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Die Katastrophe

Soweit waren noch nie Menschen zu uns vorgedrungen wie an diesem Tage. Bis auf mich sind alle Mitglieder unserer Gruppe Menschen. Sie haben sich jedoch im Laufe der Zeit verändert, so dass sie mit den Menschen nur so wenig gemeinsam haben, wie die Menschen mit den Schimpansen. Wenn es denn überhaupt noch Schimpansen in der Welt gibt. Die verbliebenen größten Übereinstimmungen bestehen in der äußeren Erscheinung, obwohl es auch dort Unterschiede gibt, auf die ich noch zu sprechen komme. Die letzten Menschen kamen vor etwa 50 Jahren in die Nähe unserer Zuflucht. Die Menschen der Zuflucht sahen ihre strauchelnden Silhouetten wie Scherenschnitte am Horizont. Vermutlich sind sie vor Erschöpfung gestorben. Es waren sieben Personen. Danach wurden nie wieder Menschen gesehen und man nahm an, dass die Menschen außerhalb der Zuflucht wohl endgültig zugrunde gegangen waren. Warum hätten sie auch sonst den Weg in die Wüste wagen sollen, wenn es für sie außerhalb dieser Einöde Möglichkeiten zum Überleben gegeben hätte? Aber all das sind Vermutungen. Unsere Zuflucht liegt inmitten einer riesigen Steinwüste und wird durch eine Projektion gesichert, die Außenstehenden vorgaukelt, auch dieser Teil der Wüste mit seinen scharfkantigen kniehohen Steinstümpfen würde sich über den Horizont hinaus erstrecken. Die Projektion wirkt wie ein optisches Klonen der Umgebung und selbst aus der Luft erliegt man dieser Täuschung. Das war auch notwendig, denn als die Projektion installiert wurde, gab es noch Flugzeuge und Helikopter. Nur die Tiere haben sich von Anfang an nicht täuschen lassen, da sie das Wasser und das Leben hinter der Projektion gewittert und sie einfach durchschritten haben. Die Tiere waren uns immer willkommen, obwohl wir schon lange darauf verzichteten, aus ihrer Existenz Nutzen für unsere Ernährung oder Kleidung zu ziehen. Die Tiere halten sich nur für kurze Zeit bei uns auf. Sie löschen ihren Durst an den Brunnen, dann zieht es sie wieder hinaus in die Wüste, als gehörten sie unwiederbringlich zu dieser untergehenden Welt aus Kampf und Tod dort draußen. Ich selbst überprüfe die Projektion regelmäßig und verlasse dann nur für kurze Zeit die Zuflucht. Die Täuschung ist perfekt. Man sieht von außen scharfkantige Steine, soweit das Auge blickt. Niemand, der bei Sinnen ist, würde seinen Weg in diese Richtung fortsetzen. Wir selber haben wenig Anlass, unser Versteck zu verlassen. Ganz im Gegensatz zu der Zeit der Gründung, in denen sich die Mutigsten von uns in die sterbende Welt wagen mussten, um uns mit den notwendigen technischen Ausrüstungen zu versorgen. Anfangs war die Zuflucht nämlich nicht mehr als eine vergessene Oase. Es war ein lebensgefährlicher Ausflug nach Kiotameg notwendig, um uns die notwendigen technischen Ausrüstungen zu besorgen. Danach war unser Ziel erreicht: wir konnten uns vor der Außenwelt verbergen. Bei den Gründern der Zuflucht handelt es sich um Bewohner des kleinen Ortes Kant, einem Vorort von Kiotameg. Kant war kein unbedeutender Vorort wie so viele andere, sondern eine auf der grünen Wiese angelegte Siedlung mit prächtigen Bungalows für die Lehrkräfte der Elite-Universität von Kiotameg. Mit der Zeit kamen auch andere Bewohner hinzu. Eines war ihnen allen gemeinsam: Sie waren gefragte Spitzenkräfte auf ihrem Gebiet und sie arbeiteten allesamt im Moloch Kiotameg, der damals auf dem Höhepunkt seiner wirtschaftlichen Macht an die 20 Millionen Einwohner zählte. Der beste Ort der Welt, um schnell viel Geld zu machen. Doch am Abend und an den Wochenenden flüchtete man nach Kant, um den Rest des Lebens, den einem der Job übrig ließ, dort zu genießen. Und sei es werktags nur, um am Abend noch auf der Terrasse zu sitzen, mit den Nachbarn zu grillen, etwas zu trinken und sich zu unterhalten. Kant lag an einem künstlich angelegten Badesee. In Kant ließ es sich gut leben: das Klima war sonnig, ein Winter existierte nicht. Bis zu dem Zeitpunkt, als man in Kiotameg den Kampf gegen die Seuche als verloren betrachten musste. Die Krankheit hatte sich in den vergangenen Jahren immer schneller ausgebreitet, bis sie wie ein losgetretenes Schneebrett als Lawine zu Tal stürzte und alles, was sich ihr in den Weg stellte, erstickte und mit sich riss. Anfangs versuchte man, die Todkranken in eilig errichtete Feldlazarette außerhalb der Stadt zu isolieren. Doch bald erwiesen sich alle Bemühungen als vergeblich. Der Zustrom der Kranken ließ nicht nach und innerhalb weniger Monate waren die Lazarette überfüllt, die Medikamente ausgegangen. Für einige Zeit hielt man sich noch mit Morphium und anderen Drogen über Wasser. Nach wenigen Wochen war auch dieser Ausweg versperrt. Die Schlacht war verloren und jeder wusste es. In diese Zeit fallen die ersten Plünderungen in Kiotameg. Die Todgeweihten wussten, dass sie unaufhaltsam ihrem Ende zusteuerten. Sie steigerten sich in eine rauschhafte Orgie aus Betäubung, Gewalt und Terror, wobei der gewaltsame eigene Tod ersehnt wurde. Zu ihnen gesellten sich die Süchtigen, die Obdachlosen, die Bewohner der Gettos und all die anderen, die immer ohne Hoffnung am äußersten Rand dieser Gesellschaft vegetierten. Sie stürmten die Gefängnisse, warfen Brandsätze und schossen auf die Wärter; lauerten ihnen auf dem Heimweg auf, bis sie die Gefangenen freiließen. Eine ungeheure Welle der Gewalt überflutete den Moloch Kiotameg. Plünderungen, Vergewaltigungen, Brandstiftungen und Mord griffen wie ein rasender Flächenbrand um sich. Man verstärkte anfangs die Präsenz der Polizei und verhängte mit der einbrechenden Dunkelheit eine Ausgangssperre. Als das nicht half, reagierte man mit Erschießungen vor Ort. Auch diese Maßnahmen erwiesen sich als wirkungslos. Das Militär wurde zur Hilfe gerufen. Auch die Soldaten konnten den Kampf nicht gewinnen, da die Todgeweihten in keiner Weise das eigene Leben schonten und alles darauf anlegten, den Rest der Menschheit mit in ihren Untergang zu ziehen. Es spielten sich verheerenden Szenen eines Bürgerkriegs ab. Niemand wusste noch, wer gegen wen kämpfte. Banken schlossen, nachdem sie täglich mehrmals überfallen worden waren. Die Überfälle gerieten zu wahnwitzigen Metzeleien, bei denen Handgranaten eingesetzt wurden. Ganze Stadtviertel wurden innerhalb weniger Tage unkontrollierbar. Die Polizei und das Militär zogen sich machtlos zurück, die Versorgung der Stadt kam zum Erliegen, so dass sich jetzt selbst die Gesunden an den Plünderungen beteiligen mussten, um ihr Überleben zu sichern.

 

Die Versammlung

In diesen Tagen hatte Sam Miller, der Bürgermeister von Kant, kurzfristig eine Gemeindeversammlung anberaumt. Die 507 Einwohner hatten sich fast vollständig in der Sporthalle eingefunden. Sam Miller war ein entschlussfreudiger Mann Anfang Vierzig. Er bat energisch um Ruhe und kam ohne lange Begrüßung zur Sache: „Ich gebe gerne zu, Leute, dass ich Schwierigkeiten habe, die Situation richtig einzuschätzen. Wer mich kennt, weiß, dass das äußerst selten vorkommt. Ihr wisst alle über die Vorkommnisse und Zustände in Kiotameg Bescheid. Die Frage ist nun: Was unternehmen wir hier? Ich bitte um eure Vorschläge.“

Schon bei seinen ersten Worten war Tumult unter den Bürgern ausgebrochen. Man rief sich die neuesten Schreckensmeldungen aus Kiotameg zu. Ein Verhalten, das unter normalen Umständen in Kant undenkbar war. Der überwiegende Teil der versammelten Bürger war es gewohnt, methodisch zu denken und sachlich zu entscheiden. Doch Angst, Panik und Hilflosigkeit der vergangenen Wochen hatten die Oberhand bekommen. Mit Mühe konnte Miller wieder Ruhe herstellen.

„Liebe Leute, wir müssen einen kühlen Kopf bewahren, damit wir zu einer guten und raschen Entscheidung kommen.“

Carlson, ein riesiger Mittdreißiger und Sheriff des Ortes, kam nach vorne und dämpfte die Erregung in der Menge mit einer beschwichtigenden Geste seiner gewaltigen Hände. Seine Stimme war wie immer ruhig und entschlossen: „Wir sollten in Kant bleiben und uns hier verteidigen. Wir haben genügend Waffen und warten ab, wie sich die Dinge entwickeln. Wir haben in unseren Reihen erfahrene Jäger, die uns organisieren können. Und vergesst nicht, liebe Leute, Kiotameg ist 70 Meilen entfernt. Was wollen die Leute hier und wie wollen sie hierher kommen? Mit der Bahn? Mit ihren Wagen, die kein Benzin mehr haben? Also, ich bin dafür, wir treffen ab sofort Vorsorge, organisieren uns und stellen ab morgen 10 Meilen vor Kant bei der Alten Mühle eine ständige Wache auf, damit wir nicht überrascht werden können. Aber ich bin mir sicher, dass sich die Lage bald wieder beruhigen wird und alle Aufregung umsonst ist!“ Er blickte mit einem entschlossenen Zug um den Mund in die ersten Sitzreihen, sah die Leute aufmunternd an und begann dann grimmig zu lächeln. Viele der Anwesenden stimmten ihm murmelnd zu. Man war froh, dass jemand ihnen die Angst nahm und wieder Zuversicht ausstrahlte. Die Leute begannen zu diskutieren und sich gegenseitig zu bestätigen. „Recht hat er! Soll wollen wir es machen! Das ist ein Wort.“

Inzwischen war Joseph hinter das Rednerpult getreten. Er war mittelgroß, hatte bis auf einen dunklen Haarkranz eine Glatze, dunkle, breite Augenbrauen und einen gemütlich wirkenden Bauch. Er war Anfang Fünfzig und arbeitete als erfolgreicher Börsenmakler bei Eston & Sons in Kiotameg. Die Gespräche verstummten nach und nach und man blickte erwartungsvoll zu ihm hin. Im Stillen hoffte man, dass er die Zuversicht und Einschätzung von Carlson bestätigte. Umso überraschter waren die Leute, als er in seiner lebhaften Art begann: „Ich teile die Ansicht von Carlson überhaupt nicht. Jedermann hier weiß, dass ich mich in der Vergangenheit oft seinem Rat und seinen Vorschlägen angeschlossen habe. Aber ich halte es für unverantwortlich und für unseren sicheren Untergang, hier zu bleiben und zu hoffen, es würde überhaupt nichts geschehen. Und wenn doch, dann nur in einem Umfange, dass wir uns selbst verteidigen könnten. Wir brauchten dazu nur Waffen und ein paar erfahrene Jäger. Im Fernsehen ist es nicht richtig deutlich geworden, aber die Polizei und selbst das Militär haben sich in Kiotameg als Verlierer aus der Auseinandersetzung zurückgezogen. Und sie haben immerhin Panzerwagen, Wasserwerfer, Blendgranaten - und als selbst das nichts nützte, Flammenwerfer eingesetzt. Von den Gewehren will ich gar nicht erst reden. Bis vor ein paar Tagen habe ich noch in Kiotameg gearbeitet. Ich habe es erlebt. Keine Armee der Welt kann eine Schlacht gegen einen Gegner gewinnen, der keine Angst um sein Leben hat, ja, sogar seinen Tod herausfordert. Aber gleichzeitig hat sich der Mob auch selbst besiegt, denn niemand wird Lebensmittel in geplünderte Supermärkte liefern, zerstörte Stromleitungen reparieren oder überfallene Banken und Tankstellen wieder öffnen. Noch mögen genügend Lebensmittel, Drogen und Benzin vorhanden sein, um den Mob noch eine Weile abzulenken. Doch die Vorräte werden bald zur Neige gehen, - und dann müssen sie die Stadt verlassen. Da Kiotameg am Meer liegt, können die Horden nur an der Küste entlang oder ins Landesinnere ziehen. Der Highway 11 führt in das Gebirge, ehe er nach etwa 100 Meilen wieder auf kleine Ortschaften stößt. Highway 12 läuft direkt an Kant vorbei bis er nach etwa 200 Meilen Statton erreicht. Statton ist von der Fläche und Einwohnerzahl etwa halb so groß wie Kiotameg. Die gesamte Strecke dorthin ist mit mittleren und kleinen Orten gesäumt. Wir brauchen nicht groß rätseln, welchen Weg die Massen wählen, wenn sie losstürmen. Und vergesst eines nicht, liebe Nachbarn, es kommen nicht ein paar Tausend, nein, - es werden Hunderttausende kommen! In mehreren Wellen werden sie wie die Heuschrecken über uns herfallen. Erst werden die gut Ausgerüsteten kommen, die noch motorisiert sind. Vielleicht haben wir Glück und sie ziehen an uns vorbei. Aber eine der nachfolgenden Wellen, bei denen es sich um die Verzweifelten handeln wird, - eine dieser Wellen, sie muss über uns herfallen! Weil sie keine Wahl haben. Wenn wir uns in den nächsten Tagen auf den Weg machen, können wir spätestens in zwei Tagen in Statton sein. Dort ist man auf die Lage besser vorbereitet. Das ist unsere Chance. Packen wir alles zusammen und fliehen wir nach Statton. Häuser kann man wieder aufbauen, doch unser Leben können wir nur einmal verlieren! Mit Carlson bin ich in dem Punkt einer Meinung, dass wir ab morgen bei der Alten Mühle eine ständige Wache aufstellen. Man kann von dort weit ins Land schauen und niemand wird uns überraschen.“ Joseph breitete bei seinen letzten Worten die Arme aus, dann setzte er sich neben Miller und Carlson an den Tisch. Lähmendes Entsetzen machte sich unter den Zuhörern breit. Alle Zuversicht war verflogen. Aus der vordersten Reihe hatte sich eine junge Frau mit kurz geschnittenen blonden Haaren erhoben und war nach vorne gegangen. Sie trug eine gelbe Bluse und Jeans. Ihr Name war Alice. Sie arbeitete als Biologin an der Universität in Kiotameg. Sie trat ans Mikrofon, räusperte sich kurz. An ihrer hellen Stimme hörte man, dass sie nur mit Mühe ihre Erregung beherrschen konnte: „Ich stimme Joseph zu, dass wir fliehen müssen. Wie manche von euch vielleicht wissen, lebt mein Vater in Statton. Ich weiß daher aus erster Hand, dass die Zustände dort so ähnlich wie in Kiotameg sind. Aber sie haben im Gegensatz zu uns noch keinen Bürgerkrieg. Aber alles in allem sind die Verhältnisse dort ähnlich hoffnungslos wie in Kiotameg. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass auch die Menschen in absehbarer Zeit Statton verlassen müssen, weil die Versorgung auch dort zusammen bricht. So kämen wir vom Regen in die Traufe, wenn wir nach Statton fliehen. Wir würden den Verzweifelten in die Arme laufen. Wie ihr alle aus den Nachrichten wisst, fahren keine Eisenbahnzüge mehr aus Kiotameg, auch der Flughafen ist leer. Wer fliehen konnte, ist bereits fort. Zum Hafen von Kiotameg zu fliehen, in der Hoffnung auf ein Schiff zu kommen, ist purer Wahnsinn und aussichtslos. Ich werde dorthin flüchten, wo mit Sicherheit keiner der Horden hinkommen wird: in die Wüste! Ziemlich in der Mitte der Wüste gibt es eine Oase. Ich kenne sie aus meiner Studienzeit, als ich dort einige Monate Untersuchungen an den dort wachsenden Pflanzen durchführte. Dort könnte man einige Zeit unbehelligt leben und abwarten, was geschieht. Ich flehe euch an: flieht nicht nach Statton und bleibt nicht hier - kommt mit mir in die Wüste.“ Alice neigte kurz den Kopf als Zeichen, dass ihre Rede beendet war. Sie nahm neben den drei Männern am Tisch Platz. Der Tumult brach wieder los. Alle begannen aufgeregt durcheinander zu reden, Angstschreie von Frauen und Kindern waren zu hören, vor Erregung und Furcht heisere Männerstimmen. Nach einigen Minuten erhob sich Miller. Er nahm eine kleine Glocke und läutete. Ihr heller Ton brachte die Menge zum Schweigen.

„Leute, ich verstehe eure Erregung. Mir ergeht es ähnlich. Aber wir müssen zu einer Entscheidung kommen, damit wir Vorbereitungen treffen können, egal, für welche Möglichkeit wir uns entscheiden. Meine Frage an euch: Hat jemand noch andere Vorschläge? Wenn ja, dann soll er nach vorne kommen.“

Augenblicklich brach das Stimmengewirr wieder los, man schaute sich fragend um. Der alte Husky kam auf seinen Stock gestützt nach vorne, den er hob, um Ruhe zu fordern. Er war einer der Mitbegründer von Kant und war jetzt schon über 15 Jahre in Pension. Er hatte den Bau der Kirche und des Gemeindehauses maßgeblich voran getragen.

„Ich denke, wir sollten alle hier bleiben und auf den HERRN vertrauen. Wir brauchen keine Waffen. Vielmehr sollten wir beten. Für diese Unglücklichen und für uns.“

Mehr sagte er nicht. Er setzte sich wortlos zu den anderen. Miller ergriff wieder das Wort: „Vielleicht ist es das Beste, wir stellen einmal fest, wer sich welcher Gruppe anschließen will. Dann können wir sehen, wie stark die Gruppen werden. Ich für meinen Teil werde hier bleiben und mich mit Waffengewalt verteidigen, wenn es nötig sein sollte. Vielleicht ist es das sinnvollste, unsere vier Kandidaten verteilen sich auf die Ecken der Halle.“

Alice und die drei Männer erhoben sich. Alice trat den Weg in eine der hinteren Ecke an, als ahnte sie schon jetzt, dass nur wenige ihrem Vorschlag folgen würden. Joseph nahm die Ecke ihr gegenüber. Husky wählte die Ecke hinter dem Rednerpult und baute sich dort wie ein Hirte aus dem Alten Testament auf. Carlson ging selbstbewusst in die freie Ecke und stellte sich dort breitbeinig hin, die kräftigen Hände in den Hüften gestützt. Frauen beschworen ihre Ehemänner oder Partner zu einer Entscheidung, die ihnen am vernünftigsten schien. Männer drehten sich ratlos nach ihren Freunden um und suchten dort nach einer hilfreichen Entscheidung. Ältere Ehepaare blickten sich in stiller Verzweiflung an. Zu Husky hatten sich inzwischen zwei weitere Gemeindemitglieder gesellt. Den größten Zuspruch hatte jedoch Carlson, der am Ort bleiben und sich verteidigen wollte. Es wurden rasch an die 300 Leute, die sich um ihn sammelten und mancher, der sich anfangs für die Flucht entschlossen hatte, kehrte wieder um und ging zu Carlson. Auf Alice steuerte der schmächtige Kenston zu, einen halben Kopf kleiner als sie, sein Haar war bereits schütter. Er war Ende Dreißig. Ihm gehörte ein Truck, mit dem er seit Jahren auch den Supermarkt am Ort belieferte. Auf diese Weise war er in Kant hängen geblieben und hatte ein kleines Häuschen gekauft. Er reichte Alice die Hand und sagte: „Ich will mit in die Wüste. Deine Argumente haben mich überzeugt. Aber wir scheinen die einzigen zu bleiben.“

Alice lächelte ein wenig hilflos, wie jemand, der weiß, dass er im Recht ist, aber keinen Zuspruch erfährt. „Kannst du deinen Truck mit in die Wüste nehmen“, fragte sie, „das wäre eine große Hilfe.“

„Na, klar. Den lasse ich nicht hier. Neben dem Häuschen ist das alles, was sich besitze. Wann soll es denn losgehen?“

Alice musterte ihn fest: „Heute Nacht. Wir warten jetzt eine Weile ab, ob noch jemand zu uns stößt. Dann sprechen wir alles ab, gehen packen und fahren heute Nacht noch los.“ „Du bist der Boss“, meinte Kenston, „aber meinst du wirklich, dass es schon so kritisch ist und wir nicht bis morgen oder sogar noch einen Tag länger warten können? Man könnte dann alles ruhiger und besser planen.“

„Ich habe ein schlechtes Gefühl. Ich habe Angst, ich will heute Nacht fahren.“

„Gut! Ich komme mit“, sagte Kenston und schaute sich dabei um, „es sieht so aus, als hätte jeder seine Gruppe gefunden.“

Die Ecke der gewaltfreien Gottesfürchtigen um Husky hatte sich aufgelöst und sich den Verteidigern mit Carlson angeschlossen, nachdem sie gesehen hatte, wie stark diese Gruppe war. Aus der Gruppe der Flüchtlinge um Joseph lösten sich noch acht Leute und kamen zu Alice. Es waren die Ehepaare Keegan, Watson und Winter. Watson und Winter hatten zusammen fünf halbwüchsige Kinder im schulpflichtigen Alter. Ihnen folgte das alte Ehepaar Elton, das die Apotheke am Ort betrieb. Als letzte steuerte ein junges Pärchen auf Alice zu. Keegan war der Sprecher der drei Ehepaare. Er wandte sich an Alice: „Unsere Frauen wollen in die Wüste, schon wegen der Kinder. Können wir mit?“

„Wir freuen uns über jeden“, antwortete Alice, „bisher sind wir ja nur zwei Personen, das ist ein bisschen wenig. Aber es sieht aus, als ob die Eltons auch noch zu uns wollten. Und sogar auch ein junges Pärchen.“

Die beiden Eltons hatten inzwischen kurz vor dem jungen Pärchen die Gruppe erreicht.

Beide waren schon hoch in den Sechzigern und weißhaarig. Doch jeder im Ort wusste, wie gut sie in Form waren. Sie schwammen jeden Morgen im See.

„Hallo, Alice“, schnarrte Thomas Elton, „meine liebe Eve will unbedingt in die Wüste und ich will nicht damit beginnen, ihr auf meine alten Tage zu widersprechen. Wir sind zwar nicht mehr die Jüngsten, aber wir könnten mir unseren Medikamenten die Gruppe auch ärztlich betreuen, wenn ihr uns mitnimmt.“

„Wir freuen uns und ihr nehmt uns mit eurer Erfahrung eine große Sorge ab! Herzlich Willkommen!“ strahlte Alice die beiden an.

Pete und Lilly kamen lässig herangeschlendert. Sie hatten sich gegenseitig einen Arm und die Hüften gelegt. Sie waren um die Zwanzig. Pete strich sich mit einer schläfrigen Geste eine Strähne seines dunklen Haars aus der Stirn, schaute Lilly in seinem Arm an, die ihren Kopf mit den roten langen Haaren an seine Schulter schmiegte und sagte: „Wir beide haben keinen Bock zum Kämpfen, aber auch nicht auf Statton. Uns ist mehr nach einem sonnigen Urlaub an einem Strand, wo man sich nicht so dicht auf der Pelle liegt, nicht, mein Schatz?“ Lilly schloss stumm zur Bestätigung nur ihre Augen.

„In Ordnung“, sagte Alice, „dann sind wir also bis auf eure Kinder vollzählig. Wir haben nur ein kleines Problem. Kenston und ich wollen heute Nacht noch losfahren. Wir möchten, dass ihr jetzt nach Hause geht und alles zusammenstellt, was man für die Wüste benötigt. Also, Wasserkanister, Konserven, alles, was ihr an Lebensmittelvorräten habt, und was nicht verdirbt. Dann Zelte, Werkzeuge, Medikamente, Benzin, Wolldecken, Matratzen, und was euch sonst noch einfällt. Wir brauchen nicht mit Platz zu sparen, Kenston nimmt seinen Truck mit. Fahrt mit eurem eigenen Wagen. Tankt voll und nehmt auch Benzinkanister mit, die können wir auch später in den Truck umladen. Hat noch jemand Fragen oder Vorschläge?“

„Muss es unbedingt noch heute sein“, fragte Mrs. Watson, „schließlich haben wir auch noch die Kinder.“

„Kenston und ich halten es für notwendig, noch heute zu fahren. Wenn sich unsere Befürchtungen nicht bewahrheiten, können wir ja jederzeit zurückkehren, sei es, um noch etwas zu holen oder sogar, um wieder ganz zurückzukommen. Kenston und ich werden

jedenfalls heute Nacht fahren.“

„Sie hat recht“, schnarrte Thomas Elton, „wir sind ja nicht aus der Welt. Wir wandern ja nicht aus, wir machen nur zu unserer Sicherheit einen kleinen Picknick-Ausflug.“

Alice schaute auf ihre Armbanduhr. „Es ist jetzt kurz nach 19:00 Uhr. Um Mitternacht kommen Kenston und ich euch nacheinander abholen. Bis dann!“

 

Kurz vor Mitternacht fuhr Kenston bei Alice vor. Alice hatte schon Tage vorher alles gepackt, da sie notfalls auch alleine in die Wüste ziehen wollte. Ihre Sachen waren schnell verladen. Kenstons Truck verfügte auch über eine Hebebühne. Er hatte auf der Ladefläche fünf Benzinfässer festgezurrt.

„Einen Teil dieser Fässer will ich unterwegs wieder ausladen und verstecken. Dann haben wir für den Notfall ein Depot. Es kann ja sein, dass wir noch öfters von der Oase nach Kant, vielleicht sogar nach Kiotameg fahren müssen. Ich habe auf dem Dach eine Reling montiert. Das mache ich immer, wenn ich auf dem Dach Ladung unterbringen will. Man kann dort oben auch ausgezeichnet schlafen. Durch die Höhe sind wir dann auch ein wenig geschützt. Es ist genügend Platz für alle dort oben. Verstehe mich nicht falsch, Alice: Der Truck verfügt vorne über zwei Schlafkabinen, du kannst eine haben, wenn du willst.“

„Das Angebot nehme ich gerne an, Kenston.“ Alice schlug nach dem Verladen ihre Haustür zu. „Es hat wohl wenig Sinn, abzuschließen.“ meinte sie. Dann stieg sie in ihren Wagen und fuhr vorweg. Kenston folgte ihr mit dem Truck. Die Ehepaare Keagan, Watson und Winter wohnten mit ihren Kindern dicht zusammen. Der Truck füllte sich jetzt mit Zelten, Matratzen und kompletten Campingausrüstungen. Watson schleppte mehrere große Platten auf die Hebebühne.

„Ich bin von Beruf Solar-Techniker. Ich habe mir gedacht, die könnten wir unter Umständen gut gebrauchen.“

Nachbarn wollten sie noch zum Bleiben überreden, aber niemand wurde wankelmütig, selbst die Kinder nicht. Herbert Winter war von Beruf Programmierer auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz und verstaute drei Computer-Anlagen auf der Ladefläche. „Vorsichtig, bitte!“ flehte er händeringend.

„Die Gewehre nehme ich ins Fahrerhaus.“ schlug Kenston vor, als Mike Keagan zwei Gewehre und Munition anschleppte. Auch die Kinder brachten ihre Sachen: Bücher, Bälle, Ferngläser und Lisa Watson wollte sich nicht von ihrem Teddy trennen. Nach dem Verladen fuhren sie als nächste die Eltons an. Ihr auffälligstes Gepäckstück war eine Satellitenschüssel.

„Für alle Fälle“, meinte Thomas Elton, „die Abende in der Wüste können lang werden. Und so können wir vielleicht erfahren, was sich in der Welt abspielt.“

Um 2:00 Uhr morgens fuhren sie als letztes Lilly und Pete an, die sogar zwei Trekking-Räder in ihrem Gepäck hatten. Es war immer noch dunkel, als sie Kant verließen und in einem Konvoi den Highway in Richtung Statton einschlugen, der nach etwa 50 Meilen ein Stück an der Wüste vorbeiführt. Nach etwa 15 Meilen außerhalb des Ortes stoppte Kenston den Konvoi auf einer Anhöhe neben einer einzelnen Eiche. Mit den anderen Männern lud er ein Fass Benzin ab. Gemeinsam gruben sie ein Loch, in das sie das Benzinfass versenkten und wieder mit Erde bedeckten. Als sie sich nach getaner Arbeit noch einmal zurück blickten, meinten sie, am Horizont Feuerschein und Rauch zu sehen. Sie beruhigen sich gegenseitig, da es auch langsam zu dämmern begann.

„ Es könnte auch die aufgehende Sonne und der Bodennebel sein“, meinte Thomas Elton mit unsicherer Stimme.

„Wir müssen weiter!“ mahnte Kenston.

Kenston schaltete die Scheinwerfer aus, als vor ihnen die Abzweigung auftauchte, die zu der Gebirgskette führte, hinter der die Wüste begann. Als sie die Schlucht durch die Berge passiert hatten, ließ Alice den Konvoi noch einmal anhalten. Eine rötlich schimmernde Stein- und Geröllwüste lag vor ihnen.

„Wir müssen bis mittags durchfahren“, erklärte Alice, „dann machen wir in der größten Hitze Pause und essen und trinken. Dann ruhen wir uns aus. Fahrt bitte vorsichtig! Denkt daran, hier gibt es keine Tankstellen oder Werkstätten für Reparaturen. Eine Panne in dieser mörderischen Hitze kann zur Katastrophe führen. Stellt eure Klimaanlagen nicht zu

kühl ein, sonst bekommt ihr später einen Kreislaufkollaps, wenn ihr aussteigt. Setzt euch im Freien einen Hut auf und tragt eine Sonnenbrille. Und noch eins: Wir sind weitab von allen Supermärkten. Verschwendet kein Wasser. Überlegt dreimal, ob ihr etwas weg werft. In zwei Stunden ist das hier ein Glutofen. Also, fahren wir los! Ich fahre vorweg.“

Alice stieg wieder in ihren Wagen ein. Sie hatte in keiner Weise übertrieben. Die Sonne erhob sich wie eine glühende Scheibe über dem Horizont. Die Fahrzeuge wirbelten Staub auf, den der Wind hin und wieder zu einem rötlichen Schleier ausbreitete. Als sie gegen Mittag am Horizont eine Gruppe scharfkantiger Felsen sichtbar wurde und Alice darauf zusteuerte, hofften alle, dass der erste Teil ihrer Fahrt sich dem Ende zuneigte.

Hinter den Felsen lagen im Schatten neben ihren Motorrädern zwei Männer. Ihre Aufmachung sah abenteuerlich aus. Wenn Alice von ihrer Existenz geahnt hätte, wäre sie mit Sicherheit in eine andere Richtung gefahren. Doch so lenkte sie den Konvoi ahnungslos auf die Felsen zu. Der schlankere Motorradfahrer trug eine Ledermütze mit silbernen Nieten. Sein schmieriges Haar hing ihm auf den Schultern. Der andere war mittelgroß und athletisch. Er war kahlköpfig, hatte sich aber zum Schutze gegen sie Sonne ein Tuch um den Kopf geknotet. Sein Gesicht war tätowiert. Er trug einen goldenen Ring durch die Nasenscheidewand. Beide trugen lange Bärte. Sie waren schon seit zwei Tagen in der Wüste unterwegs. Sie kamen aus Lerton, einer Stadt, die jenseits der Wüste lag. Beide waren von ihrer Heroinsucht gezeichnet. Als sie den Tipp bekommen hatten, dass es hier in der Wüste den Kaktus Peyote gibt, hatten sie ihr letztes Geld für die Karte, in dem die Fundstelle eingezeichnet war, hingeblättert. Sie hatten die Pilze noch nicht gefunden. Ihre Vorräte gingen zur Neige. Ihre letzten Tabletten hatten sie am Morgen geschluckt und ihre Wirkung ließ langsam nach. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie übereinander herfallen würden. Nur die erbarmungslose Hitze hatte die

Auseinandersetzung bisher verhindert. Sie wussten nicht mehr, wo sie sich genau befanden. Sie lagen ermattet und untätig im Schatten und warteten auf den kühlen Abend. Dann wollten sie versuchen, aus der Wüste hinauszufahren. Sie hörten die Motorengeräusche des sich nähernden Konvois. Der Tätowierte kroch als erster vorsichtig um den Felsen herum. „Hank“, rief er dem Langhaarigen zu“, du glaubst es nicht, wir sind gerettet. Es kommt Besuch.“

Hank kroch zu dem Tätowierten und spähte in die Richtung.

„Wir sind Glückskinder, Tatoo“, kicherte er vor Freude, „der Tisch wird für uns gedeckt. Sie kommen hierher. Wahrscheinlich wollen sie auch im Schatten eine Pause machen. Wir müssen unsere Maschinen verstecken, damit sie nicht misstrauisch werden.“ Alle Missstimmung zwischen ihnen war vergessen. Sie schlugen sich gegenseitig auf die Schultern und schoben ihre Maschinen hinter einen Felsvorsprung. Hank holte aus seinem Gepäck eine kurzläufige Schrotflinte. Tatoo steckte sich einen großkalibrigen Revolver in den Hosenbund. So warteten sie in ihrem Versteck. Alice steuerte auf die Felsengruppe zu. Als ihr Wagen im Schatten stand, stieg sie aus und wies den anderen ihre Plätze zu. Als sie die Motoren ausstellten, hüllte sie die Stille der Wüste ein. Die Ruhe wirkte bedrohlich. Sie waren froh, sich mit alltäglichen Dingen beschäftigen zu können. Es wurde ein Vorzelt als Sonnenschutz aufgebaut, Tee gekocht und das Essen vorbereitet. Kenston machte sich mit den Männern daran, ein weiteres Fass Benzin vom Truck zu laden und zu vergraben. „Lasst es uns vor dem Essen hinter uns bringen.“ schlug er vor und ging mit einer Schaufel zu Werke. Gemeinsam hoben sie das Loch aus. Als der Untergrund steinig wurde, trat Mike Keegan mit einer Spitzhacke vor: „Lasst mich mal ran, den Teil übernehme ich. Es ist ja nur noch ein Stück!“ Mike war kräftig gebaut und er hielt die Spitzhacke wie ein Kinderspielzeug in der Hand. In diesem Augenblick traten die beiden Motorradfahrer aus ihrem Versteck. Hank hielt die Schrotflinte schussbereit im Arm, Tatoo hielt seinen Revolver in der Hand.

„Na, Leute, sind wir auf Schatzsuche?“ lachte Hank großspurig.

Mike Keegan erkannte die Lage als erster und versuchte aus der Grube zu springen. Hank feuerte sofort seine Schrotflinte auf ihn ab. Mike stürzte mit einem Aufschrei zu Boden. „Bleibt ganz ruhig, Leute“, forderte Hank die Männer auf, „bleibt dort stehen, wo ihr seid, sonst ergeht es euch wie dem Helden hier!“

Tatoo richtete zur Bekräftigung seinen Revolver auf die Gruppe. Die Frauen waren bei dem Schuss aufgeschreckt und herbei gelaufen. Vera Keegan schlug die Hände vor das Gesicht, als sie ihren Mann blutend am Boden liegen sah. Dann kniete sie sich neben ihn. Sie zwang sich zur Ruhe, öffnete sein Hemd und untersuchte die Wunde. Hank und Tatoo hatten das weitere Vorgehen nicht abgesprochen. Es war für beide von vornherein klar, dass sie notfalls alle töten würden. Der Truck hatte den größten Wert für sie. Sein Verkauf würde sie lange Zeit über die Runden bringen. Die Lage war nicht neu für sie. Sie hatten schon öfters auf ihren Fahrten Menschen ausgeraubt und auch getötet. Tatoo trieb alle Personen zusammen.

„Beeil, dich Süße“, forderte er Alice auf, „ich warte nicht gerne.“

„Wir müssen erst Mike versorgen, sonst verblutet er.“ bestand sie tapfer.

„Der hat es hinter sich“, lachte Hank roh auf, „der wird nicht mehr. Glaubt mir, ich habe da meine Erfahrungen.“

In diesem Augenblick hörten sie die Stimme von Eve Elton. Ihre Stimme hörte sich unflätig an, als sei sie betrunken.

„Wo hat der alte Mistkerl wieder meinen Whisky gelassen? Dieses verdammte Schwein! Ah…, da ist er ja! Sein Glück!“

Alle drehten sich in die Richtung, aus der Eves Stimme kam. Doch Hank und Tatoo ließen sich nicht ablenken, sie blieben aufmerksam und misstrauisch. Eve

Elton erschien zwischen den anderen Wagen. Sie schwankte leicht und hielt eine angebrochene Flasche Whisky in der Hand. Sie trug eine weite Jacke. Sie blieb stehen, hielt die Flasche an den Mund und nahm einen Schluck. Dann blickte sie herausfordernd in die Runde.

„Was gibt es hier zu glotzen?“

Beim Anblick des Whiskys vergaß Tatoo sein Misstrauen. Er brauchte dringend etwas, seine Nerven schwirrten schon einige Zeit wie eine überspannte Saite einer Geige.

„Muttchen, komm mal her! Was bringst du denn da Schönes für uns?“

„Willst du auch einen Schluck, mein Sohn“, grölte Eve, „es ist genügend da. Endlich mal ein richtiger Mann hier unter so vielen Langweilern.“

Sie schwankte auf ihn zu und hielt ihm die Flasche hin. Tatoo hielt die Flasche an seinen Mund und nahm einen tiefen Schluck. Dann reichte er sie an Hank weiter. Auch er konnte nicht widerstehen. Er hielt die Schrotflinte weiterhin auf die Gruppe gerichtet und nahm die Flasche mit der linken Hand und setzte sie gierig an. Es sollte das letzte sein, was er in seinem Leben tat. Eve hatte aus ihrem Hosenbund unter der weiten Jacke einen Revolver gezogen. Sie war früher eine ausgezeichnete Sportschützin gewesen. Sie visierte Hank an. Ruhig und sicher wie eine Zielscheibe. Hank und Tatoo konnten nicht mehr reagieren. Der Schuss traf Hank ins Herz. Er war noch nicht auf den Boden gefallen, als es Tatoo ereilte. Wie vom Donner gerührt stand er da, unfähig sich zu rühren und sah mit Entsetzen wie in Zeitlupe, wie eine alte weißhaarige Frau einen Revolver auf ihn richtete. Von einem Kopfschuss getroffen brach er zusammen. Eve hatte nach dem zweiten Schuss die Waffe fallen lassen und ging zu den Wagen zurück. Die Männer stürzten sich auf die beiden Motorradfahrer, doch die Vorsicht war überflüssig, beide waren tot. Die Frauen kümmerten sich um Mike Keegan. Thomas Elton holte Verbandszeug. Er ging zu Eve an den Wagen. Er fand sie dort auf dem Beifahrersitz zusammen gesunken. Er öffnete das Handschuhfach und holte eine kleine Taschenflasche heraus und reichte sie seiner Frau: „Eve, du hast uns allen das Leben gerettet!“ Dann setzte er sich neben sie und nahm sie in den Arm: „Mein tapferes Mädchen!“

Kenston war dabei, die Toten aus dem Weg zu schaffen. Watson und Winter trugen Keegan unter das Vorzelt in den Schatten. Vera hatte in ihrer Jugend eine Zeitlang als Zahnarzthelferin gearbeitet. Sie versorgte seine Wunde und legte ihm einen Verband an. Thomas Elton gab ihm eine Spritze gegen die Schmerzen. Es dauerte nicht lange und Mike fiel in einen tiefen Schlaf. Alice war untröstlich über das Geschehen.

„Ich bin völlig fertig, das ist meine Schuld“, gestand sie unter Tränen.

„Das sind wir auch, Alice“, meinte Kenston, der die Toten hinter die Felsen geschafft hatte, „aber du darfst dir keine Vorwürfe machen. Dies waren nur zwei von der Sorte, wie sie in Kiotameg jetzt zu Tausenden herum laufen. Wir haben Glück gehabt, großes Glück! Wenn Eve nicht so reagiert hätte, ich mag es mir gar nicht ausmalen. Aber Mike braucht Ruhe. Wir sollten erst morgen weiterfahren und uns jetzt ausruhen.“

Es gab Corned Beef mit Bohnen, dazu Reis. Die Eltons hatten sich wieder zur Gruppe gesetzt. Eve saß ruhig und teilnahmslos da. Thomas Elton schlug vor, die Satellitenschüssel aufzubauen und Nachrichten zu schauen.

„Aber vielleicht sollten die Kinder nicht zuschauen, das war eben schon schlimm genug für sie.“

Sie bauten den Fernseher auf der Ladefläche im Truck auf. Die Nachrichten waren niederschmetternd. Die Sprecherin erklärte, der Mob aus Kiotameg sei letzte Nacht den Highway in Richtung Statton gezogen. Es gab keine Bilder, da sich kein Aufnahmeteam in die Nähe des Mobs traute. Die Sprecherin zählte die Orte auf, die überfallen, geplündert und gebrandschatzt worden waren. Kant stand mit an erster Stelle.

Pete sprach aus, was alle dachten: „Alice, wenn du nicht darauf bestanden hättest, sofort zu flüchten, dann wären wir jetzt schon erledigt. Dass wir hier sitzen, das ist dein Verdienst. Wir sind dir alle sehr dankbar.“

Später machte sich Kenston mit Winter und Elton daran, die beiden Toten zu begraben. Sie fanden eine Stelle, wo sie knietief in den Boden kamen, ehe sie auf Gestein stießen. Wortlos ließen sie die Leichen in die Vertiefung gleiten und schütteten die Grube zu. Als am Abend die Sonne ihre Kraft verlor, richteten sie ihre Schlafplätze auf dem Dach des Trucks ein. Sie brachten Mike mit einer rasch angefertigten Bahre aus Zelttuch und Stangen nach oben. Kenston und Alice gingen in die Fahrerkabine ein. Als sie beide in den Kojen lagen, schliefen sie rasch ein.

 

Die Nachzügler

In der Nacht wurde Kenston von Alice geweckt. Sie war aus der oberen Schlafkabine

nach unten geklettert und rüttelte ihn sanft an der Schulter, bis er erwachte.

"Kenston, ich muss mal nach draußen, kannst du mitkommen? Ich fürchte mich alleine." "Ja, natürlich", antwortete er noch schlaftrunken und stützte sich auf den linken Ellenbogen.

Draußen war es bitterkalt und beide begannen zu frösteln. Der Sternenhimmel über ihnen funkelte zum Greifen nah. Kenston leuchtete mit seiner Taschenlampe die Umgebung ab. Sie gingen rechts von dem Truck um den Felsen herum. Sie hörten die Geräusche von fressenden Tieren und das Knacken von Knochen. Kenston leuchtete in Richtung der unheimlichen Geräusche. Sie blickten in die fluszorierenden Augen von Hyänen, die das Grab der beiden Motorradfahrer wieder aufgewühlt hatten und über die Leichen hergefallen waren. Alice und Kenston wandten sich vor Entsetzen ab und gingen wieder zurück zum Truck.

Alice fasste sich als erste: „Das ist das Gesetz der Wüste, kein Lebewesen kann es sich hier erlauben, einen noch so kleinen Vorteil zu verschenken. Notfalls muss man auf Vorrat fressen und saufen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Darum kann die Wüste ein sicheres Versteck sein, aber beim geringsten Fehler oder der kleinsten Schwäche auch rasch zum Grab werden. Fehler werden hier nicht verziehen."

Sie gingen beide in die andere Richtung um den Felsen herum bis sie einen ungestörten Platz fanden. Kenston ging noch ein Stück weiter und schlug dort sein Wasser ab. Als sie wieder zusammen zum Truck zurückgingen, fragte er Alice: „Sagen wir es den anderen?" „Wir sollten es nur den Erwachsenen sagen, damit sie die Kinder davon fernhalten. Aber auch die Erwachsenen sollten sich den Anblick ersparen. Ich kann mir gut vorstellen, dass von den beiden heute früh nicht mehr allzu viel übrig sein wird. Es scheint so, dass es in dieser Gegend keinen Zweck hat, etwas vergraben zu wollen, was ein anderer noch fressen kann."

Sie stiegen wieder in die Fahrerkabine und schlossen leise die Tür.

„Hoffentlich können wir wieder einschlafen, das wird heute bestimmt ein anstrengender Tag." meinte Alice nach einer Weile.

Kenston antwortete nicht, er schlief bereits wieder.

 

Am Morgen riet Alice den anderen, nicht um den Felsen zu gehen. Kenston holte mit Pete noch die Motorräder der beiden Toten und verstaute sie auf dem Truck. Keegan hatte über Nacht Fieber bekommen. Doch die Eltons meinten, dass er durchkommen würde. Die

Schrotladung hatte keine Organe verletzt. Sie versorgten die Wunde und legten einen neuen Verband an. Zum Frühstück gab es Brot und Wurst aus Konserven. Die allgemeine Stimmung erholte sich nach der Mahlzeit und Zuversicht machte sich wieder breit.

Alice sagte: „Leute, wir packen jetzt zusammen. Verstaut wieder alles gut, damit wir unterwegs keine Probleme bekommen. Wir haben jetzt 7:00 Uhr und wenn alles gut geht, werden wir am späten Nachmittag oder frühen Abend an den Oasen sein. Wir fahren weiterhin ruhig und vorsichtig, damit wir an den Fahrzeugen keinen Schaden riskieren. Ich fahre vor. Und noch eins, wir haben drei Gewehre und vier Revolver. Watson ist als Jäger der beste Schütze von uns. Ich halte es für das beste, wenn er ein Gewehr und einen Revolver bekommt. Wer kann noch mit Waffen umgehen? Ich selber möchte gerne im ersten Fahrzeug den zweiten Revolver haben."

Außer Watson fühlte sich keiner mit einem Gewehr so weit vertraut, dass er damit eine Hilfe für die anderen hätte sein können. Eve hatte bei der Frage von Alice verneinend den Kopf geschüttelt, die Tötung der Motorradfahrer hatte sie schwer mitgenommen. Schließlich meldeten sich Kenston und Lilly für die beiden Gewehre. Sie wurden mit Munition versorgt.

„Es wird vielleicht das Beste sein", meinte Watson, „wenn auch am Ende unseres Konvois ein Wagen mit einem Gewehr fährt. Damit sich die Bewaffnung verteilt."

„Okay", meinte Lilly, "dann fahren Pete und ich als letzte."

Nach einer halben Stunde waren alle abfahrtbereit. Als Kenston seinen Truck besteigen wollte, schaute er vom Trittbrett noch einmal nach hinten. Er sah am Horizont einen weißen Wagen mit einer riesigen, roten Staubwolke hinter sich näher kommen.

Er wandte sich an Alice: „Schau mal, was hältst du davon?" Alice rief nach Watson.

„Es könnte auch harmlos sein", meinte Watson, „aber wir sollten vorsichtig sein. Ich bin dafür, dass wir alle nach oben auf den Truck gehen. Von dort aus haben wir die beste Sicht und können uns am besten verteidigen, wenn es notwendig sein sollte."

Watson gab Kenston und Lilly den Vorder- und Rückteil des Daches zur Verteidigung. Er beabsichtigte, beide Längsseiten notfalls zu verteidigen. Alice entsicherte ihren Revolver entschlossen. So warteten alle angespannt auf den näher kommenden Wagen. In die Stille krähte der kleine Stephan Watson, kaum acht Jahre alt: „Das sind die Jakobs, ich erkenne Sarah an ihrem Kopftuch!"

Bei den Jakobs handelte es sich um Geschwister, die zusammen einen Bungalow bewohnten. Die beiden Schwestern Marilyn und Sarah waren Mitte Zwanzig, David gerade 18 Jahre. Ihre Eltern waren vor mehr als 10 Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Jetzt erkannten auch die anderen das weiß gepunktete Kopftuch von Sarah. Schon war auch das wilde Hupen des Autos zu hören. Alle atmeten erleichtert auf und kletterten wieder vom Dach des Trucks herunter. Sie konnten sehen, dass David den Wagen fuhr. Er stoppte den Wagen in einer roten Wolke aus Staub. Noch bevor sich der Staub gelegt hatte, waren die drei ausgestiegen und die Frauen fielen den anderen weinend in die Arme. Sie waren völlig erschöpft und verlangten nach Wasser. Pete und Lilly reichten ihnen ihre Trinkflaschen. David legte seinen Oberkörper auf die Motorhaube, als wolle er schlafen. Erst als man ihm die Wasserflasche reichte, griff er gierig danach.

Nach und nach berichteten die beiden Frauen stockend. „Es muss wohl gegen morgens 4:00 Uhr gewesen sein: Die Leute lagen noch im tiefsten Schlaf als die ersten Horden einfielen. Da die Wache an der Alten Mühle erst am nächsten Tag aufgestellt werden sollte, konnten die Plünderer sich unbemerkt bis auf weinige Meilen dem Ort nähern. Es waren insgesamt so an die 100 Wagen und Motorräder, die dann laut hupend und grölend in Kant einfielen. Gleichzeitig fielen die ersten Schüsse. Als erstes brachen sie den Supermarkt auf, warfen die Scheiben ein und plünderten die Bestände. Die Männer, die die zukünftige Verteidigung organisieren wollten, allen voran Carlson, waren völlig überrascht. Sie versuchten zwar noch, sich zu organisieren und kämpften wie die Löwen. Sie brachten einige der Plünderer zur Strecke, aber dann wurden sie von der nachrückenden Meute überwältigt: erschossen, erdrosselt, erstochen und erschlagen. Die Plünderer fielen in die Wohnhäuser ein, brachten die Bewohner wahllos um und steckten die Häuser in Brand. Die Kirche wurde gestürmt und Feuer in ihr gelegt. Einige von uns versuchten zu fliehen und liefen zu ihren Wagen. Die Plünderer eröffneten ein regelrechtes Zielschießen auf die Flüchtenden. Bald lagen die ersten Toten auf den Straßen. Brennende Wagen versperrten den Weg. Es war ein Szenario wie aus einem Alptraum, der Wirklichkeit geworden war. Aber uns gelang es, mit ein paar anderen im Wagen zu fliehen. Wir nahmen den alten Feldweg an der Post vorbei. Wir konnten nichts mitnehmen in der Eile, nur unser nacktes Leben retten. Mit sechs Fahrzeugen fuhren wir über den alten Feldweg nach einigen Meilen wieder auf den Highway 12 in Richtung Statton. Wir fuhren nicht alleine, sondern gerieten dort in die zweite Welle der Plünderer, die zum großen Teil an Kant vorbeifuhren, um in Berkley, im nächsten Ort als erste einfallen zu können. David kann ja sehr gut fahren. Er fuhr genauso so wild wie die Plünderer. Die Johannisson hatten es auch geschafft, sie fuhren unmittelbar vor uns, doch sie fielen rasch durch ihren luxuriösen Wagen auf. Als sie entdeckt wurden, startete eine regelrechte Jagd auf sie. Sie wurden von den anderen aus Freude am Töten von der Seite und von hinten gerammt, bis dann einer der Plünderer im offenen Jeep direkt neben Alf Johannisson fuhr und ihn am Steuer durch das Fenster erschoss. Der Wagen kam von der Straße ab, überschlug sich mehrmals und schlidderte dann den Abhang hinunter, ehe er dort mit großer Wucht gegen einen Baum prallte. Es war ausgeschlossen, dass einer von den Johannisson es überlebt hat. David schrie uns zu, dass wir uns im Wagen hinlegen sollten, so war er nur als Halbwüchsiger am Steuer zu sehen. Das passte eher in das Bild der Plünderer und wir fielen so nicht auf. Es dauerte wohl fast eine Stunde, ehe wir Berkley erreichten und dort mit den anderen in den Ort einfielen. David nutzte die allgemeine Aufregung und das Durcheinander aus und fuhr auf Umwegen zurück bis wir die Abzweigung zur Wüste erreichten. Wir fuhren bis an die Bergkette heran. Wir fanden eure Spuren und versuchten euch zu folgen. Doch dann hielt uns ein Missgeschick auf: Der rechte Vorderreifen verkeilte sich zwischen zwei niedrigen Felsstücken, die wir übersehen hatten. Wir stiegen aus und nur mit Hilfe des Wagenhebers gelang es uns nach mehreren Stunden, den Wagen wieder zu befreien. Wir waren sehr geschwächt, denn wir hatten ja nicht einen Tropfen zu trinken mit. Wir hatten überhaupt nichts dabei. Wir waren in einer verzweifelten Lage, da wir nicht wussten, was wir tun sollten: zurückfahren und uns der Gefahr auszusetzen, von den Plünderern entdeckt und massakriert zu werden oder weiterhin versuchen, euch zu finden. Wir waren sehr niedergeschlagen, als es uns gestern nicht gelang, euch bis zum Einbruch der Dunkelheit zu finden. So fuhren wir dann heute Morgen mit dem ersten Tageslicht los. Wir wussten, wenn wir euch heute nicht einholen, dann geht es mit uns zu Ende. Aber zum Glück haben wir euch gefunden, Gott sei Dank! Seid froh, dass euch Alice in die Wüste geführt hat. Ihr ahnt nicht, was wir erlebt haben. Wie gesagt, wir haben nichts bei uns. Können wir trotzdem bei euch bleiben?“

„Ja, natürlich, ihr kommt mit uns,“ antwortete Alice, „aber wir müssen jetzt aufbrechen. Das Beste ist, wenn irgendjemand von uns euren Wagen fährt, damit ihr auf der Fahrt etwas essen und euch ausruhen könnt. Wer von uns fährt den Wagen?“ „Ich mache das“, antworte Angela Watson, „das ist kein Problem für mich. Meinetwegen kann es gleich losgehen.“

 

Sie fuhren bis die Sonne senkrecht über ihnen stand und die Hitze unerträglich wurde. Diesmal war weit und breit kein Felsen in der Nähe, in dessen Schatten sie hätten flüchten können. So stellten sie dann die Fahrzeuge im Halbkreis auf und schlugen ihre Zelte dicht am Truck auf. Sarah, Marilyn und David hatten sich in der Zwischenzeit wieder etwas erholt. Es gab einen Eintopf aus Konserven. Eve Elton hatte einen Camping-Kocher mit in ihrem Gepäck und nach und nach erwärmte sie in mehreren Etappen das Essen für alle.

„Was meinst du“, wandte sich Kenston an Alice, „wann kommen wir nach deiner Einschätzung bei der Oase an?“

Alice zeigte mit dem Löffel in der rechten Hand in die Richtung, die sie später einschlagen mussten.

„Wir liegen gut im Rennen. Die Strecke wird ab hier ein wenig sandiger und wir können nicht mehr so schnell fahren. Ich denke, dass wir in etwa noch drei Stunden fahren müssen.“

Kenston konnte sehen, dass der steinige Untergrund in feineren Sand überging. Man konnte einzelne Verwehungen erkennen. Kenston blinzelte in den gleißenden Himmel und entdeckte in großer Höhe einige Raubvögel.

„Meinen die uns?“

„Kann schon sein“, antwortete Alice, „wie ich schon gesagt habe, in der Wüste darf man sich keinen Vorteil entgehen lassen. Die Geier handeln nach diesem Prinzip. Sie haben uns schon mal ins Auge gefasst. Es kann gut sein, dass sie bald etwas Besseres finden, aber so lange sind wir ihre Chance, etwas zu fressen zu bekommen. Kannst du den anderen sagen, dass wir jetzt zwei Stunden ausruhen. Sie sollen vorher alles soweit zusammenpacken, dass wir nachher ohne Verzögerungen weiterfahren können.“

„Mach ich!“

 

Schon wenige Minuten später war Ruhe im Lager eingekehrt. Von Mike Keagan hörte man ein leichtes Schnarchen.

„Es sieht ganz gut aus mit Mike“, flüsterte Kenston Alice zu, „er hat etwas gegessen und sein Fieber ist nicht gestiegen!“

„Da bin ich aber erleichtert“, murmelte Alice, „das hätte mich belastet, gleich zu Anfang mit einem Toten die Tour zu beginnen!“

„Du brauchst dir keinerlei Vorwürfe zu machen. Ohne dich wären wir vermutlich alle schon tot.“ meine Kenston, legte sich auf die Seite und versuchte zu schlafen.

 

Als sie nach zwei Stunden Pause wieder aufbrachen, meldete sich Alice noch einmal zu Wort: „Noch eins, wir kommen jetzt in sandiges Gebiet, der Boden wird nicht mehr so fest sein. Fahrt vorsichtig und bedächtig. Auch wenn wir die Fahrzeuge wohl nicht mehr allzu lange benutzen werden können, so sind sie doch immer noch ein Unterschlupf. Es wäre ein großer Verlust für uns, ein Fahrzeug auf dem Weg zu den Oasen zurückzulassen.“

Alice fuhr langsam an. Es war immer noch heiß und die Karosserien waren aufgeheizt wie Bratpfannen. Die Geier mussten eine andere Beute gefunden haben, sie waren am Himmel nicht mehr zu sehen. Nach einer Stunde Fahrt kam urplötzlich aus dem Nichts Wind auf. Im Nu verdeckte der feine rote Sand die Sicht und der Konvoi kam zum Stehen. Alice ging von Wagen zu Wagen und informierte die Leute, dass solch ein Sturm ein paar Stunden dauern könnte.

„Am besten bleibt ihr in eueren Fahrzeugen und versucht zu schlafen.“ beruhigte sie die Leute.

Dann ging sie zum Truck und kroch in ihre Schlafkabine. „Im Augenblick können wir nichts machen, also, ruhen wir aus und schlafen.“

„Meinst du, dass wir heute noch weiterfahren können?“ fragte Kenston.

„Kann man schlecht sagen“, antwortete Alice aus ihrer Schlafkabine, „solch ein Sturm kann Stunden, aber auch Tage dauern. Wir können nur abwarten. Das ist eine weitere Regel der Wüste: man muss Geduld haben, der Eilige wird hier nicht alt.“

Nach kaum einer Stunde legte sich der Sturm genauso schlagartig wie er losgebrochen war. Alice und Kenston kontrollierten die einzelnen Fahrzeuge nacheinander und kündigten den Aufbruch an. Alice stieg als letzte in ihr Fahrzeug und hupte dreimal. Nacheinander starteten alle Fahrzeuge und nahmen ihre Fahrt wieder auf.

Es begann langsam zu dämmern als sie die Oasen in der Senke erreichten. Alice hielt den Konvoi etwa 200 Yards vor der Oase an. Man konnte jetzt deutlich die Dattelpalmen

sehen. Sie stieg aus und winkte alle zu sich:

„Wir übernachten an dieser Stelle. Es wird gleich schlagartig dunkel werden. Wir richten uns hier für die Nacht ein. Wir haben noch reichlich Wasser und jede Menge Lebensmittelvorräte. Morgen werden wir weitersehen. Kenston und ich werden nachher kurz einmal zu der Oase hingehen. Es ist nicht ganz ungefährlich, da sich dort häufig auch Tiere zum Trinken aufhalten.“

Alle waren erleichtert, dass sie nun an einem Ort waren, an dem sie vorerst einmal bleiben konnten. Marilyn und Sarah hatten während der Fahrt Mike Keagan betreut und ihm den Verband gewechselt. Eve Elton kochte zur Feier des Tages auf ihrem Camping-Kocher Darjeeling-Tee. Man entschied sich für Bohnen mit Corned Beef als Abendessen. „Sammelt den Müll“, meinte Alice, „wir müssen ihn später verbrennen, sonst ziehen wir Aasfresser und Ungeziefer an. Wenn die Wüste auch tot wirkt, sie ist es nicht. Schon der Geruch von Nahrung zieht alle möglichen Tiere an.“

Herbert Winter schlug nach

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 20.08.2014
ISBN: 978-3-7368-3308-1

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