Sonne. Wie viele Jahre vergingen, als ich sie das letzte Mal erblicken durfte? Am Tage war es dunkel für mich und in der Nacht ebenso. Das "Schlafen" war schwieriger geworden, je länger ich lebte. Die Welt wurde zunehmend lauter, heller und überfühlter. Und darunter litten wir, aber es war auch durchaus vorteilhaft. Mehr "Nahrung", ausgewogener. Das Leben als Vampir würde niemals WIRKLICH reizvoll für mich werden. Eher immer schlimmer.
An diesem "Morgen" schob ich den Sargdeckel etwas weniger lustvoll zur Seite. Das würde wieder eine laaange Nacht werden, das wusste ich. Ich fuhr mir mit den Fingern durchs lange braune Haar. Es fühlte sich seidig und warm an. Ein netter Ausgleich für meine kalte, unangenehme Haut. Ich kletterte aus dem Sarg, der unmittelbar neben einem großen Bett lag, welches ich wohl niemals wirklich brauchen würde. Ich seufzte und verließ das Schlafzimmer. Ich öffnete die Tür zum Wohnzimmer.
Die dunkelroten Samtmöbel, die schweren Vorhänge, die glänzenden Ebenholzmöbel und die schlichte mattgelbe Tapete gaben mir ein Gefühl, wieder in meiner eigenen Zeit zu sein. Wo ich hingehörte. Auf den Tischen und an den Vorhängen waren so viele Blumensträuße, dass das ganze Zimmer himmlisch nach Blumen duftete. Süß und zärtlich, wie Blumen eben sein sollten. Doch es gab jemanden hier, der eine Blume sehr ähnlich war.
Alice Ledoux.
Kaum zu glauben, dass ihr Name, der "Zärtliche" bedeutet, so auf sie zutrifft. Ihre blasse Haut ließ sie wie eine Puppe aussehen, die gleichfarbigen Lippen waren zu einem lieblichen Lächeln geschwungen. Die himmlischen eisblauen Augen, die von großen dunklen Wimpern umrahmt waren, sahen so unschuldig und gleichzeitig so mörderisch aus, es war einzigartig. Die langen, nun lilanen Haare glatt und seidig, waren offen und umspielten ihr makelloses Gesicht, ihren himmlischen Hals, ihr wundervolles Dekolleté und ihre zierlichen Arme. Die Beine lang und dünn wie Äste einer jungen Buche, die Hände zierlich mit den schwarz lackierten Fingernägeln. Die Hotpan mit Motiven zeigte, wie sie beschenkt worden war und ihr Top zierte ihr Dekolleté und ihren dünnen, schmalen Bauch.
So unbeschreiblich schön stand sie vor mir und sagte dann mit ihrer zierlichen Glockenstimme:
"Ah. Louis. Guten Morgen."
Ich lächelte.
"Auch dir einen guten Morgen, Alice. Wie war dein Tag?" Sie schenkte mir ein herzliches, heiteres Kichern.
"Nun ja. Laut. Diese Sterblichen machen den Tag so unnatürlich laut, da wünscht man sich wirklich Watte in den Ohren." Auch ich musste leicht kichern. Denn da hatte sie wirklich Recht. Sie legte die Hand auf die Rückenlehne, nahm etwas Schwung, schwebte fast über die Lehne und ließ sich in die Polster fallen.
"Wo bleibt den Lestat? Typisch. Der schläft mal wieder am Längsten." schnaufte sie beleidigt.
Ich sah zur Tür, da ich ihn bereits lachen hörte. Kurz danach öffnete sich die Tür.
Der blonde, charmant wirkende Lestat betrat das Wohnzimmer, wie immer, in Begleitung. Zwei junge Frauen folgten ihm, die mich verführerisch beäugten. Die eine war Brünett und hatte dunkle Haut, sie trug ein enges grelles Pinkes Top, so eng, das ihr fast der Busen aus dem Ausschnitt fiel. Der kurze Rock war ebenfalls etwas grenzwertig. Die Andere sah keinen Deut besser aus. Blass, blond, mehr als eine Tonne Make-Up auf dem Gesicht und freche, grelle Bekleidung.
Ich betrachtete die Beiden lange und warf dann Lestat einen vielsagenden Blick zu. Der grinste mich nur an und sagte dann vielsagend:
"Das sind Betty und Lexy. Sie freuen sich sehr, ein paar "Vampire" zu treffen." Er bat die Zwei, sich zu setzen und flüsterte mir dann verstohlen ins Ohr:
"Deswegen liebe ich die Neuzeit. Nutten und Prostituierte, soweit das Auge reicht."
Ich sah ihn wütend an. Er schien von meinem Blick eher unbeeindruckt und setzte sich zu der Dunklen, Lexy. Alice kicherte und sprang vom Sofa.
"Ich hoffe doch sehr, dass auch ich hier noch bedacht bin und nicht nur Louis." Lestat grinste.
"Liebes, wie könnte ich dich vergessen. Lexy hier" sagte er und warf damit einen Blick auf die dunkelhäutige Frau neben sich. "liebt so etwas über alles." Lexy warf Alice einen Blick zu, den man schon als Belästigung bezeichnen könnte.
Doch Alice erwiderte den Blick.
Ihre Masche.
Das Opfer in Sicherheit wiegen, dann von hinten. Ich bewunderte sie dafür, für diese Kontrolle und Stärke, die sie damit verströmte. Und gleichzeitig fürchtete ich mich auch vor ihr.
Sie schwang sich mit einem leichten Satz auf Lexy's Schoss, sie griff ihre Haare und zog sie an sich, dann trafen die Lippen der beiden Frauen sich. Lestat trat hinter die blonde Betty und liebkoste ihren Hals. Ich seufzte, gab nach und ging ebenfalls zu Betty. Ich beugte mich zu ihr vor und drückte meine trockenen Lippen an ihre.
Mir gefiel dieses "Liebesspiel" gar nicht, aber so bekam ich wenigstens das, was ich wollte:
Blut.
Schon nach Kurzem offenbarte ich, was ich war, so ausgehungert war ich und so verführerisch roch das Blut der jungen Frau. Ich entblößte meine Fangzähne und biss ihr in die Armbeuge. Sie keuchte auf und grinste.
"Euer Freund................ ist ja sehr stürmisch............." hauchte sie zu Lestat.
Doch der biss da bereits in ihre Schulter. Ich merkte, wie er mir das kostbare Blut wegnahm und nahm immer tiefere und größere Schlücke. Betty's Blut schmeckte rauchig und schlecht, als wäre es abgestandener Whisky, aber es erfüllte seinen Zweck. Mein Durst war schon bald gestillt und ich ließ von ihr ab.
Zu spät.
Lestat nahm ihr gerade mit einem letzten großen Schluck das Leben. Er ließ ihren leblosen Körper neben die bereits tote Lexy fallen und leckte sich über die Lippen.
"Mhm......... etwas abgestanden, aber gut......." hauchte er. Alice hatte kein Blut mehr am Mund, sie leckte aber mit ihrer Zunge ihren Mundwinkel.
"Meine war etwas bitter, aber sehr lecker." Sie sah mich an, ihre Augen blitzen auf.
"Ich............ ich geh an die Luft.............." Ich stieß die Balkontüren auf und trat hinaus in die finstere Nacht.
Die Stadt unter mir war laut, hell und überfüllter als zu Tage. Ich starrte gen Himmel in die sternenklare Nacht.
Würde ich jemals wieder in diesen Himmel blicken und Sonne sehen? Den blauen Himmel und nicht den Schwarzen? Wolken anstatt Sternen? Sonne anstatt Mond?
Ich wusste keine Antwort.
Diese Nacht zog sich endlos hin. Aber so hatte ich wenigstens etwas Zeit, um über meine Vergangenheit nachzudenken. Wie ich jeden Tag meines jungen Leben darum bat, zu meiner Frau und zu meinem Kind zu gehen, um dem ewigen Schmerz in meiner Seele zu entrinnen. Und wie ich dann auf Lestat stieß und seinen Lügen so bereitwillig Glauben schenkte...
Da fiel mir etwas auf. Etwas..... so Unbedeutendes... aber dennoch Wichtiges. Ich stand auf und eilte in den Salon. Dort müsste sie sein, Lestat war nicht da. Und ich hatte Recht. Alice saß am Flügel und spielte ein hinreißendes Lied. Sie trug nun ein leichtes Kleid, welches noch aus "unserer" Zeit stammte. Die Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, sodass ich ihren freien Rücken sehen konnte. Ich sah, wie ihr Blut durch ihren Rücken zirkulierte und spürte meine spitzen Reißzähne. Ich keuchte. Dann sprach ich sie an.
"Alice..... ich......" Doch Alice unterbrach mich.
"Ludovico Einaudi - Una Mattina...... ein sehr schönes Stück, nicht wahr?" Ihre zierlichen Finger flogen nur so über die schwarzen Tasten des Flügels. Ich schluckte. Ooooh, wie ihre Gegenwart mich doch immer wieder aus der Fassung brachte. Ich schluckte dann erneut und sah sie an.
"Ich.... habe eine Frage an dich, Alice....." Sie beendete, zu meinem persönlichem Missvergnügen das Klavierspiel und drehte sich zu mir.
"Ja?" fragte sie mit schief gelegtem Kopf. Ich schluckte.
"Sag mal......... wie....... wie kamst du eigentlich zu Lestat?......" Sie lächelte mich kokett an.
"Willst du das wirklich wissen?" fragte sie zärtlich. Ich nickte.
Paris, 1789.
Es ist die Nacht zum Sonntag, die Menschen genießen die lauwarme Sommernacht auf den Balkonen, an den Tischen der Cafés oder an den Pforten Notre Dames. Aber nicht nur Aristokraten und reiche Adelsleute sind auf der Straße. Auch Taschendiebe lungern herum, auf der Suche nach geeigneten Opfern. Wie auch sie.
Alice.
Sie schleicht durch die Mengen und da - hat sie sich eine Brieftasche geschnappt. Das junge Mädchen ist abgemagert, verwahrlost und schmutzig. Mit der Brieftasche eilt sie davon in eine einsame leere Gasse. Als sie jedoch nachschaut, ist die Brieftasche leer. Sie flucht und wirft das aus Leder bestehende Teil gegen eine Hauswand.
"Gehen sie immer so achtlos mit dem Besitz anderer um?"
Sie wirbelt herum. Der Mann vor ihr ist groß, schlank und doch durchtrainiert. Seine langen blonden Haare fallen ihm leicht auf die Schultern, den Gehstock hält er in der Hand, die ein weißer Handschuh ziert. Der Umhang weht leicht hinter ihm her, die blauen Augen sehen sie an. Der Blick ist so tief, als könnte er einem direkt in die Seele blicken. Alice weicht ein Stück zurück.
"Was hat sie das denn anzugehen?" Der Mann beugt sich hinab und nimmt die Brieftasche an sich.
"Nun. Das ist MEIN Besitz, mein Kind." sagt er leicht belustigt. Alice schluckt und sieht ihm trotzig ins Gesicht.
"Na und? Sie können sie behalten. Ist eh nichts drin." Er lacht.
"Gewiss ist sie leer. So schütze ich mich vor listigen Taschendieben wie dir." Er verbeugt sich des Anstandes zuliebe.
"Mein Name ist Lestat de Lioncourt. Und wie ist der ihre?" Sie fühlt sich auf einmal so hingerissen von diesem Mann, so.... verzaubert. Sie schenkt ihm sogar ein ernst gemeintes Lächeln.
"Alice Ledoux." haucht sie sanft. Lestat lächelt.
"Ein wunderschöner Name. Für eine wunderschöne Frau." Er geht einen Schritt auf sie zu, da sieht sie es.
Die spitzen Eckzähne. Sie rührt sich nicht, bleibt starr stehen.
"Ihr seit...... ein Vampir......." keucht sie, als er nur noch wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt ist. Er lächelt und beugt sich vor, sodass er ihr ins Ohr flüstern kann:
"Habt ihr jetzt Angst?" Sie bleibt ganz ruhig und haucht ein "Nein.". Lestat sieht ihr tief in ihre Augen.
"Wieso?" fragt er eher neugierig als beleidigt. Sie sieht ihn an, ihre Augen funkeln.
"Ich will sein wie sie...... meine Eltern verstießen mich, weil ich in ihren Augen nichts sei........ dabei war ich für ihr Leben bestimmt......" Lestat lächelt.
"Du heckst schon lange den Wunsch, so zu sein wie ich?" Sie strahlt.
"Was glaubt ihr, wieso ich ausgerechnet sie bestahl?" Er lacht. "In der Tat, du bist ein kluges Mädchen." Er nimmt ihr Handgelenk in die kühlen Finger. Ohne auf ein weiteres Wort ihrer zu warten bohrt er mit seinem spitzen Ring ein Loch in ihr Fleisch und senkt seine Lippen auf die blutrote Flüssigkeit, die jetzt aus der Wunde fließt. Mit tiefen Schlücken trinkt er von ihr, bis sie fast leblos in seine Arme fällt. Er beißt sich selbst ins Handgelenk und hält es ihr an die kalten zarten Lippen.
Sie kostet erst ein Wenig. Dann drückt sie ihre Lippen an die lebenspendende Flüssigkeit und trinkt mit einer behaglichen Gier. Doch ehe die Kräfte Lestat's auch nur anfangen zu schwächeln reißt sie sich von seinem Blute los und krümmt sich am Boden. Doch kein Schrei entkommt ihren mit Blut benetzten Lippen. Sie krümmt sich nur heftig, die Augen starr und weit aufgerissen. Dann versagt ihr Herz, leblos wie eine Puppe liegt sie da, in der Gasse.
Nur sie und er. Ein Vampir.
Ihre Eckzähne nehmen an Schärfe zu, die Haare werden ordentlich und glatt, sie wachsen um einige Zentimeter. Der Schmutz auf ihrer bleichen Haut wird mit einem leichten Taschentuch beseitigt, die Lippen werden blass und voll. Die abgemagerte Gestalt nimmt die schönsten weiblichen Rundungen an, die je das Antlitz dieser Welt schmücken durften. Ihre vollen dunklen Wimpern zucken, die Augen öffnen sich und Lestat blickt in Augen wie seine.
Eisblau. Und eiskalt. Sie setzt sich auf und erhebt sich schließlich ganz. Sie betrachtet sich selbst nur kurz. Dann sieht sie Lestat an und haucht so leise, dass es fast nur Lippenbewegungen sind:
"Blut." Lestat lächelt und streichelt mit seinem Handschuh über ihre glatte kühle Wange.
"Gewiss, mein Kind. Du wirst jemanden bekommen. Doch erst lass uns dich korrekt kleiden." Er nimmt ihre Hand und führt sie aus der Gasse. Auf dem vollen Platz schnürt es Alice die Kehle zu. Der Durst bringt ihre Fangzähne zum Pochen. Lestat lächelt belustigt.
"Bald, mein Engel." Sie verschwinden in einem Laden und als sie herauskommen, trägt Alice ein umwerfendes Kleid, ein weißer Unterrock und viel grüner Stoff. Die schöne Kette an ihrem Hals ziert die Zierlichkeit ihres Antlitzes noch mehr. Nur das Blut in ihrem Gesicht verschreckt.
Das Blut der Näherin.
Eingehackt und adlig gehen die Zwei durch die Dunkelheit der Nacht. Die dunklen Schatten um ihre Augen bringen das eisige Blau zum Glühen.
Sie sind eins. Für die Ewigkeit.
"Das ist die Geschichte, wie ich und Lestat uns trafen. Seitdem habe ich ihn niemals verlassen." Ich wusste nicht, ob ich Alice jetzt als wahnsinnige Killerin oder als einfach verrückt ansehen sollte. Ihre atemberaubende Schönheit war einfach ein Segen Gottes. Ob Lestat sie deswegen zu einer von uns machte? Zu einer Unsterblichen? War auch er ihrer Schönheit erlegen? So wie ich? Und wie wer weiß wie viele ihrer Opfer?
"Was ist dann passiert?" wollte ich voller Neugier wissen. Sie lächelte.
"Dann nahm ich Rache. Für das Leben in der Gosse, was man mir beschert hatte."
Tag der Veröffentlichung: 19.09.2012
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