Die alte Holzbank
Vor dem Broiergut im oberösterreichischen Bauerndörfchen mit dem Namen Matzelsdorf befindet sich seit Generationen eine alte Holzbank, die an diesem Platz neben der Haustüre so selbstverständlich steht, dass man gar nicht mehr bewusst auf sie achtet. Man nimmt darauf Platz, genießt den Blick durch das Dorf und auf die weiten Felder, die von den neu erbauten Häusern der letzten Jahre – Gott sei es gedankt – nicht ganz verdeckt geworden sind. Das hat allerdings auch damit zu tun, dass der Broierhof etwas erhöht gelegen ist und sich von daher über die neuen Einfamilienhäuser hinaus eine gute Aussicht bietet.
Es gibt ein altes Foto von meiner Urgroßmutter Anna Spatt (geb. Derflinger), der Mutter der Broierin, wie sie als über 80-Jährige Bäuerin auf dieser Bank sitzt. Ihre Gesichtszüge zeugen von einer Güte, die mir noch heute durch Mark und Bein geht. Sie muss an jenem Tag gerade von einem festlichen Anlass gekommen sein, da sie jene Kopfbedeckung trug, wie sie die Bäuerinnen dieser Gegend im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur an besonderen Tagen anlegten. Es war ein wunderschön gebundenes schwarzes Tuch, das im Sitzen über den Rücken, bis zum Gesäß hinunterreichte. Wahrscheinlich hatte sie das Tuch mit Spangen am Haar befestigt. Es heißt aber auch, dass es Frauen gab, die ihr Tuch so perfekt binden konnten, dass es sogar ganz ohne Spange hielt.
Wie auch immer! Auf jeden Fall hätte diese Holzbank viele Geschichten zu erzählen, wenn sie sprechen könnte.
Bis zu meinem 22. Lebensjahr verging in der warmen Jahreszeit kaum eine Woche, in der ich nicht irgendwann einmal auf der Holzbank gesessen bin. Ich saß mit meinen Eltern, meiner Großmutter, Geschwistern, Verwandten, Nachbarn oder Freunden darauf. Es wurden Geschichten erzählt, es war mal lustig, mal traurig, mal lauter, mal leiser, aber irgendwas war immer los auf der Bank.
Wenn diese Bank sprechen könnte, dann würde sie Geschichten erzählen, so viele, dass dieses Buch Tausende von Seiten haben würde und kein Geschichtsbuch könnte so spannend sein, wie die Geschichten, die diese Bank zu erzählen hätte. So denke ich dabei nicht in erster Linie an mich und meine Jugenderlebnisse auf dem Broiergut, sondern ich sehe vor allem meine Großmutter Anna, die Broierin, neben ihrer Mutter, der oben erwähnten gütigen Bauersfrau auf dieser Bank sitzen. Ich sehe, wie sich die zwei Frauen von ihren Erlebnissen auf dem Hof erzählen, wie sie sich über Probleme und auch Freuden unterhalten, von denen inzwischen nur noch die Bank zu erzählen wüsste. Ich denke dabei aber auch an die Knechte und Mägde, die sich auf dieser Bank vorsichtig näher kamen. Oder an Geschichten über böse Geister, Teufelsspuk und Armen-Seelen-Erscheinungen. Es wären Geschichten, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts reichen würden. Es wären Geschichten über die große Liebe, über Tragödien auf dem Hof und im Dorf, über Geburt und Tod, über Feste und Feiern, über schwere Bauernarbeit, eben über das praktische Leben auf dem Bauernhof und in den Bauerndörfern dieser Region.
All diese Erlebnisse und Ereignisse, über die unsere Bank erzählen könnte, waren eingebettet in ein Jahrhundert von politischen Ereignissen, Krisen und Kriegen, die so geballt auftraten, wie wohl zu keinem anderen Zeitpunkt der Weltgeschichte. Und doch war das intensive Leben dieser Menschen behütet von einem Geist, der in unserer Zeit immer mehr in den Hintergrund zu treten scheint. Es ist der Geist der tiefen Verbundenheit mit Gott und dem daraus resultierenden Respekt vor seiner Schöpfung. Dieser Respekt ermöglicht erst die Achtung der Würde und der Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen, sowie den sorgsamen Umgang mit der Natur.
Solch ein gütiger und respektvoller Geist ist tief in die alte Hausbank eingeprägt. Sollte irgendwann einmal diese Bank, vor dem etwa 700 Jahre alten Bauernhof, entfernt werden, dann würden damit auch die Geschichten, die vielen Schicksale und mit ihnen der Geist jenes „Herrgotts“ entfernt werden, durch dessen Kraft die Bewohner und Besucher dieses Hofes ihr oft schweres Schicksal zu tragen gelernt hatten.
Manchmal, wenn ich zu Besuch beim Broier bin, setze ich mich wie in meiner frühen Jugend auf die alte Bank. Ich richte meinen Blick hinaus über die weiten Felder und Wiesen meines Geburtsdorfes und die Gedanken beginnen zu wandern. Gesichter von längst verstorbenen Menschen ziehen an mir vorbei. Die Gesichter bewegen ihre Lippen und ich höre sie wieder die alten Geschichten erzählen. Besonders die Geschichte meiner Großmutter, der Anna Brandstetter, der Broierin, nimmt konkrete Gestalt an. Der Geist der alten Holzbank, auf der ich sitze, ergreift von mir mehr und mehr Besitz und das berührende und faszinierende Leben der Broierin, der Bäuerin von Matzelsdorf, beginnt vor meinem geistigen Auge abzulaufen …
Ihre Schreie durchdrangen die Nacht! Seit Stunden schon lag die 38-jährige Anna Spatt in den Wehen. Die Geburt zog sich schon eine Ewigkeit hin. Selbst die herbeigerufene Hebamme machte sich immer mehr Sorgen. Als die Wehen so richtig einzusetzen begannen, stieß die Gebärende noch wütende Schreie über ihren Mann aus. „Der Franz hatte seinen Spaß und ich muss mich hier quälen, während er draußen bei einem Bier sitzt. Das ist ungerecht!“, schrie sie in Richtung der Türe zum Wohnzimmer.
Inzwischen hatten sich die Schreie in ein leises, langgezogenes Wimmern verwandelt. Das Kind stecke im Geburtskanal fest, meinte die Hebamme. Keinen Millimeter wollte sich das kleine Wesen weiterbewegen. In immer kürzeren Abständen schüttelten die Wehen den kraftlosen Körper von Anna durch. Noch vor einigen Stunden stemmte sie ihre Hände gegen den Bauch, um den Geburtsvorgang zu beschleunigen. Man hatte das Gefühl, dass sich das Kind dagegen wehrte in diese Welt einzutreten. Als ob es ahnte, welch schlimme Schicksalsschläge ihr Leben begleiten sollten. Inzwischen begann der neue Tag heraufzuziehen. Die Hebamme öffnete ein Fenster und die aufgehende Morgensonne beleuchtete das halbe Zimmer, das vom Schweiß und vom Blut der Plankin besetzt war.
Eigentlich war der Geburtstermin für den 23. April festgesetzt. Fast zwei Wochen zu früh hatten die Wehen eingesetzt. Jetzt könnte man meinen, das Kind wolle doch schneller auf diese verrückte Welt. Oder vielleicht meinte das Kind, dass es durch dieses frühere nach draußen drängen, sich wieder schneller, von der auf sie zukommenden Düsternis verabschieden könne und kurz bevor es so weit war, wollte das kleine Wesen es sich doch noch überlegen. Es wusste einfach nicht, was es wollte und bereitete so seiner Mutter unerträgliche Schmerzen.
Anna atmete nur noch leise, sogar das Wimmern war verschwunden. Alle Energie war, so wie es aussah, bereits verraucht. Es sah wirklich schlimm aus. Ganz eindeutig war es bei Mutter und Kind ein Kampf ums Überleben – obwohl es nicht mehr nach Kampf aussah.
Der Vater des Kindes war inzwischen auf seinem Stuhl im Wohnzimmer eingeschlafen. Die fünfte halbe Bier war zur Hälfte leer, sein Kopf lag auf dem alten Holztisch und sein lautes Schnarchen durchdrang das Zimmer.
Die Hebamme hatte inzwischen insgeheim beschlossen, dass das ihre letzte Geburt sein werde. Über 20 Jahre machte sie sich das nun schon mit. Sie musste in dieser langen Zeit nicht nur viele Totgeburten sehen, sondern auch nicht wenige Mütter, die den Geburtskampf nicht überlebten. Weitergemacht hatte sie nur immer wieder, wegen der wunderbaren Erlebnisse, wenn ein neuer Mensch das Licht der Welt erblickte. Daraus schöpfte sie ihre Kraft. Aber in diesem Fall sah sie sich wieder einmal am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt. Sie sah zu ihren „Assistentinnen“ Josefa, Theresia und Rosa, denn Geschwistern der Gebärenden hinüber und sagte mit einem Blick, der an Hilflosigkeit nicht zu überbieten war: „Jetzt können wir nur noch zum Herrgott beten.“ Die vier Frauen falteten ihre Hände und Josefa begannen laut den Rosenkranz zu sprechen. Genau in jenem Moment, als die Betenden bei den „Freudenreichen Geheimnissen“ angelangt waren und beim Satz „Denn du, o Jungfrau, in Betlehem geboren hast“, angelangt waren, stieß Anna einen durchdringenden, lauten Schrei aus, der den überraschten Frauen durch Mark und Bein fuhr.
Die Hebamme hob das von Blut durchdrängte Linnen auf. Da lag das Kind bereits auf dem Knie der Gebärenden. Sie nahm das Kind, legte es auf den Waschtisch und schnitt ihm die Nabelschnur durch. Es war beängstigend still, ängstlich horchte sie an dem Kind und begann es zu schütteln. „Bitte Herrgott, lass es leben!“, flehte sie mit einem Ohr auf der Brust, um das Herz endlich schlagen zu hören. Plötzlich zuckte der kleine Körper und ein Schreien durchdrang den Raum. „Es lebt!“ Anna Spatt hob mühsam ihren vom Schweiß nassen Kopf. Die Hebamme legte das kleine Bündel Mensch ganz nah zum Gesicht der Mutter. Erschöpft aber lächelnd blickte sie ihre Tochter an.
Die Frauen wollten gar nicht aufhören dem Herrgott zu danken, der an diesem sonnigen Montagmorgen des 10. April 1893 einem Mädchen das Leben geschenkt hatte. Das Eintreten der Anna Spatt Junior in diese Welt, der zukünftigen Broierin von Matzelsdorf, war wie ein Vorspiel für das, was in den kommenden Jahrzehnten in deren Leben noch passieren würde. Einem Leben voller Schweiß und Tränen. Aber es waren auch die Sonne, die Freude und der Herrgott, der sie durch ihr Leben tragen sollte
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Rudolf Brandstetter
Bildmaterialien: Rudolf Brandstetter
Cover: Rudolf Brandstetter
Tag der Veröffentlichung: 02.10.2018
ISBN: 978-3-7438-8275-1
Alle Rechte vorbehalten