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Familie unterm Weihnachtsbaum

Sehnsuchtsvoll starre ich durch das Schaufenster und beobachte das bunte Treiben. In Deutschland habe ich noch nie gesehen, dass in einem Zoogeschäft Hunde und Katzen verkauft werden.

Aber hier?

Drei große Gehege in denen sich Welpen tummeln. Es sind keine reinrassigen Tiere, was wahrscheinlich auch der Grund ist, warum sie hier verkauft werden. Es scheint alles an Rassen vertretbar zu sein, was es gibt. Ein Welpe hat es mir vor allem angetan.

Die Fellfärbung eines Rottweilers, die Größe eines Chihuahuas jedoch der Körperbau wie ein kleiner Teddybär. Total aufgeplustert lädt er einfach zum kuscheln ein.

 Mit aller Macht verbiete ich mir, dass Geschäft zu betreten. Es würde nichts bringen, außer dass ich es mir nur schwerer mache. Mit einem letzten wehmütigen Blick auf den Zwerg drehe ich mich weg und zwinge meine Beine zum Gehen.

 

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„Hey Tascha, wo bist du mit deinen Gedanken?“

„Was?“ Irritiert blicke ich auf und sehe meine Schwester an.

„Mensch Kleine, seit fünf Minuten versuche ich dich anzusprechen. Was ist los?“ Leicht beschämt schüttle ich den Kopf.

„Was ist denn los Nadine?“ Versuche ich vom Thema abzulenken, mit Erfolg.

„Herr Klugheim hat angerufen. Du hattest dich doch bei ihm wegen einen Aushilfsjob beworben.“ Bestätigend nicke ich. „Er sagt, du sollst Morgen um halb elf im Laden sein, dann könnt ihr alles weitere besprechen.“ Lächelnd danke ich meiner älteren Schwester.

„Was machst du eigentlich hier?“ frage ich sie einen Moment später, als sie sich bereits wieder weggedreht hat.

„Mum hat mich gebeten nach dem Rechten zu sehen solange sie nicht da ist.“ Beschwichtigend hebt sie die Hände, als sie erkennt dass ich wütend werde.

„Was soll das? Ich bin keine zehn Jährige mehr, die nicht allein sein kann. Was denkt sie sich dabei ich…“

„Halt die Luft an Natascha. Ich befolge Mutters bitte, mehr nicht.“

„Ich bin einundzwanzig. Nur weil ich zu Hause wohne brauche ich keinen Babysitter.“

„Kläre das mit ihr. Ich hau wieder ab. In der Küche steht was zu Essen. Bis Morgen.“ Damit dreht sich Nadine um, winkt mir zu und verschwindet aus der Wohnung.

Was zur Hölle denken sich die zwei?

Wütend springe ich vom Stuhl auf. Greife beim Vorbeigehen nach meinem Wohnungsschlüssel und meiner Jacke und verlasse die Wohnung.

Krachend fällt die Tür hinter mir ins Schloss, als ich bereits fünf Stufen hinunter gerannt bin.

 

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Nach einer Stunde zielloses umherlaufen, setze ich mich im nahegelegenem Park auf eine Bank und rufe meine Mutter an. Zumindest versuche ich es. Als beim dritten Mal wieder nur die Mailbox anspringt hinterlasse ich ihr eine nicht unbedingt freundliche Nachricht. Ich warte noch eine gefühlte Ewigkeit, doch sie meldet sich nicht.

Mittlerweile ist die Sonne fast gänzlich untergegangen und ich mache mich wieder auf dem Heimweg.

Es ist zwar ein kleiner Umweg, aber ich gehe an der Zoohandlung noch einmal vorbei. Zwar hat das Geschäft schon geschlossen, aber die Tiere sind noch immer in ihren Gittern. Mein kleiner Welpe sitzt etwas abseits von den anderen dreien in dieser Box und beobachtet alles nur. Ich weiß nicht ob es ein Weibchen oder Rüde ist, aber Lou ist in meinen Augen ein passender Name für das Fellknäuel.

Ich gebe mir einen Ruck. Verabschiede mich von Lou und gehe endlich nach Hause.

 

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Auch am nächsten Morgen höre ich nichts von meiner Mutter. Auf der einen Seite bin ich noch immer wütend auf sie, weil sie mich wie ein Kind behandelt. Auf der anderen Seite kann ich nach einer Nacht darüber schlafen, sie zumindest ansatzweise verstehen. Ich nehme mir fest vor, nach dem Termin mit Herrn Klugheim, Mutter anzurufen.

Überpünktlich stehe ich vor dem kleinen Geschäft. Eine etwas ältere Dame kommt heraus und Lächelt mich an.

„Bist du Natascha Löwe?“ fragt sie freundlich. Verlegen wische ich meine feuchte Hand an der Hose ab, ehe ich sie ihr reiche.

„Guten Morgen“, grüße ich sie. „Ja, aber bitte nennen sie mich Tascha.“ Der Händedruck ist ziemlich fest, was mich etwas verwundert.

„Dann komm einmal rein Tascha:“ Die Frau führt mich durch das Bekleidungsgeschäft in ein kleines Büro, wo sie mich bittet Platz zu nehmen und zu warten. Verstohlen sehe ich mich in dem Raum um. An einer Wand steht ein großes Regal mit Aktenordnern und Sachbüchern. Gegenüber hängen einige Fotos. Fast ausschließlich schwarz-weiß Aufnahmen mit Menschen und Tieren. Vor dem Fenster steht der Schreibtisch, tadellos aufgeräumt.

Keine fünf Minuten später geht die Bürotür wieder auf und die Frau kommt mit einem Glas Wasser für mich rein.

„Mein Mann wird jedem Moment da sein.“ Sagt sie und setzt sich neben mir auf einen Stuhl. Meine Neugier siegt und ich beobachte die Frau, die sich mir noch immer nicht vorgestellt hat. Sie scheint Mitte vierzig zu sein, schlank, mit einer kleinen Oberweite und schulterlangen braunen Haaren.

Die Oberarme sind etwas breiter, was mich an Körperliche Arbeit denken lässt. Das Gesicht ist schön, jedoch für eine Frau fast etwas zu kantig. Sie ist nur dezent geschminkt und die Lippen schmal. Die Augen funkeln in einem dunklen grün.

Ertappt senke ich den Blick und starre auf meine Hände.

Die Frau lacht auf und legt eine Hand auf meine. Zögernd hebe ich den Blick.

„Was siehst du, wenn du mich ansiehst?“ fragt sie neugierig, aber noch immer lächelnd.

Mein Blick geht zurück auf ihre Hand, die noch immer auf meiner liegt.

Die Finger sind lang und schlank, die Innenfläche rau.

„Sie sind schön, weiblich aber auch etwas maskulin.“

In dem Moment geht die Tür auf und ein fast ein Meter neunzig großer, breitschultriger Mann betritt den Raum.

„Liebling bringst du unsere potenzielle Angestellte bereits am ersten Tag in Verlegenheit?“ Lächelnd beugt er sich zur Frau hinunter und gibt ihr einen Kuss auf den Mund bevor er sich zu mir dreht.

„Entschuldigen Sie das Verhalten von Jacky. Ich bin Bruno Klugheim.“

Meine Hand versinkt regelrecht in seiner, doch sein Händedruck ist vorsichtig. Schließlich setzt er sich hinter den Schreibtisch und beobachtet mich.

Unangenehm senke ich den Blick wieder auf meine Hände.

„Bruno du bist ein Tier.“ Empört sich Jacky und legt ihre Hand abermals auf meine. Bruno bringt lachend eine Entschuldigung zu Stande.

„Warum hast du ausgerechnet bei uns nach einem Aushilfsjob gefragt?“ fragt er schließlich und blickt mich ernst an.

„Es ist ein kleiner Laden und ich habe gehofft ein paar Stunden am Abend helfen zu können. Post wegbringen, sauber machen oder so was in der Art.“

„Ist das der einzige Grund? Weil der Laden klein ist?“

Verlegen ringe ich mit den Händen.

„Komm Kleines erzähl einfach.“ Versucht Jacky mich aufzumuntern.

„Ich…“ noch einmal hole ich tief Luft und spreche anschließend so schnell, dass sich meine Zunge fast überschlägt.

„Ich habe im Internet gelesen, dass sie Schwul sind und ihre Frau angeblich ein Mann sein soll.“

Beschämt schließe ich die Augen und warte auf das was kommt.

Womit ich nicht rechne, ist eine Umarmung von Jacky und einem herzhaftem Lachen von Bruno.

„Mädchen ich weiß zwar nicht warum ausgerechnet das so entscheidend für dich ist, aber du gefällst uns. Also pass auf.“

Bruno wartet bis ich ihn ansehe und bespricht im Detail was er sich vorstellt.

Nach fast einer Stunde verabschiede ich mich von dem Paar. Wieviel Wahrheit hinter dem liegt, was ich im Internet gelesen habe weiß ich nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass ich es irgendwann erfahren werde.

 

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Auf dem Heimweg gehe ich wie von selbst an der Zoohandlung vorbei. Lou sitzt wieder in einer Ecke und beobachtet die anderen. Ein Mädchen mit seinem Vater steht vor dem Gitter und sie sehen sich die Welpen an. Da Lou nicht wie gewünscht nach vorne kommt übersieht das Mädchen den Kleinen. Nach einigen hin und her entscheiden sie sich für den weißen Welpen. Mitfühlend lege ich eine Hand an die Scheibe. Als hätte der Welpe es gehört oder gespürt dreht er den Kopf und sieht mich an. Ich kann den Blick nicht von diesem kleinen Wesen nehmen und starre es Minutenlang an.

„Hey willst du nur glotzen oder auch kaufen?“ Werde ich barsch von einem Jungen in meinem Alter angesprochen.

„Was? Entschuldigung!“ Ich winke dem Welpen zu und er antwortet mit einem Winseln, als ich mich wegdrehe und nach Hause gehe.

 

Zu Hause erwartet mich Nadine mit ihrem Ehemann Sören.

„Na endlich ich dachte du kommst gar nicht mehr. Wie ist es gelaufen?“

„Was ist hier los?“ Frage ich jedoch anstatt eine Antwort zu geben. Ich mustere Nadine genauer. Sie ist fast sieben Jahre älter als ich und genau genommen nur meine Halbschwester. Vater hatte sie in die Beziehung mit reingebracht. Hat  sich dann kurz nach meinem siebten Geburtstag dann jedoch aus dem Staub gemacht und Nadine bei Mutter gelassen. Wir sehen uns nicht ähnlich und haben auch so keinerlei Gemeinsamkeiten.

Nadine ist selbstsicher und was sie will bekommt sie auch. Sören ist ihr direkter Vorgesetzter und sie seine Managerin in einer Firma für Marketing. Sören ist nur sehr selten zu Besuch, weil die kleine zwei Zimmerwohnung, die ich mir mit Mutter teile, nicht seinem Niveau entspricht.

Doch das Bild, was Nadine jetzt von sich gibt… innerlich Kopfschüttelnd sehe ich sie an. Der Zopf ist locker und sämtliche Strähnen fallen heraus. Sie trägt ein T-Shirt und eine Hose, die viel zu locker für die Straßen sitzen. Immer wieder schaut sie nervös zu Sören, als ob sie ihn um Hilfe bitten wolle. Doch er ignoriert ihren Blick und beschäftigt sich mit seinem Smartphone.

„Natascha bitte setz dich zu mir.“ Verdammt, wenn sie meinen vollen Namen verwendet ist die Kacke am Dampfen. Ich setze mich auf den Stuhl ihr gegenüber und warte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit ergreift sie meine Hände und hält sie fest.

„Du weißt, dass Mum ins Gebirge gefahren ist.“

„Ja wegen irgendeinem Lehrgang.“ Antworte ich und sehe Nadine gebannt an.

„Die Polizei rief von da an. Es gab einen Unfall mit dem Reisebus. Man hat ihre Papiere gefunden, aber sie noch nicht.“

„Das ist gut, dann ist ihr also nichts passiert.“ Wehmütig schüttelt Nadine den Kopf und drückt meine Hände bis ich ein Stöhnen von mir gebe, da der Druck zu stark ist.

Bevor Nadine weiterspricht schluchzt sie auf und ich sehe Tränen, die ihr über die Wange rollen.

„Was…“ Panik erfasst mich und ich versuche aufzuspringen, doch der Griff um meine Hände ist zu stark.

„Der Bus ist fast vollständig ausgebrannt. Mit ihnen siebenundzwanzig Personen.“

„Nein!“ Als ich jetzt aufspringe lässt Nadine mich los und der Stuhl kippt um. „Das kann nicht … du lügst … Mutter sie … nein!“ Ich renne blindlings aus der Wohnung. Stolpere die Treppe hinunter und wäre gefallen, hätte mich nicht jemand aufgefangen.

Doch ich reiße mich sofort wieder los und renne weiter. Egal wohin, einfach nur raus.

Meine Augen brennen und die Sicht verschwimmt, aber das ist mir gerade egal.

 

Ich habe keine Ahnung wie lange ich laufe oder wohin. Als mir die Beine wegknicken kämpfe ich nicht dagegen an. Wie ein nasser Sack gehe ich zu Boden und weine.

 

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„Hey“ ein sanftes rütteln lässt mich die Augen öffnen. Ich fühle mich zu schwach um irgendwie zu reagieren. „Alles okay mit dir?“ Ich sehe meinem Gegenüber zwar, aber nehme ihn nicht wirklich wahr. Andere Leute stellen sich zu uns, doch kann ich keinen erkennen.

Selbst als ich ungefragt hochgehoben werde, reagiere ich nicht. Etwas pickt in meinem Arm und um mich herum wird alles wieder dunkel.

 

„Nein…Bitte…Es tut mir leid!“ Schweißgebadet setze ich mich auf. Ich kenne die Umgebung nicht und will gerade aus dem fremden Bett aufstehen, als die Tür aufgeht.

„Hallo Tascha, schön dass du wach bist.“ Ein Mann Mitte dreißig steht mit einem Tablett in der Tür. „Oh je verzeih.“ Er stellt das Tablett auf den Nachtisch und legt mir eine Hand auf die Schulter, mit der er mich auf das Bett zurück drückt. „Du erkennst mich so sicher nicht. Ich bin es Jacky. Naja so sehe ich aus, wenn ich mich mal nicht in Schale werfe. Deine Schwester hat bei uns angerufen nach dem du nicht zurückgekommen bist. Wir haben einen kleinen Suchtrupp organisiert. Mensch du hast uns ganz schöne Sorgen bereitet.“ Der Versuch zu sprechen entlockt mir nur ein Krächzen. Wortlos drückt mir Jacky ein Glas Wasser in die Hand, was ich gierig leere.

„Langsam Tascha.“

„Wie lang…“ starker Husten lässt mich verstummen und ich drücke meine Hand gegen den Brustkorb.

Behutsam drückt mich Jacky in die Kissen zurück. Stopft sie dabei so hoch, dass ich halb sitze, halb liege. Er setzt sich auf die Bettkante, nimmt eine Schüssel in die Hand und will mich füttern.

Ich möchte protestieren, doch entschlossen schüttelt Jacky den Kopf.

„Ich erzähle dir was alles geschehen ist, aber dafür isst du wenigstens ein paar Löffel.“ Seufzend nicke ich und lasse mir den Löffel in den Mund stecken. Aber alles ist geschmacklos.

„Vier Tage bis du bereits hier.“ Beginnt Jacky zu reden und reicht mir einen neuen Löffel Suppe. „Wir haben dich total durchgefroren im Wald gefunden. Fast die ganze Nacht haben wir nach dir gesucht. Es hat keinen einzigen Hinweis gegeben wo du sein könntest. Der Wald ist die letzte Anlaufstelle gewesen. Dein Schwager fand dich zuerst, aber er ist total überfordert gewesen genau wie deine Schwester. Bruno und ich haben dich zu uns genommen und seit dem bist du hier.“ Meine Reaktionen sind nur schleppend. Nach und nach kommt die Erinnerung an das zurück, was mich weggetrieben hat.

„Mutter…“ Jacky stellt die Schüssel zur Seite und zieht mich in eine Umarmung.

„Es tut mir Leid Kleines.“ Ich schreie auf und versuche mich aus der Umarmung zu reißen, aber der Griff des Mannes lässt nicht locker. Verzweifelt kralle ich mich in das nächstbeste was meine Hände greifen können. Mein Körper beginnt zu zittern, die Tränen fließen und unaufhörlich schluchze ich. Stammle dabei unzusammenhängende Worte, an die ich mich selbst nicht mehr erinnern kann. Irgendwann habe ich keine Kraft mehr und ich sacke in mich zusammen. Behutsam werde ich ins Kissen zurückgelegt, wo ich mich sofort zu einer Kugel zusammenrolle.

Um mich herum wird alles still und dunkel.

 

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Als ich das nächste Mal erwache sitzt meine Schwester neben mir auf einem Stuhl.

„Du musst aufstehen Natascha. Die Wohnung muss geräumt werden. Du musst deine Sachen zusammen packen.“

Schockiert sehe ich sie an. Wohnung räumen? Ausziehen?

„Wohin?“

„Die Eheleute Klugheim haben angeboten dich hier erstmal wohnen zu lassen. Ich würde dich auch mit zu uns nehmen, aber Sören findet, dass das keine gute Idee wäre. Hier könntest du es direkt abarbeiten und wärst unter ständiger Aufsicht.“ Nadine erhebt sich und geht zur Tür. „Also steh auf. In zehn Minuten fahre ich rüber. Sören überwacht bereits alles andere, so dass wir spätestens in drei Stunden die Schlüssel abgeben können.“ Fassungslos starre ich zur Tür, aus der Nadine gerade verschwindet.

Noch immer kann ich nicht glauben das Mutter nicht mehr zurück kommt und meine ach so tolle Schwester und ihr Mann haben nichts Besseres im Kopf, als die Wohnung aufzulösen.

Nur widerstrebend stehe ich auf. Auf wackligen Beinen kleide ich mich an. Im angrenzenden Bad mache ich mich frisch und gehe anschließend aus dem Zimmer.

Ich stehe am Ende eines Flures, also gehe ich in die einzige Richtung die möglich ist. Je näher ich der Treppe komme, desto lauter werden Stimmen die miteinander streiten.

„Ich finde es falsch. Das Mädchen steht total unter Schock. Lasst ihr Zeit um sich an die Situation zu gewöhnen!“

„Bullshit. Zeit ist Geld was wir nicht haben. Das alles geht heute von statten und das war es dann. Mutter ist seit einer Woche unter der Erde und sie hat nichts Besseres zu tun als zu schlafen. Bitte wenn sie so ihr Leben verbringen will…“ Ein heftiger Knall lässt mich zusammenzucken.

„Wie redest du über deine Schwester?“

„Halbschwester! Ich habe es mir nicht ausgesucht. Vater wollte mich nicht, dabei habe ich ihn angefleht mich mit sich zu nehmen. Er ist doch an allem schuld.“

„Nadine es reicht. Du kennst ganz genau die Gründe, warum dein Vater getan hat was er tat. Es berechtigt dich nicht dazu deine schlechte Laune an Tascha auszulassen.“

„Denk was du willst. Du bist ihr Patenonkel, also kümmre du dich um sie. Ich habe keine Zeit und Lust mehr den Babysitter zu spielen. Um sieben Uhr heute Abend geben wir den Wohnungsschlüssel ab. Bis dahin habt ihr Zeit ihre Sachen zu holen.“

Kurz darauf knallt eine Tür zu und es herrscht Stille.

Wie angewurzelt stehe ich am Treppenabsatz und starre hinunter.

„Bruno was… oh verdammt Tascha.“ Jacky läuft an Bruno vorbei und kommt die Stufen hochgesprintet. In dem Moment als meine Beine wegknicken zieht er mich in seine Arme. Kurz darauf berühren mich zwei weitere Hände und ich werde in die Luft gehoben.

„Es tut mir leid Tascha, dass du das eben mit anhören musstest. Nadine kommt ganz nach ihrem Vater. Zielstrebig, egoistisch und herrisch. Ich hätte dir gerne noch mehr Zeit gelassen.“

Bruno trägt mich direkt in die Garage und lässt mich erst los, als ich im Auto sitze. Jacky rutscht neben mir und hilft mir mich anzuschnallen. Kurz darauf steigt Bruno hinters Steuer und wir fahren los.

 

Bis zur Wohnung dauert es nicht lange. Bruno versucht mir alles zu erklären, doch je mehr ich höre desto unwirklicher wird alles.

Wie ferngesteuert packe ich meine Sachen zusammen. Nach drei Umzugskartons und einer Reisetasche habe ich alles verstaut und wir verlassen die Wohnung wieder.

Ich habe keinen Blick für den Rest der Wohnung oder den Menschen die umher laufen. Einzig die zwei Männer, die mich bei sich aufgenommen haben, halten mich oben und führen mich in die richtige Richtung.

 

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Weitere Tage vergehen ohne dass ich etwas sage oder mache. Ich sitze einfach nur auf dem Bett und starre vor mich hin.

Damit ich wenigstens etwas esse, füttern mich die beiden. Ich möchte protestieren, schreien, aber selbst dafür fehlt mir die Kraft.

 

„Genug Trübsal geblasen. Es wird Zeit das du wieder an die frische Luft kommst.“

Jacky legt frische Sachen vor mir auf das Bett, doch ich reagiere noch immer nicht.

„Okay Natascha pass auf. Ich gebe dir zehn Minuten um dich umzuziehen. Wenn du dann nicht fertig bist werde ich das übernehmen.“ Als er das sagt hebt er meinen Kopf an, so dass ich ihn ansehen muss. So wenig Lust ich auch habe, aber das ich umgezogen werde geht dann doch zu weit und wiederstrebend nicke ich.

Als ich schließlich zwanzig Minuten später, umgezogen und zu Recht gemacht, das Zimmer verlasse, steht Jacky lächelnd vor der Tür.

 

Schweigend laufen wir durch die Straßen. Wenn Jacky ein bestimmtes Ziel hat, so sagt er jedoch nichts. Wie automatisch bleibe ich an einem Schaufenster stehen. Erst als ich den Blick hebe, erkenne ich, dass wir am Zoogeschäft stehen.

Es ist so viel Zeit vergangen, dass ich nicht glaube, dass Lou noch da ist. Dennoch sehe ich mich um. Viele neue Welpen und… Lou. Vorsichtig hebe ich eine Hand an das Fenster und sofort blickt der Kleine auf. Er ist etwas größer geworden, aber das flauschige Fell hat er noch immer. Langsam steht er auf und humpelt zu mir rüber. Das erste Mal das ich ihn laufen sehe. Ohne dass ich es bemerke rollen mir Tränen über die Wangen. Hektisch wische ich mir über die Augen. Ich möchte nicht, dass ich den Kleinen nur verschwommen sehe. Direkt vor mir an der Scheibe setzt er sich wieder hin und blickt zu mir auf. Kein Schwanzwedeln, Bellen oder gar Winseln. Einfach nur unsere Blicke die sich ineinander verankert haben.

Der Moment wird unterbrochen, als ein Verkäufer an das Gehege kommt und den Kleinen hoch nimmt. Fassungslos starre ich den beiden hinterher.

„Tascha“ Jackys Hand auf meiner Schulter holt mich zurück und erinnert mich daran, dass ich nicht alleine bin. Schnell drehe ich mich vom Schaufenster weg und gehe die Straßen weiter. Nach einigen Schritten legt mir Jacky wieder eine Hand auf die Schulter. Jetzt jedoch so, dass er mich an seine Seite ziehen kann und mich so dirigiert.

 

Vor dem Friedhofstor bleibe ich wieder wie angewurzelt stehen. Meine Beine verweigern mir den Dienst.

„Natascha es muss sein!“ Sagt Jacky mitfühlend und schiebt mich weiter. Widerwillig setze ich einen Fuß vor den anderen.

Vor einem kleinen Grabstein bleiben wir stehen – Rosalie Marie Löwe geb. Stein geb. 17.2.1972 gest. 19.11.2017 –

Schreiend gehe ich zu Boden. Kralle meine Hände in die feuchte Erde und lasse den Tränen freien Lauf.

Als schließlich nur noch ein schluchzen kommt stemme ich mich etwas schwankend wieder auf.

„Welcher Tag?“ Frage ich mit leiser Stimme.

„Es ist jetzt ein Monat her. Nachdem wir dich gefunden haben, riefen wir deine Schwester an und sie sagte uns, dass sie alle Opfer identifizieren konnten. Sie wollte es dir sagen, aber Bruno hat es für das Beste gehalten noch zu warten. Die Beerdigung ist vor etwas mehr als zwei Wochen gewesen.“

„Ich bin schuld.“ Schluchze ich und fange wieder an zu weinen.

„Süße wie sollst du schuld sein? Es ist ein Unfall gewesen.“ Heftig schüttle ich den Kopf.

„Ich habe Mum angerufen und geschimpft. Sie vertraut mir nicht und Nadine hat nach dem Rechten gesehen.“

„Schh…“ Jacky nimmt mich in den Arm und drückt mich an sich. Für einen Moment versteife ich mich und will mich losreißen, doch dann sinke ich gegen die Wärme und den Schutz den er mir bietet.

Am Friedhofseingang wartet Bruno mit seinem Pick Up um uns mitzunehmen.

Wortlos steige ich ein, schnalle mich an und beobachte, wie die beiden sich zärtlich begrüßen. Irgendwie bin ich schon etwas neidisch, obwohl ich im Moment gar keinen Kopf für eine Beziehung habe.

 

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Weihnachtsmorgen

Die Tage ziehen noch immer dahin ohne dass ich viel mitbekomme.

Während Bruno im Geschäft gewesen ist, bezieht mich Jacky überall mit ein, was das Schmücken und das Essen und alles betrifft.

Die beiden sind so gut zu mir, als wäre es das normalste auf der Welt.

In dem Moment fällt mir etwas ein, was Nadine zu Bruno gesagt hat.

„Patenonkel“, flüstre ich und sehe Bruno mit großen Augen an.

Wir sitzen am Mittagstisch.

Er seufzt leise, nickt mir dann zu und lächelt.

„Ich bin eigentlich sogar dein Onkel, irgendwie. Dein Vater ist mein Stiefbruder. Er bat mich, dein Patenonkel zu sein, doch als er fortging… Deine Mutter hat ein Problem damit gehabt dass ich schwul bin und seit dein Vater ging, durfte ich dich nicht mehr besuchen. Ich bin sehr überrascht gewesen, als du dich hier beworben hast. Erst habe ich gedacht, dass deine Mutter ihre Meinung geändert hätte.“ Traurig schüttle ich den Kopf.

„Ich habe einige Erinnerungen an einen jungen Mann, der mit mir und Vater etwas unternommen hat. Manchmal ist auch Nadine dabei gewesen. Als Vater ging, ging auch der Mann. Wenn ich Mutter gefragt habe, hat sie nie geantwortet. Sie ist immer wütend geworden und hat mit irgendetwas geschmissen. Ich habe mich dann versteckt. Manchmal, wenn sie zu viel getrunken hat, fing sie an zu weinen. Beschwerte sich über das Land und Vater. Meinte, in Deutschland wäre es ihr besser ergangen als hier.“

„Dein Vater ist Soldat gewesen. Er hat deine Mutter kennengelernt, als er in Deutschland stationiert gewesen ist. Als er zurückging, bat er sie mitzugehen. Sie ging freiwillig und ein Jahr später bist du geboren.“

„Warum ist Vater nicht geblieben?“

Jemanden zu haben mit dem ich über meine Eltern reden kann ist berauschend. Für den Moment vergesse ich alle Sorgen und sauge die Geschichten auf wie einen Schwamm.

Traurigkeit liegt in Brunos Blick.

„Er konnte nicht. Solange hat er versucht bei euch zu bleiben. Doch er ist krank gewesen. AIDS. Als er es nicht länger verbergen konnte ist er gegangen. Deine Mutter hat mir die Schuld gegeben. Dabei ist es dein Vater gewesen, der mit seinen Gefühlen nicht zu Recht gekommen ist.“ Langsam sickert das Gehörte durch.

„Du meinst Vater ist mit einem Mann zusammen gewesen?“

„Ja, aber nicht mit einen.“

AIDS – Vater ist tot. Mutter…

Leise rollen die Tränen. Ich wische sie nicht weg, lasse sie auf mein Shirt tropfen.

„Wusste Mutter es? Oder Nadine?“

„Ja beide wussten es.“ Und keiner hat mir etwas gesagt.

„Entschuldigt mich.“ Auf jeden Schritt achtend stehe ich langsam vom Tisch auf. Schiebe meinen Stuhl ran und gehe ins Zimmer. Ich fühle mich wie betäubt. Noch immer habe ich die Hoffnung gehabt meinen Vater wiedersehen zu können.

Mutter, Nadine… ich sollte wütend sein. Aber ich habe keine Kraft mehr. Ich weine stille Tränen.

 

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Mein Rücken schmerzt. Noch immer sitze ich unter dem Fenster an der Wand in meinem Zimmer, wo ich mich hab sinken lassen.

Wie spät mag es wohl sein?

Draußen ist es bereits dunkel, aber um diese Jahreszeit ist das normal.

Langsam gehe ich die Treppe hinunter.

Im Wohnzimmer leuchtet es. Als ich in der Tür stehe, sehe ich Bruno und Jacky eng umschlungen vor dem Kamin sitzen. Der Kamin und der Weihnachtsbaum sind die einzigen Lichtbringer. Die Männer halten in ihrer Bewegung inne und blicken zur Tür.

„Komm her“, Jacky streckt mir eine Hand entgegen. Durch das Sofa, was zwischen Kamin und Tür steht, kann ich nur ihre Köpfe sehen.

Langsam umrunde ich das Sofa und bleibe wie angewurzelt stehen.

„Lou“ flüstre ich und gehe in die Knie. Der kleine Welpe aus dem Zoogeschäft kommt ohne Scheu auf mich zu. Klettert auf meinen Schoß und rollt sich zusammen.

„Aber…“ sanft lege ich die Hände um den kleinen Körper, damit er nicht vom Schoß fällt.

„Ich habe euch beobachtet. Am Abend habe ich mich mit Bruno unterhalten. Wir beide denken, dass ihr gut füreinander seid. Und die Reaktion des kleinen Kerlchens bestätigt meine Vermutung.“

„Danke, ich weiß nicht … ich“

„Das alles hat eine Bedingung. Nach den Ferien setzt du dein Studium fort und du hilfst wie beworben im Laden aus. Der Kleine hat ein Hüftproblem. Scheinbar keine Schmerzen und nichts, was ihn kränkeln lässt. Aber er muss regelmäßig untersucht werden. Es steht außer Frage, dass wir uns tagsüber um ihn kümmern, wenn du an der Uni bist.“

„Danke. Ich verspreche es.“ Lächelnd streichle ich das seidige weiche Fell des Rüden. Schließlich nehme ich ihn auf den Arm und gehe zu den Männern rüber.

Als ich sie umarmen und mich danach von ihnen lösen will, zieht mich Jacky zwischen sie.

 

Von jetzt auf gleich habe ich zwei Onkel bekommen, die mich zu sich genommen haben. Ein neues Zuhause geben und Liebe. Geborgen von ihrer Umarmung lehne ich mich an sie und schließe die Augen. Lou bewegt sich in meinen Armen und als ich zu ihm runterschaue, richtet er sich auf und leckt mir über das Gesicht.

Was uns alle drei zum Lachen bringt.

Schon lange habe ich mich nicht mehr so geliebt und willkommen gefühlt wie in diesem Moment.

Und egal wie groß die Hürde ist, die ich gerade überwinden muss.

Mit diesen dreien weiß ich, dass ich es schaffen kann.

Nach so einem Tiefschlag habe ich eine Familie geschenkt bekommen, die mich immer akzeptieren wird.

Das weiß ich aus tiefstem Herzen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.12.2018

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