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Etwas in der Art eines Vorwortes

 

 

 

 

Wer lacht, kennt noch nicht die volle Wahrheit!

 

 

Die unglaubliche Karriere

eines begnadeten Versagers.

 

 

 

„Heute back' ich,

morgen brau' ich,

übermorgen mach ich der Königin ein Kind!

Ach, wie schön, dass niemand weiß,

dass mein Stilzchen Rumpel heißt.

1. In den Startblöcken hängen belieben

 Fridolin war ein Versager. Von Geburt an. Er musste mit einem Kaiserschnitt in diese Welt geholt werden. Schon in dieser doch so bedeutsamen Situation für sein weiteres Leben zeigte er kaum Antrieb und Ehrgeiz. Es sollte ihm an allem mangeln: an Talent, Aussehen, ja, selbst an Durchsetzungskraft. Als seine Mutter Frieda ihn noch im Kinderwagen schob, ahnte er schon um sein Schicksal, wenn sich Erwachsene mit erwartungsvollem Blick in das Verdeck seines Kinderwagens über ihn beugten, um sich dann mit dem Ausdruck maßloser Enttäuschung abzuwenden wie ein Schatzsucher, der auf dem Boden der erbrochenen Truhe nur einen rostigen Nagel vorfindet. Doch selbst diese allzu frühen Zeichen der Missachtung konnten Fridolin nichts anhaben, da seine Mutter ihn vor der Welt der Sieger abschirmte, bis sie schließlich beide an das niederträchtigste Hindernis gerieten, dass die Evolution der menschlichen Rasse in den Weg stellt: den Kindergarten. Noch konnte Fridolin nicht ahnen, dass sich dieser Kindergarten durch das Leben der Erfolgreichen in Form von Vorschulen, Lehrstellen, Universitäten und Seminaren zieht und seinen Abschluss erst in den Seniorenheimen findet. Überall werden die erfolgreichen Opfer unter dem Vorwand der Hilfestellung gegängelt und schnittig getrimmt wie die Erlkönige in den Windkanälen der Autoindustrie, bis als Ergebnis ein winziger Viersitzer ohne Kofferraum vorliegt. Der lebenslange Kindergarten präsentiert als Krönung einen greisen Schimpansen, der seine Dressur beklatscht und dabei nach den Erdnüssen schielt. Bei Fridolins erstem Auftritt in der Kinderkrippe war für alle anderen Kinder klar, dass hier kein neues Alpha-Männchen über die Bauklötzer stolperte. Selbst an dieser unschuldigen Stätte ignorierte ihn bereits die Weiblichkeit. Auf eine höchst natürliche Weise wurde er gleich von den begehrten Plätzen um die Leiterin des Kinderhortes in die äußerste Ecke abgedrängt, wo er selbstvergessen Platz nahm. In einer Abgeklärtheit, die asiatischen Meditationsmeistern früherer Zeiten erst nach jahrelanger Askese vorbehalten war. Man darf die anderen Kinder der Krippe nicht als hartherzig schelten. Fridolins bedeutungsloser Auftritt war auch auf eine Windel zurückzuführen, die seine Hose grotesk ausbeulte. Natürlich waren alle anderen Kinder längst trocken, viele dazu noch zweisprachig. Die Eifrigsten unter ihnen identifizierten schon die Buchstaben auf dem Dienstplan der Kindergärtnerinnen. Diese Ausbuchtung seiner Hose war auch Anlass für die anfänglichen Bedenken der Leiterin des Hortes, die neben den üblichen

Schwierigkeiten noch anderes Ungemach auf sich und ihre Getreuen zukommen sah. Die ehemals kindernärrische Frau Kistner hatte sich in den zehn Jahren ihrer Tätigkeit zu einer verhärmten Kinderhasserin herunter gewirtschaftet. Ein alltägliches Schicksal in Berufen, die ausschließlich den Schwächen anderer Menschen ausgeliefert sind: Lehrer, Fürsorgerinnen, Ärzte, Pfleger, Bewährungshelfer und Kreditsachbearbeiter.

“Was soll denn das werden?” meinte Frau Kistner spitz.

Allein die leicht defizitäre Haushaltslage der Stätte und die Zusage eines kiffenden Wehrdienstverweigerers für die nächsten Monate, ließ sie ihre Bedenken milder betrachten. Als ihr Frieda noch versicherte, bei der Windel handele es sich um eine eigentlich höchst überflüssige Vorsichtsmaßnahme, wie etwa einem Ersatzschlauch für einen Panzer, gab Frau Kistner resigniert den Weg für Fridolin frei. Fridolins Mutter war eine äußerst eigenwillige Person, die immer das besondere suchte und auch fand. Als gute neun Monate vor Fridolins Geburt im Stadtteil ein Wanderzirkus gastierte, traf sie sich nach der ersten Vorstellung regelmäßig in den Pausen zwischen den Vorstellungen im Wohnwagen mit dem dummen August. Als der Zirkus weiter zog, war sie bereits guter Hoffnung. Fridolin war schon entwöhnt, als Frieda durch einen Zufall in der Zeitung unter Gemischtes las, dass der Harlekin eines Wanderzirkus tödlich verunglückt war. Der dumme August hatte bei immer dürftigerem Beifall über seine abgenutzten Späße, seine eigenhändige Umschulung zum Hochseilartisten eingeleitet. Da ihn sowieso niemand ernst nahm, hielt man ihn auch nicht von seinen Plänen ab. So kam es dann schon bald zu dem Fehltritt, der sein Ende bedeutete, ohne dass er ahnte, dass er bereits Vater eines Sohnes war. Auf spätere Fragen nach seinem Vater antwortete Frieda: “Dein Vater war ein Held und wollte immer hoch hinaus. Er hat bei einem Einsatz in den Bergen sein Leben gelassen!” Fridolin wurde bereits im Kindergarten die Rolle des Versagers zugewiesen. Ein Geschick, das er jedoch gleichmütig hinnahm, geradeso, als hätte ihm die Natur für seine Einschränkungen gleichzeitig einen Ausgleich zukommen lassen. Mehrere Karambolagen mit dem Dreirad des Kinderhortes sollten Fridolin sein Leben lang nachhaltig davon abhalten, jemals einen Führerschein zu erwerben. Als er in die Vorschule wechselte, hatte er die Ausbuchtung seiner Windeln schon geraume Zeit abgelegt, doch der Abstand zu seinen Altersgenossen hatte sich keineswegs verringert. Man konnte nicht behaupten, Fridolin sei für ein herkömmliches Leben gerüstet.

 

Im Gegenteil: Das Rennen hatte noch nicht einmal begonnen, doch er war schon hoffnungslos abgeschlagen.

2. Die Einschulung

 

Kurz vor Fridolins Einschulung schlug ihm sein angeblich bester Freund, wie ihm die Erwachsenen immer wieder versicherten, noch eine Schaufel quer über das Gesicht. Die Wunde auf der linken Wange wurde geklammert und hinterließ eine Narbe, die Fridolin nach der Pubertät einen Anflug von Männlichkeit in dem doch sonst segelohrigen Gesicht verlieh. So war er bei seiner Einschulung auch äußerlich schon gebrandmarkt, als er mit einer Schultüte, die er kaum tragen konnte, seinen ersten Schultag anging. Fridolin wählte im Klassenraum die erste Reihe, da er ahnte, das sei der richtige Platz für ihn. Später im Berufsleben fühlte er sich in der Wahl der ersten Reihe bestätigt. Nur zu oft drängten die Versager in die ersten Reihen und machten sich dort die Plätze streitig. Die Besten, die Hüter des Wissens, saßen im Klassenzimmer, wo sie wollten. Die Lehrer suchten sie wie die Reflektoren mit dem Scheinwerfer ihrer Fragen. Wenn der Scheinwerfer sie traf, begannen sie zu strahlen. Es führte kein Weg an ihnen vorbei. Die Stümper versteckten sich in den hinteren Reihen, in der kindischen Hoffnung, man würde sie dort übersehen. Doch unbemerkt blieb man nur in den ersten Reihen, wo Fridolin nun saß. Wusste Fridolin nun tatsächlich einmal die richtige Antwort im Unterricht, hielt er dem Lehrer anfangs den ausgestreckten Arm vor die Brille. Doch schon im Laufe des ersten Schuljahrs entwickelte er eine raffiniertere Technik. Kannten neben Fridolin auch alle anderen Schüler das Ergebnis, dann verzichtete er darauf, sich zu melden. “Na, Fridolin, was fällt dir denn zu dieser Frage ein?” war dann häufig die ironische Frage des Lehrers. Fridolin legte dann noch eine winzige Kunstpause ein, ehe er das richtige Ergebnis sagte. Dem Lehrer war jedes Mal die Enttäuschung anzusehen und er musste sich eingestehen, sich wieder einmal in Fridolin geirrt zu haben. Vielleicht wäre es Fridolin gelungen, sich in seiner schulischen Laufbahn dauerhaft als Mitläufer einzurichten, wäre er nicht durch eine Namensverwechslung ausersehen worden, auf das Gymnasium zu wechseln. Frieda meinte mit nassen Augen unter vielen Schneuzern: “Ich habe es immer gewusst, mein Fridolin! Mehr kann ich auch nicht für dich tun! Den Rest deines Weges musst du jetzt alleine gehen!” Frieda war sich sicher, alles, aber nun wirklich auch alles für ihren Sohn getan zu haben, und zog nun nach Irland in die Connemara zu einem dort heimischen Harlekin und Trunkenbold. Dort nahm sie in einem kleinen Ort mit mehreren deftigen Rezepten deutscher Brotsorten einen heroischen Kampf gegen das Porrigde und von ihr verachtete Toast- und Brownbread auf, in dem sie aber letzten Endes unterlag. Wie längst bekannt, hat das Corn Flakes dieses Duell für sich entschieden. Nach zehn zermürbenden Jahren in ihrer Backstube und hinter dem Tresen ihres Ladens nahm auch sie ihre Zuflucht zu den Getränken ihres Liebsten. Von da an führten beide eine harmonische Ehe, die durch keinerlei beruflichen Ehrgeiz und frühes Aufstehen mehr aus dem Takt geriet.

 

Der 10-jährige Fridolin kam nach Friedas Abreise in die Obhut von Tante Ella, die am Hafen wohnte. Tante Ella war eine kinderlose Walküre, die den ehemaligen Schiffskoch Walter Jahre zuvor zur Ehe zwang, als er sich einmal an Land traute. Sie überragte Walter um zwei Köpfe und um fünfzig Kilo an Gewicht. Walter musterte nach der Eheschließung endgültig ab und ging von nun an verschiedenen undurchsichtigen Geschäften nach. Es hielt sich unter anderem das Gerücht, er würde im Hafen Antiquitäten schmuggeln. Auch von Diamanten aus Amsterdam war die Rede. Weiterhin gehörten noch Oma Paula und die Bardame Franziska mit zur Familie. Die wohlbeleibte Oma Paula, mit grauem Dutt und nur noch wenigen Hauern wie ein Eber im gütigen Gesicht, lebte in dem kleinen Zimmer an der roh verputzen Außenwand des vierstöckigen Altbaus. Dort spähte sie tagsüber durch ein schmales Fenster wie durch eine Schießscharte, als wolle sie notfalls vor anrückenden Feinden warnen. Die 40-jährige Franziska bewohnte ein geräumigeres Zimmer zur Straßenseite. Man kochte und aß gemeinsam. Abends saß man einträchtig, bis auf Franziska, die nun zur nächtlichen Arbeit als Bardame in einer Spelunke am Straßenstrich aufbrach, im Wohnzimmer. Eine alte Standuhr gongte und rasselte behäbig mit ihren Gewichten. Onkel Walter saß am Fenster und blickte über den Fluss hinüber zu den Werften und rauchte still sein Pfeifchen. Eine Siamkatze stolzierte elegant die Fensterbänke entlang und fraß von ihrem Katzengras im Blumentopf. Tante Ella und Oma Paula unterhielten sich oder lösten Kreuzworträtsel. Für Fridolin hatte man in der Küche ein Bett aufgestellt.

 

Auch im Gymnasium nahm Fridolin in der neuen Klasse wie gewohnt in der ersten Reihe Platz. Sein Banknachbar wurde der dicke Wilfried, der ihn mit einem wissenden Blick durch seine starken Brillengläser wie einen Verbündeten mit dem gleichen geheimen Laster musterte.

“Na, mein Junge”, meinte er ungewöhnlich leutselig für sein Alter, „mein Name ist Wilfried! Wie heißt du?” Wilfried sollte es jedoch im Gegensatz zu Fridolin weit im Leben bringen. Er nistete sich später erfolgreich auf einem unbedeutenden, aber äußerst gut bezahlten Posten in der Politik ein. Dort brachte er es durch die ihm auftuenden Schleichwege nebenberuflich zu beträchtlichem Wohlstand, obwohl auch ihm wie Fridolin die Geheimnisse der Mathematik über das kleine Einmaleins hinaus auf ewig verschlossen blieben. Doch Wilfried gab sich mit solchen Kleinigkeiten in seiner politischen Karriere nie wieder ab.

 

So wuchs Fridolin behütet im Herzen des Lasters heran und musste zu aller Erstaunen vorerst keine Klasse wiederholen. Das Leben wiegte ihn eine Weile in Sicherheit.

3. Die See ruft

 So lebte Fridolin mehrere Jahre unbeschwert und behütet im Zentrum des Sündenpfuhls, was der sicherste Ort für ein sittsames Leben zu sein scheint. Doch als sich seine Stimme zu brechen begann, ging es Schlag auf Schlag. Das Leben machte wieder Ernst. Oma Paula litt seit Jahren an Zucker und fiel zum Jahreswechsel nach übermäßigem Genuss von Nüssen, Gans, Karpfen, Marzipan und Sekt am Neujahrsmorgen ins Koma und verstarb unbemerkt in ihrem Zimmer. Noch im gleichen Monat verabschiedete sich auch Onkel Walter auf seine stille Art. Er saß wie immer am Fenster und blickte auf den Hafen. Er legte seine Pfeife ruhig im Aschenbecher ab, lehnte sich in seinen Sessel zurück und schloss die Augen für immer.

 

Fridolin bekam das Zimmer von Oma Paula. Tage nach der Beerdigung von Onkel Walter, schneite es. In der Schule fielen zwei Stunden aus und Fridolin kam früher als üblich nach Hause. Tante Ella war auf dem Friedhof und pflegte Onkel Walters Grab wie einen lange entbehrten Schrebergarten. Fridolin wollte gerade in sein Zimmer gehen, als er Franziska in ihrem Zimmer heftig stöhnen hörte. Frido spürte seinen Herzschlag wie einen Hammer in der Brust. Die Erinnerung an den Schlag ins Gesicht mit der Schaufel in seinen Kindertagen wurde wieder lebendig. Es war ein rhythmisches Stöhnen, das sich steigerte und Fridolin wollte gerade rufen: “Was ist los, Franziska, kann ich dir helfen?”, als sein Blick auf die riesigen Männerschuhe vor ihrer Tür fiel, an denen die Schneereste abtauten. Obwohl Fridolin auch auf diesem Gebiete völlig unbedarft war, ahnte er, dass man ihm in der Schule mit den Bienen und den Blüten wohl doch noch nicht die volle Wahrheit anvertraut hatte. So hielt er sein Angebot einer Hilfestellung zurück, ging die Küche und trank ein Glas Wasser. Im wurde klar, während Franziska die Tonleiter im Wechsel rauf und runter stöhnte, dass es nicht ein Ausdruck von Kummer oder gar Mangel war. Als er sie später im Flur traf, wirkte sie heiter und entspannt. Fridolin entdeckte in ihrem Gesicht nicht die Spur einer durch littenen Qual. Eingehakt verließ sie mit dem Träger der riesigen Schuhe die Wohnung, den sie kurz darauf ehelichte, um dann auch auszuziehen.

Für Tante Ella ergab sich die Gelegenheit, in einen sozialen Neubau am Fischmarkt zu ziehen. Die neue Wohnung verfügte nur über ein Zimmer, dafür gab es jedoch ein Bad mit einem Boiler für warmes Wasser, einen Balkon und eine Heizung.

„Es tut mir Leid, mein Junge”, meinte sie, „doch ich muss an mein Alter denken! Ich werde zwar diesen Ausblick auf die Elbe und den Hafen vermissen, aber das Bad und die Heizung machen das wett. Und zum Einkaufen bin ich noch dichter am Fischmarkt. Du musst dir woanders ein Zimmer suchen, ich kann dich nicht mitnehmen. Schreibe doch deiner Mutter, ob du zu ihr nach Irland kannst!”

 

Doch das Schicksal hatte Fridolin in seiner ihm zugedachten Rolle als Versager schon bedacht und ihm den weiteren Weg bergab geebnet. Denn so wenig wie die Guten auf Dauer übersehen werden können, so gering ist die Möglichkeit für Versager vom Kaliber Fridolins, für immer und ewig durch das Netz zu schlüpfen. Früher oder später fallen Fridolin und seine Artgenossen durch den Schüttelrost des Erfolges. In der 9. Klasse wurde die Verachtung seiner Lehrer für ihn immer unverhohlener. Auch ein zweiter Versuch, die Hürde dieser Klasse zu nehmen, scheiterte noch kläglicher und man entließ ihn erleichtert mit den besten Wünschen für seine Zukunft aus der Schule.

Da Fridolin bis zu diesem Zeitpunkt weder Neigungen noch Talente hatte erkennen lassen, vertraute man dem Eignungstest des Arbeitsamtes. Doch selbst die ausgefüllten Testbogen gaben keinen einzigen Hinweis für einen geeigneten Beruf.

Der Abteilungsleiter des Arbeitsamtes gab seinem ratlosen Sachbearbeiter den Ratschlag: “Reden Sie ihm ein, er sei für die Seefahrt geeignet! Möglichst große Fahrt! Dann sind wir ihn los! Ein für allemal!”

 

Fridolin fand sich rasch mit seinem Talent für die christliche Seefahrt ab und keine zwei Wochen später übte er sich schon an den ersten Seemannsknoten. In einem sechswöchigen Lehrgang versuchte man ihm und fünfzig weiteren Landratten die Geheimnisse des Kompasses, des Morsealphabets und des Spleißens beizubringen. Doch Fridolin sollte selbst nach diesem Lehrgang nie mehr als die Schleife seiner Schnürbänder binden können. Beim Abfragen des Kompasses hatte ihn der verzweifelte Ausbilder vom Ruder gedrückt. Auch das Morsealphabet war für seinen behäbigen Geist um Lichtjahre zu schnell.

Es setzten gerade die ersten Herbststürme ein, als Fridolin in Rotterdam sein erstes Schiff betrat. Doch auch hier kam Fridolin in der Nähe von Cuxhaven rasch an seine Grenzen. Die Küste war noch zu erahnen, der Seegang nicht der Rede wert, doch Fridolin begann sich zu übergeben bis sein Magen nichts mehr hergab. Doch als man die Elbe erreichte und wenig später den Nord-Ostsee-Kanal, hatte er sich wieder gefangen. Fridolin bediente die Mannschaft beim Essen, eine Tätigkeit, die ihm mehr lag, als das Rostklopfen an Deck. Fridolin gewöhnte seinen Magen an drei warme Mahlzeiten am Tage. An Bratwürste und Pfannkuchen zum Frühstück. Das Schiff fuhr nach St. Petersburg in Russland, um dort Holz für die Kohlegruben in Belgien zu holen. Im Hafen von St. Petersburg sah Fridolin das erste Mal eine Frau als Kranführerin. Er nahm mit den Matrosen an den Kulturabenden teil, die man für die Seeleute in St. Petersburg anbot. Er staunte über die Metro, die durch marmorne Stationen fuhr, die einem Museum glichen. Die Hafenarbeiter benötigten eine Woche, um das Schiff zu beladen. Das Holz wurde weit über die Reling hoch gestapelt und mit Trossen gesichert. Als sie wieder an Cuxhaven vorbei in Richtung Belgien fuhren, herrschte wieder Seegang und Fridolin hatte ernsthafte Zweifel, ob er für die Seefahrt geeignet sei, als er sich schon wieder übergab. Doch im Hafen von Gent waren alle Beschwerden vergessen.

 

Der Bootsmann machte sich mit der Mannschaft für die Stadt landfein. Er glich jetzt einem Gorilla, den man frisiert und gegen seinen Willen in einen Anzug gezwängt hatte.

„Moses”, sagte der Bootsmann zu Fridolin, „du kommst heute mit uns. Die gesamte Mannschaft geht auf diesem Schiff immer zusammen an Land. Das fördert den Zusammenhalt. Das ist wichtig an Bord!”

„Ich habe noch gar kein Geld!” meinte Fridolin.

„Da mache dir man keine Gedanken, mein Jung! Das geht schon klar!”

 

Der Ausflug entpuppte sich als Besuch in einem Bordell, wo Fridolin dann in Gegenwart der gesamten Decksmannschaft einer strammen Belgierin anvertraut wurde. Sie ließ ihn mit viel Geduld die Männlichkeitsriten vor den Matrosen bestehen, die dabei im Takte klatschten, tranken und sangen. Als Fridolin wieder in ihrer Runde saß, während sich einer der Matrosen für die nächste Vorstellung vorbereitete, meinte der Bootsmann: „Also, Fridolin, für das erste Mal nicht schlecht! Du wirst bei uns Gelegenheit haben, das zu üben! Du kannst mich jetzt duzen, ich heiße Alfred!” Er schlug Fridolin auf die Schulter und schenkte ihm einen Whisky ein: „Jetzt wollen wir mal sehen, wie Horst sich macht!”

Fridolin selbst war über das Ereignis ein wenig enttäuscht. Er konnte nicht nachvollziehen, warum man um diese Angelegenheit, die angeblich die Welt zusammen hielt, so viel Wirbel machte. Fridolin erinnerte der Vorgang mehr an das Impfen. Er wusste, dass es notwendig und vernünftig war, aber er war nicht mit dem Herzen bei der Sache. Er nippte an seinem Glas, trank das erste Mal in seinem noch jungen Leben Whisky und fühlte auf Anhieb, dass er für diese Tröstungen anfälliger war.

Als man weit nach Mitternacht gemeinsam wieder zum Schiff fuhr, übergab sich Fridolin, diesmal vom Whisky. „Eins muss man dir lassen, Fridolin", lallte Bootsmann Alfred mit schwerer Zunge und ramponierten Anzug, „du machst das sehr elegant. Und ich habe, weiß Gott, Leute kotzen sehen, aber an dich reicht keiner ran!"

4. Die Musterung

 Fridolin wechselte bald auf ein größeres Schiff und schöpfte wieder frischen Mut, als er diesmal ohne jegliche Beschwerden die Nordsee passierte und das Schiff über den Atlantik nach Amerika fuhr, um aus Virginia Kohle zu holen.

„Wieso holen wir denn Kohle aus Amerika? Wir haben doch selbst genug davon!” fragte er einen der älteren Matrosen, der wie ein Schaffner auf diesem Schiff lebte, das nur zwischen den beiden Häfen Norfolk und Hamburg hin und her fuhr. Doch ehe der Matrose antworten konnte, begann das Schiff in einem herauf ziehenden Sturm zu stampfen. Fridolins Magen erkannte, dass es ein großer Fehler war, der Nordsee den Rücken zugekehrt zu haben und verlangte nach augenblicklicher Entleerung. Der Seegang wurde stärker, alle Luken zum Deck wurden verriegelt. Fridolin musste den seetüchtigen Matrosen zu Mittag Eisbein servieren. Der fettige Geruch verstärkte seine Beschwerden und zwischen seinen Gängen zur Toilette schaffte er kaum mehr als zwei Portionen an den Mann zu bringen. Der Sturm hielt sich über mehrere Tage. Fridolin musste jeden Tag nach dem Abendessen die Küchenabfälle am Heck des Schiffes über Bord kippen. Am dritten Tag des Sturmes war Fridolin so hinfällig, dass er den Abfall gegen den Wind ins Meer schüttete. Der Unrat wurde zurück geweht und klatschte ihm ins Gesicht. Ohne große Regung nahm Fridolin diese Demütigung hin, wischte sich die gröbsten Brocken aus dem Gesicht und wankte in seine Kabine.

Auch auf der Rückreise nach Europa geriet das Schiff wiederum in einen mehrtägigen Sturm. Sobald sich die See wieder geglättet hatte, wankte Fridolin zum 1. Offizier und musterte ab. Die Seefahrt war nichts für ihn, das war ihm bei all seinem Talent klar geworden. Als sie den Atlantik verließen, wechselte das amerikanische Gedudel im Radio zur europäischen Kammermusik und obwohl Fridolin kein Liebhaber klassischer Musik war, traten Tränen der Erleichterung in seine Augen. Abends in der Koje genehmigte er sich einen doppelten Whisky. Sein zukünftiger Weg lag nun klar vor ihm: er würde den Sachbearbeiter vom Arbeitsamt erneut aufsuchen und ihn um die Auffindung eines weniger zermürbenden Talents bei ihm bitten.

 

„Ist denn wirklich kein klitzekleines Talent oder wenigstens eine Neigung aus den Testbögen zu erkennen?!” fragte Abteilungsleiter Schneider des Arbeitsamtes seinen ratlosen Sachbearbeiter, der Fridolin nach seiner Rückkehr an Land erneut betreute.

„Nichts”, antwortete Sachbearbeiter Wagner ungläubig, „absolut nichts! Das habe ich während meiner gesamten Laufbahn noch nicht erlebt. Fridolin Finke ist überall gleich schlecht!”

Abteilungsleiter Schneider erinnerte sich, dass er Wagner selbst vor drei Jahren wegen allgemeiner Unbrauchbarkeit auf diesen Posten gerettet hatte. Doch er überging diese Tatsache großzügig: „Wie lange müssen wir uns denn noch mit diesem Kropf herumplagen, bis er zum Militär eingezogen wird?”

„Wohl noch gute 15 Monate!”

„Na, da werde ich wohl mal meine Beziehungen spielen lassen müssen und veranlassen, dass sie den Knaben bei der Musterung vorziehen. Bis dahin müssen Sie ihn irgendwo unterbringen! Beim Militär werden wir ihn dann endgültig los. Die sind geradezu wild darauf, ihre Reihen mit Leuten aufzufüllen, die von nichts eine Ahnung haben! Also, ich vertraue Ihnen, Wagner! Beschäftigen Sie ihn bis dahin. Sie machen das schon!”

 

Fridolin hatte durch die Vermittlung des überfüllten Seemannsheimes Unterschlupf in einem Männerwohnheim gefunden und genoss unbeschwert die ersten Tage an Land. Nichts schwankte mehr und beglückt registrierte er, dass seine Mahlzeiten wieder auf dem normalen Wege seinen Körper verließen.

In den folgenden Monaten vermittelte ihn Sachbearbeiter Wagner als Kellner, Hausdiener und Hilfsarbeiter für Druckereien. Doch überall hielt sich Fridolin nicht lange, da er nicht an Überstunden und Arbeit am Wochenende interessiert war. Fridolin war in seinen Bedürfnissen anspruchslos und kam mit wenig Geld aus. Er sah nicht ein, warum er mit höherem Zeitaufwand mehr Geld verdienen sollte als er benötigte. „Ihnen fehlt der nötige Biss!“ hörte er von einem enttäuschten Betriebsleiter. Fridolin lebte zufrieden in dem Wohnheim, einem sachlichen Klinkerbau mit 150 kleinen Zimmern, Gemeinschaftstoiletten und Waschräumen. Er schloss sich niemanden an und ging keine Freundschaften ein. Auch die Kontakte zum weiblichen Geschlecht versandeten und gerieten in Vergessenheit wie eine Jugendsünde. Er litt auch nicht unter seiner Enthaltsamkeit, wie manch anderer, der sie in den hohen Tönen preist und doch nach dem Gegenteil giert. Vielmehr ahnte er hinter der vermeintlich trauten Gemeinsamkeit ähnliche Abhängigkeiten wie man sie zu Recht bei einem Abonnement einer Zeitschrift vermutet. In seiner Freizeit saß er bei gutem Wetter gerne bei weit geöffnetem Fenster in seinem Zimmer und sah dabei Fernsehen. Hin und wieder schaute er auf ein Schachbrett, auf dem er eine Problemstellung aufgebaut hatte, in der es darum ging, den schwarzen König in drei Zügen matt zu setzen. Er schaute wochenlang auf die aufgebaute Stellung, ohne sie je zu lösen, bis er dann ohne Verbitterung eine neue Stellung aufbaute, deren Lösung ihm jedoch auch verborgen bleiben sollte. Sachbearbeiter Wagner vom Arbeitsamt war die einzige Person, zu der Fridolin einen vertrauten Kontakt über längere Zeit aufrecht erhielt, denn zwischen seinen verschiedenen Tätigkeiten war Fridolin immer einige Zeit arbeitslos. Seine Akte beim Arbeitsamt wurde umfangreicher und Wagner konnte fast alle Daten aus Fridolins Leben auswendig herunter beten. Das ersparte umständliche Nachfragen, wenn Fridolin wieder einmal in seinem Büro erschien. Eines Tages fand Fridolin in seinem Briefkasten die Aufforderung zur Musterung. Er wurde gemustert und als tauglich befunden. Noch vor dem Jahreswechsel bekam er die Aufforderung, sich gleich im neuen Jahr in der Kaserne als Panzerschütze zu melden. Die kleine Verschnaufpause, die ihm das Leben an Land zugebilligt hatte, neigte sich ihrem Ende zu.

5. Verlaufen auf dem Feld der Ehre

 Mit der Einkleidung beim Militär verlor Fridolin seine Identität. Seine schlaksige Gestalt kämpfte schwer mit den klobigen Knobelbechern an den Füssen. Sein harmloses Kindergesicht mit den abstehenden Ohren wirkte mit dem Stahlhelm, als sei es für ein Faschingsfest kostümiert. Es war ihm unmöglich, in einer Reihe im Gleichschritt zu gehen, so dass man ihn kurzerhand an das Ende der Schlange setzte, wo er den geringsten Schaden anrichten konnte und ungelenk die Beine werfend hinterher stapfte. Das Versagertum war bei Fridolin schon so weit gediehen, dass selbst die Kaserne ihm kein Zuhause mehr geben konnte, was dem Militär, Zoll und Grenzschutz doch ansonsten bei den meisten Schiffbrüchigen des Lebens gelingt. Fridolin fühlte sich in seinem Leben nicht mehr heimisch. Sein Gemüt, das bis jetzt die Härten des Lebens gleichmütig ertragen hatte, erfuhr nun seine Grenzen. Sein heiterer Gleichmut, ein Geschenk der Natur zum Ausgleich seiner Unzulänglichkeiten, wich einer dumpfen Gleichgültigkeit. Er glich einem gefangenen Tier, das in einem Käfig seine ursprüngliche Natur verliert und stumpfsinnig vor sich hin brütet, weil ihm sogar für das manische Herumlaufen im Käfig der Antrieb fehlt. Es fiel ihm schwer, mit neun Personen auf einem Zimmer zu leben. Das ständige militärische Grüßen stieß ihn ab. Beim ersten Geländelauf geriet Fridolin rasch an das Ende der Gruppe und hinkte bald abgeschlagen hinterher. Als er als Letzter im Ziel eintraf, teilte ihm der Obergefreite mit, er solle sich beim Spieß melden. Der Spieß klärte ihn in einem militärischen Ton auf, dass man bei der Röntgenuntersuchung auf Fridolins Lunge einen Schatten gefunden hätte. Er war ab sofort vom Dienst befreit und wurde in das Lazarett verlegt.

Dort angekommen, legte sich Fridolin erleichtert in das Bett und fühlte sich vom Leben durch diese Krankheit beschenkt und wieder versöhnt. Sein Blut und Sputum wurden untersucht und der Verdacht der Tuberkulose bestätigt sich.

„Zum Glück keine offene Tuberkulose”, meinte der Arzt zu ihm, „doch Ihr militärisches Abenteuer ist damit beendet. In ein paar Tagen werden Sie ausgemustert und in ein Sanatorium ins Sauerland verlegt. Dort können Sie in Ruhe Ihre Krankheit auskurieren!”

„Wie lange wird das dauern?” fragte Fridolin und konnte nur mit Mühe seine Freude verbergen.

„Natürlich kann ich das nur schätzen, aber mit einem Jahr werden Sie wohl rechnen müssen!” Der Stabsarzt gab Fridolin die Hand: „Ich wünsche Ihnen alles Gute, Soldat!”

Obwohl Fridolin im Bett lag, legte er jetzt zum Abschied erstmals freudig die rechte Hand an die mützenlose Stirn und grüßte militärisch im Pyjama als der Arzt das Zimmer verließ.

 

Kaum eine Woche später lag Fridolin in einem Zweibettzimmer mit einem riesigen Balkon in einem sauerländischen Sanatorium. Er war bis auf die Erkrankung wieder ganz der Alte: heiter und unbekümmert. Sein Zimmergenosse war ein vierzigjähriger Türke aus Anatolien, wo seine Frau und seine zahlreichen Kinder lebten, deren Bestand nach jedem Heimaturlaub eine Erhöhung ankündigte. Er erklärte Fridolin, dass in der Türkei die Tomaten größer, die Frauen schöner und treuer, das Wetter besser und der Kaffee stärker war. Fridolin war es als Versager gewohnt, alle anderen als besser und leistungsfähiger anzuerkennen und empfand solche Aufzählungen nicht als Prahlerei.

An den Nachmittagen durfte man das Sanatorium bis zum Abendessen verlassen. So versuchte man dem Lagerkoller vorzubeugen, der viele Patienten befiel, denn selbst die kürzesten Aufenthalte lagen nicht unter sechs Monaten. Viele Patienten gingen im Dorf in die Kneipen und Cafes. Die sittlich Gefestigteren nutzten die Angebote der Beschäftigungstherapie im Sanatorium, erlernten dort das Drechseln, Korbflechten oder in der Dunkelkammer das Entwickeln und Vergrößern von Fotografien. Fridolin gehörte zu den wenigen Patienten, die wanderten. Er ging alleine. Als ihm der Hausmeister des Sanatoriums, ein ehemaliger Patient, ein altes Fahrrad auslieh, vergrößerte sich Fridolins Aktionsradius erheblich. So kannte er schon nach zwei Monaten die Gegend besser als mancher Einheimischer. Am liebsten fuhr er zu einem im Wald abgelegenen Gasthaus mit dem Namen “Schneewittchen-Eck”. Dort bediente ihn die stämmige Kellnerin Rieken. Das Verbot des Alkoholkonsums, wie im Sanatorium das Saufen genannt wurde, und die geforderte sexuelle Abstinenz, die auf noch abenteuerlichere Weise formuliert wurde, erwiesen sich bei den meisten Patienten als größere Hindernisse als die Krankheit selbst. Von beiden Geißeln blieb Fridolin auch während seiner Genesung verschont. Während die männlichen Opfer ihrer Begierden sich häufig im Dunkeln waghalsig über die Balkone an den Regenwasserrohren abseilten, um im Dorf zu zechen und zu tanzen, schlief Fridolin von seinen Fahrradtouren ermüdet bereits. Er litt auch nicht unter der Ruhelosigkeit der sexuell ausgehungerten Patienten, die im Sanatorium einen geeigneten Treffpunkt für ihr Vorhaben suchten. Die Doppelbelegung der Zimmer gestaltete die Angelegenheit nicht einfacher.

So wurde Fridolin einmal in ein solch schwieriges Stelldichein verwickelt. Eines Abends benutzte Fridolin den kleineren Fahrstuhl, der eigentlich für die Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger gedacht war. Ein Mitpatient, ein ehemaliger Boxer, ein wahrer Klotz von Kerl und eine junge Frau drängten sich zu ihm in die kleine Kabine, als es nach oben gehen sollte. Kaum hatte sich der Fahrstuhl in Bewegung gesetzt, drückte der Boxer den Halteknopf. Dann wandte er sich an Fridolin: „So, Kumpel, nun mach‘ mal für ein paar Augenblicke die Augen zu!” Verwirrt stand Fridolin an die Fahrstuhltür gepresst und wurde Zeuge, wie der Boxer die junge Frau packte und hochhob. Als sie ihre Schenkel um die Hüften des Boxers schlang, stieß sie Fridolin ihr spitzes Knie in die Seite. Sie schlang ihre Hände um den Nacken des Boxers und blickte Fridolin über dessen Schulter an. Der Boxer keuchte vor Erregung, als er sich ins Zeug legte und die gesamte Kabine begann in der Führung zu vibrieren. Der Kopf der jungen Frau erzitterte bei jedem Stoss und sie stierte über die Schulter des Boxers mit einer vor Wollust gequälten Grimasse ins Leere, ehe sie in einen hohen Klageschrei ausbrach und ihre Züge sich wieder entspannten. Der Boxer wütete weiter wie ein Stier in einer zu engen Stallbox, doch dann kam er auch an sein Ende und grunzte wie ein Eber über dem Trog. Dann ließ er die junge Frau wieder auf ihre Füße gleiten und wandte sich an Fridolin: „Kumpel, sei mal so nett und schalte den Hebel um! Und dann 5. Stock!” Der Fahrstuhl wurde unterwegs noch einmal angehalten und die junge Frau meinte zu den Wartenden: „So ein blöder Idiot von Station 1 hat an den Knöpfen gespielt!”

„Das haben wir gehört”, meinte eine füllige Frau mit leichtem Damenbart keck, “es geht doch nichts über einen flotten Dreier!” Sie musterte Fridolin mit hartem Blick. Überstürzt verließ Fridolin den Fahrstuhl. Er ging durch das Treppenhaus auf seine Station und benutzte fortan keinen Fahrstuhl mehr. Die Frau mit dem Damenbart traf er in der Folgezeit öfters in Gesellschaft einer hageren blonden Frau. Sie kniff jedes Mal schelmisch ein Auge zu und flüsterte der blonden Frau etwas zu, die dann in ein heiseres Raucherlachen ausbrach.

“Was macht der Fahrstuhl, junger Mann, hat schon mal wieder jemand an den Knöpfen gespielt?”

Einmal in der Woche wurde in einem kleinen Saal des Sanatoriums ein Kinofilm vorgeführt. Aus alter Gewohnheit setzte sich Fridolin selbst hier in die erste Reihe. Er saß dort bis kurz vor Filmbeginn als einziger in der Mitte der ersten Reihe. Als das Licht ausging, konnte er noch die Dicke mit dem Damenbart mit der Blonden ausmachen, die sich zu ihm setzten und ihn in die Mitte nahmen. Sie keilten Fridolin regelrecht ein. Die Füllige drängelte sich ohne Verzögerungen an ihn. Der Hauptfilm hatte noch nicht einmal begonnen, als ihre rechte Hand schon in seinem Schritt lag und dort fündig geworden war. „

Es geht doch nichts über einen Film”, meinte sie zu Fridolin, “es ist eine ganz andere Atmosphäre als vor dem Fernseher, nicht?”

„Und nicht so eng wie im Fahrstuhl!” lachte die Blonde und presste sich von der anderen Seite an ihn.

Als der Film dann endlich begann, hatte Fridolin endgültig die Übersicht verloren. Nach der Vorstellung konnte Fridolin beim besten Willen nichts über den Inhalt des Filmes aussagen. Nur mit Mühe konnte er sich an den Titel des Films erinnern. Neben dem Fahrstuhl verzichtete Fridolin ab sofort auch auf die Filmvorführungen und widmete sich nun ausschließlich seinen Touren auf dem Fahrrad. So fuhr er jetzt täglich ins Schneewittchen-Eck, wo ihn die stramme Rieken in einem kleinen Schwarzen mit einer weißen Schürze wie einen Stammgast erwartete.

6. Riekens Omen

 Der Gasthof „Schneewittchen-Eck” war ein roter zweigeschossiger Backsteinbau wie er in ländlicher Gegend häufig anzutreffen ist. Der Wirt Berndkowski, ein ehemaliger Schlachter, hatte ihn zu einer Pension erweitert. Der Gasthof lag an einer Nebenstraße am Waldesrand. Dort war es Berndkowski und seiner Ehefrau Hertha innerhalb weniger Jahre gelungen, drei Kinder zu zeugen und gleichzeitig ihre deftige Küche im Umkreis bekannt zu machen. Anfangs war noch die Mitgliedschaft von Berndkowski in der Fußballmannschaft der Alten Herren des Dorfvereins notwendig, um die ersten Gäste nach dem Training in die Gaststube zu locken, wo Geldautomaten und Tischfussball neben Bier und Schnaps für Kurzweil sorgten. Kurt, der eisenharte linke Verteidiger der Mannschaft, bestellte jedes Mal noch in der Tür in Richtung Tresen: “Ein Bier und einen kleinen Korn, aber schön voll!” Anschließend gab jedes Mannschaftsmitglied nacheinander eine Runde Bier aus, bis man sich gegen Mitternacht angesäuselt verabschiedete. Nach und nach wurde der Gasthof bekannter. Der Tischfussball, der Flipper und Billardtisch wanderten in einen gesonderten Raum mit einem Tresen für die Dorfbewohner. Auf die Tische im Restaurant kamen weiße Tischdecken und Kerzen. Die Getränke wurden um eine Weinkarte, Cognac und Whisky ergänzt.

Berndkowski gelang es, einige junge Wildschweine aus dem Wald einzufangen, für die er ein Gehege hinter dem Gasthof baute, wo sie sich bald vermehrten. Die Wildschweine waren für viele Neugierige mit Kindern ein Grund, einmal vorbei zu schauen. Kaum jemand kam auf den Gedanken, dass die Wildschweine im Gehege in irgendeiner Form mit der Speisekarte, in der vorwiegend Wildgerichte angeboten wurden, in Verbindung standen. Doch als ehemaligem Schlachter war es für Berndkowski ein Leichtes, so die Speisekammer kostengünstig zu füllen, zumal auch die Abfälle aus der Küche auf diese Weise gut verfüttert werden konnten. Alltags war der Gasthof gut besucht, an den Wochenenden rammelvoll, so dass neben Rieken noch ein weiterer Kellner auf der Sonnenterrasse sich im Laufschritt mit Bier, Kuchen und Kaffee abschleppte. Rieken hatte sich vor kurzem von ihrem Mann getrennt, ihren zweijährigen Sohn bei den Eltern untergebracht und verdiente sich ihr Geld jetzt als Kellnerin. Eine Mehlkrätze hinderte sie, weiterhin in ihrem erlernten Beruf als Konditorin zu arbeiten. Die Trennung von ihrem Mann hatte sie ein wenig aus der Bahn geworfen, im Grunde jedoch mehr der Anlass dieser Trennung: ihr Mann war fremdgegangen, als er dem Druck von Verantwortung und Eintönigkeit eines engen Familienlebens nicht mehr standhalten konnte. Rieken war in ihrer Weiblichkeit tief gekränkt, denn sie war eine fröhliche Frau mit braunen Puppenaugen und dunklem halblangen Haar. Ihre Beine waren kurz und stämmig, was jedoch durch ihren üppigen Busen nicht weiter ins Gewicht fiel. So war es nicht verwunderlich, dass sie sich für ihre Demütigung rächen wollte und ihren Ehemann nachträglich betrog. Unbemerkt von Ehefrau Hertha, die als kochende Kellnerin wirkte und nebenbei ihre drei Kinder versorgte, hatte Rieken mit Berndkowski ein Verhältnis begonnen. Das bot sich geradezu an, da sie im Gasthaus eines der Zimmer neben den Pensionsgästen bewohnte, und Berndkowski ein äußerst agiler und umtriebiger Zeitgenosse war. So ließ er am Ruhetag abends seine Hertha mit den Kindern alleine vor dem Fernseher und gab vor, als Jäger im Wald den vielen Katzen den Garaus machen zu müssen. Sobald es dunkelte, verabschiedete er sich in Waidmannstracht, mit Nachtglas und Schrotflinte ausgestattet von seiner fülligen Ehefrau und verschwand im angrenzenden Wald. Dort gab er noch in Hörweite einen Schuss als Alibi und zur Beruhigung seines Weibes ab. Dann schlich er wieder zurück zum Haus und kletterte über die bereits an Riekens Fenster gestellte Leiter in den ersten Stock in ihr Zimmer und ihre Arme. Während unter ihnen im Wohnzimmer die einsame Ehefrau vor dem Fernseher auf dem Sofa lag und die Packung mit den Pralinen plünderte, wurde über ihr zu richtiger Jagd geblasen und dabei einiges zur Strecke gebracht.

Doch Rieken beschränkte sich in ihrem sexuellen Rachefeldzug nicht nur auf die Besuche mit Berndkowski. Mancher Verehrer fand sich zum Unwillen des Wirtes in der Gaststube ein, um dort Rieken den Hof zu machen. Rieken wählte als ihre Liebhaber grundsätzlich Ehemänner aus, da man sie leichter wieder loswerden konnte. Doch nach einer Weile begann sich Rieken nach ihren beachtlichen Erfolgen wieder nach einem geeigneten Heiratskandidaten umzuschauen. Nach anfänglichem Zögern schloss sie auch Fridolin in ihre Überlegungen ein. Er wirkte zwar ein wenig linkisch und ungelenk auf sie, doch das würde sie schon hinkriegen. Fridolin rauchte nicht und trank kaum und wurde nicht anzüglich. Er führte nicht wie andere Männer das große Wort in Sachen Fußball oder Automarken, sondern hörte ihr zu, wenn sie ihm sein Glas Bier an den Flipper brachte.

An ihrem nächsten freien Tag passte sie den Zeitpunkt ab, als Fridolin sich mit seinem Fahrrad wieder auf den Weg zum Sanatorium machte und gerade die Fahrradklammern anlegte. „Na, junger Mann”, wandte sie sich launig an ihn, „darf ich Sie mitnehmen? Ich fahre am Sanatorium vorbei!”

„Aber wo soll ich mein Fahrrad lassen?” fragte Fridolin.

„Das legen wir in den Kofferraum! Heute ist ein sonniger Tag, ich kann dir auch noch unterwegs noch etwas von der Gegend zeigen!”

So stieg Fridolin in Riekens Wagen ein. Sie fuhr für Fridolin völlig neue Wege und parkte bei einem Rittergut. „Dieses Rittergut hat einmal Baron Münchhausen gehört!” erklärte sie ihm.

„DEM Münchhausen?”

„Ja, genau dem! Wir können uns dort draußen an die Tische setzen und etwas trinken. Ich mag mich an meinen freien Tagen auch gerne mal bedienen lassen!”

Bei Kaffee und Kuchen erwähnte Rieken nebenbei, dass man sich im Rittergut auch Ferienwohnungen mieten könnte. Auch über das Wochenende. „Das muss bestimmt schön sein!” erwiderte Fridolin. Rieken dachte unwillkürlich an Berndkowski Abgebrühtheit, der sie heute Abend wieder auf ihrem Zimmer aufsuchen würde, sobald er den Schuss für seine Ehefrau im Wald abgefeuert hätte. Sie fühlte dabei das erste Mal eine zärtliche Symphatie für den harmlosen Fridolin.

Später gingen sie noch ein wenig spazieren und setzen sich auf eine Wiese. Zu Riekens Enttäuschung machte Fridolin jedoch keine Anstalten, sie zu küssen oder zudringlich zu werden. Doch dann entdeckten beide, dass sie von Klee umgeben waren. Fridolin fand das erste vierblättrige Kleeblatt. Rieken begann nun auch zu suchen und fand eine Vielzahl von vierblättrigen Kleeblättern. Das war für sie ein Zeichen des Schicksals, denn sie hielt viel von geheimen Hinweisen und Omen. Fridolin kletterte in diesen Augenblicken auf der Rangliste möglicher Heiratskandidaten auf Platz zwei vor. Vor ihm lag nur noch der gut betuchte, aber schon betagte Spielautomatenaufsteller Paulchen Lieger.

7. Riekens Trauma

 Noch am gleichen Abend sollte Riekens Selbstwertgefühl einen herben Einbruch erleiden. Sie war es in den vergangenen Monaten gewohnt, dass ihr die Männer nachliefen, wenn sie nur mit dem kleinen Finger schnippte. Wenn sie dann noch viel versprechend mit ihren dunkeln Augen plinkerte, fraßen sie ihr bald wie Eichhörnchen aus der Hand. Auch Berndkowski konnte seinen freien Tag kaum erwarten, wenn er schon vor der Dämmerung in seinem Waidmannsanzug ungeduldig die Dunkelheit herbei sehnte.

Ulrike war an diesem Abend nach ihrer Heimkehr irritiert, als sie die Leiter nicht an die Häuserwand angelehnt fand. Sie besänftigte ihre Eitelkeit, Berndkowski sei durch geschäftliche Dinge verspätet. Sie ließ ihr Fenster an diesem Abend weiterhin für den tapferen Jägersmann angelehnt.

Doch Bernkowski hatte eine andere Fährte aufgenommen. Bei einem Frisörbesuch hatte die Frisösin Susi seinen Kopf an ihren Busen gelehnt, als sie ihm die Koteletten stutze. Nach dem Haarschnitt massierte sie ihm mit Rasierwasser ausgiebig die Kopfhaut und Schläfen, wobei sie seinen Kopf zwischen ihren Brüsten wie in einem Ohrensessel bettete. Berndkowski deutete diesen Service völlig richtig, da er ebenfalls aus dem Dienstleistungsgewerbe kam und verabredete sich zu einem Stelldichein noch am gleichen Abend mit Susi. Die Pirsch mit Rieken musste warten. Wie alle Jäger war auch Berndkowski in seinem Jagdeifer unersättlich und schielte immer nach Vierzehnendern in anderen Gehegen, so ergiebig die heimische Jagd auch sein mochte. Die Ausflüge über die Leiter zu Rieken versetzten ihn zwar immer noch in Erregung wie das Erklimmen eines Hochstandes, die ihren Höhepunkt im Ringen mit Rieken fand, wobei er gleichzeitig den Fernsehton hörte, dem sein Eheweib Hertha ein Stockwerk tiefer auf dem Sofa lauschte. Doch er ahnte, bald schon würden auch diese Jagdausflüge mit Ulrike zur Routine werden und sich nicht mehr von dem Zoogehege seiner Ehe unterscheiden.

Früher, in den Anfängen ihrer Ehe, hatte er auch mit Hertha wilde Nächte erlebt, die dann aber doch im Laufe weniger Jahre so sachlich wie das Senioren-Turnen gerieten. Ihm war auch nicht entgangen, wie Rieken ihn wie einen Hund mit einem Knochen lockte, wenn ihr danach war. Außerdem hatte Berndkowski die hormonelle Ausstattung für mehrere Jagdreviere. So hatte er keine Sekunde gezögert, als Susi unverhohlen zur Treibjagd in ihrem Revier aufforderte. Berndkowski hatte Blut geleckt und die Fährte aufgenommen. Das Leben war wieder neu und erregend, nur Rieken blieb verwirrt auf der Strecke und begann an ihrer Unwiderstehlichkeit zu zweifeln. Erinnerungen an ihre gescheiterte Ehe wurden wach.

Anderntags verzichtete sie darauf, Berndkowski auf den ungenutzten Hochstand anzusprechen, die Anzeichen waren unübersehbar. Seine Augen strahlten das Glück der nächtlichen Jagd aus. Sein Gang war noch beschwingter und als er bei günstiger Gelegenheit Rieken einen gutgelaunten Klaps auf ihr Hinterteil gab, kam sie sich wie eine ausgediente Mähre vor, die gutmütig hinter das Gatter getrieben wird. Riekens Gemütszustand verdüstere sich weiter, als Berndkowski auch die nächsten Termine für einen Jagdausflug über ihre Leiter ungenutzt verstreichen ließ. Deprimiert stimmte sie zu, als Hertha sie zu einem Fernsehabend einlud, bei dem beide bei einer Flasche Eierlikör ein idiotisches Quiz verfolgten und ihr Hertha anvertraute: „Ich bin ganz froh, wenn er mal ein paar Abende geschäftlich zu tun hat. Mir wird

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 04.12.2014
ISBN: 978-3-7368-6186-2

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