Cover

Die Mission


Die ungeheure Welt, die ich im Kopf habe. Aber wie mich befreien und sie befreien ohne zu zerreißen. Und tausendmal lieber zerreißen, als sie in mir zurückhalten oder begraben. Dazu bin ich ja hier, das ist mir ganz klar.
Franz Kafka


Pirnau, 30.08. 2008 16.45 Uhr

„Zu dumm einen Eimer Wasser umzuschmeißen!“ hatte sich der Vater viel zu oft über ihre Fehlschläge geäußert. In Elkes ersten Lebensjahren zog das sowieso keinerlei Konsequenzen nach sich, denn der Vater achtete peinlichst genau darauf, dass seine einzige Tochter ihm hierbei nicht ins Gesicht sah. Als Elke später das Gesprochene ihres Vaters das erste Mal akustisch vernahm, hätte er ihr auch sagen können, dass sie die Wand anpissen sollte. Sie wäre wohl kaum vom Inhalt beeindruckt gewesen. Vom Klang seiner Stimme und von allen anderen Geräuschen schon. Unabhängig davon stand der Stern bei ihrer Geburt weniger zackig im Setzkasten. Und versprochen, wenn die kleine Elke an einem Wassereimer vorbeikam, fiel der garantiert um. Genauso versprochen, dass Elke davon nicht mal etwas mitbekam. Es sei denn, es wurde nass unter ihren Beinen. Dann schrie sie aus Leibeskräften, bis ihr der Hals schmerzte oder der Mund derb vom Vater zugehalten wurde, bevor die bunten Glasfenster ihrer Villa, die wohl auf ewig eine Baustelle bleiben würde, in sich zusammen-
gebrochen wären. Der Liebe zum Vater tat dies keinen Abbruch; die Mutter jedoch fiel mit jedem tauben Schrei tiefer in den Abgrund, bis sie darin für immer verschwand.
‚Das hier aber darf keinen Wasserschaden geben!’ nahm sich Elke, um den väterlichen Rahmen nicht zu verlassen, nun schon zum hundertsten Male vor, während sie den Rückspiegel, der ihr gerade gezeigt hatte, dass da wirklich keine Eintagsfliege im Auge klebte, letztlich doch wieder zurückstellte. Ihr Audi überfuhr mit den rechten Rädern die Straßenmarkierung und eine riesige Wasserfontäne übergoss das Ortseingangsschild: ‚Pirnau-Sächsische Schweiz’. In letzter Sekunde zwang sie ihr Auto auf die Fahrspurmitte zurück und dachte wieder traurig an
die Worte ihres äußerst besorgten Erzeugers.
Die Scheibenwischer surrten auf der höchsten Stufe. Da es in Elkes Wagen bis auf das Motorgeräusch sehr still war, hätte sie sich sogar an der Scheibenwischerbewegung erfreut, wenn da nicht dieser heikle Auftrag gewesen wäre:
„Sagen Sie Paddot, dass er seinen bekackten nackten Arsch mit 2-Komponentenkleber an einer Scheiß-
haustür ankleben soll!“
Schauer durchliefen ihren Körper vom Lenkrad bis zu den Pedalen, wenn sie daran dachte, was von ihr erwartet wurde. Mission unlösbar, jedenfalls für sie. Aber das hieß vielleicht auch ganz weit entfernt: Du hast keine Chance, also nutze sie, Elke. Die Vogel-Packung 2-Komponenten-
kleber lag auf dem Beifahrersitz. An ihr sollte es jedenfalls nicht scheitern. „Nehmen Sie den ruhig mit, Frau Sieper, damit klappt es bestimmt!“ Mit diesen Worten hatte Dr. Schönborn vor ein paar Stunden Harz und Binder neben sie gelegt und ihr eine gute Fahrt gewünscht. Der Verlagsleiter ließ es sich tatsächlich nicht nehmen, seine Lektorin bis zu ihrem Wagen zu begleiten, als ob er bis zuletzt daran zweifeln würde, dass sie sich tatsächlich auf den Weg machte, um den Verlag vor dem Konkurs zu retten.
Seit fünf Stunden war Elke Sieper unterwegs zu ihrem Klienten, den sie ein reichliches Jahr kannte, genauso lange äußerst unsympathisch fand, aber noch nie Auge um Auge gegenübergestanden hatte. Ohr an Ohr war ihr schon zu viel gewesen! Selbst, wenn sie dabei saß. In solchen Momenten war sie ihrem Schicksal dankbar, dass sie sich mit einer Schalterbewegung von der Audiowelt ausklinken konnte. Gut, beim Telefonieren reichte es natürlich auch, dass man das Handy weg warf oder den Hörer hin. Nur Herr Schönborn hätte wenig Verständnis für solche Aktionen aufgebracht, obwohl der Verlagsleiter die Telefonate mit Elkes Klienten genauso scheußlich fand.
„Was willst du nur im Osten, Kleines?“ hatte ihr Vater vor dem Frühstück versucht, sie umzustimmen.
„Ich muss da etwas in Ordnung bringen, Paps.“
„Ach so.“
Elke fingerte, ohne diesmal den Blick von der unbelebten Straße zu wenden, nach der Stadtkarte von Pirnau.
„Wenn er nicht bei uns einsteigt, kannst du gleich ins Kontor fahren! Du weißt warum!“ hatte auch Doktor Schönborn sie gestern noch auf seine Art in seinem Büro motiviert.
Elke glaubte, dass ihr Chef ebenfalls davon ausging, dass sie diese Aufgabe nicht lösen könnte. Er spekulierte wohl eher darauf, dass ihr Vater sie von dieser Mission befreite. Und statt einer Spesenauszahlung würde ihr wohl nur der 2- Komponenten-Kleber bleiben.
Und wenn Elke etwas länger darüber nachdachte, empfand sie das als dreifache Strafe. Aber die hatte die Lektorin des altehrwürdigen Verlagshauses ‚Schönborn & Sohn’ auch verdient. Denn Elke Sieper hatte Alvin Paddots ‚Troika’
ins Verlagshaus geholt. Oder in unseren Stall, wie Schönborn-Junior Hans-Dieter es manchmal formulierte. Und somit war sie daran schuld, dass Schönborn mit Paddots Mist rote Zahlen druckte. Und sie sollte das heute gefälligst in Ordnung bringen oder selber tausend dieser unverkäuflichen Bücher kaufen.
Nächste Kreuzung rechts ab, bestätigte ein kurzer Blick auf die Stadtkarte ihr Erinnerungsvermögen. Elke hatte am morgendlichen Frühstückstisch die Strecke von Essen nach Kruppen studiert. Als sie sich von ihrem Vater ver-
abschiedete, sagte er nur: „Elke, Kleines, warum tust du dir das an? Ich gebe dir das Geld für diese fünftausend Hefte oder so, und dann machen wir damit ein schönes Lager-
feuer im Garten. Oder noch besser, du kündigst deine Scheißarbeit und schaffst mir endlich Enkel ins Haus!“
„Na ja, vielleicht macht mir Paddot wirklich gleich ein Kind.“ ‚Großer!’, fügte sie in Gedanken hinzu.
Früher, kurz nach ihrer ersten Operation, hatte sie das
laut ausgesprochen. Aber weil es ihren Vater nicht beeindruckte und er sie weiterhin ‚Kleines’, auch in der Öffentlichkeit, nannte, verschluckte sie allmählich Buchstabe für Buchstabe, bis das Wort nicht mehr zu hören war.
’Mit Alvin Paddot Kinder machen!’
Schon der Gedanke daran ließ Elke an ihren potentiellen Ekelpickel über ihrer wohlgeformten Oberlippe denken, der sofort wachsen würde, ohne jedoch jemals die Haut zu durchstoßen, aber dennoch unangenehm mit der Zunge, die sie dann auch selbstverständlich von dort nicht wegbekam, zu spüren war. Das fehlte ihr noch- eine hässliche, wenn auch kleine Wölbung im Gesicht!
„Dann versuch ich doch lieber wieder den Wassereimer umzuschmeißen, Paps. Außerdem verbrennt man nicht die Romane seines zukünftigen Schwiegersohnes.“
Steffen Sieper, der dem Gedankengang seiner Tochter nicht gleich folgte, erwiderte nur enttäuscht:
„Aber nicht doch, Kleines, ich sprach nur von Enkelkindern!“
Diesmal verzichtete sie darauf, während der Fahrt ihr Gesicht im Rückspiegel zu betrachten, sie spürte auch so, dass der Pickel da war. Wenn es ihr jetzt nicht gelänge, die hässlichen Gedanken zu verdrängen, würde er erst nach Stunden genauso verschwinden, wie er gekommen war.
Der Verkehrsfunk füllte die Kabine mit Akustik:
„Schummmmmhh. Hier ist „Energetik Sachsen“ mit den Verkehrsnachrichten. Die B172 ist wegen des Verkehrsunfalls –in welchen der Vorsitzende der Freien Sozialistischen Volkspartei mit seinem Mercedes geraten war- Energetik berichtete bereits mehrmals- noch immer zwischen Trietschkwitz und Kruppen gesperrt. Die Umleitung über Pirnau-Sonnenstein ist eingerichtet.“
Elke hatte die Nachricht vom Oberstaatsanwalt, der seine Untersuchung am Unfallort aufnehmen werde, weil der Tote eine wichtige politische Persönlichkeit aus Sachsen sei, bereits vor einer halben Stunde gehört und daraufhin erleichtert festgestellt, dass die ausgewiesene Umleitung keinen Umweg darstellt.
„… soweit der Energetik-Verkehrsfunk. Und jetzt kommt für euch vor den Energetik-Kurznachrichten Nelkenstolz mit ‚Ohne Regen’. Schammmmmhh.“
‚Passt genau zum Wetter’, dachte Elke und drückte auf den Radioknopf am Lenkrad, bevor der Verkehrsfunk sich abstellte. Wiederholt musste sie zum Lappen auf der Konsole greifen, um die beschlagene Windschutzscheibe vom Kondenswasser zu befreien. Aus dem Radio kam „Wenn dein Schiff versinkt und dir gar nichts mehr gelingt…“, während Elke mit der rechten Hand versuchte den Lappen wieder zusammenzufalten und sie dabei erneut am äußersten Straßenrand eine Pfütze entleerte. Wie oft hatte sich ihr Vater darüber amüsiert, dass sie die Bettwäsche bügelte, bevor sie die Betten bezog. „Ich pforz’ einmal rein, und schon ist alles im Arsch!“ pflegte er zu bemerken, bevor er sich ins Bett schwang, nicht ohne vorher sein „Träum süß von sauren Gurken, Kleines; ich besuch’ inzwischen meine Enkelkinder!“ herzubeten. Inzwischen konterte Elke ihrem Vater mit “Nicht im, sondern aus dem Arsch!“ ohne dabei zu stottern bzw. rot zu werden. Schlagfertig war das nicht, das wusste sie.
Manchmal bäumte sich ihr Vater noch mal auf, um zu sagen: „Ob aus dem Arsch oder woanders her: Hauptsache Enkelkinder! Aber ich habe ja noch nicht mal einen Schwiegersohn. Als ich in deinem Alter war…“
Ihre Zunge berührte den Pickel an dessen Wurzel. Elke hatte viel zu oft gehört, was da war. Bei diesen Gedanken ging es ihrem Ekelpickel prächtig. Denn im Arsch war sie wohl auch! Von wegen, sie und im Osten etwas in Ordnung bringen! Es ging auch nicht um Ordnung. Es ging um Alvin Paddot. Der musste mit Elkes Mitteln davon überzeugt werden, eine PR-Maßnahme mitzumachen, die seinen Roman aus den roten Zahlen brachte. Und das Mittel war - 2-Komponentenkleber!
Seit Stunden überlegt Elke, welche Alternative es zu dieser Schwanznummer geben könnte, die sie Paddot nicht einmal im Traum vorschlagen könnte. Dann würde sie den alten Radisfederschmierfink wohl doch eher heiraten und das zustande bringen, worauf ihr Vater wartete und weswegen er wohl immer wieder den Scheren des Krebses entwich.
Nein! Eher überhaupt nicht! Elke versuchte, die hässlichen Gedanken zu verdrängen, was ihr nicht gelang, dazu machte sie sich zu große Sorgen. Würde ihr Vater es vorher verraten, wann es mit ihm so weit sei, nachdem er den Termin für seine zweite Operation erfahren hatte? Sie wussten beide, dass das Risiko, den OP-Tisch beim nächsten Mal nicht lebend zu verlassen, bedeutend größer war als während der ersten Operation. Sie wischte wieder über die Frontscheibe und musste dabei an diesen Alvin Paddot denken. Von wegen Schwiegersohn! Sie hatte tatsächlich, obwohl sie seine Lektorin war, nur mit ihm telefoniert. Schönborn wusste das sogar. Er hatte sie aber nicht bedrängt - obwohl er natürlich auf persönliche Kontakte schwor – jedenfalls nie in dieser Angelegenheit. Nun ja, jedenfalls bis Ende vorige Woche! Alvin Paddot, sie wusste überhaupt nichts, rein gar nichts Angenehmes über ihn zu berichten. Höchstens, dass seine helle Stimme sympathisch klingen konnte. Ein- oder zweimal in den dreiundachtzig gemeinsamen Telefonaten hatte sie das tatsächlich erlebt. Soweit das am Telefon wirklich einzuschätzen geht. Aber das ‚klingen konnte’ explodierte regelrecht in ihrem Kopf, denn ansonsten war Paddot alles andere als charmant. Einer, den frau nicht auf einer Insel begegnen möchte. Es sei denn, dort ist alles andere ungenießbar, die einzige lebendige Insel-Kuh – Elke musste an den Verlagschef-Junior denken - wird noch für die morgendliche Milch gebraucht, das Strandgut war neben Fäulnisblasen bereits an ihr vorbeigeschwommen und der einzige Inselfährenkapitän hatte behördliches Einreiseverbot und machte einen Riesenbogen um die Insel.
‚Das muss wie Telefonsex für Masochisten sein!’
sagte sich Elke. ‚Aber auf einen praktischen Beweis
meiner Insel-Theorie kann ich gerne verzichten!’ Wie auf das andere wohl auch, weniger gern. Denn sie hatte mit ihren 29 Lenzen noch nicht einmal normalen erlebt, Blümchensex eingeschlossen.
‚Ich habe tatsächlich nur die eine Alternative’, lachte Elke bitter in ihren Audi Sport hinein. Wenn es ihr nicht gelingt, Alvin Paddot zu kompromittieren oder, wie es Schönborn drastisch formuliert hatte, ihn zu prostituieren, wird sie ihm einen Heiratsantrag machen und ihn zu sich nach Essen holen. Dann übernimmt ihr Vater die Verlagshausschulden -bestimmt spekuliert Schönborn darauf - und ihren Job verliert sie obendrein. ‚Damit mein Vater aber auch etwas davon hat, wohnen wir alle friedlich in unserer schönen Baustelle in Essen. Dort lehre ich meinen Pseudodichter zuerst das Schreiben und dessen - also meine nach mir geratene - Kinder zuerst das Lesen und Vater spielt mit ihnen, wenn ich mich mal nicht darum kümmere, sondern Bettwäsche bügele.’ Und Enkelkinder im Haus könnten für Vater ein gutes Argument sein, das löchrige Dach der Villa ausbessern und die Fenster auf der Wetterseite abdichten zu lassen. Elke dachte an das Feuer, das vor gut fünf Jahren in der Wäschekammer von ihr aus Unachtsamkeit verursacht wurde und das mit der Villa auch die ewigen Baumängel in Schutt und Asche hätte legen können, wenn vom Vater nicht rechtzeitig ein Eimer Wasser über das Bügelbrett gekippt worden wäre. Selbst sein Indianertanz auf dem umgeworfenen Gestell hatte sie nicht aus ihrer Erstarrung lösen können. Als alles gelöscht war, hatte sie überflüssiger Weise trotzdem die Feuerwehr informiert, die auf eine Anzeige, nicht aber auf eine Belehrung, verzichtete. Elke schob ihre Handlungsunfähigkeit auf den zuvor gelesenen Befund des NRW-Regierungsarztes, der ihrem Vater Magenkrebs bescheinigte. Das war natürlich totaler Blödsinn und hatte damit nichts zu tun gehabt.
„Er hinterlässt seine Ehefrau und zwei Kinder. Der Vorsitzende der Freien Sozialistischen Volkspartei Deutschlands wurde 31 Jahre alt.“
Elke sah, wie dicke Regentropfen gegen das Ortsausgangsschild ‚Pirnau-Sächsische Schweiz’
schlugen, und stellte das Radio lauter:
„Der Bundestagsabgeordnete Thomas Reichsenling ist noch am Unfallort gestorben. Wie Energetik aus gut unterrichteten Kreisen erfahren hat, stieß der 31-Jährige auf einer Bundesstraße bei Pirnau in der Sächsischen Schweiz bei einem Überholmanöver frontal mit einem entgegenkommenden Kleintransporter zusammen. Die Polizei hat die allgemeine Nachrichtensperre noch immer nicht aufgehoben. Die Unfallstelle ist seit gestern Abend weiträumig vor Medien und Schaulustigen abgesichert. Zur Begründung dafür hieß es, dass die Ermittlungen zum genauen Unfallhergang noch andauern. Reichsenling, der aus Königshofen stammende Politiker, war 2007 von der CDU zur FSVPD übergetreten und mit Hilfe einer spektakulären Aktion auf dem so genannten Berliner Reichsparteitag der rechtspopulistischen Partei im März 2008 deren Vorsitzender geworden.“
Das ist der Osten, so wie ihn mein Vater mag.
Elke stellte das Radio ab, als sie das Ortseingangsschild „Kruppen-Kurort“ zwischen den Scheibenwischer-
schlägen wahrnahm. Nun brauchte sie den Verkehrsfunk nicht mehr. Paddot wohnte Hauptstraße 53a, die wird doch in diesem Kuhnest leicht zu finden sein. ‚Statt Kuh’, korrigierte sich Elke, ‚wohl eher Fuchs-Und-Hase-
Na-Dann-Gute-Nacht-Marie-Ort.’ Denn bis jetzt fuhr ihr Auto durch eine dichte Allee, ohne Verkehr, ohne Touristen, gar keine Menschen. Es ging spürbar bergab, auch drang nicht mehr so viel Regen bis auf die Straße durch. Während sich der Wald endlich lichtete, der Regen ab- und der Nebel zunahm, rollte ihr Wagen einer kleinen Brücke entgegen. ‚Jetzt geht’s gleich über die Elbe’, spottete Elke. Auf der Karte war der Name des Baches wohl nicht eingetragen gewesen. Wenn Elke wüsste, dass die Einheimischen ihn „Die Bach“ nennen, würde ihr wohl ein leises Lachen über die Lippen gekommen sein. Inzwischen versuchte sie sich auf die kleinen Schildchen an den Fronten der ersten Häuser links und rechts zu konzen-
trieren. Dennoch entging ihr nicht, dass auf der Dorfstraße mit großen Zahlen eine 40 aufgemalt war. Ein paar Meter weiter unten eine 30, fett und mit Rot umrandet. Der Regen hatte der Farbe nichts angetan. Jetzt überfuhr Elke eine 20, sie drosselte die Geschwindigkeit auf 40 km/h. Am Zaun auf der rechten Fahrbahnseite sah sie ein Schild, auf dem mit großen roten Buchstaben geschrieben stand: „Achtung! Kurve!“ Elke hatte die Kurve, trotz des Nebels, schon oben vom Waldrand aus gesehen, auch das dementsprechende Verkehrsschild. Immer noch war sie damit beschäftigt herauszufinden, an welchem Ende der Hauptstraße sie in Kruppen eingedrungen war. Als Elke am nächsten handgemalten Schild mit der Botschaft „Langsam, Kurve kommt gleich!“ vorbeifuhr, entdeckte sie die erhoffte Information:"3". ’Hauptstraße 3 also.’ Dass es nur eine und zwar genau diese Hauptstraße in Kruppen geben konnte, war für sie ohne Zweifel. Das Schild “Und hier ist die Kurve“ leitete zum Hinweis des Hausbesitzers in der Hauptstraße 7 über, der da lautete: „Und hier befindet sich mein Zaun, den wir einfach stehen lassen!!“
Elke bezweifelte, dass der Zaun so oft von rasanten Verkehrsteilnehmern durchbrochen worden war. Außer ihrem Audi hatte sie nichts Motorisiertes feststellen können. Auch gefielen ihr die zwei Ausrufezeichen nicht, da sie Ähnlichkeiten mit SS-Runen hatten. Unwillkürlich musste Elke wieder an ihren Vater denken.
So sind die alle im Osten, war Vaters Standartformel, die Brüder und Schwestern drüben betreffend. Cholerisch oder phlegmatisch zum Hinterherschubsen, aggressiv oder vollkommen destruktiv, anspruchsvoll, aber undankbar und vor allem – wie ihre vielen Hinweisschilder da- viel zu penetrant und für einen Ossi viel zu laut!’
‚Paps, du kannst doch von Onkel Kurt nicht auf alle Ossis schließen!’
„Dann eben nicht, du dumme Fotze!“ hatte Paddot sie vor einem Jahr angeschrieen. „Ich muss euch das Manuskript nicht verkaufen, ihr seid hier nicht der einzige Verlag!“
Alvin Paddot war einer aus dem Osten!
„Ach so?“ fragte spöttisch der Vater.
Und der war wirklich viel zu grell und viel zu frech!
„Siehst du! Kennst du einen, kennst du alle, Kleines.“
Hauptstraße 10. Elke ging jetzt davon aus, dass sie noch rund 17 Häuser auf jeder Straßenseite passieren werde, bis der Audi Sport von ihr an der 53a endlich gestoppt werden konnte. Sie wollte es nun doch so schnell wie möglich hinter sich bringen. Trotzdem war Elke angenehm überrascht, als sie auf der linken Seite einen großen Sportplatz entdeckte. Gut, sie war das erste Mal im Osten, aber sie kannte keinen kleineren vergleichbaren Ort um Essen herum, der solchen großen Sportplatz hatte. Sicherlich dürfte dieser zu DDR-Zeiten aufregende Sportabenteuer erlebt haben. Aber nun machte er ihr eher einen leblosen Eindruck, wie der ganze Ort eben.
Die Zeiten der Jubelfeierlichkeiten waren wohl vorbei. Hier hatte niemand mehr etwas zu lachen. Wie im ganzen Osten. Der Kleber war vom Beifahrersitz gerutscht.
‚Und wie ich!’ fügte Elke ihrem Gedanken hinzu.
‚Auch ein Grund, warum so viele Ossis Nazis sind und uns hassen!’
"Ach so?" hörte sie ihren Vater wieder fragen.
Elke versuchte manchmal, Mitleid für die Situation in den jungen Ländern zu empfinden. So wie sie es gegenüber den Delfinen, die jedes Jahr zu Tausenden von den Japanern abgeschlachtet wurden, empfand.
Es gelang ihr nicht.
Flipper hin und Ossi her; welcher Jungautor erlaubte sich gegenüber seiner Lektorin eine solche Frechheit, wie dieser Paddot es drauf hatte!?
Und welcher Jungautor hatte damit auch noch Erfolg?
Und welcher Verlagshausleiter schickt dann auch gleich noch seine beste Lektorin zu ihm?
‚Es geht Schönborn vielleicht doch nur um Vaters Geld? Aber dazu müsste ich hier erstmal voll scheitern. Kann nicht sein, denn gleich wird der Ossi festgeklebt!’
Elkes Blick führte starr über die Motorhaube auf die Fahrbahn. ‚Strafe muss sein!’
Sie musste sich jetzt sehr auf die Strecke konzentrieren, um bei diesen scheußlichen Fahrbahnverhältnissen nicht wieder von der Straße abzukommen und nicht doch noch gegen irgendein Gartentor zu rutschen.
‚Strafe für wen?’ Elke nahm den Fuß vom Gaspedal. Sie dachte nun doch an die Kruppener Zaunschilder zurück.
‚Und warum muss ich das jetzt alles ausbaden, Herr Schönborn?’
Das hätte Elke lieber vor drei Tagen fragen sollen. Aber sie kannte natürlich die Antwort auch so.
Mit einem Ruck betätigte sie den Blinker, dessen aufflackerndes Licht die Wasserpfützen rot anstrahlte, weil sie in der Ferne schwach einen Radfahrer ausmachte.
Schönborn hatte ihr eingeschärft: „Machen Sie diesem Paddot klar, dass er zur Buchmesse in Leipzig auf der Damen-Toilette solange randalieren soll, bis die Bullen und die Medien da sind. Und sagen Sie ihm weiter, dass er seinen bekackten nackten Arsch mit 2-Komponenten-
kleber an einer Scheißhaustür ankleben soll!“
Bevor Elke zum Überholvorgang ansetzte, betätigte sie kraftvoll ihre Hupe. Mit dem Satz „Aus dem Weg, Ossi!“ scherte sie ihren Wagen aus, auch wenn der Nebel das inzwischen kaum mehr ungefährlich ermöglichte.
„Dann soll sich Paddot mit einem Beathe-Thuse-Schwanz in der Hand, - Sie wissen was das ist, Frau Sieper? -, abführen lassen und brüllen: Kann mir hier jemand sagen, ob das Spartakus oder Franz Josef ist!? Dabei hat er gefälligst seinen Ketchup-Schwanz in die Kameras, die es ja hoffentlich geben wird, zu halten und diesen Schwachsinn so oft zu wiederholen bis das eine Schlagzeile in allen Zeitungen - wenigstens auf der vorletzten Seite ganz
oben - wird!“
Mit einem Ruck blieb ihr Fahrzeug stehen, rechtzeitig bevor sie den Radfahrer überfahren hätte. Der Gegenverkehr, der ein Überholen nicht zugelassen hatte, bestand aus einem Traktor, der auf einem riesenlangen Anhänger ein Dixi-Klo transportierte. Elke nahm an, dass der Radfahrer sie wegen seiner altmodischen Ohrenmütze und dem grauen Regencape nicht gehört hatte. Aber das Scheinwerferlicht ihres Wagens war trotz des Nebels unübersehbar. Der Radfahrer reagierte nicht. ‚Prima’, dachte Elke frustriert. ’Der kann das; einfach stur weiter machen.’
Der Nebel hatte sich plötzlich aufgelöst.
Elke spürte, wie ihr Hinterteil schmerzte, als ob demnächst ihre Tage einträfen.
Der Verlag würde sich natürlich offiziell von Paddot distanzieren und ihn wegen geschäftsschädigenden Verhaltens verklagen. Inoffiziell allerdings alle Anwalts-
kosten etc. übernehmen.
„Wenn Sie Ihren Text beendet haben, muss diesem Sack klar sein, dass das die letzte Möglichkeit für unsere Zusammenarbeit ist, Frau Sieper!“
Elke stieß es bitter im Hals hinauf.
‚Natürlich, und dann muss er sich nur noch an die Klotür kleben!’
Im Rückspiegel sah Elke die vom Regen sauber gewaschene Dixi-Kabine, die im Einklang mit den Traktorstößen friedlich hin und her schaukelte, bis sie in der Kurve aus dem Sichtbereich verschwand.
„Ja also, ich bin genau die Richtige für diese Angelegen-
heit, Herr Schönborn. Gar keine Frage.“
Elke spürte ihren Mageninhalt rebellieren.
„Was soll Herr Paddot noch in Leipzig sagen, oder ist das schon alles?“ hatte sie dann doch noch ihren Chef traurig ermuntert, weiter zu machen. Schönborn verlor für einen Augenblick das Gleichgewicht und stieß unbeabsichtigt mit seinem Rücken die Bürotür zu.
„Ich weiß nicht, ob das Spartakus oder Franz Josef ist!“ setzte Schönborn seinen Vortrag fort. „Aber Sie wissen, woher ich diesen Spruch habe!“
Und schon bevor er seinen Text beenden konnte, war ihr erbärmlich zum Heulen gewesen.
„Und jetzt kommt das Vieh zur Post, vielleicht erkennt es meine Ex wieder und schiebt sich den Richtigen rein“, flüsterte Elke die Antwort des Verlagleiters in die Fahrerkabine ihres Audis. „Ja, ich weiß, wo das steht. Selber Schuld, du musstest ja nachfragen!“
Sie musste säuerlich aufstoßen und konnte davor, was
auch immer aus ihr raus wollte, gerade noch den Mund verschließen.
‚Mache ich doch glatt, Herr Schönborn!’ dachte sie weiter, aber ihre Augen wurden dunkel und liefen über die Lidränder, schwarze Striche hinterher ziehend, während sie angewidert schlucken musste.
„Und was macht Paddots Ex, wenn es der falsche Schwanz ist?“ lachte Elke leise, als die Tränen über ihre Wagen rollten und auf ihrer weißen Bluse den Abgang markierten. Mutig stellte Elke sich vor, wie sie gestern mit genau dieser Frage den Dingen scheinbar cool auf den Grund gegangen wäre, wenn ihre Knie nicht schon so heftig gezittert und Schönborn sie nicht schon längst k. o. geschlagen hätte. Als schien er ihren Zustand zu bemerken, kam er einen Schritt auf Elke zu und meinte: „Aber wenn es wegen, also…, wenn Sie sich wegen ihrer Behinderung….“ Da Schönborn bemerkte, dass Elke auf seinen Schreibtisch starrte, blieb die Alternative unausgesprochen.
Der Audi stand immer noch mitten auf der Fahrbahn. Elke legte beide Hände auf das kleine Sportlenkrad.
Der Radfahrer war wohl schon in Königshofen (So hieß der nächste Ort, erinnerte sie sich).
Für die Frage, ob Paddot überhaupt eine Ex und Co besaß, war es jetzt sowieso zu spät. Und die Frage, woher ihr Chef solche Sauereien auf einmal hernahm, würde sie ihm lieber auch nicht stellen. Denn sie wollte nicht auch noch das süffisante ‚Na-da-kommen-wir-doch-ganz-alleine-drauf,-
wenn-wir-unser-zartes-Köpfelein-a-bissel-anstrengen’ herausfordern. Daran, dass Schönborn sich auch bei solchen kranken Formulierungen etwas dachte, zweifelte Elke nicht. Und dass er sie einfach mit dieser Mission fertig machen wollte, war auch auszuschließen. Denn dazu war sie ihm nach der missglückten ‚Schreibtischaffäre’ zu gleichgültig. Wenn Schönborn aber inzwischen doch viel zu sehr von der Finanzspritze ihres Vaters abhing? Dann dürfte er sie ja eigentlich erst recht schonen! Elke war sich aber sofort darüber im Klaren, dass sie auch diesbezüglich lieber nicht nachfragen werde. Dazu hatte sie dem Verlag zu viel Schaden zugefügt.
Aber eine Frage würde Elke bei der nächsten Gelegenheit ihrem Chef stellen, nämlich - ob er auch irgendwie aus dem Osten käme! Wenn ihr Vater wüsste, wie sich Schönborn gegenüber seiner Tochter aufführte, wäre er sicherlich davon überzeugt und wohl auch besser dazu geeignet, dieses Thema, vielleicht bei der nächsten Scheckübergabe, anzusprechen. Und Elke? Je mehr sie über ihre Situation im Verlagshaus nachdachte, desto überflüssiger kam sie sich vor. Was kommt nach überflüssig? Trocken? Trockengelegt wie das Dixi-Klo! Denn das war, inzwischen weit hinter ihr, bestimmt auch schon entleert worden.
Sie trat in Gedanken gegen den Eimer.
Und um im Bild zu bleiben: Er fiel nicht um.
‚Na prima!’ Elke wischte ihren Mund ab und putzte sich die Nase.
‚Ich brauch nur ein paar Sekunden Ruhe!’ Bei diesem Gedanken drückte sie den Knopf hinter ihrem rechten Ohr nach unten.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.11.2008

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /