve auszulöffeln. Hanif hatte bereits seinen Teil vertilgt und blickte vergnügt in die Runde.
„Das muss gefeiert werden!“, beschloss Hubertus, nachdem er die leere Dose abgestellt hatte. Er öffnete nochmals seinen Rucksack. „Unsere endlose Suche ist an ihr Ziel gelangt und hat sich im Fangnetz der Einfachheit verstrickt!“ Mit diesen Worten griff er nach der grünen Flasche, füllte den Trinkbecher und bot ihn Jojo an. Hubertus stieß sanft gegen Jojos Becher. Der nippte nur kurz und reichte ihn an Hanif weiter. Mathilda nahmebenfalls einen kräftigen Schluck. Hubertus ließ das Etui mit den Zigaretten herumgehen. Sie rauchten und schwiegen. Es gab nichts mehr zu sagen. Nach einer Weile hakten sich Hubertus und Mathilda wie auf ein geheimes Kommando ein, begannen zu singen und sich dabei hin- und her zu wiegen. Bei jedem weiteren Schluck aus der Flasche riefen sie laut: „Helau!“
„Vermutlich ist es so etwas ähnliches wie ein Mantra!“, erklärte Jojo dem ratlosen Hanif.
Als sich der Inhalt der grünen Flasche langsam dem Ende zuneigte, hatte Mathilda schon begonnen, selbstvergessen zu tanzen, während Hubertus lärmend dazu sang. Er wühlte dabei in seinem Rucksack und förderte nach einer ausgiebigen Suche eine lange goldene Kette mit einem Orden zutage, wie sie in seiner Heimat zum Karneval verliehen wird. Er erhob sich und versuchte, sich einen feierlichen Anstrich zu geben, doch es war auffallend, wie sehr er schwankte. Schließlich nahm er wieder Haltung an wie ein angetrunkener Soldat, der unbemerkt den Wachposten passieren will, und gab Mathilda ein Handzeichen, ihren Tanz zu unterbrechen.
„Unsere Suche war lang und beschwerlich“, begann er salbungsvoll mit schwerer Zunge, „und wenn man unsere Anstrengungen an der gefundenen Wahrheit misst, dann fällt sie für uns auf den ersten Blick ein wenig mager aus: ein einfaches Leben!“
Mathilda nickte und wiegte sich dabei in den Hüften.
„Doch wir haben diese Wahrheit zu akzeptieren! Man kann sich keine Wahrheiten aussuchen“, fuhr Hubertus fort, „und als Zeichen, dass wir diese Wahrheit annehmen und unsere Suche einstellen, überreichen wir dir, lieber Jojo, diesen schlichten Orden!“
Mit diesen Worten schritt Hubertus etwas schlingernd auf den sitzenden Jojo zu, breitete die Kette feierlich zu einem Oval aus und hängte sie Jojo um den Hals. An seiner breiten Brust sah der Orden mit dem glänzenden Messing und den funkelnden, bunten Glasstücken wie ein Geschmeide von unschätzbarem Wert aus. Hubertus und Mathilda verbeugten sich tief vor Jojo, der freundlich lächelte. Sie hatten sich nun um die Hüften gefasst und wirkten gerührt. Dann hielt Hubertus die grüne Flasche hoch über seinen Kopf, trank aus ihr einen gewaltigen Schluck, ehe er sie Mathilda reichte, die den Rest leerte. Sie stützten sich gegenseitig auf dem Weg in das Innere der Höhle. Wenig später hörte man das Schnarchen von Hubertus und den gleichmäßigen Atem von Mathilda.
Die tropische Nacht fiel jetzt urplötzlich wie das schwarze Tuch eines Zauberers über die Landschaft. Es dauerte noch eine ganze Weile, ehe Hanif das Schweigen unterbrach.
„Meister Jojo?“
„Ja, Hanif!“
„Warum hast du das alles mit dir anstellen lassen? Warum hast du dir diese lächerliche Kette von diesem Mann umhängen lassen, der nicht einmal Herr seiner Sinne ist?“
„In seiner Welt wird es wohl eine der wesentlichen Beschäftigungen sein, solche Ketten zu verteilen oder zu empfangen! Was macht es schon, dass ich wie ein Narr aussehe? Ich werde diese Kette zu seiner Freude tragen, so lange er bei uns ist!“
„Woher weißt du das alles, Meister Jojo?“
„Ich habe die Gründe für mein Wissen vergessen!“
„Zu mir warst du nie so nachsichtig wie zu Hubertus, Meister Jojo!“
„Das ist richtig! Und das ist gut so, Hanif!“
„Noch eine letzte Frage, Meister Jojo?“
„Ja, Hanif!“
„Warum hast du den beiden gegenüber verleugnet, dass du ein erleuchteter Weiser bist?“
„Warum sollten wir unseren eigenen Sitz aufgeben
und in den staubigen Gefilden fremder Länder umherwandern?“
Dogen Zenji
Als Hubertus und Mathilda erwachten, war es schon heller Tag. Hubertus hielt sich den Kopf und stöhnte. „Vielleicht sollten wir uns im Bach erfrischen“, meinte Mathilda, „ich fühle mich auch hundsmiserabel!“ Hubertus nickte dumpf. Hand in Hand verließen sie die Höhle. Hubertus trug über der Schulter einen Beutel aus Sackleinen mit frischer Wäsche. Vor der Höhle sahen sie Jojo regungslos mit gekreuzten Beinen auf der Felsplatte sitzen. Er war in sich versunken und seine Augen waren geschlossen. Die beiden waren froh, ihn in ihrem Zustand nicht grüßen zu müssen.
Hinter dem Plateau hatte der Bach eine Ausbuchtung in der Form eines Bassins in das Gestein gewaschen. Von der Felswand stürzte ein Wasserfall in die Tiefe. Sie zogen sich aus und glitten fröstelnd in das kühle Wasser.
„Ach“, rief Mathilda nach einer Weile, „jetzt fühle ich mich schon wieder besser! Ist es nicht wunderbar hier, Hubertus?! Hier könnte ich bleiben! Kein Wunder, dass Jojo und Hanif so zufrieden wirken!“
Hubertus tauchte prustend wieder auf. „Na ja, Mathilda, das sind hier paradiesische Zustände, weit entfernt von allen Ablenkungen und Verpflichtungen. Hier kann man das Elend der Welt leichter hinter sich lassen. Aber stelle dir mal unsere beiden Eremiten bei uns im Schanzenviertel vor! Mit all der Hektik und dem Lärm. Denk nur an die vielen Zerstreuungen und Verlockungen! Ich glaube, die hätten rasch die gleichen Probleme wie wir..... Du, Mathilda, ich habe da eine blendende Idee!“
Als Hubertus und Mathilda zur Höhle zurückkehrten, trugen beide schlichte, weiße Baumwollroben wie hinduistische Pilger. Sie hatten sich gegenseitig ihre Köpfe kahl geschoren. Während bei Hubertus das Opfer nur aus seinem Haarkranz und seinem spärlichen Vollbart bestand, hatte sich Mathilda von der Pracht ihrer langen, blonden Haare getrennt. Jojo erhob sich gerade und blickte sie lächelnd an. Sie setzten sich gemeinsam auf den Felsen, auf dem sie gestern ihre Mahlzeit eingenommen hatten.
Kurz darauf sahen sie Hanif auf dem Trampelpfad aus dem Dschungel kommen. Er trug einen Korb mit Früchten, die er im Dschungel gepflückt hatte. Irritiert blickte er auf Mathilda, die aussah, als hätte sie ein für alle Mal der Welt entsagt. Hubertus dagegen wirkte immer noch wie ein übergewichtiger Lebemann, der das Beste aus seinem Haarausfall gemacht hatte. Hanif nahm neben ihnen Platz und schnitt mit einem Messer die Früchte auf und forderte alle mit einer einladenden Geste auf, sich zu bedienen. Hubertus meinte zwischen zwei Happen:
„Es lebt sich hier gut und einfach bei euch! Mathilda und ich möchten gern einige Zeit hier verbringen, um so zu einem einfachen Leben zu finden. Und auch zu einem einfachen Denken!“ Mathilda nickte ernsthaft. „Wir“, fuhr Hubertus fort, „kommen beide aus einer Welt des Überflusses und ihrer ständigen Verführung zur Maßlosigkeit. Dort erst zeigt es sich, ob man mit seiner Einfachheit bestehen kann! Wir möchten euch beiden, Jojo und Hanif, darum einen Tausch vorschlagen. Und zwar bieten wir euch an, für die Zeit, die wir hier in dieser Höhle verbringen, in unserer Welt unsere Höhle zu bewohnen. Nun, natürlich haben wir keine richtige Höhle wie diese hier! Es handelt sich um zwei Räume in einem Haus, das wir mit Freunden bewohnen. Für alles wird gesorgt sein: Kleidung, Nahrung und auch Geld. Es wird euch an nichts mangeln, im Gegenteil! - Na, was meint ihr?“
Jojo lächelte still vor sich hin. Hanif jedoch zeigte lebhaftes Interesse, und seine dunklen Augen funkelten vergnügt und unternehmungslustig.
„Fühlt ihr euch beide stark genug, eure Einfachheit und Bedürfnislosigkeit auf die Probe zu stellen und herauszufinden, ob sie in einer Welt des Überflusses Bestand haben? Vielleicht gelangst du auf diese Weise doch noch zur Erleuchtung, Jojo! Oder sogar auch Hanif!“, grinste Hubertus.
Hanif blickte mit leuchtenden Augen zu Jojo. Jojo saß versunken da und schwieg eine ganze Weile. Dann nahm er seinen vor der Brust hängenden Orden in die rechte Hand und musterte ihn aufmerksam.
„Du hast recht, Hubertus“, meinte er dann, „unsere Einfachheit ist ein Geschenk, das wir uns in eurer Welt tatsächlich verdienen sollten!“
Über Hanifs Gesicht breitete sich ein freudiges Lächeln aus.
„Aber“, so fuhr Meister Jojo fort, „unterschätzt auch nicht die Einsamkeit und Einfachheit, die hier auf euch beide wartet. Diese Einsamkeit - ohne jegliche Ablenkung - wird euch auf euch selbst zurückwerfen. Alle Tätigkeiten und Beschäftigungen in der Welt sind eine Flucht vor diesem Zustand. Niemand von uns“, so schloss Jojo, „wird es leicht haben!“
Und so kam es, dass Jojo und Hanif wenige Tage später die Höhle verließen. Der schmächtige, weißhaarige Hanif ging voran, er trug den Rucksack mit dem aufgeschnürten Militärschlafsack, gefolgt von Jojo, der sich auf seinen knorrigen Wanderstab stützte. Unter seinem Umhang trug er einen Brustbeutel mit Travellerschecks, die Rückflugtickets von Hubertus und Mathilda, ein Empfehlungsschreiben und einen großen Geldschein aus Europa.
Als Hanif und Jojo den Trampelpfad zum Dschungel erreicht hatten, drehten sie sich noch einmal um und winkten. Mathilda und Hubertus standen am Höhleneingang und verneigten sich still.
„Ob die beiden in unserer Welt scheitern werden, Mathilda?“
„Ich weiß es nicht, Hubertus! Die Versuchungen werden groß für sie sein! Sicher werden sie nicht mehr die gleichen sein, wenn sie zurückkommen!“
„Glaubst du denn, dass sie überhaupt zurückkehren wollen?“
„Wer kann das schon sagen, Hubertus? Aber was meinst du – ob wir das hier durchhalten? Oder vielleicht vor der abgemachten Zeit in unsere Welt zurückkehren wollen?“
Hanif und Jojo waren im Dschungel verschwunden. So stiegen sie von den Hängen des Himalajas hinab, um sich im Staub der Welt zu bewähren.
Der weise Narr ist von nichts besessen.
Er hat die sanfte Art des Loslassens gelernt.
Er gestattet dem, was ohne Bedeutung ist,
an ihm vorüberzuziehen.
Tomas
Als Jojo und sein Schüler Hanif an einem sonnigen Vormittag in Hamburg landeten, stöhnten die Einwohner dieser Millionenstadt schon wochenlang unter einer außergewöhnlich schwülen Hitze. Jojo und Hanif jedoch fühlten sich bei diesen Temperaturen und der Luftfeuchtigkeit, nachdem sie das klimatisierte Flugzeug endlich verlassen konnten, geradezu heimisch und atmeten erleichtert von den Anstrengungen des langen Fluges auf. Auch ihre schlichten, gestreiften Pyjamas passten zu diesem tropischen Wetter in Hamburg. Man hätte die beiden in ihrer etwas exotischen Aufmachung für erfahrene Weltenbummler halten können, wären sie nicht in sehr billigen Badelatschen durch die marmornen Gänge des Flughafens zum Ausgang gewandelt.
„Hanif“, meinte Jojo, „jetzt müssen wir draußen zu den Wagen, auf denen Taxi steht, wie es uns Hubertus gesagt hat. Damit wir an unser Ziel kommen!“
Hanif nickte und wies auf ein Schild mit einem Richtungspfeil und dem Wort Taxi. Ausgerechnet ihre Badelatschen fielen einem Mann ins Auge, der sich darauf spezialisiert hatte, möglichst hilflose Menschen unter den Reisenden auszumachen. Er trat hinter einem Pfeiler hervor, von wo aus er die Reisenden beobachtete. Unter dem Arm trug er eine behelfsmäßige Sackkarre, die er auseinander klappte, als er diensteifrig auf seine Opfer zueilte.
„Taxi?“ fragte er mit einer tiefen Verbeugung. Und erfreut über so viel Aufmerksamkeit, nickten Jojo und Hanif ihm zu. Er bestand darauf, dem schmächtigen Hanif gegen seinen Willen den Rucksack von den Schultern zu zerren, um ihn fachgerecht auf seiner Sackkarre zu verstauen. Dann tippte er an den Schirm seiner Dienstmütze und schob das Gepäck rasch durch die Menschenmenge in Richtung des Ausgangs. Jojo und Hanif, nur an ein beschauliches Gehen gewöhnt, verloren ihren Helfer mit ihrem Rucksack rasch aus den Augen.
„Was für ein freundlicher Mensch, Hanif!“, meinte Jojo versonnen beim Schlendern zum Taxistand.
„Ich hoffe das auch, Meister Jojo“, antwortete Hanif, der lange vor seiner Zeit in der Höhle bei Meister Jojo das eine oder andere größere Dorf mit seinen Tücken kennengelernt hatte und dem bereits jetzt einiges dämmerte. Als die beiden den Taxistand erreichten, war der Mann mit der Sackkarre, wie Hanif es geahnt hatte, schon weit und breit nicht mehr zu sehen.
„Ich befürchte, Meister Jojo“, gab er zu, „dieser freundliche Mann ist ein Dieb, und wir sehen unseren Rucksack nicht wieder!“
„Was ist ein Dieb, Hanif?“
„Ein Dieb lebt davon, dass er anderen Menschen ihre Sachen wegnimmt. Man nennt es Stehlen!“
„Aber was will dieser nette Mann mit unserem Rucksack?“
„Ein Dieb nimmt alles, was er stehlen kann, Meister Jojo!“
„Alles?!“ – Ist das nicht sehr anstrengend und mühevoll? Ist der Dieb denn jetzt glücklich mit unserem Rucksack, Hanif?“
„Wohl kaum, Meister Jojo!“
„Wie bedauerlich für ihn, wo er ein solch anstrengendes Leben führt! Alles nehmen zu müssen und dabei unglücklich zu sein! Und sind wir jetzt ohne den Rucksack unglücklich?“
„Wohl kaum, Meister Jojo!“
„Dann sollten wir diesem Zwischenfall keine weitere Bedeutung beimessen, Hanif!“
„Du bist ein wahrhaft Erleuchteter! Ich schätze mich immer wieder glücklich, als dein Schüler an deiner Seite sein zu dürfen! Aber vielleicht solltest du mich alten Mann das nächste Mal daran hindern, solch freundlichen Menschen etwas Ähnliches wie unseren Rucksack anzuvertrauen. Da sie sowieso nicht glücklich damit werden, wie wir zu Recht vermuten!“
„Wie weise du bist, Hanif! Ich bin mir sicher: nie hatte ein Meister solch einen Schüler wie dich, von dem er so viel lernen konnte!“
„Ich sag‘ euch das, Kinners, das gibt Ärger!“
Harald
Mit einer Hand am Steuer fuhr der füllige Taxifahrer den Wagen vom Flughafen durch den Feierabendverkehr. Den linken Ellenbogen lehnte er dabei lässig aus dem Fahrerfenster. Bei jedem Ampelstopp fluchte er, und eine Knoblauchfahne wehte durch den Wagen. Er kaute auf den Enden seines gewaltigen Schnauzbartes, trommelte nervös auf dem Lenkrad herum und steckte sich eine weitere Zigarette an. Hanif beobachtete fasziniert das Farbenspiel der Ampelsignale.
„Schau ´mal, Meister Jojo“, meinte er, „die Wagen fahren alle bei unterschiedlichen Farben - die einen bei Grün, andere wieder bei Gelb und manche bei Rot. Wenn sie alle bei einer Farbe fahren würden, was für ein Durcheinander das gäbe! Wie weise die Menschen hier doch sind!“
„Ich bin mir nicht sicher, Hanif“, antwortete Jojo, „mir kommt das alles sehr aufgeregt und laut vor. Ich glaube, wir dürfen uns von den leuchtenden Farben nicht so beeindrucken lassen!“
„Du hast wieder einmal recht, Meister Jojo“, lenkte Hanif ein, „diese verschiedenen Farben sind sicherlich sinnvoll, aber was bedeutet das schon gegenüber deiner Weisheit!“
Der Taxifahrer schnitt im Schanzenviertel rasant die letzte Kurve, die in eine Sackgasse mündete, und parkte den Wagen vor einer maroden Stadtvilla. Durch den kleinen, verwilderten Garten sah man das zweigeschossige Haus, dessen gelber Anstrich an einigen Stellen bereits abblätterte. „Waterlooallee 7!“, knurrte der Taxifahrer und musterte Jojo und Hanif auf der Rückbank durch seine verspiegelte Sonnenbrille und deutete dann auf das Taxameter. Jojo suchte unter seinem Hemd in der Brusttasche nach dem Geldschein.
„Okay!“, sagte der Fahrer und tat so, als sei die
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 14.10.2015
ISBN: 978-3-7396-1800-5
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