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Vorsichtig ging ich die Stufen herunter. Schritt für Schritt. Der Raum in den ich gelangte, war schneeweiß und kreisrund. Die Treppe führte ohne Geländer in Spiralen zum Boden, wo sie mit diesem verschmolz. In der Mitte wurde der Raum durch eine Glaswand getrennt oder vielmehr einen Spiegel. Ich sah mich selbst dahinter, nur ohne Treppe und dass ich mich bloß stumm betrachtete, wie ich die Treppe herunter stieg. Es musste ein Zerrspiegel sein, mein Spiegelbild hatte kürzere Haare als ich und trug nicht das blaue Kleid, sondern eine Jeans und ein blaues T-Shirt, allerdings ein anderes blau, als das meines einfachen Kleides. Auch Schuhe trug mein Spiegelbild, im Gegensatz zu mir. Die flache Brust und die Tatsache, dass er Hosen trug, machten klar, dass es ein Junge war. Mein Spiegelbild lächelte mich zaghaft an, und er trat näher an die Glaswand. Nun standen wir uns direkt gegenüber. Ich hob die Hand und legte sie vorsichtig an das kalte Glas und er ahmte die Bewegung nach, sodass unsere Hände einander überdeckten. Ich lächelte strahlend, aber mein Spiegelbild weinte.


Wer bist du?
Wer bin ich?




Die Stufen waren genau wie jene über mir und die darüber. Nur dass ich über diese schon tausende Male gelaufen war, während ich diese zum ersten Mal betrat. Und in den Räumen über mir gab es auch keine Überraschung. In diesem schon.
Der Raum und alles andere erstrahlte in reinstem Weiß. Genau in der Mitte verlief eine makellose Glaswand und halbierte den Raum in zwei vollkommene Halbkreise. In jedem eine Person, jeweils ein perfektes Spiegelbild des anderen.
Unsere Blick begegneten sich, er stand aufrecht in seiner Hälfte und ich stellte mich ihm direkt gegenüber. Alles leuchtete. Das Weiß strahlte und das Blau seiner Augen war wie eine Flutwelle, die mich überrollte. Sein Haar hatte die Farbe von Gold.
Ich presste meine Hand an die Trennwand und er erwiederte die Geste, während die Tränen seine Augen überfluteten, und das Glück mir den Atem nahm.


Wer bist du für mich?
Wer bin ich für dich?




Mein Herzschlag dröhnte in meinem Kopf. Dies war eine neue Treppe! Ein neuer Raum unter all den alten, die ich schon mein Leben lang kannte. Weiß. Grelles, leuchtendes Weiß. Eine Gestalt. Ein Spiegelbild. Das Spiegelbild, das nicht mich zeigte. Ich rannte. Die Freude, ihn im Spiegel zu sehen, entlockte mir ein helles Lachen und fast ehrfürchtig legte ich die Hand auf das Spiegelglas. Ich hatte Angst es könnte zerbrechen, wenn ich zu heftig damit umsprang, so wie die Spiegelbilder davor. Aber dieses Bild schien hart genug zu sein, denn die Gestalt erwiderte meine Berührung, obwohl ich doch den Riss sah, den ich hineingeschlagen hatte. Durch ihn sickerte langsam Wasser auf das Gesicht meines Zwillings.


Was geschieht?
Was ist geschehen?




Ich wusste, dass meine Schwester kommen würde, noch bevor ich sie sah. Ich hatte nicht lange warten müssen und doch wurde jeder weitere Moment zu einer Ewigkeit gezogen. Ich meinte gerade, dass mich der Schmerz von ihr getrennt zu sein noch wahnsinnig machen würde, da sah ich sie. Mein Herz setzte aus.
Oft hatte man mir gesagt, wie sanft ich sei oder wie elegant. Ich wusste, dass Sie

mich manchmal ihr "Spiegelbild" nannte, oder mich damit verwechselte, vielleicht auch, weil sie Realität und Traum nicht unterscheiden konnte.
Und doch erschien es mir lachhaft zu behaupten, dass ich auch nur einen Teil ihrer Eleganz, ihrer Schönheit oder ihrer Sanftheit besitzen sollte, selbst wenn sie meine Zwillingsschwester war.
Ihr blaues Kleid schien perfekt zu ihr und ihren strahlend blauen Augen zu passen, Schuhe trug sie keine. Ich fragte mich, wie sehr das, was ich sah, mein Zwilling war oder wie sehr es nur ein labiles Mädchen war, das sein gesammtes Leben allein in einem Turm verbracht hatte, mit nichts mehr als Spiegelbildern zur Gesellschaft. Und ich fragte mich, ob es schlimmer war in seiner eigenen Welt zu leben, oder die eigene Welt nicht von der Realität unterscheiden zu können.
Wer war sie? Rapunzel oder meine Schwester?
Wer war ich? Ihr Ritter oder ihr Bruder?
Was bedeutete ich ihr? Die einzige Rettungsleine zur Wirklichkeit oder nur ein weiteres Spiegelbild?
Was war sie für mich? Ein Fiebertraum, der sich nur unter Schmerzen zeigte und nicht real war oder die lange eingesperrte, geraubte Zwillingsschwester, deren Bewusstsein in Trümmern lag?
Verstand sie was gerade geschah? Dass wir nach 15 Jahren uns zum ersten Mal sahen? Verstand ich, was in der Vergangenheit geschehen war? Dass wir uns nur unter Schmerzen erreichen konnten und uns Schmerzen zugefügt hatten um uns zu begegnen?
Konnte ich verstehen, warum das geschah? Oder gab es keinen Grund?
Und was wird noch kommen? Werden wir zusammen bleiben dürfen oder werden wir sofort wieder getrennt werden?
Ich glaubte nicht daran, dass sie meinen Zwilling wirklich zu mir lassen würden und mir stiegen Tränen in die Augen, bei der Vorstellung ich müsste sie verlassen.
Als sie vor mir stand, hob sie vorsichtig die Hand und legte sie an die Scheibe, sie lächelte. Wir waren genau gleich groß und unsere Augen waren auf gleicher Höhe. Sie waren vom selben leuchtenden Blau, unsere Haare vom selben hellen Blond und unsere Hände waren beide lang und schmal, sodass sie genau aufeinander passten und ich mich zum ersten Mal wirklich wie ihr Zwilling fühlte.
Sie lächelte und ich weinte, aber dennoch war jeder ein Abbild des Anderen.



Warum passiert das?
Was wird noch kommen?


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Tag der Veröffentlichung: 10.03.2011

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