Darleen Alexander
Wölfe
der
ewigen Nacht
Roman
Prolog
Wo ist der Wind? Ihr war so, als wäre sie gerade eben noch gerannt. Ihre Haare, nein, ihr Fell hatte sich im eisigen Wind hin und her bewegt. Und sie hatte den Schnee und das Eis unter ihren Pfoten gespürt. Pfoten? Ein leichtes Kribbeln wanderte ihre Füße und ihre Hände empor.
Wovor floh sie eigentlich? Oder war es keine Flucht, sondern eine Jagd?
Das Bild eines weißen Hasen huschte durch ihren Kopf. Seltsam. Sie spürte einen harten Aufprall und geriet dann irgendwie in Bewegung. War sie gestürzt? Auf einmal breitete sich ein brennender Schmerz rasend schnell in ihrem Körper aus. Zuerst explodierte er in ihrer Schulter, dann in ihrem Kopf und schließlich überall.
Die Bewegung, die den Schmerz begleitete, hörte auf einmal genau so abrupt auf, wie sie begonnen hatte. Die unglaubliche Hitze, die sie eben durch das Laufen noch zu spüren glaubte, wich eisiger Kälte und noch größerem Schmerz. Sie fühlte, wie ihre Glieder langsam steif wurden.
Panik erfasste sie. Sie wollte um Hilfe schreien, oder zumindest die Augen öffnen, aber es gelang ihr nicht. Dann hörte sie in der Nähe ein Flattern. Ein Vogel? Und augenblicklich wurde ihr wieder wärmer. Es war keine innere Wärme, die sie in den letzten Tagen gespürt hatte, sondern eine äußere. Jemand deckte sie zu. Aber wer? Und warum? Hatte sie plötzlich kein Fell mehr, dass sie wärmte? Und was war aus dem Hasen geworden?
Scharfer Schmerz durchfuhr sie wie eine Messerklinge, als sie von jemandem hochgehoben wurde. Warum tat man ihr weh? Hatte sie etwas Falsches getan? War sie deswegen gerannt? War sie doch auf der Flucht gewesen?
Angst und Neugier bündelten sich in ihrem Leib und das freigesetzte Adrenalin brachte ihr einen Funken Energie zurück. Sie konnte gerade noch genug Kraft aufbringen, um ihre Augen zu öffnen, und blickte in das Gesicht eines Mannes.
Er sah besorgt aus. Bedeutete das, dass sie in Sicherheit war? Wer er wohl ist? Er war recht gut aussehend. Dunkle Haare, graue Augen. Hm. Irgendetwas wollte sich den Weg in ihren Verstand bahnen, aber ein heftiger Kopfschmerz vereitelte dies.
Ihre Lider waren viel zu schwer um sie noch länger offen zu halten und sie schloss diese wieder. Wenn sie bis jetzt noch lebte, würde dieser Mann sie auch weiterhin am Leben lassen. Da war sie sich sicher.
Das Adrenalin, das ihren Kreislauf noch einmal aufgepuscht hatte, ließ nach und ihr Verstand verabschiedete sich in einem dicken, weißen Nebel und einer wunderbaren Wärme.
1. Kapitel
Als sie das nächste Mal zu sich kam, drang ein aufgeregtes Murmeln zu ihr durch und sie spürte zarte Hände auf ihrem nackten Körper. In ihrem Gesicht und ihrem Haar. Überall.
»Robert! Das arme Ding ist ja halb erfroren und schmutzig!« Robert. War das der hübsche Mann? Ihr Retter? Die Frau nahm die wohlige Wärme und zog scharf Luft ein. Sie hätte das auch gern getan, aber sie hatte keine Kontrolle über ihren Körper. Nicht einmal einen Finger konnte sie rühren. Am liebsten hätte sie geschrien: Mir ist kalt! Gebt mir diese Wärme zurück!
»Sie ... Weißt du, wer das war?« Sie klang zornig. Es kam keine Antwort. Oder hatte sie schon wieder das Bewusstsein verloren? Nein. Dafür war ihr eindeutig zu kalt. Ihre Hände und ihre Füße brannten wie Feuer und kribbelten unangenehm. Das gleiche spürte sie an Ohren und Nase.
»Ich hasse Männer, die einer jungen Frau so etwas antun und sie dann halb tot einfach irgendwo liegen lassen!«
»Wenn sie es schafft zu überleben, werden wir wissen, wer es war.« Redeten die beiden von ihr? Was hatten Männer ihr angetan? Schmerzte deswegen ihr ganzer Körper? Ihr Kopf dröhnte außerdem, als wäre sie von einem Lastwagen überfahren worden.
Sie spürte, wie sie auf etwas Weiches gelegt wurde. War das ein Bett? Sofort wurde ihr wärmer und sie spürte ein leichtes Gewicht auf ihrem Körper. Eine Decke. Herrlich. Doch nun begann ihr ganzer Körper unangenehm zu kribbeln und auch die Schmerzen verstärkten sich. Sie hätte zu gern aufgestöhnt und jemanden gesagt, dass ihr alles weh tat.
»Der Arzt ist da!« Der Mann, Robert, kam wieder ins Zimmer. Die Wärme verschwand wieder, was bedeutete, dass man ihr die Decke wieder genommen hatte. Große, starke Hände begannen, zuerst ihren Kopf abzutasten.
»Sie hat eine Platzwunde an der Stirn und eine große Beule am Hinterkopf. Gib mir bitte den Verband.« Sie spürte, wie jemand die Wunde abtupfte und dann verband.
»Wie lange ist sie schon bewusstlos?«
»Sie war nur einmal kurz wach, als wir sie gefunden haben.« Der Mann brummte kurz.
»Hat sie etwas gesagt, als sie wach war?«
»Nein. Sie hat mich kurz angesehen und ist dann wieder bewusstlos geworden.« Als der Mann ihren Hals und dann ihren Oberkörper abtastete, hätte sie am liebsten laut geschrien. Wie er dann ihren Arm anhob und die Schulter berührte, würgte sie aus ihrer trockenen Kehle einen heißeren Schrei heraus. Wollte er ihr den Arm abreißen?
»Ich glaube, das Schlüsselbein ist gebrochen.«
Wieder senkte sich ein dichter Nebelschleier über ihre Gedanken und sie war froh, den Schmerzen zu entrinnen.
Eine blondes, junges Mädchen stand in einem schäbigen Wohnwagen und sah auf eine am Boden sitzende Frau. Diese hatte nur ein übergroßes T-Shirt an und sah mit ihren fettigen, dunkelblonden Haaren sehr ungepflegt aus.
»Mama, wir haben nichts mehr zu essen da. Gib mir bitte Geld zum Einkaufen.« Die ältere Frau zündete sich eine Zigarette an und sah grimmig zu ihrer Tochter auf.
»Du bist alt genug, dein Geld selbst zu verdienen.« Das Mädchen wurde knallrot im Gesicht und schrie ihre Mutter an:
»Willst du damit sagen, dass ich wie du für ein paar Dollar die Beine breitmachen soll?« Mit einiger Mühe stand die Frau vom Boden auf und brachte sich vor ihrer Tochter in Position.
»Du bist alt genug. In deinem Alter hatte ich schon längst einen festen Kundenstamm. Und tu nicht immer so arrogant. Du bist genau wie ich und keinen Deut besser.«
»Hast du dir nur ein Mal meine Zeugnisse angesehen?« Das Mädchen stieß resigniert Luft aus. »Nein, hast du nie. Ich bin eine Einser-Schülerin. Ich könnte ein Stipendium an einer angesehenen Uni bekommen.« Ihre Mutter winkte lässig ab und blies ihr dann Zigarettenqualm ins Gesicht.
»Von unserer Familie war noch nie jemand auf dem Collage. Und ich werde dich nicht weiter durchfüttern. Du bist eine Last.« Sie ging zum Kühlschrank und holte sich eine Flasche Schnaps heraus. Mit der Zigarette im Mund, goss sie sich eine Kaffeetasse voll ein und stellte die Flasche wieder zurück. »Entweder du verdienst dein eigenes Geld oder du verschwindest.« Das Mädchen war sprachlos.
»Du bist meine Mutter!« Die Frau trank einen Schluck und sah dann auf den Boden.
»Ich hätte dich damals wegmachen lassen sollen. Aber ich hab das Geld von deinem Erzeuger für andere Sachen ausgegeben.« War das Mädchen erst rot vor Wut gewesen, so war es nun weiß wie ein Betttuch. Tränen schossen ihr in die Augen und sie erwiderte zornig: »Dann geh ich lieber, statt dir weiter auf der Tasche zu liegen.«
Sie schnappte sich ihren Schulrucksack und eine Sporttasche in die sie ein paar Klamotten stopfte. Danach holte sie ihre Bibel unter der schmalen Matratze hervor, auf der sie bis jetzt geschlafen hatte, und packte diese ebenfalls ein.
An der Tür drehte sie sich nicht noch einmal um, sondern sagte nur: »Lebe wohl!« Sie tauchte kurz aus der Traumwelt auf, aber gleich darauf wurde sie wieder von tiefem Schwarz umfangen. Es war, als würde sie unter Wasser gedrückt und hätte nur kurz Gelegenheit, Luft zu schnappen.
»Mit wem aus dem Rudel treibst du es? Oder machst du für alle die Beine breit?« Bei dieser hässlichen, männlichen Stimme zuckte sie ängstlich zusammen und ihr Körper verkrampfte sich. Um sie herum war immer noch alles dunkel und sie konnte nichts und niemanden erkennen.
Ein Schlag traf sie ins Gesicht, der sie ein ganzes Stück zurücktaumeln ließ. Wer war dieser Mann? Warum schlug er sie? Ohne etwas zu sehen, drehte sie sich um und rannte weg. Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Ihre Beine schmerzten und ihr war kalt, aber sie rannte. Immer schneller. Dann erschien ein greller Blitz am Himmel, der die Dunkelheit vor ihr brach. Ein Abgrund! Sie konnte nicht schnell genug stehen bleiben und fiel.
»Schhh. Ist ja gut. Hier bist du sicher. Beruhige dich!« Sie kam zu sich. In den Armen einer kleinen, brünetten Frau. Noch immer entrang sich ihrer Kehle ein lauter Schrei. Als sie es bemerkte, entspannte sie ihren Hals und der Schrei verklang im Zimmer. Anschließend begann sie fürchterlich zu zittern und eine Sturzflut von Tränen brach aus ihr heraus. Sie wusste noch nicht einmal, warum sie weinte. War es wegen des Mannes, der sie geschlagen hatte? Die Frau wich in der ganzen Zeit keinen Zentimeter von ihrer Seite.
»Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Wir beschützen dich.« Als das Zittern schließlich nachließ und auch die Sturzfluten wieder gebändigt waren, lehnte sich die kleine Frau zurück und sagte: »Ich bin Vivien, die Alpha des Rudels. Wie heißt du?« Sie öffnete automatisch den Mund, um zu antworten, aber da war nichts. Absolute Leere. Wieder schossen ihr die Tränen in die Augen und sie schlug die Hände verzweifelt vor das Gesicht.
»Ich weiß es nicht. Mein Kopf ist so leer.« Vivien reichte ihr ein Glas Wasser, dass sie dankend annahm. Ihr Hals brannte, wahrscheinlich vom Schreien, und ihre Lippen fühlten sich rissig und spröde an. Wie lange war sie schon hier? Und was meinte Vivien mit Alpha des Rudels? Was hatte das alles zu bedeuten? Aber viel schlimmer wog die Tatsache, dass ihr Kopf wie leer gefegt war.
»Danke.« Vivien ließ das Mädchen erst trinken, bevor sie weitere Fragen stellte.
»Weißt du noch, wie du hier hergekommen bist? Oder wer dich verletzt hat?«
»Nein. Ich ... Ich erinnere mich an einen Hasen. Und das ich gerannt bin. Dann wird alles dunkel.« Vivien tätschelte ihr die Schulter und drückte sie wieder in die Kissen.
»Ruh dich noch etwas aus. Vielleicht kommt die Erinnerung wieder, wenn du dich erholt hast.« Damit stand sie vom Bett auf und verließ den Raum. Warum hatte Vivien so ein trauriges Gesicht gemacht? Und von welchen Verletzungen hatte sie gesprochen? Als sie im Geist ihrem Körper kontrollierte, konnte sie nun ein Pochen in der Schulter feststellen.
Schwarze Punkte tanzten vor ihrem Blickfeld und sie fragte sich, ob man ihr etwas gegen die Schmerzen gegeben hatte. Vielleicht war ja alles gar nicht so schlimm? Sie schloss ihre Augen, und als sie diese gleich darauf wieder öffnen wollte, konnte sie nicht die nötige Kraft dazu aufbringen. Also schlief sie weiter. Schlafen war immer gut.
Vor der Tür wartete Robert, Viviens Ehemann und Alpha des Rudels. Er sah sie fragend an, doch sie zuckte nur niedergeschlagen mit den Schultern. Das bedeutete, dass sie keine guten Nachrichten hatte. Immerhin war die Kleine nach fast einer Woche komaähnlicher Bewusstlosigkeit wieder aufgewacht.
Auch wenn sie ihnen einen höllischen Schrecken eingejagt hatte. Robert und Vivien hatten eben beim Abendessen gesessen und sich über die kommenden Tage unterhalten. Robert musste in einer Woche wegen einer geschäftlichen Angelegenheit für ein oder zwei Tage verreisen und er wollte die Unbekannte vorher in ein Krankenhaus schaffen lassen. Vivien hatte sich geweigert und gesagt, dass sie die Kleine ebenso gesundpflegen konnte, wie die Krankenschwestern im Krankenhaus.
Gerade als eine neue Diskussion auszubrechen drohte, ertönte der Schrei aus dem Gästezimmer. Er war vorsichtshalber nicht mit ins Zimmer gegangen, sondern an der Tür stehen geblieben. Er wollte ihr nicht noch mehr Angst einjagen, als sie sowieso schon haben musste. Armes Ding.
»Sie erinnert sich an nichts. Weder, wie sie hierher gekommen ist, noch wer ihr diese Verletzungen zugefügt hat.« Seiner Frau schien das ernsthaft an die Nieren zu gehen.
»Verdrängt sie es?« Vivien schüttelte den Kopf und sah ihn mit tränenfeuchten Augen an.
»Sie erinnert sich an überhaupt nichts. Nicht einmal an ihren Namen.« Dann zuckte sie wieder mit den Schultern und lehnte sich mit ihrem Körper gegen ihren Mann. Er mochte es, wenn sie das tat. Die Wärme, die der Körperkontakt brachte, ließ jedes Mal sein Herz schneller schlagen. Und es schlug nur für sie. Deswegen versuchte er auch, ihre Betroffenheit zu vertreiben.
»Vielleicht kommen die Erinnerungen mit der Zeit wieder.« Dann schüttelte sie leicht den Kopf.
»Gleichwohl es für sie wahrscheinlich besser wäre, wenn sie nicht zurückkommen.« Robert legte tröstend einen Arm um sie. Er wusste, dass die Erinnerungen an ihre jüngere Schwester durch dieses Mädchen heraufbeschworen wurden. Und er mochte es überhaupt nicht, wenn seine Vivien leiden musste.
Er hatte sie damals mit neunzehn kennengelernt, als sie bei seinem Vater um Hilfe gebeten hatte. Sie hatte ihre tote, kleine Schwester eigenhändig zum Haus seiner Familie getragen und war flehend auf die Knie gefallen. »Bitte geben sie meiner Schwester die Chance auf ein anständiges Begräbnis. Ich arbeite als Dienstmädchen oder Gouvernante alles ab. Bitte. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden kann.« Sein Vater hatte genau wie Robert ihre Willensstärke und ihren Familiensinn bewundert. Jeder andere hätte das tote Mädchen liegen lassen und sich um seine eigene Haut gekümmert.
Sein Vater hatte Vivien als Gast willkommen geheißen und ihr verboten, auch nur einen Finger zu rühren. Aber Robert hatte schnell gemerkt, dass sie kein verwöhntes Püppchen war. Am Morgen war sie oft vor den Dienstboten wach und half der Köchin in der Küche. Sie war auch beim gesamten Personal sehr beliebt. Und obwohl er damals schon mehrere Beziehungen mit hübschen Frauen gehabt hatte, reizte sie ihn. Nicht, dass er es ihr gezeigt oder sie gar bedrängt hätte. Er genoss ihre Schönheit und ihren Liebreiz aus der Ferne.
Erst als er später ein Gespräch seines Vaters mit einem Bekannten aufgeschnappt hatte, der um Viviens Hand anhielt, wusste er, dass er handeln musste. Er sprach noch am selben Abend mit seinem Vater und die folgenden Tage umwarb er eine schnell errötende und furchtbar schüchterne Vivien, bis sie schließlich zustimmte, ihn zu heiraten. Und er hatte es nie bereut.
»Vielleicht war es jemand, den sie kannte. Das würde den Schock und den Gedächtnisverlust erklären.« Robert schüttelte den Kopf. Das passte nicht.
»Aber nicht die Verletzungen. Sie deuten auf einen Sturz hin. Vielleicht ist sie den Berg herunter gefallen und hat sich dabei den Kopf gestoßen.« Ihm ging das Bild des nackten und bewusstlosen Mädchens im Schnee einfach nicht mehr aus dem Kopf.
»Oder ihr Vergewaltiger hat sie den Berg herunter gestoßen.« Wieder schüttelte er den Kopf.
»Der Arzt hat gesagt, dass die Vergewaltigung schon mindestens drei Tage oder sogar länger zurückgelegen hatte. Was ist in der Zwischenzeit passiert?« Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie die ganze Zeit traumatisiert und allein im Wald umher geirrt war. Vivien zitterte in seinen Armen und er spürte, dass sein Hemd nass war.
»Vielleicht ist sie ihrem Vergewaltiger entkommen, durch den Wald geirrt und schließlich den Berg herunter gefallen.« Das würde schon eher passen. Aber wie konnte sie die Zeit in der Kälte überleben? Es waren locker minus zehn Grad in der Nacht. Und die Kleine war nackt gewesen. Außerdem konnten sie noch nicht einmal ihr Alter bestimmen, um zu wissen, ob sie unsterblich war oder nicht.
»Komm. Lass uns einen Wein trinken.« Ablenkung war für seine Frau und ihn selbst wahrscheinlich das Beste.
Jetzt, da die Fremde erwacht war, würde die Zeit alle Antworten bringen.
2. Kapitel
Die folgenden Tage verbrachte Vivien in ständiger Angst um das Mädchen. Sie war immer wieder kurz bei Bewusstsein und aß etwas Suppe. Nach nur wenigen Löffeln fiel sie wieder in einen tiefen Schlaf und lag wie tot im Bett.
Der Arzt kam jeden Tag vorbei, untersuchte sie und versuchte anschließend, Vivien zu beruhigen. Das gebrochene Schlüsselbein verheilte viel besser als erwartet und die Beule am Hinterkopf war schon vor ein paar Tagen wieder verschwunden. Die Kratzer und blauen Flecke waren auch schon lange nicht mehr zu sehen, was nun allerdings ihr blasses Gesicht betonte. Dabei konnte sie gar nicht so viel Blut verloren haben. Sie hatte ja nur diese kleine Platzwunde am Kopf gehabt.
Robert hatte schon mehrfach anklingen lassen, dass er das Mädchen gern in ein Krankenhaus schaffen lassen würde. Aber Vivien war strikt dagegen. Die Kleine erinnerte sie einfach viel zu sehr an ihre kleine Schwester. Auch die Art, wie sie ums Leben gekommen war, wies eine direkte Parallele zu der Fremden auf. Im Krankenhaus hätte sie das Mädchen nicht mehr in ihrer Nähe und würde sich nur noch größere Sorgen machen.
Nachdem Robert mit dem Arzt gesprochen hatte, der keine Einwände zur Geltung brachte, war er schließlich damit einverstanden.
Vivien schrak mitten in der Nacht, durch hysterische Schreie im Nebenzimmer, auf. Als sie neben sich sah, erinnerte sie sich daran, dass Robert heute und morgen unterwegs war, um sich mit Geschäftspartnern zu treffen. Sie schwang ihre Beine über die Bettkante, warf sich einen Morgenmantel über und ging im Laufschritt zur Tür.
Wieder ertönte ein greller Schrei, und als sie die Tür zum Gästezimmer öffnete, konnte sie das Mädchen auf dem Bett erkennen, das mit der Decke rang, als ob es ein böses Monster wäre. So schnell sie ihre Beine trugen, ging sie zum Bett und rüttelte das wimmernde Bündel an der Schulter.
»Wach auf, Kleine. Es ist alles gut.« Sie hatte das blonde Mädchen nur kurz berührt, da riss sie die Augen auf und wich vor Vivien zurück. Sie zog sich die Decke bis zum Kinn hoch und sah die brünette Frau ängstlich an.
»Wo bin ich?« Erinnerte sie sich nicht mehr? Vielleicht hatte sie doch eine Gehirnerschütterung.
»Du bist bei mir und Robert. Er hat dich im Wald gefunden.« Das Mädchen atmete die angehaltene Luft aus und sah fragend zu Vivien. Ihr Blick klärte sich und anscheinend erinnerte sie sich wieder an sie.
»Wieso helfen sie mir?« Vivien sah mitleidig zu dem Mädchen und setzte sich dann auf die Bettkante. Sie bewegte sich absichtlich langsam, damit sie das junge Ding nicht noch mehr verschreckte.
»Meine jüngere Schwester Victoria wurde von zwei Männern vergewaltigt, als sie vierzehn war. Sie wurde wie ein Stück Dreck in einer Gasse liegen gelassen und verblutete.« Das Mädchen sah auf ihre Hände, die mittlerweile über der Bettdecke zur Ruhe gekommen waren.
»Das tut mir leid.« Jetzt wo sie den Grund für ihre Anteilnahme ausgesprochen hatte, fühlte sie sich besser. Und das Mädchen schien auch beruhigt zu sein, dass Vivien keine Hintergedanken zu haben schien.
»Wovon hast du geträumt?« Mit aufgerissenen Augen sah die Kleine auf und krallte ihre Hände in die Decke.
»Ich bin gefallen. Immer weiter.« Tränen sammelten sich in ihren Augen und Vivien stand auf, um zu ihr zu rutschen. Sie hatte ihre Arme noch nicht ganz geöffnet, da viel die Blondine schon laut schluchzend hinein.
»Hey Kleine. Es ist alles in Ordnung. Bei uns bist du sicher.« Es fühlte sich gut und richtig an, das verängstigte Mädchen in den Arm zu nehmen. Nach dem Tod ihrer Schwester hatte ihr dieser innige Körperkontakt immer gefehlt.
»Möchtest du etwas trinken? Oder hast du Hunger?«
»Nein, danke. Das ist lieb von ihnen, aber ich möchte nichts.«
»Du kannst mich ruhig duzen.« Das Mädchen nickte und löste sich aus der Umarmung.
»Danke für alles, Vivien.« Sie streichelte über das blonde Haar des Mädchens und blieb an einer verfilzten Stelle hängen.
»Darf ich dir die Haare bürsten? Das hat mich früher immer beruhigt. Vielleicht hilft es dir.« Sie zuckte nur mit den Schultern und Vivien holte aus dem angrenzenden Badezimmer eine Bürste.
»Rutsch ein Stück vor. Ich setz mich hinter dich.« Das Mädchen gehorchte und Vivien begann, ihr Haar mit leichten Bürstenstrichen zu entwirren. »Du hast sehr schöne Haare.« Die Kleine reagierte nicht. Also arbeitete sie schweigend, bis alle Knötchen entfernt waren und das Haar glänzte. Sie hatte sich früher immer mit ihrer Schwester gegenseitig die Haare gebürstet. Und es hier bei diesem Mädchen zu tun, beruhigte sie innerlich auf eine seltsame Art und Weise.
Es war fast so, als wäre ihre kleine Schwester wieder da. Vielleicht ... Wenn der Gedächtnisverlust anhielt ... Könnte sie in diesem Mädchen ihre kleine Schwester sehen? Sicher! Sie müsste nur mit Robert darüber reden.
Die Kleine hatte ihre Beine angewinkelt und ihren Kopf darauf gelegt. Ein gleichmäßiges Atmen verriet Vivien, dass sie eingeschlafen war. Sie muss sehr erschöpft sein, um in dieser Position schlafen zu können. Vivien stand langsam auf und stützte den Körper des Mädchens, als sie dieses auf die Seite legte und wieder zudeckte. Hoffentlich würden die Alpträume bald ein Ende nehmen.
3. Kapitel
»Vivien?« Robert stellte die Reisetasche in den Flur seiner Hütte und horchte, von wo eine Antwort kam. Alles blieb ruhig. Er ging erst ins Wohnzimmer, dann ins Schlafzimmer, und als sie auch nicht in der Küche zu finden war, klopfte er ans Gästezimmer.
»Herein.« Als er die Tür öffnete, erblickte er zuerst seine Frau, die am Fenster stand und nach draußen sah und dann das Mädchen, das wie immer im Bett lag.
Aber die Kleine sah wenigstens nicht mehr ganz so mitgenommen aus. Die Wunden in ihrem Gesicht waren schon größtenteils verheilt und die Bandage um ihren Kopf war verschwunden. Als Vivien ihn sah, ging sie freudestrahlend zu ihm und umarmte ihn liebevoll.
»Schön, dass du wieder da bist. Ich hab dich vermisst.« Robert schmunzelte.
»Ich hab dich auch vermisst.« Dann fing er den forschenden Blick von dem Mädchen im Bett auf. Als er sich von seiner Frau gelöst hatte, ging er zum Fußende des Bettes und fragte: »Wie geht es dir? Du siehst auf jeden Fall schon mal besser aus als vor zwei Tagen.« Das zauberte ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht.
»Danke. Es geht mir wirklich besser.«
»Kannst du dich schon wieder an etwas erinnern?« Das Lächeln verschwand.
»Nein, leider nicht.« Dann kam ihm ein anderer Gedanke.
»Wie sollen wir dich eigentlich nennen?« Vivien sah zu Robert, dann wieder zu dem Mädchen. Diese zuckte nur niedergeschlagen mit den Schultern.
»Keine Ahnung.« Robert legte seiner Frau die Hand auf die Schulter und sagte zögernd: »Wir haben sie im Schnee gefunden. Wie wäre es also mit Snow?« Das Mädchen sah mit großen Augen zu Robert.
»Das gefällt mir. Snow.« Und plötzlich erhielt er das umwerfendste Lächeln, das er je gesehen hatte. Ein seltsam warmes Gefühl bemächtigte sich seines Herzens und er drückte Vivien etwas stärker an sich.
Kinder. Er musste einfach daran denken, wie seine eigenen Kinder ihn so anstrahlen würden. Irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, würden ihm und Vivien auch Kinder geschenkt werden und dann würde alles perfekt sein.
Snow war jetzt schon wie eine Tochter für ihn, obwohl Vivien sie eher wie eine Schwester betrachtete. Das konnte er eindeutig an Viviens gebaren sehen. Sie kümmerte sich so um dieses Mädchen, wie sie sich auch um ihre kleine Schwester gekümmert hätte, wäre sie nicht gestorben.
Das blonde Mädchen betrat eine kleine Ein-Zimmer-Wohnung und sah sich um.
»Die nehm ich.« Die brünette Maklerin in dem teuer aussehenden, giftgrünen Kostüm nickte und reichte ihr einen Vertrag.
»Ich brauche eine Kaution. Da sie Schülerin sind, kann ich ihnen einen kleinen Rabatt einräumen. Der Vermieter hat außerdem zugestimmt, dass sie den ersten Monat mietfrei hier wohnen können. Nur die Nebenkosten müssen sie bezahlen.« Sie nickte und griff nach ihrer abgewetzten Tasche. Statt einen Geldbeutel herauszuholen, nahm sie ihre Bibel in die Hand. Als sie diese aufschlug, erschien Geld. Als die Maklerin fragend und etwas amüsiert die Augenbrauen hob, lächelte das Mädchen und zuckte mit den Schultern.
»Ist unauffälliger als eine Sparbüchse. Außerdem wird sich ein Dieb wohl kaum die Mühe machen und eine Bibel lesen.«
Der Traum endete abrupt in tiefer Schwärze, nur um im nächsten Moment von einem anderen abgelöst zu werden. Die Blondine stand zusammen mit anderen Schülern auf dem Podium und nahm ihren Abschluss entgegen. Ihre Haare waren deutlich kürzer als in den früheren Träumen und sie hatte auch einiges an Gewicht verloren.
Als sie zu den Stuhlreihen sah, wo so viele andere Eltern voller stolz zu ihren Kindern aufsahen und Fotos und Videos machten, wurde ihr Herz schwer.
Wie gerne hätte sie eine normale Familie in einem normalen Zuhause gehabt, aber das Schicksal hatte ihr eine gefühllose Hure zur Mutter gegeben und einen alten Wohnwagen als Zuhause.
Sie würde alles anders machen. Ihren Kindern würde sie eine tolle Mutter sein, die eine Arbeit hatte und ein tolles Haus. Vielleicht auch noch einen Hund. Das blonde Mädchen schmunzelte.
Als Snow ihre Augen öffnete, lag sie in dem Gästebett von Robert und Vivien. Ihre Schulter schmerzte, aber sie wollte nicht schon wieder nach Vivien rufen. Diese nette Frau hatte ihr in den letzten Tagen und Wochen in jeder freien Minute beigestanden, sich mit ihr unterhalten und ihre Verbände gewechselt. Sie brauchte auch etwas Freiraum.
Snow setzte sich im Bett auf und schlug die Bettdecke zurück. Sie trug einen Pyjama, der ihr etwas zu groß war. Es war einer von Vivien. Noch etwas, wofür sie ihr dankbar war. Ohne Rücksicht auf Verluste teilte sie mit einer völlig Fremden ihre Kleidung.
Sie schob sich vorsichtig zum Bettrand und ließ ihre Beine über die Kante baumeln. So weit, so gut. Das war das erste Mal, dass sie das Bett allein verließ, ohne die helfende Hand von Vivien oder Robert, der es sich zum Hobby gemacht hatte, sie durch den ganzen Raum bis zur Toilette zu tragen.
Am Anfang war es ihr sehr peinlich gewesen, doch Vivien hatte über ihre Bedenken gelacht. Ihre Zehen berührten den Boden, als sie wieder an ihr Vorhaben dachte. Die Schmerzmittel waren im Bad auf dem Ablagebrett über dem Waschbecken.
Robert sah von der Karte in seiner Hand auf und wandte sich an seine Frau.
»Wir haben von Joshua eine Einladung zur Hochzeit bekommen.« Vivien bekam große Augen und legte ihr Buch zur Seite. Sie sah einfach hinreißend aus in ihren gelben Nachthemdchen. Es war durchsichtig und die passenden Shorts dazu trug sie nie. Und er wusste auch, was sie damit bezweckte.
Sie versuchten schon seit Jahren ein Kind zu bekommen, hatten aber noch nie die fruchtbare Phase erwischt. Im Gegensatz zu anderen Mythenwesen und Dämonen waren Wölfe nur einmal im Jahr und nur für eine sehr kurze Zeit in der Lage, schwanger zu werden. Und bei Vivien hatte die lange Warterei und die vielen Fehlversuche Spuren hinterlassen. Er konnte noch nicht einmal sagen, dass ihm die Übungen etwas ausmachten. Er war gern mit ihr im Bett. Über ihr, unter ihr, hinter ihr ... Sie war seine Traumfrau und sie zögerte auch nicht, seinen Wünschen nachzugeben. Ganz im Gegenteil. Sie schien eine gewisse Region an seinem Körper besonders gern zu küssen und zu schmecken. Schon, wenn er daran dachte und seine Frau in diesem dünnen Stück Stoff vor sich sah, wurde seine Erektion unerträglich.
»Joshua aus Alexandria? Ich habe immer angenommen, er bleibt lebenslang ein Junggeselle.« Robert grinste. Seine Frau hatte Joshua nur ein einziges Mal gesehen und trotzdem war ihr dieser Wesenszug an ihm aufgefallen und in Erinnerung geblieben. Typisch.
»Irgendwann musste er ja mal einer Frau ins Netz gehen. Wollen wir hinfahren?« Vivien sah nachdenklich zu der Verbindungstür zum Gästezimmer.
»Ich weiß nicht. Ich hätte kein gutes Gefühl dabei, die Kleine hier allein zu lassen. Sie erholt sich eben erst von dem Trauma und hat etwas Vertrauen in uns gefunden.« Und er verstand sie. In seinem
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Darleen Alexander
Bildmaterialien: Pixabay
Lektorat: Darleen Alexander
Tag der Veröffentlichung: 22.04.2015
ISBN: 978-3-7368-9095-4
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