Er war gerade dabei die Daten des naheliegenden Kernreaktors und deren Auswirkungen auf die einheimische Pflanzenwelt in der nahen Umgebung zusammenzutragen. Spätabends mussten diese Daten wie jede Erdenwoche in millionen von Kilometern Entfernung zum Aussenstützpunkt P9 gebracht werden. Die Gesamtauswertung der heiklen Daten wurden dort zusammengetragen und von Forschern und Wissenschaftler verarbeitet.
Doch mittlerweile war Herbst und die Zeit wurde knapp. Er wie auch hunderte von anderen hofften, mit den gesammelten Daten das bereits beschlossene Ende des Versuchs abzuwenden. Seit hundertausenden von Jahren wurde beobachtet, geleitet, inszeniert, untersucht und experimentiert. Sie alle waren in ihren Unternehmungen immer äusserst Vorsichtig. Als Wächter durfte man sich keine Fehler erlauben.
Nun hatten die Bogaren beschlossen das Enddatum des Versuchs trotz einiger Verbesserungen durchzusetzen und ihn endgültig abzubrechen. Dieser Entschluss war ihm persönlich nicht angenehm. Dieser Versuch hatte sein ganzes bisheriges Leben bestimmt und es bedrückte ihn, soviel Leben trotz all der Fehler, für immer zu vernichten. Nur noch vier Erdenmonate.
So zog er durch die herbstlichen Wälder vom Sektor S-11 im südlichen Mittelgebiet, welches schon seit Generationen von seinesgleichen bewacht, beobachtet und untersucht wurde. 26 Sektoren gehörten zu seinem Hoheitsgebiet und sie waren mitunter ein Teil der wichtigsten auf dem ganzen Planeten Erde. Im Teilbereich 1 waren sie fünf, die ihre Aufgabe erledigten. Auf dem ganzen Erdball waren es 120. 120 Wächter und er war einer von Ihnen.
Damals, vor fünfzig Jahren, hat es ihn nicht sonderlich gekümmert als nicht das erste Mal über den Erhalt oder die Zerstörung des Versuchs debattiert wurde. Doch je mehr sich dieser Entschluss bei den Bogaren bestätigte, je näher das Enddatum kam umso mehr hatte er sich in seine Arbeit vertieft. Er wollte Gründe finden, welche den Abbruch verhindern. Seine gesammelten Daten sprachen trotz seiner Bemühungen eine andere Sprache. Sie bestätigten die Aussagen der Bogaren. Der Abbruch war unausweichlich und bis vor kurzem hatte er sich still damit abgefunden. Aber bis vor kurzem, hatte er auch noch nie einen Fehler gemacht. Nein, bis dahin hatte er sich auch noch nie gezeigt.
Sie war vollkommen in ihren Gedanken vertieft. Wie fast jeden Abend, kurz vor Sonnenuntergang, spazierte sie durch die nahen Wälder, lauschte den Geräuschen des Waldes und folgte keinem besonderen Weg. Das Gehen tat ihr gut, es hatte ihr schon immer gut getan. Gedanken sortieren. Die Endlosschleife in ihrem Kopf hatte schon beim Verlassen des Hauses eingesetzt. Es musste sich wohl anfühlen wie die Meditation. Schritt für Schritt begann sich die Endlosschleife zu lösen und später, wenn sie wieder zuhause war, fühlte sie sich frei. Frei für neue Gedanken und kräftig, erholt und mental genügend ausgeruht um den nächsten Tag in Angriff zu nehmen.
Der Himmel über ihr färbte sich langsam orange. Es war noch nicht all zu spät. Im Herbst war das Licht besonders warm und tauchte die bunten Blätter in leuchtende rot, gelb und brauntöne. Der Waldboden hatte bereits den Geruch von verwesendem Laub. Pilze schossen überall aus dem Boden und zeigten nur für kurze Zeit ihr sonderbares Gesicht. Oft sah sie auch die Bewohner des Waldes. Hasen, Füchse, Rehe und viele Vögel. Ein Teil von ihnen war bereits unterwegs in den Süden. Aber manche, so dachte sie beunruhigt, flogen mittlerweile nicht mehr in den Süden, sondern in den Norden. Der Norden, der vermutlich dank der Erderwärmung, im Winter genauso mild war wie der Süden. Bloss war er nicht so weit entfernt. Manche Vögel wussten das und sie fragte sich, woher.
In ihrem eigenen Tempo schlenderte sie über Steine, Hügel, Böschungen, Waldwege, Wildpfade, Lichtungen und ab und an auch über Felder. Auf einer kleinen Anhöhe blieb sie regelmässig stehen. Von diesem Punkt aus konnte sie ihre Heimat überblicken und jedes Mal stellte sie sich vor, wie es wohl da vor hundert, zweihundert oder dreihundert Jahren wohl ausgesehen hatte. Nicht selten überkam sie ein Schauer. Ähnlich dem Gefühl wenn man zwei Bilder betrachtet die einen Gletscher zeigen. Zwischen den identischen Bildern lag vielleicht 30 Jahre aber das Aussehen war ein vollkommen anderes. Wie die Heimat wohl in weiteren hundert Jahren aussehen würde? Würden an diesem Ort wo sie gerade stand dann Häuser stehen? Wäre der Wald dann noch da wo er jetzt ist?
Kopfschüttelnd wand sie sich ab und lief weiter. Sie Sonne neigte sich langsam im Westen dem Horizont entgegen. Sie würde erst nach Sonnenuntergang wieder nach Hause gehen. Diese Zeit für sich und ihre Gedanken nahm sie sich regelmässig. Zuhause war einiges nicht so, wie sie es gerne gehabt hätte. Eigentlich hätte sie ihre Gedanken dafür einsetzten sollen und nicht für solche Nichtigkeiten wie die Flugroute von Vögel und das Aussehen in ihrer Umgebung. Aber vielleicht lag das auch einfach in ihrer Natur. Wichtiges auszublenden und Unwichtiges ins rechte Licht rücken.
Wichtig und Bedeutend hätte eigentlich ihre Beziehung sein sollen. Sie war nicht verheiratet. Wer heiratete in der heutigen Zeit eigentlich noch. Praktisch niemand und wenn doch, wurden ziemlich genau die Hälfte dieser Ehen innerhalb kürzester Zeit wieder geschieden. Heutzutage hatte man LAP’s, sogenannte LebensAbschnittsPartner. Ihr persönlicher LAP hiess Roger und sass womöglich noch im Labor. Nein, vielleicht ist er auch bei einer seiner Geliebten, dachte sie und rümpfte dabei die Nase. Er würde womöglich nicht vor 22.00 Uhr nach Hause kommen, wie so oft.
Ja sie war nicht zufrieden in ihrer Beziehung und doch war sie zu schwach oder auch zu faul Nägel mit Köpfen zu machen. Trotz der allgemeinen Emanzipation zu ihrer Zeit, fühlte sie sich in manchen Belangen als sehr Altmodisch. Das Thema heiraten zum Beispiel war für Roger ein rotes Tuch. Sie hingegen glaubte an die Ehe und fühlte sich im Gespräch mit anderen dabei oft wie eine sechsjährige und nicht wie eine dreissigjährige Frau. Aber eine Ehe mit Roger kam auch für sie nicht mehr in Frage. Eigentlich wartete sie nur noch auf den grossen Knall, wie man so schön sagt.
Nicht, dass sie jemand wäre, der besonders schnell aufgeben würde aber sie beide waren nun schon seit 5 Jahren ein Paar. Ein sehr gegensätzliches Paar, was zu Beginn wunderbar funktioniert hatte. Aber wie so oft bei zwischenmenschlichen Beziehungen kann dies nur so lagen funktionieren, wie beide Parteien sich Mühe geben. Manch andere, bestimmt jede emanzipierte Frau, dachte sie mit einer Spur von Galgenhumor, hätte Roger schon seit langem zum Teufel gejagt. Nein, nicht wegen belanglosen Dingen wie zerdrückte Mayonnaise Tuben, nicht heruntergeklappten Toilettendeckel oder herumliegende, stinkende Socken. Ihr ging es um andere Dinge. Die vielen Affären, welche sie ihm jedoch nicht nachweisen konnte. Die oft bewussten Demütigungen und die Ignoranz, welche von Monat zu Monat mehr wurde.
Vielleicht lag es auch an der schicken, neuen Eigentumswohnung, welche sie zusammen mit Roger vor zwei Jahren am Rande des Dorfes gekauft hatte. Sie hatte keine Ahnung wie sowas bei einer Trennung gehandhabt würde und hier, alleine im Wald, hatte sie schlicht und einfach Angst vor der Konfrontation. Ja im Wald und auf den Wiesen, da fand sie wieder zu sich selbst. Da war sie ängstlich, wütend, oft auch hysterisch, nachdenklich und ehrlich. Vielleicht sollte sie Roger mal mitnehmen zu so einem Spaziergang. Das letzte Mal als sie diesen Vorschlag gewagt hatte, meinte er sie solle sich einen Hund kaufen.
Ein Geräusch im Dickicht auf ihrer rechten Seite riss sie aus ihren Gedanken. Die Sonne war schon halb hinter dem flachen Horizont im Westen gesunken. Es wurde allmählich kühler und ihre Nase fühlte sich eiskalt an. Wahrscheinlich nur ein Tier, das in der Abenddämmerung sein Abendessen suchte, dachte sie sich und wünschte sich gleichzeitig den nichtvorhandenen Hund herbei. Selten aber in letzter Zeit immer öfter überkam sie urplötzlich ein Gefühl. Ein Geräusch oder auch ein Windhauch. Erst das Kribbeln im Nacken und dann die Haare auf ihren Armen, welche begannen zu Berge zu stehen. Sie fühlte sich beobachtet. Begonnen hatte es an diesem verfluchten Tag im Frühling im letzten Jahr als sie wie eine Wahnsinnige durch den Wald geprescht war. Ob sie wohl die Waldgeister geweckt hatte? Quatsch, rief sie sich zur Ordnung.
Keine Waldgeister, vermutlich nur ein Tier, versuchte sie sich zu beruhigen. Aber sie konnte nichts erkennen. Am Rande des schmalen Waldwegs waren Büsche und dahinter tiefe Tannenbäume, die dicht beieinander standen und selbst Tagsüber kaum Licht auf den kargen Waldboden fallen liessen. Das Geräusch, es war eigenartig gewesen, kein Rascheln und so schnell wie sie den Kopf gewendet hatte, so rasch war es auch wieder still geworden.
Da stand sie in ihrem dicken braunen Wintermantel und den abgetragenen Cordhosen. Sie trug Wanderschuhe und hatte eine Digitalkamera umgehängt. Ihr olivgrüner Hut hatte sie tief in ihr hübsches Gesicht gezogen. Darunter konnte er noch vage ihre Sommersprossen erkennen, welche bald kaum noch zu sehen waren wenn es Winter wurde. Ihr dunkelbraun gefärbtes Haar glänzte rötlich im schwindenden Sonnenlicht und die grünen Augen blickten fragend in seine Richtung. Sie hatte ihn gehört und dabei war er ihr so unendlich vorsichtig gefolgt. Er hatte sie schon oft gesehen, hier im Sektor S-11. Immer abends war sie unterwegs und immer etwa zur gleichen Zeit.
Vor etwa 18 Monaten ist sie ihm zum ersten Mal aufgefallen. Es war Frühling und seither hat er es sich zur Gewohnheit gemacht, den südlichen Mittelteil als letztes zu inspizieren bevor er sich auf den Weg zum Zwischenstützpunkt auf dem Erdentrabanten machte. Als gewöhnliche Spaziergängerin im Wald wäre sie ihm wohl niemals aufgefallen. Aber an dem Tag im Frühling war sie keine normale Besucherin des Waldes. Sie rannte und fluchte, tobte, riss Äste von den Bäumen, schrie und kam erst auf einer kleinen Lichtung zu Ruhe, als sie sich auf einen sterbenden Baum setzte, der am Waldboden lag und bereits mit Moos überwachsen war.
Stille Tränen hatte sie vergossen und er wäre am liebsten zu ihr hingegangen um sie in die Arme zu schliessen. Dies jedoch war unmöglich. Schlimmstenfalls würde es seinen Tod bedeuten und damit wäre ihr und allen anderen ganz und gar nicht gedient.
Gerade machte sie einen Schritt auf ihn zu, in seine Richtung. Vorsichtig zog er sich den Dhoga, den schwarzen Kapuzenumhang ins Gesicht und wurde unsichtbar.
Noch einmal schaute sie skeptisch in seine Richtung und rieb sich beide Oberarme. Er sollte vorsichtiger sein, mahnte er sich. Dann schüttelte sie den Kopf und nannte sich selbst verrückt bevor sie ihren Spaziergang durch den Wald fortsetzte. Ihre Stimme war ein Tick zu tief für eine Frau und ihr Gang konnte man nicht unbedingt als elegant bezeichnen. Sie war klein und hatte schulterlanges Haar das sie nun im gehen zurückwarf. Er sah noch wie sie wiederwillig die Richtung ansteuerte, welche zu ihrem Zuhause führen würde. Die Sonne war nun hinter dem Horizont verschwunden und ihm wurde bewusst, dass er sich nun auf den Weg machen sollte. Für keinen der Wächter, geschweige denn für jeden anderen seines Volks oder gar für die Bogaren wäre sie eine Nennung wert. Doch für ihn war sie etwas ganz besonderes, wenn er auch nicht sagen konnte warum.
Fünf Erdenminuten später auf dem Erdtrabanten, im schattigen Teil des Planeten, tief unter der Oberfläche stieg er aus seinem Liner. Er kontrollierte kurz alle Funktionen, hängte sein Gefährt an die Energiesynapsen in der Andockstation und begutachtete die Oberfläche seines Liners. Jeder Start und jede Landung auf der Erde war ein Wagnis. Doch dank der ganz gewöhnlichen Tarnoberfläche war es nicht all zu gefährlich. Die Erdenmenschen hatten diese Technologie bereits ebenfalls für sich entdeckt, zweitausend Jahre nachdem die Wächter sie zum ersten Mal benutzt hatten. Und dies auch nur weil sie ihnen, als letzten Ausweg, einer ihrer Liner in den hinterlassen hatten. Selbst dank dieses Hinweises, waren die Tarntechnologien der Erdenmenschen noch immer weit zurück. Wie viele andere Technologien ebenso.
Nun bewegte er sich auf die Schleusen zu. Dort legte er seine ganze Kleidung ab, trat durch die Schleuse und zog sich dahinter wieder an. Somit wurde gewährleistet, dass kein einziges Teilchen, egal ob synthetisch oder biologisch, in die Zwischenstation und somit zur Aussenstation oder gar nach Hause gelangen konnte. Danach setzte er sich an den Datentransfer im Zwischendock wo sich mehrere Bildschirme und Sitzgelegenheiten befanden. Ein paar andere Wächter waren bereits dabei ihre Daten zu übermitteln. Routinemässig legte er seine Hände auf die Konsole vor sich und blickte auf den Bildschirm geradeaus.
„Aiden Roderick Dale, Wächter Nr. 21, Sekundant Teilbereich 1, Europa, Danubiier im dritten Lebensquartal,Hautscan erfolgreich, Augenscan erfolgreich, sprechen zum bestätigen des Stimmscans.“ Kam die weibliche Stimme aus dem Lautsprecher, den nur er hören konnte.
„Aiden Roderick Dale, bestätigen.“ Gab er knapp Antwort.
„Bestätigt. Datentransfer wird vorbereitet, bitte um Zuordnung.“
„ Kernspaltungsdaten, Ozonwerte, Giftstoffe, Elektrizität, Radioaktivität, Sauersoff Analyse in Bezug auf Energie, Fremdstoffe, Abweichungen, Übersättigungen und Defizite aus Sektor S-11, 10, 9, 8, 7, 6, und 5.“
„Daten empfangen. Weiterleitung an Aussenstation erfolgreich beendet. Sie haben eine Nachricht von Ainsley Ludocus Bramson, Wächter Nr. 2, Oberster des Teilbereichs 1, Europa, Berater der Wächtervereinigung, Danubiier im fünften Lebensquartal. Wiedergabe im Vergangenheitsmodus, Annehmen?“
„Annehmen.“
„Hallo Rod, Ich muss Dir unbedingt etwas Wichtiges mitteilen. Leider ist es unmöglich dies über den üblichen Datenfluss zu tun. Mach dich schnellstmöglich auf den Weg zur Aussenstation. Wir treffen uns am üblichen Ort.“
Die Nachricht wurde vor 10 Stunden abgeschickt bemerkte Roderick. Der Flug zur Aussenstation betrug 36 Minuten. Er erhob sich von seinem Platz und ging zum Ausgang um in seiner Kabine alles für die Abreise vorzubereiten und noch ein wenig zu schlafen. Doch die Nachricht von Ainsley liess ihm keine Ruhe. Ainsley war sozusagen ein hohes Tier in seinem Volk. Er war Mitglied der Danubiier und hatte Zugang zu etlichen Informationen was den Versuch anging. Auch war er ein Gegner der Zerstörung des Versuchs jedoch nicht so offensichtliche wie viele andere Danubiier. Die Danubiier waren der direkte Gegenpol zu den Bogaren. Die Danubiier könnte man in Bezug auf den Genpol mit den Menschen auf der Erde in Verbindung bringen. Die Bogaren hingegen hinterliessen keine Objekte für den Versuch auf der Erde.
Diese beiden Gruppen bildeten sozusagen die Obermacht in seinem Volk, die Priesterei. Dazu gesellten sich jedoch noch andere Schichten, welche Versuchsobjekte auf der Erde hinterliessen und ebenfalls Mitspracherecht im Rat der Priesterei hatten. Maja, Inka, Indianer, Chinesen, Japaner, Kelten, Germanen, Wikinger, Afrikaner, Ägypter, Türken und etliche Völkergruppen mehr. Im Prinzip nicht andere Menschen wie sie auch auf der Erde lebten. Mit dem Unterschied, dass die Erdenbewohner nur ein winziger Teil des Ganzen waren, ihr Fortschritt zu wünschen übrig liess und auch sonst unterschieden sich sein Volk doch sehr von den Menschen. Ein Experiment im Reagenzglas, wie es die Bogaren so gerne formulierten.
Eine Kolonie mehr, welche nicht funktionierte und unnötige Energie, Aufmerksamkeit und Arbeitskraft verschwendete. Nun hatte der gesamte Rat der Priesterei, sehr zu Freude der Bogaren, beschlossen dem ein Ende zu setzen und zwar in genau vier Erdenmonaten. Leider waren die Danubiier in der Unterzahl, was den Beschluss anging. Also ob die Erdenmenschen sich ernsthaft darauf vorbereiten könnten wenn am Ende des Erdenjahres ihre Welt vernichtet wird und wahrscheinlich ein Krieg seines Volks in ihrer Heimat ausgetragen wird.
Zuhause angekommen schritt sie durch die grosse Eingangstüre zu ihrer Wohnungstüre im Erdgeschoss. Zugleich bemerkte sie, dass ihr Namenschild unter der Klingel wieder mal abgefallen war. Es lag vor ihr auf dem braunen Teppich der mit einem freundlichen „Welcome“ in blau bestückt war. Sie hob das weisse Schildchen mit den beiden Namen auf. Roger Lorenz und Milena Weimann. Das „und“ könnte man streichen, dachte sie und steckte das Schild in die Jackentasche. Natürlich war die Wohnungstür geschlossen. Roger war noch nicht zu Hause. Schnell schloss sie auf, trat in die Wohnung, schaltete das Licht im Eingang an und legte Mantel, Mütze, Schuhe und Kamera in die Garderobe.
Ihre Wohnung war sehr modern eingerichtet. Roger bestand darauf und trotz der Tatsache, dass sie selber bis vor kurzem als Dekorateurin gearbeitet hatte, liess sie ihm einfach so seine Willen. Ihr hätte eine Altbauwohnung mit antiken Landhausmöbeln viel besser gefallen. Soviel zum Thema Unterschiede zwischen ihnen und ihre eigene Durchsetzungskraft. Sie ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank auf der Suche nach einem Abendessen. Die Küche hatte weisse hochglanzfronten mit einem Holzbalken, ebenfalls glänzend, der sich durch die ganzen Fronten zog. In der gesamten Wohnung war ein Parkett verlegt aus demselben Holz wie in der Küchenfront.
Alle Wände waren weiss, langweilig weiss und die Möbel bestanden aus weissem Leder, weissem Holz, Glas und nochmal Glas, Edelstahl und Chromstahl. Wäre der Parkett nicht gewesen, Milena käme sich vor wie im Krankenhaus.
Unschlüssig was sie nun essen sollte, machte sie sich schlussendlich einen Salat und setzte sich mit einem Stück Brot im Mund und der Schüssel auf das Sofa um den Fernseher einzuschalten. Bei einer Tierdokumentation aus Sibirien blieb sie stehen. Nach einer Stunde, es war mittlerweile 22.00 Uhr wurde ihr kalt. Rasch stopfte sie die Schüssel und das Besteck in den Geschirrspüler und ging ins Bad um zu Duschen. Da sie nach der Dusche nicht das Gefühl hatte, schlafen zu können, ging sie ins Schlafzimmer, holte da ihren Thriller vom Nachttisch und setzte sich zurück ins Wohnzimmer um den Fernseher abzuschalten und sich die Augen müde zu lesen. Gegen 24.00 Uhr schlief sich schliesslich mit einer Decke und dem Buch auf der Brust ein.
Wenig später trat Roderick 600 Millionen Kilometer von der Erde entfernt auf der Aussenstation namens P9 in ein altes Gebäude mitten in der Innenstadt. Auf dem kleinen Planet gab es drei grosse Industriestädte die allesamt mit riesigen Laborkomplexen besiedelt waren. Fünf Kilometer über den Köpfen der hier stationierten Wissenschaftlern befand sich die Hülle der künstlichen Atmosphäre und darüber die Tarnvorrichtung. Eigentlich wurde diese noch nicht gebraucht, da die Menschen entgegen der Hoffnungen vieler, noch immer nicht im Stande waren mithilfe von Teleskopen die Aussenstation näher zu betrachten. Wahrscheinlich war die Tarnvorrichtung sowieso unnötig, dachte Roderick betrübt und schaute sich im Gebäude nach Ainsley um. Es war eine Taverne und im hinteren Bereich standen mehrere Tische und Stühle etwas abseits der restlichen Gäste, die heute Abend zahlreich waren. Die Stimmengeräusche nahmen ab als Roderick seinen Freund an einem der hinteren Tische erkannte.
Ainsley war in eine Akte vertieft, die er vor sich auf den Tisch gelegt hatte. Er trug eine braune Cordhose und eine grüne wollene Jacke. Sein Bein wippte stetig auf und ab. Er schien nervös zu sein. Als er Roderick bemerkte schaute er überrascht auf.
„ Na endlich! Komm setzt dich. Wie geht es dir?“ begrüsste ihn Ainsley und wurde bei der letzten Bemerkung ganz leise. Roderick setzte sich und schaute ihm in die haselnussbraunen Augen, die von seiner schwarzen Brille, welche er eigentlich gar nicht brauchte, umrandet wurden. Er schien gesund, hatte eine gute Gesichtsfarbe, vielleicht ein wenig hecktisch und bis auf die paar einzelnen grauen Strähnen in seinem etwas längerem gelocktem Haar machte er einen stimmigen Eindruck auf Roderick. Was mag ihn also so aus der Ruhe bringen, dachte sich der jüngere und setzte zu einer Entschuldigung an.
„ Es tut mir Leid Ainsley. Ich hab deine Nachricht erst vor einer Stunde erhalten und hab mich anschliessend gleich auf den Weg gemacht. Was ist los?“
„ Pha, ist schon in Ordnung. Eine Menge ist los meine Junge. Ist Dir jemand gefolgt?“ Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und er schaute unsicher in Richtung Eingang.
„ Nein, warum sollte mir jemand folgen und vor allem wer?“ fragte Roderick nun völlig verwirrt. Ainsley machte ansonsten nie einen solch fahrigen Eindruck. Er war sonst immer die Ruhe in Person.
„ Also gut, hör mit genau zu. Ich hab beunruhigende Neuigkeiten aus der Priesterei. Es gab Vermutungen und jede Menge Klatsch wie du ja sicher auch weisst. Gerade in Anbetracht dessen, dass ein baldiges Ende des Versuchs praktisch vor der Tür steht. Aber nun“, betonte Ainsley und beugte sich dichter vor. „ Ich kenne einige Leute und ich hab etliche Informanten. Roderick du bist in Gefahr. Ich hab nun auch Beweise.“ Erzählte der Ältere weiter und räusperte sich.
Roderick sah ihn fragend an und bemerkte erst da, dass die Bedienung an den Tisch getreten war um seine Bestellung aufzunehmen. Ainsley neigte seinen Kopf kurz nach links zur Bedienung um ihm zu verstehen zu geben er solle was bestellen.
„ Einen doppelten JInas bitte“, gab er der Frau zu verstehen, schaute jedoch nachwievor zu seinem Freund. So wie es ausschaut brauchte er etwas stärkeres heute. „ Gute Wahl“, sagte Ainsley dann auch prompt. Sobald die Bedienung wieder verschwunden war setzte Roderick zu einer weiteren Frage an.
„ Warum bin ich in Gefahr und von was für Beweisen sprichst du? Welche Vermutungen meinst du und überhaupt, ich wusste nicht, dass du all dem Geschwätz in der Priesterei überhaupt grosse Beachtung schenkst“, endete Roderick bedeutungsschwer und zog seine linke Augenbraue hoch.
„ Paperlapapp, von wegen Geschwätz! Bei jedem Gerücht ist immer etwas Wahres dabei mein Junge und jetzt hör mir zu. Der Versuch wird sabotiert und zwar schon seit längerer Zeit. All die schlechten Prognosen und die vielen negativen Daten. Ganz zu schweigen von den fragwürdigen Erfindungen. Das alles waren nicht die Menschen.“ Meinte Ainsley und stiess sich mit der Hand die Brille auf dem Nasenrücken zurecht, welche immer wieder auf die Spitze runterrutschte. „ Wer war es dann?“ Viel Roderick ihm ins Wort.
„ Spione.“
„ Spione? Was für Spione?“
„ Bogaren“, flüsterte Ainsley und schob ihm ein Dokument aus seiner Mappe über den Tisch.
Roderick nahm das Dokument und legte es zu seiner linken Seite auf die Sitzbank. Er überflog es rasch und konnte erkennen, dass es ich dabei um eine Kopie einer schriftlichen Nachricht vom Zentralrechner der Priesterei handelte. In der Kopfzeile war das Logo der Priesterei mit dem Hinweis der Sicherheitsstufe zu sehen. Meine Güte, das Dokument ist nur für den inneren Zirkel der Bogaren einsehbar. Es handelte sich um eine Namensliste. Männer und Frauen in diversen Teilen der Erde stationiert. Aber es waren keine Wächter, er kannte jeden Wächter persönlich. Was also hatten die Leute auf der Erde zu suchen. Es war verboten sich da ohne in Begleitung eines Wächters aufzuhalten. Selbst Wissenschaftler mussten dafür Anträge stellen und bekamen sie nicht immer genehmigt. Kopfschüttelnd schaute er hoch zu Ainsley, der ihn gerade unter dem Tisch mit seinem Bein getreten hatte. Die Bedienung war zurück.
Kurzerhand setzte sich Roderick auf das Dokument und legte seine Arme auf den Tisch. Als die Frau wieder verschwunden war, genehmigte er sich einen tiefen Schluck seines Jinas.
„ Das ist nur die erste Seite meine Junge, ich hab noch dreissig weitere mit Namen und Aufenthaltsorten. Dazu kommen mehrere Dokumente mit Einsatzbefehlen, Eliminierungsaufträgen und Vertuschungsoperationen. Ich bin da auf was enorm Grosses gestossen mein Freund und eigentlich sollte ich mich da überhaupt nicht einmischen. Zumal das Ende wahrlich nicht mehr aufzuhalten ist. Sie haben wirklich ganze Arbeit geleistet. Das ist Spionage auf allerhöchstem Niveau und noch hat es keinem von uns geschadet. Bis jetzt“, schloss er und schaute Roderick in die Augen.
„ Bis jetzt? Du meinst, die wollen mir etwas antun?“ Erwiderte dieser selbstsicher. „Warum sollten sie? Natürlich, ich weiss nun von deren Existenz aber da bin ich ja nicht alleine,“ fuhr er weiter und hob erneut sein Glas.
„ Die junge Frau Roderick…“ Beinahe hätte er sich an seinem Jinas verschluckt.
„ Was hat das mit ihr zu tun?“ Fragte er und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. „ Ich hab nur dir von ihr erzählt und viel zu erzählen gibt es da ja auch gar nicht“, fuhr er weiter. Wurde jedoch von Ainsley unterbrochen.
„ Das stimmt, du bist sehr schweigsam was sie angeht, was auch richtig ist aber ich kenn dich Rod und ich bin mir verdammt sicher, dass du mehr als üblich deine Kontrollrunden in ihren Sektor verlegst. Aber was noch viel wichtiger ist, sie wissen ebenfalls von ihr und sie wissen, dass du…“
„ Was wissen sie von ihr? Warum kümmert es sie überhaupt? Sie ist doch ein ganz normaler langweiliger Mensch wie fast jeder andere auf dem Planeten.“ Unterbrach Roderick ihn und wurde zunehmend wütend.
„ Sie beobachten sie schon seit längerem. Anscheinend wissen sie etwas über sie, was du nicht weist und nun stehst auch du unter Beobachtung. Einen winzigen kleinen Fehler mein Junge und sie werden dich umbringen. Du kennst die Regeln und deren Konsequenzen. In dieser Situation ist es umso wichtiger, dass du sie auch befolgst. Verstehst du mich?!“ Fuhr Aynsley drängend fort.
Roderick nickte und nahm einen letzten Schluck. „ Ist das alles?“
„Vorerst ja, treffen wir uns morgen früh in meinem Labor. Es gibt da noch ein paar Dinge, die ich dir sagen muss.“
Roderick bejahte, holte das Dokument hervor und gab es Ainsley zurück. Schweigend verabschiedete er sich und verliess lautlos die Taverne.
Kurz vor neun Uhr wachte Milena auf dem Sofa im Wohnzimmer auf. Als sie sich aufsetzte viel ihr Buch zu Boden. Müde hob sie es auf und legte es auf den kleinen Tisch vor dem Sofa. Ihr Blick ging zur Garderobe. Keine Jacke war zu sehen bis auf ihre eigene. Roger war also nicht nach Hause gekommen. Seufzend stand sie auf und ging in Richtung Badezimmer. Als sie beim Telefon vorbeikam, sah sie dass jemand auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte. Kurzerhand drückte sie die Wiedergabetaste.
„ Milli ich bin es, Roger. Tut mir Leid, dass ich nicht nach Hause gekommen bin, aber wir haben enorm viel zu tun hier im Labor. Ich sehe dich heute Abend. Bis dann.“
Heute Abend? Dachte sie verwirrt. Heute ist doch Samstag und samstags geht er doch immer mit seinen Arbeitskollegen einen trinken. War etwa ihr gemeinsamer Jahrestag? Nein, der war vor zwei Monaten und den feiern sie seit zwei Jahren nicht mehr. Hatte er etwa ein schlechtes Gewissen? Unmöglich!
Kopfschüttelnd ging sie ins Bad und zog eine schwarze Jeans, sowie einen grauen dünnen Pullover an, putzte sich die Zähne und kramte in ihrer Kiste nach ein paar Kosmetikutensilien. Nachdem sie sich fertig gemacht hatte, schnappte sie sich ihre Tasche, die Jacke und den Autoschlüssel und verliess die Wohnung.
Gerade als sie in der Tiefgarage in ihr Auto steigen wollte, hob sich das Garagentor und Roger kam ihr mit seinem Auto entgegen. Kurzerhand wartete sie vor ihrem Auto und fragte sich, was er wohl zu dieser frühen Stunde hier verloren habe. Roger hielt sein Auto direkt neben ihr und liess das Fahrerfenster hinunter.
„ Was hast du vor? Wo willst du hin?“ Fragte er sie barsch.
„ Ich wollte nur kurz in die Stadt fahren um ein paar Besorgungen zu machen. Warum fragst du? Und was machst du um diese Zeit hier? Ich dachte du kommst erst abends nach Hause.“ Antwortete Milena perplex.
„ Ich muss mit dir reden, komm steig ein. Wir gehen einen Kaffee trinken. Deine Besorgungen kannst du auch anschliessend noch machen.“ Bestimmte er und liess das Fenster wieder hochfahren.
Irritiert ging sie um den schwarzen Audi herum und öffnete die Beifahrertüre um einzusteigen. Nachdem sie die Tiefgarage verlassen hatten fuhren sie erst auf der Landstrasse in Richtung Stadt. Zehn Minuten später hatten sie die Stadt erreicht und parkten unweit eines kleinen Bistros. Während der Fahrt hatten sie kein einziges Wort gewechselt. Im Bistro angekommen setzten sie sich an einen freien Tisch und bestellten zwei Kaffee.
„ Also gut, erzähl. Was möchtest du mit mir besprechen. Muss ja was ganz dringendes sein wenn du zu dieser Zeit und bei all deiner Arbeit …“
„ Jetzt komm mir nicht damit!“ Herrschte er sie an. „ Ich hab mir Sorgen um dich gemacht und ich bin eigentlich davon ausgegangen, nachdem du meinen Anruf gesehen hast, du würdest mich zurückrufen.“ Meinte er vorwurfsvoll.
„ Wie oft hab ich dich schon angerufen und du hast dich nicht zurück gemeldet? Nicht selten war ich diejenige die krank vor Sorge zu Hause sass und mich fragte was mein lieber Freund wohl schon wieder treiben mag!“ Entgegnete sie wütend. Daraufhin senkte er seinen blonden Kopf und atmete zwei Mal tief ein.
„ Lass uns jetzt bitte nicht streiten.“ Gab er in einem sanften Ton zu verstehen, den sie von ihm nur sehr selten zu hören bekam also schwieg sie und verschränkte die Arme vor der Brust nur um ihn herausfordernd anzufunkeln. Heute würde sie nicht kleinbeigeben. Sie hatte ein für allemal genug. Er hob seinen Kopf und musterte sie neugierig ob ihrer Reaktion. Als seine braunen Augen die ihren fixierten fuhr er fort.
„ Du gehst doch immer am Dorfrand spazieren, jeden Abend wie ich weiss.“ Erstaunt erwiderte sie seinen stechenden Blick. Sie hatte ihm zwar erzählt, dass sie oft und gerne spazieren geht aber nicht wann und wo.
„ Nun, es ist so. Gestern wurde bei uns eine Leiche abgeliefert…“
„ Eine Leiche? Bei euch im Labor?“ Unterbrach sie ihn überrascht. Er sprach selten von seiner Arbeit. Sie wusste, dass er Wissenschaftler war und in einer Einrichtung in dieser Stadt arbeitete. Zwar ging sie davon aus, dass zur allgemeinen Biologie auch der Mensch gehört aber eine Leiche?
„ Wir haben verschiedene Teilbereiche in unserer Einrichtung. Unter anderem eine Abteilung für Obduktionen.“ Beantwortete er ihre Fragen. „ Gestern wurde eine weibliche Leiche zu einem meiner Kollegen gebracht. Die Frau wurde brutal misshandelt und anschliessend umgebracht. Man konnte sie erst nach diversen Untersuchungen identifizieren, so schrecklich war sie zugerichtet.“ Milena schlug sich die Hand vor den Mund und starrte Roger an. „ Du hast die Leiche gesehen?“
„ Nein, mein Kollege hat mir davon erzählt. Deswegen wurde es auch so spät gestern Abend. Aber was noch viel schlimmer ist Milli, der Mord geschah genau in dem Wald in dem du tagtäglich rumspazierst!“ Betonte Roger und fasste nach ihrer freien Hand, die auf dem kleinen Tisch vor ihnen gelegen hatte.
„ Was? Oh Gott!“ Gab diese nur kleinlaut von sich.
„ Ist dir in letzter Zeit irgendwas aufgefallen da draussen? Ich meine jetzt nicht die Spaziergänger und Hundebesitzer die du immer antriffst. Irgendein Fremder?“
„ Nein.“ Antwortete sie und schaute weg. Natürlich dachte sie an ihr Gefühl, beobachtet zu werden aber das Gefühl hatte sie schon über ein Jahr lang. Und die Geräusche manchmal, daran dachte sie auch aber die waren ebenso alltäglich wie die Spaziergänger und Hundebesitzer die sie immer traf. Schliesslich war es ein Wald voll mit Tieren.
„Bist du dir ganz sicher? Die getötete Frau war in deinem Alter, gleiche Grösse und ähnliche Haar- und Augenfarbe.
„ Kannte ich sie?“ Fragte sie unsicher.
„ Woher soll ich das wissen!“ Antwortete er mürrisch.
„ Wie ist ihr Name?“
„ Ich weiss es nicht, ist schliesslich nicht meine Leiche.“ Gab er plump zurück.
„ Na davon gehe ich aus.“ Versuchte sie locker zu entgegnen und erntete dafür einen ganz eigenartigen Blick.
„ Also gut, du hast also nichts bemerkt. Gut so, ich will mir nicht vorstellen, dass dir irgendein Perverser im Wald auflauert. Ich verbiete dir weiterhin spazieren zu gehen Milli!“
„ Wie bitte? Du verbietest es mir? Ich kann ja verstehen, dass du dir Sorgen machst aber der Wald am Dorfrand und die ganzen Wiesen sind riesig…“
„ Keine Wiederrede, bis der Täter gefasst ist verlässt du die Wohnung nur noch um in die Stadt zu fahren, hast du mich verstanden?“ Doch Milena antwortete nicht.
„ Ob du mich verstanden hast!?“ Hackte er laut nach und sie nickte stumm.
Kurz darauf hatten sie ihren Kaffee ausgetrunken und Roger verabschiedete sich mit der Begründung er müsse dringend wieder in das Labor zurück. Milena liess er beim Bistro stehen und meinte, sie könne ja mit dem Bus nach Hause fahren. Ach, alleine in der Stadt herumgehen und alleine mit dem Bus nach Hause fahren ist also kein Problem aber wehe ich gehe alleine in den Wald, dachte sie und steuerte in Richtung Einkaufszentrum um ihre Besorgungen zu erledigen. Wütend dachte sie daran, wie sie später mit vollbepackten Taschen in den überfüllten Bus steigen muss. So ein Egoist, fluchte sie laut und zog einige überraschte Blicke von anderen Passanten auf sich.
Am selben Abend im besagten Wald beendete Roderick seinen kurzen Rundgang im mittleren Teilbereich von Sektor S-11. Die Unterredung mit Ainsley heute Morgen hatte fast bis zum Mittag gedauert. Umso kürzer war heute seine Route und er hatte nur schnell alle Hauptdaten zusammengetragen. Eigentlich war er todmüde und freute sich auf seine Kabine auf der Zwischenstation. Er war noch immer fassungslos über all die Enthüllungen, die Ainsley ihm heute anvertraut hatte. Spione, boganische Spione und dies schon seit mehreren Jahren, einfach unglaublich. Dazu noch die Tatsache, dass er beschattet wurde. Als ob das nützlich wäre, sinnierte er. Schliesslich wurde ihm, wie jedem Wächter, ein Sender implantiert der verhindert, dass er mit den Menschen in Kontakt treten konnte. Naja, verhindern ist vielleicht das falsche Wort aber sobald er mit einem Menschen in Kontakt tritt geht augenblicklich eine Warnung an den Berater der Wächtervereinigung der sofort den Wächtergeneral informiert.
Danach würde es keine fünf Minuten dauern und er wäre in Gefangenschaft und auf dem Weg nach Hause in das nächstbeste Gefängnis. Seine Arbeit wäre er natürlich los, wobei er diese ja sowieso bald verlieren würde wenn nicht schon ein anderes Projekt für ihn bereitstehen würde. Je nachdem wie schwerwiegend das Vergehen der Kontaktaufnahme ist und wie einfach es sein wird dem betroffenen Menschen Vergessen beizubringen konnte es gut sein, dass es sogar tödlich für ihn sein würde. Er wäre nicht der erste Wächter, der genau deswegen sterben müsste. Einziger Vorteil wäre, dass der Berater der Wächtervereinigung sein bester Freund Ainsley ist.
Wo war sie nur? Fragte er sich plötzlich als er bei der Anhöhe vorbeikam, wo sie sonst immer stehen blieb. Der Himmel war heute bedeckt doch das Licht wurde immer weniger. Sie ging doch immer erst nach Hause wenn es schon dunkel war. Ob ihr wohl was passiert ist? Ihre Wohnung befand sich ausserhalb des Dorfes, das wusste er. Und er wusste auch welche der vielen Wohnungen die ihre war. Kurzerhand machte er sich auf den Weg zum besagten Gebäude und schwor sich, dies nur zu tun um zu sehen ob es ihr gut geht oder ob sie in Gefahr ist. Dummkopf, schimpfte er sich. Auch wenn sie in Gefahr wäre, könnte ich ihr nicht helfen. Wobei, so einige Tricks hatte er sich in seinem langen Leben bereits beigebracht.
Die Einkäufe waren verstaut, die Küche geputzt, die Wäsche gemacht und der Boden gesaugt. Eigentlich, sinnierte Milena, könnte er jetzt nach Hause kommen. Verstohlen blickte sie zur Uhr an der Wand. Elf Uhr bereits und noch keine Spur von Roger. Sie war schon wütend, als sie alleine zu Abend essen musste. Schliesslich hatte er gesagt, er sei heute Abend hier. Endtäuscht nahm sie einen grossen Schluck aus ihrem Glas, dass sie hielt. Der Rotwein war ausgezeichnet. Schmunzelnd blickte sie vom Sofa auf die fast leere Flasche auf dem Tisch vor ihr. Ich brauche keinen Roger, sagte sie sich und kippte den Rest des Weins auch noch hinunter. Wenn er heute nach Hause kommt, wenn er überhaupt wieder einmal nach Hause kommt, dachte sie, dann mache ich mit dem ganzen Theater Schluss. Wütend unterrückte sie die Tränen, die sich bereits in ihren Augen sammelten.
Es war nicht einfach eine so lange Beziehung einfach hinzuschmeissen. Aber es war doch schon gar keine echte Beziehung mehr, korrigierte sie sich. Langsam, mittlerweile war ihr schon ziemlich schwindlig, stellte sie das Glas zur Flasche auf den Tisch und schnappte sich die Fernbedienung um den Fernseher einzuschalten. Gerade war sie bei einem alten Horrorfilm angelangt als ihr Handy klingelte. Ihr Handy befand sich auf dem Sideboard am anderen Ende des Sofas und so stand sie wankend auf und blickte auf das Display. Roger blinkte da in schwarzen Lettern auf. Schnell hob sie das Handy ans Ohr nur um es kurzerhand wieder von ihrem Ohr zu entfernen und den Anruf mit einem leichten Druck auf das Display anzunehmen. Was ein wenig Alkohol alles bewirken kann, kicherte sie vor sich hin.
„ Ja? Roger? Hallo?“ Sprach sie, doch bis auf ein Rauschen war nichts zu hören.
Na toll, dachte sie. Im Fernsehen läuft gerade Scream und mein Freund versucht mich zu veralbern. Jetzt fehlt nur noch, dass so eine computerstimme in das Handy flüstert und fragt wer da sei, grummelte sie vor sich hin.
„ Roger!!!“ Sagte sie diesmal deutlich lauter, dann ein knacken und knirschen.
„ Ja Baby, du hast mir auch gefehlt.“ Konnte sie vage hören und sie erkannte die Stimme von Roger aber das war garantiert nicht sie, die gemeint war.
„ Du mir auch, komm lass uns wieder einmal Spass zusammen haben, es ist schon so lange her. Ich musste viel zu lange im Sektor NY-2 verbringen und dumme Wächter ausspionieren. Ich kann ein wenig Ablenkung gut gebrauchen.“
Sektor wie viel und was für Wächter? Hat er sich nun etwa mit einer Gefängniswärterin eingelassen? Oder sogar mit einer Insassin? Weiblich war die Stimme allemal, dachte Milena und begann vor Wut kaum merklich zu zittern.
„ Mein armes Baby, lass dich ansehen, ich weiss wie zermürbend das ist aber du weisst ja, nicht mehr lange und alles ist vorbei. Dann können wir gemeinsam nach Hause zurück kehren und unsere Luxuskörper vollkommen geniessen.“
Luxuskörper? Na gut, gestand Milena sich ein, Roger war ein Traum von einem Mann und sie hatte sich immer wieder gefragt wie sich so ein menschgewordener Gott mit einer grauen Maus wie ihr abgeben kann. Nur, man kann doch alles übertreiben oder nicht? Hört sich fast so an, als würde ihr die Entscheidung mit ihm Schluss zu machen bereits abgenommen. Sie drückte das Handy näher an ihr Ohr, setzte sich auf das Sofa und stellte den Fernseher leiser. Hinter dem Fernseher war die grosse Fensterfront wo sie sich selbst erkennen konnte und dahinter war die riesige Terrasse die zu ihrer Wohnung gehörte.
„ Ich weiss und ich sollte ja nicht klagen, schliesslich muss ich nicht mit so einem widerlichen Mensch ins Bett gehen. Das muss ja sowas von eklig sein, all das Fett, die schrumpelige Haut, die Haare und der Mundgeruch. Du tust mir wahnsinnig Leid Roger.“ Ertönte wieder die weibliche Stimme in einem süsslichen Singsang.
Ok das war nun gar nicht mehr nett, beschied Milena und betrachtete sich prüfend im Spiegelbild der Fenster. War da ein Schatten?
„ Ich muss dir nicht leidtun, ich schlafe schon lange nicht mehr mit diesem grässlichen Versuchsobjekt. Wäre ja noch schöner wenn daraus noch ein weiterer Mensch entstanden wäre, als ob es von diesen Parasiten nicht schon genug geben würde.“
Als Versuchsobjekt sieht er mich also! Ja wir schlafen schon lange nicht mehr miteinander aus dem einfachen Grund weil ich nicht gleichzeitig mit all seinen Geliebten ins Bett steigen möchte, dachte Milena zornig und biss die Zähne aufeinander.
„ Bald gibt es überhaupt keine Menschen mehr, nur noch…….
Abrupt brach die Verbindung ab und nicht nur das, der Fernseher implodierte, die Lichter flackerten noch kurz und gingen dann aus. Sämtliche Elektrizität war wie weggeblasen und Milena hatte ein komisches wummern im Ohr und auf einen Schlag entsetzliche Kopfschmerzen. Das Handy in ihrer Hand fühlte sich siedend heiss an und sie liess es auf den Parkettboden fallen. Kerzen, irgendwo hab ich noch Kerzen in der Wohnung, dachte sie flüchtig und erhob sich vom Sofa. Als sie den ersten Schritt machen wollte, rutschte sie auf dem fallengelassenen Handy aus und fiel vornüber auf den Tisch mit dem Weinglas und der Flasche mit dem restlichen Wein darin. Laut Krachend brach das fragile Tischchen unter ihrem Gewicht zusammen.
„ Verdammte Scheisse.“ Fluchte Milena, was sie sonst eher selten tat und tastete sich vorsichtig um. Sie spürte ein paar kleine Schnitte in ihrer Handfläche und richtete sich langsam auf. In dem Moment flackerte das Licht in unregelmässigen Abständen auf und Milena schaute sich verwirrt um. Unscharf sah sie bei der Fensterfront erneut einen Schatten und dann hielt sie sich die Hände vor die schmerzenden Augen. Das flackern des Lichts und ihre plötzlichen Kopfschmerzen liessen sie bewegungslos stehen bleiben.
Sekundenbruchteile später war der Strom wieder weg und gerade als sie die Hände von den Augen nehmen wollte spürte sie eine noch nie dagewesene Wärme. Sie war überall, auf ihrem Kopf, den Händen, dem Oberkörper, den Beinen und sogar an den Füssen war ihr auf einmal sonderbar warm. War etwa das Handy in Brand geraten und stand sie nun in Flammen? Nein, beschied sie, das würde sich bestimmt anders anfühlen aber einen schwachen Geruch nach Rauch konnte sie riechen, was wahrscheinlich vom Fernseher stammte. Und noch was, eine Mischung aus Wald, Harz, Pilzen, nasses Laub und Mann. Mann? Gerade wollte sie die Hände von ihren Augen nehmen als sie ein leises Flüstern rau und tief an ihrem Ohr vernahm.
„ Nicht.“
Mein Gott, sie war nicht alleine! Der Mörder war bestimmt über die Terrasse in ihre Wohnung eingebrochen und hat ihre Stromversorgung gekappt um nun, nein sie durfte nicht daran denken, was er alles mit ihr anstellen würde bevor er sie tötet. Sie rührte sich keinen Millimeter und dachte angestrengt nach, konzentrierte sich um herauszufinden woher genau die Stimme gekommen ist um den Angreifer auszumachen. Vielleicht konnte sie ihn durch einen gezielten Tritt in die Weichteile unschädlich machen. Sie hatte die Gedankengänge noch nicht beendet als die Wärme nach und nach verebbte. Daraufhin spürte sie einen kühlen Lufthauch an ihren Beinen und Sekunden später ging das Licht an. Der Fernseher lief, das Handy war ganz, ihre Kopfschmerzen wie weggeblasen, keine Schnitte an den Handflächen und auch die Weinflasche und das Glas standen wieder auf dem völlig intakten Tisch.
Ich bin eindeutig betrunken. So betrunken war ich schon lange nicht mehr, murmelte sie und setzt sich vorsichtig auf das Sofa. Habe ich mir das nur eingebildet? Rasch hob sie das Handy vom Boden und klickte sich durch das Anrufer Menü. Der Anruf von Roger war verschwunden. Das muss ein Blackout gewesen sein, bestimmte sie und legte das Handy auf den Tisch. Ich muss dringend ein wenig schlafen. Leicht schwankend beförderte sie das Glas und die Flasche in die Küche um danach in das Schlafzimmer zu torkeln. Augenblicklich schlief sie ein und träumte von Mördern, Geistern, Blitzen Feuer und schwarzer Lava die alles was sie berührt einsaugt, restlos.
Die Meldung war raus, er konnte es spüren bevor er das eine Wort über die Lippen gebracht hatte. Doch die Minuten verstrichen und es blieb ruhig um ihn herum. Nach einer Stunde entschloss sich Roderick auf die Zwischenstation zurück zu kehren. Nachdem er durch die Schleusen gegangen war und seine Daten abgeliefert hatte wurde er in seiner Kabine bereits erwartet. Ainsley sass nachdenklich auf seinem Bett und musterte ihn kritisch als er eintrat.
„ Was hast du dir nur dabei gedacht.“ Murmelte Ainsley und schüttelte kaum merklich den Kopf. „ So bald nachdem ich dich gewarnt hatte mein Junge.“ Meinte er und stand auf um Roderick in die Augen zu sehen. Er war in etwa gleich gross wie er und sie beide waren alles andere als klein.
„ Ich werde mich nicht dafür entschuldigen. Anders und vorsichtiger hätte ich nicht handeln können. Der Anruf…“ wollte er ansetzten, wurde jedoch jäh unterbrochen.
„ Hat dir das Leben gerettet mein Lieber.“ Beendete Ainsley den Satz für ihn.
„ Wie das?“
„ Indem du verhindert hat, dass die junge Frau vom Ende des Versuchs erfährt, was für sie gleichbedeutend ist wie der Weltuntergang, hast du dein Handeln der Situation entsprechend angepasst und somit rechtmässig gemacht. Ich habe die Meldung erhalten und wollte sie, ehrlich gesagt, löschen. Dies ist jedoch nur möglich wenn ich darauf vorbereitet bin und das war ich nicht. Nicht nachdem ich dich explizit darauf hingewiesen habe aber egal. Die Meldung wurde automatisch an den Wächtergeneral weitergeleitet. Dieser befand dein Handeln für rechtens und löschte somit die Meldung. Glück gehabt mein Junge.“ Schmunzelte Ainsley und klopfte dem jüngeren kameradschaftlich auf die Schultern um daraufhin die Türe zur Kabine zu öffnen.
„ Ich wünsch dir eine angenehme Nachtruhe und lass die Finger von der Frau mein Guter, das nimmt sonst kein gutes Ende für uns.“
Mit diesen Worten schloss er die Kabinentür. Roderick liess sich auf das Bett fallen und starrte an die Glaskuppel über seinem Kopf. Sterne blinkten überall und langsam begann sich auch sein Puls zu beruhigen.
So weit entfernt und doch so nah. Wie warm sie sich anfühlt und wie sie riecht! Aber Ainsley hat recht. Ich muss mich von ihr fernhalten. Ich kann weder den Abbruch verhindern noch gäbe es sonst irgendeine Möglichkeit um mit ihr in Kontakt zu sein. Eine Schande wie dieser Roger von ihr gesprochen hat. Ein richtiger Boganer! Aber wie kann er mit den Menschen in Kontakt treten ohne gemeldet zu werden? Unmöglich dass er sich den Sensor entfernen liess. Dies wäre sein sicherer Tod gewesen. Und doch laufen anscheinend mehrere Boganer als Spione auf der Erde umher und treten täglich mit den Menschen in Kontakt. Vermutlich haben sie gar keine Sensoren, mutmasste er und legte sich die Arme unter den Hinterkopf. Der Sender wird einem Wächter an die Herzaussenwand implantiert. Wird er entfernt, zerstört er das Herz, indem die Spindeln, an denen der Sensor am Herz befestigt ist, Giftsäure freisetzen. Innert Sekunden ist man Tod. Aber die Wächter haben dies alle selber entschieden. Es war damals sogar ihre eigene Erfindung. Sozusagen als Eigenschutz vor dem Versuch.
Roderick hing noch lange seinen Gedanken nach, bis er schlussendlich in einen unruhigen Schlaf viel.
Tag der Veröffentlichung: 30.01.2012
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