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Der Tod bedeutet die Tilgung jeglichen Schmerzes, und er ist die Grenze,
über die unsere Leiden nicht hinausgelangen; er gibt uns wieder jenen
Zustand der Ruhe zurück, dem wir vor unserer Geburt angehörten.



Seneca


Es herrschte absolute Ruhe auf der Straße, lediglich ein paar Blätter tanzten im Wind. Es roch nach Regen und dunkle Wolken verdeckten den düsterblauen Himmel. In der Ferne konnte man das Leuchten vereinzelter Blitze sehen, die Natur machte sich dazu bereit, sich von ihrer erschreckenden Seite zu zeigen. Die Welt schien den Atem anzuhalten, nur ein einsames Mädchen lief durch die Straße, sie schien das drohende Unwetter noch nicht einmal zu bemerken. Sie hatte den Kopf hoch erhoben und lief mit festen Schritten, nur wer genau hinsah konnte die Tränen in ihrem glanzlosen Augen sehen. Ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos, als sie den alten Wohnkomplex betrat. Längst schon war er unbewohnt und die breiten Risse, welche sich durch die grauen Betonwände gingen verliehen dem Gebäude einen besonderen Ausdruck der Trostlosigkeit. Weil es so weit draußen stand und so das Stadtbild nicht beschädigte, sah man es nicht als nötig das Gebäude zu renovieren oder abzureißen, ihr war es nur Recht. Hier war sie alleine, hier würde sie keiner stören. Vorsichtig stieg sie die Treppen hinauf, darauf bedacht nicht auf den feuchten Dielen auszurutschen. Endlich erreichte sie den siebten, den letzten Stock. Die Tür war mit einem rostigen Schloss gesichert, doch als sie etwas gegen die Tür drückte, brach diese auf. Der Schimmel hatte sich wohl schon tief ins Holz gefressen. Ein humorloses Lächeln umspielte ihre Lippen, jetzt würde sich ihr nichts mehr in den Weg stellen. Als sie die kleine rostige Leiter hinauf kletterte, wurde sie von einem unbeschreiblichen Glücksgefühl gepackt. Oben wehte der Wind um einiges stärker, doch das störte sie nun wirklich nicht. Langsam, fast andächtig trat sie bis zum Rand
und lies sich langsam nieder. Die Beine ließ sie über dem Abgrund baumeln. Nach wie vor schenkte sie dem Wind welcher an ihr riss, als wolle er sie zurück halten und dem mittlerweile rabenschwarzen Himmel keinerlei Beachtung.
Ein trauriges Lächeln huschte ihr übers Gesicht, als sie fast schon wehmütig über den Stein streichle auf dem sie saß. Er fühlte sich ziemlich rau und kalt an, aber auch hart. Sie wagte einen kurzen Blick nach unten, ob die Straße wohl auch so hart war. Würde es wehtun?
Komischerweise musste sie gar nicht mehr weinen, sie war sogar eine Ewigkeit vor dem Kleiderschrank gestanden und hatte lange überlegt, was sie anziehen sollte. Ein sarkastisches Lachen kommt ihr über die Lippen, schon komisch wie gut es ihr auf einmal geht.
„Also ciao, ich bin dann einmal weg.“, schrie sie in einem Anflug von Galgenhumor und ließ sich mit ausgestreckten Armen fallen.
Sie hörte die Luft unverschämt laut an ihr vorbei rauschen, ihre Haare schlugen ihr wie kleine Peitschen ins Gesicht und tief in ihr regten sich plötzlich Zweifel. Egal, es ist eh zu spät.
Dann schlug sie auf, Knochen zerbarsten und bohrten sich teilweise durch lebenswichtige Organe, das Lächeln erstarb und ihr schönes Gesicht wurde eingedrückt. Das alles dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, nicht einmal einen Augenblick und doch reichte die Zeit um ihr eine Welle des Schmerzes durch den Körper zu schicken, welcher sie, hätte er auch nur eine Sekunde länger gedauert, den Verstand hätte kosten können.
Keiner hatte es gesehen, keiner hatte etwas gehört und noch während sich eine Blutlache unter dem Körper bildete, drehte sich die Welt weiter. Niemand würde um sie trauern, nur ein Toter mehr.



Mit einem erstickten Schrei auf den Lippen schrecke ich aus meinem Schlaf und sitze im nächsten Moment kerzengerade in meinem Bett.
Noch während sich mein Atem beruhigt, wandert mein Blick zu Cloud. Gott sei Dank, er schläft noch. Der zweite Blick fällt auf meinen Wecker. Noch 24 Minuten, sagen die leuchtenden Ziffern. Seufzend schwinge ich meine Beine aus dem Bett und wische mir ein weiteres Mal übers Gesicht. Es war nur ein Traum. Die leise Stimme in mir, die mir an dieser Stelle entschieden widerspricht ignoriere ich. Schnell schleiche ich auf meinen noch etwas zittrigen Beinen zum Kleiderschrank und schnappe mir einen gelben Pullover, die Hose von gestern müsste noch gehen. Genauso leise verlasse ich das Zimmer, es kann nicht schaden wenn ich meinem Gast die Gelegenheit gebe, seinen...ja was war das gestern eigentlich. Während ich grüble wasche ich mich, ziehe ich mich an und putze die Zähne. Gerade als ich wieder in mein Zimmer will, um Cloud zu wecken, kommt mir ein Gedanke. Ich muss ihn später unbedingt danach fragen. Jetzt stehe ich aber vor meinem Bett und überlege wie ich den Sohn des Todes, der mittlerweile seine alte Gestalt wiedergewonnen hatte, am besten wecken soll.
Mangels besserer Ideen rüttle ich ihn einfach an der Schulter. Es dauert ziemlich lange, aber endlich öffnet er seine Augen und funkelt mich böse an. „Guten Morgen Sonnenschein, aufstehen. Heute geht es in die Schule.“
Ich bin selbst überrascht wie munter und fröhlich meine Stimme klingt. Irgendwas vor sich hinmurmelnd fährt er sich durch die Haare und richtet sich langsam im Bett, nicht ohne herzhaft zu gähnen, auf. Als mein Blick auf seine Hände fallt kann ich es nicht verhindert, scharf einzuatmen.
„Was?“, werde ich auch schon aufs freundlichste angefahren.
Wieso war mir das eigentlich nicht früher aufgefallen. Immer noch etwas überrascht starre ich auf seine Hand, dann auf die andere. Jetzt war er schon drei Nächte bei mir und mir fiel erst jetzt auf-
„Was?!“, wiederholte der Morgenmuffel erneut seine Frage.
„Du hast sieben Finger.“, murmel ich nur recht intelligent.
„Ach was du nicht sagst. Ich glaube du hast recht.“, während dieser vor Sarkasmus triefenden Worte starrt er sich auf die Hände, als würde er sie selbst zum ersten Mal sehen.
Ich seufze nur genervt winke ab und will gerade das Zimmer verlassen, als meine Neugierde doch noch siegt und ich mich wieder zu ihm umdrehe.
„Sag mal, wie machst du das mit diesem verwandeln? Kannst du jede beliebige Figur annehmen?“
Cloud hebt den Kopf und sieht mich etwas genervt an, na dann halt nicht. Doch es geschehen wohl doch noch Zeichen und Wunder schießt es mir durch den Kopf, als ich seine Stimme vernehme.
„Nicht jede Figur, aber Dinge wie Haut- und Haarfarbe, wie meine Gesichtszüge und Kleinigkeiten an meinem Körper.“
Das war jetzt sogar mehr als erwartet. Staunend starre ich ihn an.
„Wow.“ Ich bin mir ziemlich sicher, dass seine Brust bei einem bewundernden Tonfall anschwellt.
Kaum zu glauben, wie schnell sich meine Laune durch diesen Kerl ändern konnte, war ich doch bis vor nicht allzu langer Zeit nicht mal zu einem richtigen Gefühl fähig. Als ich die Tür hinter mir anlehne und mich auf den Weg in die Küche mache versuche ich mich auf andere Gedanken zu kommen und landete schon bei einem neuen Problem: die Schule.
Als ich gerade fertig damit war, den Tisch zu decken (ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie komisch es sich anfühlt plötzlich für zwei zu decken), betrat auch schon Cloud den Raum. Und glauben Sie mir, die Temperatur sinkt um gut zwei Grad. Ich schenke ihm ein kurzes Lächeln und lasse mich dann auf einen der Stühle plumpsen, ohne ihn noch einen Blick zu schenken esse ich erst einmal genüsslich mein Brötchen. Nur aus den Augenwinkeln sehe ich wie er statt dem Kaffee den Orangensaft nimmt und sich ebenfalls auf einen Stuhl fallen lässt.
Kaum haben wir unser Essen beendet spreche ich endlich meine Frage aus: „Sag mal dein...Anfall gestern, hatte der was mit dem Kaffee zu tun?“
Immerhin bezweifle ich ehrlich, dass es im Reich des Todes Koffein gibt, aber das man (oder Tod junior) gleich so ausrastet hätte ich nicht erwartet.
Sein böser Blick war mir dann Antwort genug.
„Ok, schon verstanden. Es gibt da aber noch etwas, das wir klären sollten: wie du weißt müssen wir heute in die Schule.“ Alleine ein Schulterzucken war die Antwort.
Ich ließ mich von seiner unfreundlichen Art nicht beirren und fuhr unbeirrt fort: „Also hier sind die Regeln und gnade dir Gott, wenn du sie nicht einhälst. Erstens, du erzählst NIEMANDEN von deiner Mutter, deinem Vater oder von der Tatsache, dass du der Sohn des Todes bist. Zweitens, du tötest niemanden. Drittens, du bist ein Austauschschüler aus Frankreich, der jetzt ein Jahr bei mir wohnt. Viertens, du wirst dich benehmen und mich in keine peinlichen Situationen bringen. So weit alles klar?“
Das Murren wertete ich jetzt einfach als als ein Ja.
Zufrieden nickte ich und machte mich auf die Suche von Andys alten Schulsachen. Schnell habe ich seine Schultasche und sein Mäppchen gefunden, in seinem Füller ist sogar noch genug Tinte. Perfekt. Aus meinem Zimmer hole ich noch einen Collegeblock und schon sind wir fertig zum Abmarsch, bis auf die Tatsache, dass mein Schützling verschwunden war.

Mist, eigentlich müsste ich jetzt los. Schnell überlege ich, ob ich nicht einfach gehen sollte, da er ja an mich gebunden ist, würde er mir schon folgen, aber mir kommt das irgendwie unhöflich vor und so mache ich mich auf die Suche nach meinem verschollenen Gast. Ich suchte knapp zwanzig Minuten nach dem Chaoten. Mal ehrlich, der Typ war dreihundertvierundachzig Jahre älter als ich und schaffte es sich wie ein dreijähriges Kind zu benehmen. Ich habe jetzt in allen Räumen und im Garten nach ihm gesucht, bleibt also nur noch das Zimmer meiner Eltern. Nervös stehe ich nun vor der weißen Eichentür, meine Hand auf der kalten Klinke. Ich weiß noch nicht einmal warum ich so nervös bin, also lecke ich mir ein weiteres mal über die Lippen und drücke sie herunter.

Tja scheint so, als hätte ich ihn gefunden. Das Zimmer war spartanisch eingerichtet. Nur ein einfaches Bett mit hellem braunen Bezug, Vorhänge in der selben Farbe und eine Kommode aus dunklem Holz. Auf ihr stehen ein paar Fotos, eines von ihnen hält nun Cloud in der Hand, als ich mich hinter ihn stellen sehe ich, dass es sich um ein Foto von der ganzen Familie handelte. Es wurde vor gut sieben Jahren in einem Freizeitpark gemacht. Meine Mutter, mein Vater, Andy und dann war da noch Brian, der einen Arm um meine Schultern gelegt hatte. Damals hatte ich noch kurze Haare, war einfach nur mit ihm befreundet und wusste nicht von seinen psychischen Problemen. Cloud stellt in der Zwischenzeit das Bild zurück und lässt seinen Blick demonstrativ durch das Zimmer schweifen. Der kleine Raum ist nicht nur total verstaubt sondern vollgestopft mit mehreren blauen Plastiksäcken. Ich ignoriere ihn und wende mich zum Gehen nur an der Tür erinnere ich ihn daran, dass wir los müssen. Wie sollte ich ihm auch sagen, dass ich das Zimmer schon seit einer Ewigkeit nicht mehr geöffnet hatte, dass in den Plastikbeuteln alles drin war, was mich an meine Familie erinnerte: Bilder, Filme, Plüschtiere und einigen Krimskrams.
Unten angekommen drücke ich ihm immer noch schweigend die für ihn besorgte Tasche in die Hand und ziehe mir meine Jacke über. Es ist heute ziemlich kalt draußen. Ach so, was mache ich denn jetzt mir Cloud? Doch ein Blick auf ihn zeigt mir, dass ich mich darum gar nicht sorgen muss. Er trägt einen etwa knielangen, schwarzen Mantel. Auch wenn es mir schwerfällt frage ich ihn nicht danach. Und so machen wir uns dann also auf den Weg. Die Schule befindet sich etwa auf der anderen Seite der Stadt, eigentlich nur ein Städtchen, also ca. zwei und einen halben Kilometer Fußmarsch. Natürlich fährt auch ein Bus, aber etwas Bewegung hatte ja noch niemanden getötet, oder? Cloud beschwerte sich auch nicht, eigentlich schwiegen wir uns den ganzen Weg über nur an. Als wir jetzt endlich an meiner Schule ankommen atme ich auch erst einmal auf.
Und schon kamen Alisa und Janine auf mich zugelaufen. Nachdem wir uns kurz mit einer Umarmung begrüßt hatten, wenden sie sich Cloud zu. „Öhm, und du bist...?“
„Das ist Cloud er kommt aus Frankreich und nimmt an einem Austauschprogramm teil und da ich mich eh etwas ablenken wollte....“ Ich lasse den Satz unbeendet, aber die beiden nickten nur verständnisvoll, sie haben trotz meiner Schauspielerei natürlich gemerkt, dass es mir nicht gut ging. Sie scheinen um ehrlich zu sein viel zu erleichtert sein, sie sagten nicht einmal was zu Clouds Namen. Doch das läuten der Schulglocke holt mich aus meinen Gedanken, schnell laufen wir in unser Klassenzimmer. Unser Lehrer, Herr Günster, sitzt schon am Pult und sieht neugierig auf, als wir das Klassenzimmer betreten. Erst wird mir klar, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich Clouds Anwesenheit erklären sollte. Immerhin gab es an unserer Schule nicht einmal ein Austauschprogramm. Doch mal wieder hat sich Cloud um alles gekümmert. Stahlend reicht der Gürster Cloud die Hand. „Du musst der Austauschschüler aus Frankreich sein.“ Höflich bestätigt er das. „Oui, c'est vrai. Isch bin Cloud.“ Ich muss ernsthaft an mich halten, um Cloud nicht überrascht anzustarren. Der Dialekt war wirklich perfekt und wie freundlich er plötzlich wirkte, nicht warm oder nett, einfach nur freundlich. Kopfschüttelnd gehe ich zu meinem Platz. Kurz unterhalten sich Cloud und Herr Günster, dann stelltsich mein Klassleiter und Deutschlehrer vor die Klasse und bringt die Schüler mit einer Geste zum Schweigen. „Also meine Lieben, wir haben ab heute einen neuen Schüler in der Klasse. Er kommt aus Frankreich und wird ein Jahr zu uns in die Klasse gehen. Möchtest du dich nicht selbst vorstellen.“ Der Lehrer macht Cloud Platz. Zwar lächelte er nicht, aber er wirkte auch nicht mehr so kalt. Seine Stimme ist ruhig und fast schon emotionslos.
„Salut, mein Name ist Cloud. Isch bin 17 und wohne in Bry sur Marne, das ist ca. 20 km von Paris entfernt. Isch 'öre gerne Musik und zeichne gerne. Meine...Farbe préferérée ist dunkles blau. Sonst noch Fragen?“
Da sich keiner meldete schlüft er zu einem freien Platz zwei Reihen hinter mir. Grinsend bemerke ich wie Melanie, die Klassenpussie, demonstrativ etwas von ihm abrückte. Jedoch gibt es wohl auch ein paar Mädchen die kichernd in seine Richtung schauen und einen meiner Meinung zu verliebten Blick drauf haben. Der Unterricht an sich zog sich ewig hin. Heute müssenen die ersten Kandidaten ein Gedicht aufsagen. Es war Hausaufgabe ein Gedicht mit mindestens sechs Strophen zu lernen. Die erste Schülerin sagte den Erlkönig auf, dann kam Alex, meine Banknachbarin dran. Sie war etwas komisch, zum einen trug sie meistens schwarze Sachen, Springer und kurze, lila Haare, dennoch hatte sie immer ein Märchenbuch in ihrer Tasche. Kurz murmelde sie den Namen des Autors, Ludwig Hirsch, das Stück heißt Schöpfungslied. Während sie es aufsagt bemerke ich, wie sich ein Grinsen in Clouds Gesicht stiehlt. Ich persönlich finde darin nichts lustiges. Seufzend lasse ich meinen Kopf auf meine verschränkten Arme sinken und lausche ihren Worten.
Ich selbst bin erst in ein paar Tagen dran, wahrscheinlich Freitag, je nachdem wie lange die Gedichte der anderen waren. Nach Deutsch hatten wir Physik, Cloud wurde auch einmal aufgerufen und nicht nur zur Überraschung des Lehrers beantwortete Cloud diese perfekt, obwohl es ein ziemlich kompliziertes Thema war. In der Pause standen wir zwar beisammen, aber er sagte nicht ein Wort und meine Freundinnen und ich standen auch nur betreten herum. Der Rest des Tages zog sich zäh dahin. Cloud bewies ein unglaubliches Wissen in allen Fächern und hatte außerdem innerhalb von Minuten den wahrscheinlichst größten Fanclub der Schule, der sich jedes Mal vergrößerte, wenn er ein Mädchen eiskalt abwies. Ich kann sogar jetzt nur noch den Kopf darüber schütteln.
Klar Cloud sieht gut aus und er ist offensichtlich nicht auf den Kopfgefallen, aber im großen und ganzen wars das auch schon. In der letzten Stunde haben wir jetzt Geschichte und wieder glänzt Cloud mit seinem Wissen um genau zu sein, führt er einen Dialog mit Herrn Wollstoff, unseren Geschichtslehrer und glauben Sie mir, der lässt sich nicht allzu schnell beeindrucken. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich erst in zwölf Minuten erlöst werde. Da der Rest der Klasse ignoriert wird haben sich die Schüler mittlerweile eine neue Beschäftigung gesucht. Ein paar Jungs spielen Karten, ein paar machen einfach Hausaufgaben, meine Banknachbarin liest wieder in ihrem Märchenbuch und ich kritzel einfach etwas auf meinem Blatt herum. Unter dem Tisch wechsle ich mit meinem Handy ein paar SMS mit meinen Freundinnen. Mir wird erst jetzt so richtig bewusst, wie sehr ich sie in letzter Zeit vernachlässigt habe, wie sie sich wohl nach meinem Selbstmord gefühlt hätten? Schnell riesel ich mir den Kopf frei und schaue mich nach einer besseren Beschäftigung für die letzten sieben Minuten um. Tja, da wird jetzt meine Nachbarin dran glauben müssen...
„Hey, was liest du da?“
„Grimms Märchensammlung.“, kommt die etwas genervte Antwort.
„Schon klar, und was genau?“
„Blaubart.“ Ich sehe sie fragend an, werde aber konsequent ignoriert. Bis eben wusste ich noch nicht einmal, dass es ein solches Märchen gibt. Ein Blick auf die Uhr verrät, noch ganze fünf Minuten. Stöhnend lasse ich meinen Kopf auf den Tisch knallen.

Als es dann endlich klingelt bin ich so ziemlich die Erste, die den Raum verlässt. Ich stehe noch ziemlich lange mit meinen Freundinnen in der Aula, bis auch Cloud sich wieder zu uns gesellt. „Und? Wie war dein erster Schultag?“, wir er auch schon von Alisa ausgequetscht. Die Antwort, wie könnte es auch nur anders sein, ein kurzes Schulterzucken. Kurz sehen sich Alisa und Janine veschwörerisch an. Cloud verdreht nur genervt die Augen, während ich ihnen fragende Blicke zuwerfe. Da platzt es auch schon aus Janine heraus. „ Wie lange seit ihr schon zusammen.“ Fast synchron fallen Cloud und mir die Kinnlade herunter, wohingegen er sich eher erholt und ihnen einen geradezu vernichtenden Blick zuwirft. „Und wie, wenn ich fragen darf, kommt ihr auf diesen Gedanken?“
„Das ist ja wohl eindeutig, du wirst den ganzen Tag von den hübschesten Mädchen umschwärmt und beachtest nicht eine von ihnen, niemanden außer Kathi.“ Prompt wird Alisa auch von Janine unterstützt.
„Stimmt, dafür starrst du sie verhältnismäßig oft an. Glaub bloß nicht uns wäre es nicht aufgefallen.“
Toll, ein Missverständnis dieser Art konnte ich nun überhaupt nicht gebrauchen, also blaffe ich meine Freundinnen an, sie sollen sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, doch wer dachte, dass es nicht schlimmer kommen konnte wird jetzt eines Besseren belehrt. „Was muss ich da hören, meine schwarze Witwe hat schon wieder einen Partner? Wer hätte das gedacht?“ Oh, nein bitte nicht!


Resigniert drehe ich mich um und da steht ein zwanzig Zentimeter größerer und rothaariger Junge vor mir.
„Oh... hallo Michael, na wie geht’s dir denn?“
Der Angesprochene wirft einen spöttischen Blick auf Cloud, der reserviert neben mir steht und sieht mir dann abwertend ins Gesicht. Seine hellblauen Augen verengen sich zu Schlitzen und mit einer lässigen Bewegung wischt er sich eine Haarsträhne aus dem bleichen Gesicht, welches IHM so unglaublich ähnlich sieht. Wieder einmal habe ich den Drang ihm ins Gesicht zu spucken oder am besten sein widerliches Grinsen mit einer Backpfeife daraus zu wischen. Aber wieder einmal lächel ich nur freundlich.
„Eines muss man dir kleine Schlampe ja lassen, du beweist durchaus Geschmack bei der Wahl deiner Opfer. Du tust mir ja schon ein kleines Bisschen Leid, mein Freund.“ Die Letzten Worte waren an Cloud gerichtet, dem Michael noch einmal auf die Schultern klopfte und mit hüpfenden Schritten verschwand, und mich mit einem eiskalten Gefühl in der Brust zurück lässt. Eine mir durchaus bekannte Übelkeit breitet sich in mir aus und füllt mich langsam aus. Ich muss hier weg!
„Dir ist klar, dass du damit alles nur schlimmer gemacht hat.“
Wortlos schnappe ich mir Clouds Ärmel, drehe mich auf dem Absatz um und flüchte förmlich aus dem Gebäude, renne in irgendeine Gasse und laufe orientierungslos in eine beliebige Richtung. Hin und wieder erzählt Cloud irgenwas davon, dass ich mich beruhigen soll.
Dieser verdammte Klugscheißer! Ohne ihn weiter zu beachten laufe ich stur weiter, Cloud nach wie vor hinter mir herziehend.
„Nicht nur, dass du mit deiner Flucht die Vermutung deiner Freundinnen bestätigt hast, für die anderen dürfte es von weiten ausgesehen haben, als hätten wir Händchen halten das Gelände verlassen, außerdem möchte ich darauf hinweisen-“
„Halt. Deine. Klappe. Cloud.“
Zumindest war er still, aber dass er amüsiert hinter mir lacht macht es verdammt noch einmal nicht besser. Ich glaube insgesamt brauchte ich zwanzig Minuten, bis ich hinter den Grund das ständig anhaltenden Kichern meines Gefährten kam: Ich lauf gerade absolut kopflos durch die Stadt und wie ich jetzt feststellen muss ganz offensichtlich in die falsche Richtung. Frustriert stöhnend bleibe ich stehen und funkel den immer noch grinsenden Cloud an. Oh, wie ich diesen aufgeblasenen Ignoranten hasste.
„Du wolltest ja, dass ich die Klappe halte.“
Warum rege ich mich eigentlich so auf? Mit einem mal komme ich mir selten blöd vor. Diese Aktionen von Michael waren nun weiß Gott nichts seltenes, ja sie waren sogar überfällig. Es war nur ärgerlich, dass Cloud diesen Auftritt miterleben musste.
Jetzt heißt es, sich bloß nichts anmerken zu lassen.
Kurz sehe ich mich um und sehe nicht weit entfernt einen MCBob, ein beliebtes Fastfooot-Restaurant. Perfekt.
Also gehe ich zielstrebig darauf zu, Cloud, den ich losgelassen habe folgt mir neugierig. Drinnen werden wir von einer stickigen Wärme und den Gestank von Fett begrüßt. Aus den Augenwinkel glaube ich zu sehen, wie Cloud kurz würgt. Immerhin hält er jetzt die Klappe. Der Laden ist in einem knalligen 70er Jahre Stiel eingerichtet...oder zumindest soll es das darstellen. Der Boden war mit schwarzen und weißen Fließen bedeckt, überall hingen pinke Girlanden und bunte Lavalampen. Die Tische waren aus Aluminium und standen festgeschraubt am Boden kreuz und quer überall herum. Um sie herum waren leuchtend rote Sessel aufgestellt - kurz, es war geradezu scheußlich eingerichtet. Ohne auf Clouds Protest zu achten lasse ich mich in einen der Sessel fallen und studiere die laminierte Karte. Eigentlich kenne ich sie ja auswendig, aber es ist wohl besser, wenn ich jetzt erst einmal Clouds Blickkontakt meide. Cloud selbst studiert ebenfalls mit einer fast schon belustigenden Konzentration das Menü. Ich beobachte ihn etwas über den Rand und sehe, wie sich langsam riesige Fragezeichen in seinem Gesicht bilden. Ein paar Mal öffnet er den Mund, wohl um mich nach den Gerichten zu fragen, lässt es aber jedes Mal doch wieder sein.
„Was darf es sein?“
Ich sehe überrascht auf. Vor mir steht eine genervte Bedienung in einem kurzen blauen Kleid, bereit meine Bestellung aufzunehmen.
Ich schätze die Frau auf etwa fünfundzwanzig. Eigentlich wäre sie ohne das völlig überschminkte Gesicht ganz schön.
„Hmm... für mich eine Orangenlimo und einen Hamburger mit Pommes und was möchtest du?“ Als Cloud mir nur einen hilflosen Blick zuwirft, bestelle ich einfach das Selbe für ihn.
Kaum ist sie wieder verschwunden frägt mich Cloud nach Michaels Auftritt.
Tja, was sagt man da am besten? Dass es sich bei Michael um Brians Bruder handelte, dass er mir vorwarf ihn in den Selbstmord, den meinen Eltern das Leben kostete, getrieben zu haben? Nach kurzem Überlegen sage ich ihm dann doch genau das. Zu meiner Überraschung nickt er nur und widmet sich der Einrichtung. Mir ist es nur Recht, ich habe ihn in nicht einmal drei Tagen näher an mich herangelassen als meine beiden Freundinnen in fast vier und neun Jahren.
„Sag mal, Kathi, gefällt euch so eine Art von Einrichtung etwa?“
Ich folge seinen Blick und sehe mich kurz um.
„Nein Cloud, das ist schlicht und einfach schlechter Geschmack.“
Cloud nickt darauf nur zustimmend und lässt seinen Blick noch einmal durch den Raum gleiten.
„Hm, was ist eigentlich ein Hammbörger?“
„Siehst du gleich.“, grinse ich einfach nur und lehne mich gemütlich zurück.


Cloud selbst schnaubte nur und setzte seine Musterung fort. Kaum zehn Minuten später steht die Bedienung wieder an unserem Tisch und stellt unsere Bestellung vor uns hin. Schnell bezahle ich sie und schon rauscht sie wieder ab. Clouds skeptischen Blick ignorierend biss ich herzhaft in meinen Burger und kaute genüsslich. Es gab doch nichts besseres als möglichst fettige Waren um Frust abzubauen. Wenn ich so über meinen Frust in letzter Zeit nachdenke wundert es mich dann doch etwas, dass ich noch so schlank war.
Cloud hebt nun vorsichtig seinen Burger aus dem Karton und beschnüffelt ihn erst einmal. Sein Gesicht zeigt weder dabei noch als er endlich reinbeißt die geringst Regung. Ich bin mir aber sicher, dass es ihm schmeckt, spätestens nachdem er so genüsslich zu kauen beginnt.
Tja, Tod junior steht auf Fastfood.
Nur mit den Pommes scheint er nicht so ganz Freundschaft schließen zu können. Um genau zu sein ignoriert er sie einfach, nur einmal kurz daran gerochen hat er. Naja, gut für mich. So stürze ich mich also auch auf seine Pommes. Zu meiner Schande muss ich sagen, dass ich zwei Tüten Pommes und einen Hamburger in der Zeit verdrücke, die Cloud braucht um seinen Hamburger zu beenden. Genüsslich leckt er sich alle zehn Finger ab und seufzt zufrieden.
„Hats geschmeckt?“ Bei meinen Worten kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Cloud hingegen sieht mich nur ruhig an und zuckt mit den Schultern.
„Es war sehr interessant mal etwas neues zu essen, aber allzu oft könnte ich dieses fettige Ding nicht essen.“
„Keine Sorge, musst du nicht. Normalerweise koche ich selbst.“
Wieder nur ein Nicken, scheint so, als wäre Clouds gesprächige Zeit vorbei. Seufzend erhebe ich mich.
„Na gut, dann lass uns langsam mal los gehen. Wir sollten daheim sein bevor es dunkel wird.“
Der Heimweg verlief – wie sollte es auch anders sein – wieder einmal sehr schweigsam. Trotzdem fühle ich mich in Clouds Nähe unglaublich wohl.
Ich sollte mich besser nicht zu sehr an ihn gewöhnen.
Früher oder später werde ich entweder verlassen oder verraten, immer.
Und so hänge ich die ganze Zeit meinen Gedanken nach und als wir endlich daheim ankommen hat meine Stimmung einen ganz neuen Tiefpunkt erreicht.

Der Abend dafür war eigentlich ganz ruhig. Das heißt, bis ich ihm den Fernseher zeige. Natürlich, sagt er, weiß er was das ist, er hat ja in Büchern davon gelesen. Allerdings als wir uns setzten um meine Serie, eine Krankenhausserie und Liebesdrama, klärt mich Cloud freundlicherweise drüber auf, dass die eine Patientin eigentlich gar nicht hätte überleben können, dass es wieder so typisch ist, dass das kleine Mädchen Mutter aus dem Wachkoma holt. Als die Ärztin dann noch heulend zusammenbricht, weil ihr Mann stirbt bekommt dieser Eisklotz doch tatsächlich einen Lachanfall. Wie konnte Mann nur so gefühlskalt sein. Seufzend tapse ich letzten Ende ins Bad um mich fertig zu machen, schnell packe ich dann noch meine Schulsachen für Morgen zusammen und kuschel mich in mein Bett. Keine fünf Minuten später betritt auch Cloud mein Zimmer (er trägt einen mir unbekannten dunkel grünen Schlafanzug) und legt sich neben mich ins Bett. Nach einem kurzen Gerangel schafft er es mir etwas Bettdecke streitig zu machen und so liegen wir jetzt Rücken an Rücken während ich langsam wegdämmere. Komisch wie normal es schon nach zwei Tagen geworden ist, sich ein Bett mit ihm zu teilen.
Mit diesem Gedanken schlafe ich ein, nicht wissend, welch Alptraum mich in nicht allzu ferner Zukunft erwarten wird.

Impressum

Texte: Ich muss ja nicht sagen, dass alle Rechte beim mir liegen, oder? ;)
Tag der Veröffentlichung: 12.12.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Fans des Tabu-ignorierens XD

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