Cover

„Hey, wie geht’s“

Mike steht vor mir und guckt mich mitfühlend an. Doch ich weiß, dass es ihm recht wenig interessiert, wie es mir geht. Immerhin ist er die Selbstsucht in Person. Ihn hat es noch nie interessiert, wie es anderen Menschen ging...Alle sind komplett unwichtig für ihn, außer er selbst! Ich bin – und war es auch immer – ihm also sowieso egal. Wozu da die Wahrheit sagen?!

„Ach…Wie immer…“

Ich gucke mich um und beobachte die hetzenden Menschen um uns herum am Bahnhof. Denn ich bringe es nicht übers Herz, ihm in die Augen zu schauen. In jene, die ich einmal so geliebt habe. Augen, deren Farbe mich ständig fasziniert hatten.

Doch diese Zeit ist nun ohnehin vorbei. Ich WAR einmal in Mike verliebt gewesen. Sehr sogar…und lange. Aber dies ist nun zuende! Die ganze Zeit über…Bin ich so blind gewesen?! Kann Liebe wirklich so blind machen?! Ist es überhaupt Liebe gewesen? Ich weiß es nicht. Ich kann mir nicht erklären, was und wieso es passiert ist…jedenfalls nicht genau.

Anfangs hatten wir wirklich glückliche Zeiten. Doch dann fuhren wir gemeinsam in den Urlaub. Nur eine Woche lang. Doch lang genug um alles zu zerstören, was mir bis dahin etwas bedeutete. Denn danach ging die Streiterei los. Ich lag wochenlang die Nächte wach oder heulte mich in einen qualvollen Schlaf. WENN ich dann mal schlief, versteht sich! Doch dann meistens nur für ein paar – viel zu wenige - Stunden. Albträume plagten mich täglich.

Auch die Schule lief den Bach hinunter. Selbst mit meinen Eltern hatte ich nur noch Streit und meine Freunde…Die waren anscheinend viel zu sehr beschäftigt, um überhaupt etwas zu merken. Oder sie haben sich nicht getraut, etwas zu unternehmen. Dies kann natürlich auch sein, doch sein wir mal ehrlich: Sind das wirklich wahre Freunde, wenn sie sich nicht einmal trauen einer hilflosen Freundin beizustehen?! Wohl kaum! Und meine beste Freundin war eine von ihnen…Ich hatte also niemanden...

Wie auch immer: Ich stand am Abgrund meines Lebens und fühlte mich allein gelassen, doch ich liebte ihn viel zu sehr, um Schluss machen zu können. Das dachte ich zumindest. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, aber ich habe gelernt, es mit Gleichgültigkeit zu betrachten.
Könnte man vielleicht sagen, er hat mich erkauft? Ich meine, es gab schon schöne Momente mit ihm, doch meist waren es jene nach einem Streit. Die Versöhnung nach Momenten, in denen er auf mich keine Rücksicht genommen hatte... Zum Beispiel bastelte er ohne Vorwarnung stundenlang an seinem Auto herum. Wenn ich einmal etwas gefunden hatte, was mir gefiel, es aber wegen dem Preis nicht kaufen wollte, dann meckerte er rum, dass ich für mich selbst gar nichts tat, und bestand darauf, es für mich zu kaufen. Wenn ich dieses Angebot ablehnte, war er eingeschnappt. Wenn ich es ihm gestattete, rastete er spätestens beim nächsten Kontoauszug aus... Aber Frauen sollen kompliziert sein!

Außerdem wurde er ständig aggressiv, wenn etwas nicht nach seinem Kopf lief. Dann beschimpfte er immer Gott und die Welt mit rechtsradikalen Begriffen. Eine meiner besten Freundinnen, Anne, hielt ihn deshalb für einen Nazi.

Ich verstehe immer noch nicht, was mich an ihn gehalten hat. Er wollte meinen Sport nicht akzeptieren, verstand nicht wieso mir Gitarren mehr wert waren als Autos, und schon gar nicht, wieso ich lieber tausend Euro für ein Instrument ausgeben wollte, als für ein Fahrzeug oder einen ordentlichen Computer. Überhaupt für einen eigenen Computer, denn ich teilte mir einen Laptop mit meinen Eltern, was mich allerdings überhaupt nicht störte.

Am schlimmsten jedoch finde ich die Tatsache, dass er mir den Kontakt zu Anne und zur gesamten Jungswelt verboten hatte. Okay, das mit den Jungs war klar und hatte nur etwas mit extremer Eifersucht zu tun. Aber mit Anne?!

Mike hat Anne von Anfang an gehasst, doch dieser Hass beruhte auf Gegenseitigkeit. Wie gesagt, sie hielt ihn für rechtsextrem. Als ich später dann auch noch anfing mich zu ritzen, war seine Einstellung zu ihr noch negativer, denn er gab ihr die Schuld daran. Immerhin war sie ja diejenige, die mich überhaupt erst auf die Idee gebracht hatte! …PAH! So ein Quatsch! …

Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, als sie zu mir kam und wie schockiert ich war. Sie sagte, sie habe sich geritzt und getrunken und wollte einfach nur noch sterben. Eine andere Freundin von mir, Laura, und ich haben uns ziemlich Sorgen um sie gemacht. Aber wir haben ihr nie gedroht. Wir haben ihr gesagt, dass sie bloß keinen Mist machen soll. Es ist immerhin jedem das seine Bier, wie er mit seinem Körper umgeht.
Auch heute vertrete ich noch diese Meinung, was wohl auch der Grund dafür ist, dass sehr viele Leute mit solchen Geheimnissen zu mir kommen. Und ich kann sie verstehen. Meistens zumindest. Allerdings tut es meiner Psyche nicht gut, fremde Probleme mit mir herumzutragen...Ich komme ja kaum mit meinen eigenen zurecht!

 

Nun stehe ich ihm gegenüber und mache den größten Fehler den ich nur machen kann. Jetzt, nachdem ich endlich Schluss gemacht habe. Ich starre - kurz vor einem Zusammenbruch – stumm auf seine Schuhe. Ich kann einfach nicht anders. Doch plötzlich nimmt er mein Gesicht in seine groben Hände, zieht mich an sich ran und küsst mich. Ich bin auf einmal wie wiederbelebt. Mein Körper ist voller Adrenalin und ich fuchtele wild mit meinen Armen herum, bis er mich endlich wieder freigibt. Doch dies ist SEIN Fehler, denn ehe ich auch nur über Ethik und Moral nachdenken kann, prallt meine zur Faust geballte Hand auch schon mit voller Wucht direkt auf seine Nase, sodass er zurücktorkelt. Ich wusste gar nicht, dass ich dazu in der Lage bin und bin total verdutzt von mir selbst.

Doch ich komme nicht wirklich dazu, noch weiter darüber nachzudenken, denn in diesem Moment wird mir schwarz vor Augen und ich sinke zu Boden. Es fühlt sich an wie in Ohnmacht fallen, allerdings verliere ich mein Bewusstsein nicht, was gut ist, denn sonst würde ich wohl mit einer dicken Beule am Kopf im Krankenhaus aufwachen.

Es dauert aber nicht lange und ich sitze blintzelnd und mit völlig klarem Kopf auf dem Boden des Bahnhofes und spüre die Nähe einer sehr bekannten Person. In diesem Augenblick liegt auch schon eine Hand auf meiner Schulter. So warm...und irgendwie vertraut...

„Samira? Mira? Alles okay mit dir, Samira?“ höre ich eine Stimme, die mich sofort aufblicken ließ, sagen. Nicolas kniet sich neben mir hin. Seine Nähe ist tröstend.

„Was ist passiert, Mira?“
„Ich…Mike…ich…Schluss…“ Er guckt mich anfangs verwirrt an, doch Nicolas kennt mich gut genug, um zu wissen in welcher Situation ich mich bis heute befand. Er hat es schließlich selbst von den Streitereien mit Mike zu spüren bekommen. Immerhin war er früher einer der verbotenen Jungs gewesen, bis ich dieses Verbot ignoriert hatte. Er war es, der mir klarmachte, dass Mike mich nicht zu etwas zwingen konnte, was ich nicht wollte. Dass er nicht zu mir passte und ich ein freier Mensch mit Rechten bin. Durch Nicolas, meinem besten Kumpel, wurde mir diese Situation, in der ich mich befand, erst richtig bewusst. Und dafür bin ich ihm auch sehr dankbar.

Ihm konnte ich immer alles anvertrauen, was mir auf dem Herzen lag. Ich konnte ihm jederzeit von Mike erzählen, auch wenn er ihn nicht sonderlich zu mögen schien. Er gab mir Tipps. Er fing mich ständig auf, wenn ich mit den Nerven am Ende war. Nicolas war der einzige, der überhaupt mitbekommen hatte, dass mit mir etwas nicht stimmte. Wir kannten uns eigentlich kaum, dennoch war er immer für mich da, wenn ich ihn brauchte. Also so gut wie immer…

„Mira…Wo ist Mike überhaupt?“

In diesem Moment gucke ich mich um. Erst jetzt wird mir bewusst, dass von Mike weit und breit keine Spur mehr ist. Nur Nicolas ist als einzige Person, die ich hier kenne, bei mir. Er scheint meine Angst im Blick bemerkt zu haben. Jene, die von einer weiteren Drohung von Mike ausgeht - die besagt, dass, wenn er Nicolas auch nur einmal dabei erwischt, wie er mich berührt, sorgt er persönlich dafür, dass dieser im Krankenhaus landet. Doch Nicolas kennt diese Drohung schon und meint, Mike kann ihm gar nichts. Immerhin ist er der größere und stärkere. Er ist derjenige, der seit Jahren Kampfsport betreibt. Nicolas würde, wenn er wollte, also klar im Vorteil liegen.

Seine Hand geht von meiner Schulter zu meiner Hand, greift nach ihr und zieht mich hoch auf meine Beine. Augenblicklich falle ich auch schon in seine Arme und fange an seiner Brust an zu schluchzen. Das ist einfach zu viel für mich, der ohnehin schon psychisch instabilen Samira.

 

~ Gut eine Woche später ~

 

Ich sitze auf der Hollywoodschaukel und löffel meinen Eisbecher auf. Schokoeis, wie ich es liebe! Mittlerweile habe ich mich von dem Stress mit Mike erholt. Nicolas war die Woche über, so oft er konnte, bei mir und hat mir seelischen Beistand geleistet. Das tat echt gut.

Ich bin gerade fertig mit meinem Eis, da kommt er und setzt sich neben mich auf die Schaukel. Es wackelt und quietscht kurz ein bisschen. In seiner rechten Hand hält er die gestrige Zeitung.

"Na dann wollen wir mal sehen, wie lange wir für das aktuelle Sodoku brauchen, ne Mira." Dabei zwinkert er mir grinsend zu. Mit ihm zu knobeln, macht extrem Spaß und lenkt ab.

Allerdings erhasche ich einen Blick auf einige Schlagzeilen, wärend er die Seite mit den Rätseln sucht ...

"Stopp mal kurz! Nico, blätter mal bitte auf Seite fünf zurück."

Wie gesagt, so getan. Nicolas und ich guckten uns die Seite nur wenige Sekunden an. Wir blickten uns schockiert in die Augen.

Auf der Seite ist ein Schwarz-Weiß-Foto von Mike zu sehen. Darüber steht großgeschrieben 'Minderjähriger nimmt sich das Leben'.

"Was für ein kranker Idiot..." kam aus meinem Mund.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.09.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /