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Ich renne durch die Nacht. Mein Gesicht ist voller Wasser. Zum einen liegt das am Regen, zum Teil aber auch an meinen Tränen. Im Fernen ertönt das Läuten von Glocken. Die Glockenuhr. Es ist Mitternacht.
Eigentlich sollte ich jetzt im Bett liegen und schlafen – wenn man bedenkt, dass ich morgen eine Klassenarbeit schreibe – anstatt, wie eine Irre, durch die Nacht zu rennen und mir eine Erkältung zu holen. Doch das ist mir egal. Wie könnte ich jetzt auch schlafen?? Wie könnte ich morgen überhaupt die Arbeit schreiben?! Immerhin gibt es Gründe, weshalb ein Mädchen durch die Nacht läuft, als gebe es kein morgen, egal wie das Wetter gerade ist. Einer könnte zum Beispiel sein, dass ich es nicht mehr mit meinen Eltern zu Hause aushalte…
Doch das ist er nicht.
Ein anderer Grund könnte sein, dass ich vollkommen überfordert bin mit mir selbst und meinem Leben ein Ende bereiten will…
Doch auch dies ist nicht der Grund.
Der wahre Grund für meine kleine Dummheit hier bei Nacht ist, dass ich mir furchtbare Sorgen um meinen Freund mache. Denn ER hält es nicht mehr mit seinen Eltern aus. ER hat kein Bock mehr auf sein Leben! Ist es da nicht selbstverständlich, dass ich – als seine feste Freundin, die wahrscheinlich an allem schuld ist – durch die Nacht renne, ohne jedes Risiko auch nur ansatzweise zu bedenken, geschweige denn berücksichtigen?! Ich will einfach nur zu ihm, da ist mir jedes – auch noch so große – Risiko völlig egal!
Ich laufe die Straßen entlang – schon voll außer Atem. Ich will gar nicht daran denken, was heute Nacht alles passieren könnte…
Plötzlich vibriert mein Handy in der Jackentasche. Ich bleibe abrupt stehen und durchwühle die Tasche nach meinem Nokia. Es blendet mich, als ich die Tastensperre herausmache. Ein riesen Kontrast zur schwarzen Nacht.
Ich überfliege den Text auf dem winzig kleinen Bildschirm. Was mir sonst leicht fiel, überfordert mich gerade komplett. So sehr, dass ich nicht ein Wort verstehe, was ich da lese. Auch nach dem dritten Versuch noch nicht. Also stecke ich mein Handy wieder weg und renne weiter. Ich hetze weiterhin durch den Regen. Mich umarmt ein wunderbares Gefühl der Freiheit. Allerdings zugleich auch das sehr grauenhafte der Angst. Bald kommt der Bahnhof. Bald sind es nur noch wenige Meter. Nur noch eine ganz kurze Strecke, bis ich bei ihm bin. Bis ich ihn in die Arme nehmen kann und…
In der Ferne erklingt das Geräusch runtergehender Bahnschranken. Ich weiß nicht wieso, aber ich ziehe mein Tempo an. Bis ich nicht richtig aufpasse und stolpere. Ich plumpse direkt in eine Pfütze. Ich will gar nicht sehen, wie ich jetzt aussehe. Ich will nicht einmal darüber nachdenken…
Trotzdem stehe ich auf, streiche mir meine Haare – die klitschnass in meinem Gesicht kleben – hinter die Ohren und hole noch einmal mein Handy raus. Um noch einmal zu versuchen die Mitteilung zu entziffern. Nun verstehe ich was da steht, auch wenn es mir ganz und gar nicht gefällt…

Ich bin fertig!
Ich will nicht mehr!!
Ich kann nicht mehr!!!!! :‘(
Es tut mir so Leid Maus…
Gleich kommt der Zug :/ … *-*
Hoffentlich sehen wir uns in unserem späteren Leben wieder…
Lebe wohl mein Engel :*

Ich starre auf den Bildschirm und mir entfällt ein leises, dennoch kräftiges „Scheiße!“, bevor ich die Straße weiter entlang peese. Scheiße, die Bahnschranken sind schon unten, was bedeutet dass ich nur noch eine, maximal zwei Minuten Zeit habe, bis der Zug kommt! Ich muss mich beeilen! OH MEIN GOTT!
Wie eine Marathonläuferin renne ich die letzten hundert Meter – so schnell wie nicht einmal in meinen fantasievollsten Träumen. Nebenbei in Gedanken versunken: „Oh nein, bitte nicht…Hasi mach kein Scheiß! ...“
Der Regen hört auf. Auch kein Wind weht…Ob das ein Zeichen ist? Bin ich etwa zu spät?! Oh nein…
Endlich bin ich am Ende der Straße angekommen. Ich kann den Bahnhof sehen. Verlassen. Erst beim genauen Hinsehen bemerke ich die verschwommene, schwarze Gestalt am Bahnsteig. Ich bleibe kurz stehen um Luft zu holen. Nun kann ich die Umrisse der Gestalt genauer erkennen. Und zuordnen. Als ich den Zug sehe sprinte ich los. Am liebsten würde ich laut losschreien, doch die Anstrengung verschnürt mir die Kehle und ich bekomme so schon wenig Luft. Also verzichte ich – unfreiwillig – darauf und renne um mein Leben. Naja…Eigentlich ja um SEIN Leben!
Der Schemen bewegt sich und geht dichter an die Bahnsteigkante heran. NEIN! BLEIB STEHEN!!! Nur habe ich das Gefühl, jeden Augenblick vor Anstrengung zerfetzt zu werden und kann einfach nicht mehr schneller laufen…
Noch zehn Sekunden, dann ist er da…Ich sammle meine ganze Kraft zusammen und brülle so laut ich kann durch die Nacht: „Aaaaaaleeeeeex! Stoooopp!!“ Erstaunlicherweise bringt es sogar was, denn Alex dreht sich um, sieht mich und ist kurze Zeit von seinem Vorhaben abgelenkt. Gott sei Dank.
„Alex!“ rufe ich noch einmal. Ich bekomme mein Tempo doch noch ein bisschen beschleunigt. Noch bevor Alex reagieren kann, zerre ich ihn – ohne nachzudenken – vom Bahnsteig weg. Gerade noch rechtzeitig, denn kaum sind wir hinter der weißen Grenzlinie, gibt der Zug ein Ohren betäubendes Getute von sich und donnert an uns vorbei. Ich kann ein erleichtertes Schnauben nicht unterdrücken. Nach ein paar Minuten habe ich mich wieder einigermaßen gefasst. Ich sehe Alex ins Gesicht. Seine rehbraunen Augen sind vor Schock geweitet. Es tut mir so weh ihn so zu sehen. Ich halte es nicht mehr aus und falle ihm in seine Arme. Allerdings eher um ihn zu stützen, als vor Erschöpfung. Doch er kommt aus seinem Schockzustand, reagiert und erwidert eine Umarmung.
„Tu das…nie wieder, ok?“ versuche ich ihm zu tadeln. Jedoch bin ich immer noch ziemlich am schnaufen.
„Ok….“ Flüstert er mir sanft ins Ohr. Ich knuddel mich ganz fest an ihn heran, froh in seinen starken Armen zu sein. Froh ihn noch lebend zu sehen. Ihn überhaupt zu sehen.
„Wieso hast du…Was ist passiert?“ frage ich um die Stille zu dämpfen. Vielleicht aber auch nur um seine Stimme zu hören. Mich von ihr beruhigen lassen…
„Ach nichts…“ antwortet er einfach und küsst mich zart, aber leidenschaftlich auf den Mund.

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Tag der Veröffentlichung: 10.01.2012

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