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1

„Du wirst mir nicht entkommen! Egal, was du versuchst, ich werde dich finden!“ Schweißgebadet schlage ich die Lider auf, blicke mich unruhig im Zimmer um. Die Wände sind blutverschmiert. Egal, wo ich hinsehe, rot. Die Tür steht einen Spalt breit offen und obwohl ich weiß, dass ich es nicht tun sollte, steige ich aus dem Bett. Spähe durch die Lücke in den Flur, bevor ich nur Sekunden später hinaustrete.

Dunkelheit umfängt mich, kein Funken Helligkeit ist zu erkennen.

Stehe mit den nackten Füßen in einer zähen Flüssigkeit.

Brauche kein Licht um zu wissen, was es ist.

Langsam gehe ich weiter bis zum Ende, wo etwas Großes mir den Weg versperrt. Wie ferngesteuert drehe ich mich zur Treppe, doch kaum das ich die erste Stufe betrete, stößt mich etwas und ich falle hinunter. Begleitet von höhnischem Gelächter.

 

Ein leiser Aufschrei und ich sitze keuchend und mit weit aufgerissenen Augen, kerzengerade im Bett. Das kleine Nachtlicht zeigt mir, dass ich endlich aufgewacht bin.

Seit einem Monat habe ich jede Nacht den gleichen Traum. Er ist so nah an der Realität und doch nur eine Täuschung. Schaue auf den Wecker, in der Hoffnung, dass sich etwas verändert hat.

Muss aber enttäuscht feststellen, dass es wieder zwei Uhr ist, wie jede Nacht.

 

Nach einer warmen Dusche sitze ich in der Küche und trinke Kaffee. Wohltuend und heiß rinnt er die Kehle hinunter. Gedankenverloren blicke ich in die Nacht hinaus. Hier, am Rande der Kleinstadt, bekommt man von dem Lärm kaum noch etwas mit.

 

Muss wohl am Tisch eingeschlafen sein, als ich mich umblicke, geht bereits die Sonne auf. Seufzend erhebe ich mich und mache mich für die Arbeit fertig.

Ich habe das alles so satt, möchte den Job am liebsten an den Nagel hängen und irgendwo neu anfangen.

Diese Überlegung nimmt immer mehr Gestalt an und als ich schließlich bei der Dienststelle eintreffe, führt mich der erste Weg in das Büro des Chiefs.

„Sergeant, was kann ich für Sie tun?“ Es gibt kein Zögern, kein Zurück mehr für mich.

„Ich möchte kündigen. Brauche einen Tapetenwechsel. Neu anfangen.“ Mit hochgezogenen Augenbrauen sieht mein Chef mich an.

„Es ist immer noch wegen der letzten Aufklärung, oder? Sie waren nie bei einem Psychologen.“ Bin etwas verwundert, aber nachdem ich hier schon meine Ausbildung absolviert habe und nun auch seit 2 Jahren fest hier arbeite, kennt er mich in- und auswendig. Auch wenn ich den Blick abwende, weiß er, was ich denke.

„Junge, weißt du schon wo es hingehen soll? Oder darf ich dir eine Empfehlung aussprechen?“ Mir soll es egal sein, Hauptsache, ich bin weit genug entfernt.

„Bist du bereit noch eine Ausbildung zu machen? Ich könnte aber auch versuchen dich so unterzubringen. Sei dir jedoch gewiss, dass das kein Zuckerschlecken wird.“ Erwartungsvoll ruht sein Blick auf mir. Gründlich denke ich darüber nach. Weiß nicht, um was es geht. Soll ich mich wirklich darauf einlassen ohne zu wissen was es ist? Will ich es überhaupt wissen? Schließlich nicke ich, drehe mich um und verschwinde. Lasse dem Chief keine Chance noch etwas zu sagen.

 

Eine Stunde später überreicht er mir wortlos einen Zettel. Der Gesichtsausdruck ist konzentriert und doch erkenne ich eine gewisse Traurigkeit. Als der Chief aus meinem Sichtfeld ist, falte ich das Papier auseinander. Studiere die Adresse und Telefonnummer, die draufstehen.

2

Zwei Wochen und noch immer hocke ich hier, in dem kleinen Nest. Gehe immer noch meiner Arbeit im Polizeipräsidium nach, ohne zu wissen wie ich mich entscheiden soll.

„Dustin, kommst du mal bitte!“ Blicke  vom Schreibtisch hoch, in Chief Stuarts angespannten Gesichtsausdruck. Seufzend erhebe ich mich, diskutieren hat eh keinen Sinn.

 

Eine geschlagene Minute schweigen wir uns an. Sitzen Auge in Auge, nur der Schreibtisch zwischen uns.

„Warum bist du noch hier? Jeden Tag geht es dir schlechter. Wann hast du das letzte Mal richtig geschlafen?“ Sehe Stuart an, doch kein Wort kommt mir über die Lippen. „Also gut, dann schweige weiter. Für die nächsten drei Tage bist du beurlaubt, außerdem möchte ich, dass du dich am Montag bei Captain Mathew meldest.“ Die Adresse habe ich dir bereits vor Wochen gegeben.“

 

Zurück an meinem Schreibtisch schaue ich gedankenverloren in die Ferne.

Stuart hat ja Recht. Keine einzige Nacht schlafe ich mehr durch. Habe am Tage das Gefühl verfolgt zu werden.

„Dustin, wieso sitzt du immer noch hier rum?“ Erschrocken richte ich mich auf. Ein Blick auf die Wanduhr zeigt mir, dass zwei Stunden vergangen sind. Kopfschüttelnd kommt der Chief zu mir, legt die Hände auf meine Schultern.

„Geh` nach Hause, Junge. Du kannst jederzeit zu mir kommen, aber Captain Mathew ist derzeit das Beste für dich. Vertrau` mir!“ Damit verschwindet er und lässt mich allein zurück.

Endlich schaffe ich es mich aufzurappeln, meine Sachen zusammenzupacken und das Gebäude zu verlassen.

 

Bereits am Sonntag mache ich mich auf den Weg. Habe keinerlei Ahnung, auf was ich mich einlasse und dennoch lade ich das Auto voll. Viele Habseligkeiten besitze ich nicht, so dass  alles mit einem mal verstaut ist.

Nach etwas über fünf Stunden Fahrt erreiche ich mein Ziel. Die Stadt ist um einiges größer und liegt an der Küste. Ein idealer Ort zum Ausspannen und Erholen. Innerlich schüttle ich den Kopf, bin ich gerade einmal einundzwanzig und kein Greis, der sich erholen muss.

Fahre bis zu der angegebenen Adresse und ohne das Gebäude weiter zu beachten suche ich mir eine Pension in der Nähe.

Erst, nachdem ich das Auto geleert habe, begebe ich mich auf den Weg in die Umgebung.

Ans Auspacken will ich jetzt nicht denken. Unbedacht führt es mich zu der Adresse zurück, wo ich Captain Mathew treffen soll. Starre ungläubig auf das Gebäude, kann nicht glauben, was ich lese.

„Eine Kaserne … Stuart, wo hast du mich abgesetzt?“ Wütend drehe ich mich um und renne wild drauf los, bis zur nächsten Ecke, wo ich abrupt zum Stehen komme.

Schuld daran ist ein Jungspund, mit breiten Schultern und ausgeprägten Muskeln. Von der Wucht des Aufpralls wäre ich zu Boden gegangen, wenn er mich nicht an den Oberarmen festgehalten hätte.

„Vorsicht!“, sagt er in gleichem Moment und sein Lächeln lässt mich schwanken.

Brauche einige Sekunden um wieder sicher zu stehen. Kopfschüttelnd trete ich einen Schritt zurück, doch lässt mein Gegenüber mich nicht los.

„Entschuldigung.“, bringe ich stotternd hervor, drehe mich um und renne weg. Warum ich so reagiere, weiß ich nicht. Schiebe es auf den Typen, der mir so unheimlich erscheint. Habe das Gefühl kilometerweit gerannt zu sein, als ich am Strand ankomme und in die Fluten sinke.

Meine Lunge brennt und unruhig geht mein Atem. Schweiß bedeckt meine Haut. Gedankenverloren starre ich ins offene Meer.

 

Ein Blenden lässt mich aufschrecken. Knie noch immer im seichten Wasser, um mich herum ist es Nacht geworden.

Den Arm schützend vor die Augen haltend, sehe ich in die Richtung, aus der das Licht kommt, kann aber nichts erkennen.

Langsam erhebe ich mich, merke, wie taub die Beine sind und schwanke leicht.

„Um diese Uhrzeit solltest du dich nicht allein hier rumtreiben.“ Tief und sanft, aber bestimmt ist die Stimme des Mannes. Beim Näherkommen erkenne ich, dass es sich um einen Japaner handelt.

Der Körperbau und die Stimme passen nicht wirklich zusammen.

„Was machst du hier?“ Sehe den Mann eine Weile an, ehe ich die Frage richtig realisiere.

„Ich habe die Zeit vergessen. Es tut mir leid, wird nicht wieder vorkommen.“ Damit will ich mich umdrehen und gehen.

„Warte!“ Er ist mir bereits so nahe, dass er seine Hand auf meine Schultern legt.

„Du bist neu hier. Urlaub, oder Dienstlich?“ Skeptisch, wegen seiner Neugier, sehe ich ihn an. Beschwichtigend hebt er die Hände.

„In diese Gegend kommen selten Leute und ein neues Gesicht spricht sich schnell rum.“ Seufzend schüttle ich den Kopf und blicke auf mein Handy. Die angezeigte Uhrzeit verrät mir, dass es noch immer viel zu früh ist. Anstatt dem Fremden eine Antwort zu geben frage ich:

„Wo gibt es hier eine Bar?“ Musternd sieht er mich an, reicht mir lächelnd die Hand und stellt sich mit dem Namen Dennis vor.

„Dustin.“, gebe ich ferngesteuert zurück.

„Also, Dustin, du hast Glück, denn genau da wollte ich eben hin. Komm, leiste mir etwas Gesellschaft.“ Ungefragt legt er den Arm um meine Schulter und führt mich einige Blocks weiter.

 

„Das ist nur ein böser Traum.“, murmle ich leise. Sitze umringt von vier stämmigen Kerlen in einer Kasernenkneipe. „Wie bin ich hier nur her geraten?“

„Komm schon Dustin,  was treibt dich in diese Stadt?“ Ein Afrikaner, Daniel, ist neugierig geworden. Als Dennis vor einer halben Stunde mit mir in die Bar kommt, sitzen seine Freunde bereits an einem Tisch und warten. Freundlich begrüßen sie mich und trotz meiner Reserviertheit beziehen sie mich in ihre Gespräche ein. Es sind nur belanglose Themen und mit wenigen Worten gebe ich Antwort. Jetzt jedoch sieht das ganze etwas komplizierter aus. Daniels Frage lässt die anderen aufhorchen und gebannt ruhen vier Augenpaare auf mir. Seufzend gebe ich mir einen Ruck.

„Mein Chef hat mich hier her geschickt. Montag soll ich mich zum Dienst  melden.“

„Es gibt nicht viele Dienststellen in der Stadt. Entweder hast du etwas mit den Navys zu tun, oder bist nur ein Zivilist.“

Joels ruhiger Blick scheint mich zu durchbohren. Ausweichend zucke ich die Schultern.

„Komm`, wo gehörst du hin?“ Christian, der ruhigste der vier, lauscht gespannt meinen Worten.

„Ich weiß nicht, wo ich mich melden soll. Hab` nur eine Adresse und einen Namen bekommen. Gehöre nirgendwohin. Bin Polizist im Urlaub.“ Etwas zu schnell erhebe ich mich. „Und jetzt entschuldigt mich.“ Lege einen Geldschein auf den Tisch und flüchte. Mein Bier steht unberührt da. „Was habe ich mir nur dabei gedacht?“, frage ich mich. Fluchend laufe ich zur Pension, verbarrikadiere mich im Zimmer und sinke in den Sessel.

 

„Junge, wo bist du? Deine Mutter braucht deine Hilfe.“ Untermalt von Gelächter dringen die Rufe durch die Flure an meine Ohren. Lassen mich leise Schluchzen und tiefer in die Dunkelheit des Kleiderschrankes weichen.

Da ich nicht, wie gewünscht reagiere, wird die Stimme lauter, fordernder.

„Versteck` dich nur so gut du kannst, doch wird es niemals gut genug sein. Ich werde dich finden!“

„Neeeiiinn!“  Schreiend wache ich auf. Liege im Bett des Elternhauses. Nirgends brennt Licht, nur der Mond hinterlässt eigenartige Schatten an den Wänden.

Instinktiv begebe ich mich auf den Weg zu meiner Mutter, doch rutsche ich im Flur in einer Pfütze aus. Eine zähflüssige Masse läuft an meinen Beinen hinab. Blindlings renne ich durch die Dunkelheit, bis ich gegen etwas stoße. Wende mich ab, doch als ich die oberste Treppenstufe betrete, bekomme ich einen Schubs und falle hinunter.

Mit einem Schrei sitze ich aufrecht. Hell erleuchtet ist das Zimmer. Befinde mich in der Pension. Ein vorsichtiger Blick auf die Wanduhr lässt mich seufzend gegen die Lehne des Sessels sinken. Zwei Uhr, nichts hat sich verändert.

Schwerfällig erhebe ich mich und gehe ins Bad. Hoffe, dass das kalte Wasser die Spuren vom Traum wegspülen kann. Es ist bereits zu lange her, weiß nicht, warum mich die grausame Vergangenheit nicht in Ruhe lässt.

Was Chief Stuart sagt, stimmt nur bedingt. Die Aufklärung des Mordes hat nur die Erinnerung meiner Kindheit hervorgerufen. Erlebtes, was ich nie wieder durchmachen wollte und doch habe ich seit zwei Monaten jede Nacht den gleichen Traum.

 

An Schlafen ist nicht mehr zu denken, also begebe ich mich nach draußen um die Gegend zu erkunden.

Es ist April und der Frühling zieht ins Land. Endlich wird es wärmer und das Leben beginnt von vorn.

Achte heute ganz genau darauf wo ich hingehe, um niemandem zu begegnen. Alles, was man braucht, gibt es hier. Supermarkt, Ärzte, Apotheke, eine Bar, oder besser gesagt, DIE Bar und noch diverse andere Geschäfte.

„Bis jetzt ist alles ruhig verlaufen.“, murmle ich, als ich Stunden später wieder in meiner Pension sitze. Es ist Abend geworden, doch die Stadt habe ich durchlaufen.

Knurrend meldet sich mein Magen. Da ich nichts hier habe und Sonntags die Geschäfte zu sind, beschließe ich ins nächste Restaurant zu gehen. Dies entpuppt sich als gemütliches Bistro und leise aufseufzend setze ich mich in die hinterste Ecke.

Gerade wird der bestellte Salat gebracht, als eine mir bekannte Gestalt die Pizzeria betritt. Automatisch rutsche ich tiefer in die Bank. Hoffe, dass er nicht zu mir blickt und mustere ihn.

Beim gestrigen Zusammenstoß habe ich seine Statur und die Muskeln deutlich gespürt, aber jetzt, im Licht, sieht er aus wie eine zum leben erwachte, griechische Skulptur.

Da er beim Eintreten den Kopf eingezogen hat, schätze ich ihn auf gut zwei Meter zehn. Das dunkle Haar ist kurz gehalten.

„Verdammt!“, fluche ich. Sein Blick streift den meinen und ein Lächeln umspielt seine Lippen. Er wechselt noch ein paar Worte mit dem Kellner an der Kasse, bevor er sich einen Weg an den Tischen vorbei bahnt, direkt auf mich zu.

Überlege, ob ich fliehen soll, doch ist es dafür bereits zu spät.

„Hey!“ begrüßt er mich, zeigt dabei die weißen Zähne und seine Augen blitzen amüsiert. Bin völlig aus der Bahn geworfen, so intensiv strahlen die veilchenblauen Pupillen mich an. Bekomme keinen Ton heraus und ehe ich es realisiere, sitzt er mir gegenüber.

„Du bist neu in der Stadt.“ Keine Frage, sowas scheint sich ja verdammt schnell rumzusprechen. „Ich hoffe, es gefällt dir hier und du bleibst eine Weile.“ Höre ich da eine gewisse Wehmut in der Stimme? Ich überlege ihm etwas zu erwidern, da unterbricht die Kellnerin uns mit seiner Bestellung. Nudelgericht und Salat. Reiße den Blick von dem Mann los und beginne zu essen, wobei ich mehr lustlos darin rumstochre, ist mir jeglicher Appetit vergangen. Zumindest auf diesen Salat.

Mit verstohlenen Blicken beobachte ich mein Gegenüber. Zuerst die Hand, die von harter Arbeit erzählt, wie sie langsam die beladene Gabel zum Mund führt. In Sekundenschnelle schießt seine Zunge zwischen den perfekt sitzenden Zähnen hervor und fängt das Stück Nudel auf, bevor es hinunterfällt. Dunkelrosa und vorne spitz. Ohne es richtig steuern zu können, wandern meine Augen weiter. Die Wangenknochen sind zu sehen, stechen aber nicht raus. Seine Nase erzählt eine Geschichte, steht leicht schief und über den Nasenrücken verlaufen zwei Narben. Als mein Blick seine Augen streift, halte ich unweigerlich die Luft an. Lila Edelsteine bannen mich, kann mich nicht bewegen.

„Ich hoffe, dir gefällt was du siehst!“ Tief und melodisch ist seine Stimme, jagt mir eine Gänsehaut über den Körper.

„Wenn du nicht Luft holst, muss ich noch Mund zu Mund Beatmung machen.“ Amüsiert schnipst er vor meinem Gesicht. Unterbricht so den Bann und keuchend sauge ich Luft in meine Lungen. Senke verlegen den Blick, möchte am liebsten davonrennen, doch eine Hand umschließt mein Handgelenk. Erst da bemerke ich, dass ich aufgestanden bin.

„Bitte bleib.“ Der Griff ist sanft und nur leise die Stimme. Obwohl der Mann so groß und kräftig ist, klingt er jetzt jung und verletzlich. Mit einem leichten Nicken nehme ich wieder Platz, sehe ihn aber noch immer nicht an. Warm liegt seine Hand auf meinem Handgelenk.

„Man erzählt, dass du wie ein Geist bist. Egal wo du auftauchst, niemand kann dir nah genug kommen. Auch wenn du erst knapp zwei Tage hier bist, kennt dich jeder als unscheinbar und sonderbar.“ Mein Gegenüber macht eine Pause, wartet eventuell, dass ich etwas sage, doch kein Ton verlässt meine Lippen. Seufzend schüttelt er den Kopf. „Ich möchte dir ein Freund sein. Komm` zu mir, wenn du nicht allein` sein möchtest, oder jemanden zum Reden brauchst. Glaube mir, du wirst es nicht bereuen.“ Damit steht er auf und geht, lässt einen Zettel liegen, den ich erst aufnehme, als er den Laden verlassen hat.

Nur ein Name und Handynummer, mehr nicht.

Samuel, so heißt also der Mann, mit den veilchenblauen Augen.

3

Gedankenverloren gehe ich durch die Straßen. Habe noch vier Stunden Zeit, bis zum Treffen mit Captain Mathew. Die Nacht war wieder schlaflos, doch diesmal war es kein Albtraum.  Nein, veilchenblaue Augen, ein markantes Gesicht und Hände, die sanfte Schauer über meinen Körper jagen, sind diesmal Schuld, an meiner schlaflosen Nacht.

Kann von da, wo ich stehe, den Strand überblicken, wo eine Gruppe Soldaten entlangjoggt. Überlege, wie es wäre, einer von ihnen zu sein, doch schüttle ich den Kopf. Diese Idee ist absurd und vollkommen ausgeschlossen. Mit dem, was die Männer an den Tag legen, kann ich nicht mithalten. Mein tägliches Training ist im Vergleich zu ihrem nur eine Aufwärmübung.

Irgendwie bemitleidenswert, was ich aus meinem bisherigen Leben gemacht habe.

Seufzend drehe ich mich ab, ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass viel zu viel Zeit vergangen ist. Zügig begebe ich mich zur Kaserne.

In dem Moment, als ich das Bürogebäude betrete, streckt ein großer, kahlrasierter Mann den Kopf aus einer der Türen.

„Sergant Capel. Kommen Sie rein. Stuart hat Sie mir angekündigt. Ich freue mich, dass sie der Einladung gefolgt sind.“ Freundlich lächelt Captain Mathew mich an und ich ergreife beim näher kommen automatisch seine dargebotene Hand. Hoffe, dass er den Seufzer nicht mitbekommt, der mir über die Lippen kommt.

„Setzen Sie sich und erzählen Sie mir, warum Ihr Chief Sie ausgerechnet zu mir schickt!“

„Ich habe um Versetzung gebeten.“, antworte ich knapp. Sehe mir mein Gegenüber genauer an, da mir sein Gesicht irgendwie bekannt vorkommt.

„Ja, das sagte Stuart mir. Sind Sie sich dessen bewusst, dass Sie hier bei der Navy Ausbildung gelandet sind? Ich weiß nicht, unter welchen Umständen Sie hierher geschickt wurden.“

„Ich vertraue Chief Stuart, dass er das Richtige für mich entscheidet und bin bereit, das Bestmöglichste daraus zu machen.“

Merke die blauen Augen, die mich durchdringen, als würden sie meine Seele streifen. Senke verunsichert den Blick.

„Also gut“, schwungvoll erhebt Captain Mathew sich, „dann zeige ich dir, was ab heute dein Zuhause sein wird. Für heute kannst du deine Sachen herbringen und dich einrichten. Morgen beginnt das Training.“ Wenn ich an die Soldaten am Strand denke, entkommt mir ein Stöhnen, was Mathew richtig deutet, denn er erklärt „Ich möchte erst einmal deine Leistung einschätzen. Wenn ich es noch richtig in Erinnerung habe, hast du zwei Jahre bei Stuart gedient. Wie alt bist du?“ Habe selbst bemerkt, dass er ins Du verfallen ist, doch das soll mir recht sein. Fühle ich mich zu jung um mit Sie angesprochen zu werden.

„Einundzwanzig, Sir“, antworte ich knapp und betrachte die Gebäude, an denen wir vorbei gehen. Höre, wie der Captain etwas murmelt, kann es aber nicht verstehen, da in diesem Moment die Tür geöffnet wird, vor der wir stehen geblieben sind. Wie versteinert sehe ich den Japaner an, der mich überrascht angrinst und salutiert.

„Rühren, Dennis!“ erwidert Mathew, worauf der Mann sich locker hinstellt und uns weiterhin die Tür aufhält.

„Sind die Jungs in der Baracke?“

„Ja Sir. Alle vollständig.“

„Gut, dann folge uns hinein.“

„Ja Sir.“

Als Dennis hinter uns läuft, flüstert er mir ins Ohr „Dienstlich, oder Privat?“, doch noch bevor ich antworte räuspert Mathew sich, worauf Dennis mit einem Glucksen reagiert. Kurz schweift mein Blick durch das Gebäude, doch die erwartungsvollen Gesichter der Barackenbewohner lässt mich schüchtern den Kopf senken.

 

„Jungs, ihr bekommt Zuwachs. Dustin Capel ist von der Polizei zu uns gewechselt. Ich weiß noch nicht genau, wo wir ihn hinstecken, das wird das kommende Training entscheiden.“

Damit dreht Mathew sich um und lässt mich in der Höhle der Löwen allein zurück.

„Ha, also doch dienstlich. Willkommen im Lager.“ Lachend schlägt mir Dennis die Hand auf die Schulter.

Christian, Joel und auch Daniel begrüßen mich lachend und stecken sich gegenseitig die Hand zum Abklatschen entgegen.

„Wir haben ihn am Samstagabend in der Bar kennen gelernt.“, erzählt Joel, dreht mich an den Schultern um und stellt mir die anderen vor.

„Komm` Joel, ich übernehme und zeige ihm seinen Bereich.“ Schon stehe ich mit Sascha, einer der Soldaten, alleine da.

„Die Jungs sind durchgeknallt, aber in Ordnung. Vor denen brauchst du keine Angst haben.“ Den Arm kameradschaftlich um meine Schulter gelegt, führt Sascha mich durch das Gebäude. Überrascht bemerke ich, dass die Schlafbereiche immer mit Möbeln für zwei Leute eingeteilt sind, wobei die Betten zusammengeschoben wurden. Nach der fünften Doppelnische lichtet sich der Raum und ein großer Schlafbereich mit zehn Betten kommt zum Vorschein.

Sascha muss meinen fragenden Blick bemerkt haben, denn lachend antwortet er: „Ich weiß nicht, aus welchem Grund du hergeschickt wurdest, aber eines solltest du über den Trupp 13 wissen: Wir sind fünf Pärchen, die sich gefunden haben. Uns verbindet mehr als die Navy und unsere Arbeit.“

„Okay“, achselzuckend nehme ich die Aussage zur Kenntnis. Was sollte ich dagegen haben? Auch wenn ich selbst in keiner Beziehung bin, seit ich die Ausbildung vor fünf Jahren begonnen habe, weiß ich, dass ich schwul bin. Eine ganze Schar voller schwuler Soldaten, klingt da himmlisch. Nicht, dass  ich mich an irgendeinen ranmachen würde, aber ich brauche mich nicht zu verstecken, was zur Abwechslung mal recht angenehm werden kann.

Die knappe Antwort scheint Sascha zu gefallen, denn lächelnd zeigt er mir den Badbereich.

„Kann ich dir helfen, mit deinen Sachen? Ich schätze mal, du bist in der Pension zwei Blocks weiter.“ Mit hochgezogenen Augenbrauen sehe ich ihn an.

„Du schätzt, oder du weißt? Die anderen wussten, dass ich neu bin und sicherlich hast auch du schon von mir gehört!“ Sein reumütiger Blick ist zu süß um sauer zu sein. Lachend schüttle ich den Kopf. „Ist schon okay. Danke, Hilfe bräuchte ich jedoch nur beim Tür aufhalten, aber du musst nicht extra bleiben, wenn ihr was vorhabt.“

„Na, dann sag` ich mal, bis später!“ Mit einem Klaps auf die Schulter wendet Sascha sich ab. Kurz bevor ich die Tür erreiche, höre ich wie er zu den anderen sagt: „Entwarnung Jungs. Er gehört zu uns.“ Ein erleichtertes Jubeln lässt mich lächelnd das Gebäude verlassen.

 

Brauche nicht lange um meine paar Habseligkeiten zusammenzupacken. Schon nach zwei Stunden bin ich zurück auf dem Stützpunkt.

Die Barackentür ist weit geöffnet und ein Keil hindert sie daran zu zufallen. Doch nirgends ist einer der Soldaten zu sehen, oder zu hören.

Erleichtert, ungestört zu sein, bringe ich meine zwei Koffer, einen Umzugskarton, einen Rucksack, sowie meinen Laptop in den Schlafbereich, wo ich mich für das hinterste Bett entscheide, in der Hoffnung, dass mich nachts niemand hört. Seufzend lasse ich mich aufs Bett fallen. Na das kann ja heiter werden.

 

„Mehr Sachen hast du nicht dabei?“ Ruckartig öffne ich die Augen. „Kein Wunder, dass du keine Hilfe wolltest.“ Über den entrüsteten Gesichtsausdruck von Sascha kann ich nur lachen, obwohl er Recht hat. Wenn man daran denkt, dass in diesen Taschen mein ganzes Leben ist, erbärmlich.

„Mehr brauche  ich nicht.“, sage ich ausweichend, setze mich auf und sehe auf mein Hab und Gut.

„Ich wollt` dich zum Abendessen abholen. Schätze mal, unser Captain hat dir die Kantine nicht gezeigt.“ Kopfschüttelnd und dankend folge ich ihm in das angrenzende Gebäude, wo der Rest der Truppe auf uns wartet.

 

„Also, du Polizist auf Urlaub. Was führt dich in unseren Trupp?“, beginnt Lukas ohne Umschweife das Gespräch, kaum das ich mit meinem Tablett Platz genommen habe. Seufzend schließe ich die Augen. Heute kann ich nicht einfach so verschwinden wie am Samstag in der Bar. Also erzähle ich nur so viel, wie nötig.

„Ich habe aus privaten Gründen um Versetzung gebeten. Vertraue meinem Chief, dass er was Vernünftiges hat.“ Dabei fällt mir ein Satz ein, den Stuart gesagt hat.

„Mathew ist derzeit das Beste für dich.“

„Wie meinst du das?“ Erst bei Saschas Frage merke ich, dass ich laut gedacht habe.

„Keine Ahnung, was das bedeutet. Mit diesem Satz hat Chief Stuart mich hierher geschickt.“ Zucke entschuldigend mit den Schultern.

Die Soldaten betrachten mich intensiv und beginnen mit jeglichen Spekulationen, wobei ich immer wieder den Kopf schüttle, als Zeichen, dass dies nicht sein kann.

 

Nach fast einer Stunde spekulieren ziehe ich mich, unter dem Vorwand noch auspacken zu müssen, aus der Kantine zurück. Gedankenverloren liege ich auf der Pritsche, versuche gegen den Schlaf anzukämpfen und verliere.

 

„Du hast deine Mutter zu lange warten lassen. Du hast versagt und bist Schuld. Deine Fingerabdrücke sind auf der Waffe.“ Halte mir die Ohren zu. Versuche das Gelächter zu ignorieren. „Du hast sie nicht beschützt.“ Gerade noch bin ich ein Junge von elf Jahren und im nächsten Augenblick stehe ich als Einundzwanzigjähriger in einem verlassenen Haus. Vor mir liegt ein Mädchen in meinem Alter. Unzählige Schnitte zieren ihr ehemals schönes Gesicht. Die Haare sind rot vom Blut, verdecken die natürliche Farbe komplett. „Du bist zu spät. Sie hat immer wieder nach dir gerufen, doch du warst nicht da!“ Die gestaltlose Stimme lacht höhnisch, jagt mir eisige Schauer über den Rücken.

„Neeeeiiiin!“ Der Hals brennt, als hätte ich bereits Stunden geschrien. Das Lachen ist alles, was ich höre. Dunkelheit umgibt mich wie eine Decke. Etwas berührt mich an der Schulter, nur sanft, vorsichtig, doch schlage ich es weg. Jemand ruft meinen Namen.

„Dustin, wach auf!“, energischer wird der Ton. Fester, drängender die Berührung. Das Lachen im Kopf verklingt. Die Stimme, nein, es sind mehrere, werden lauter, deutlicher.

 In dem Moment, als Captain Mathew zu der Gruppe Soldaten stürzt, die um mein Bett steht, schlage ich langsam die Augen auf. Die Besorgnis ist ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben.

„Danke, Jamil. Das hat Stuart also gemeint.“ Kopfschüttelnd steht Mathew vor mir. Würde mir am liebsten die Decke über den Kopf ziehen, doch noch immer zittert mein Körper.

„Jungs, zieht euch zurück. Capel, du begleitest mich.“ Habe das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Das muss Mathew wohl gesehen haben, denn sanft ist seine Stimme, als er sagt: „Stuart tat recht, als er dich zu mir schickte. Sascha, würdest du …“ Weiter kommt er nicht, da Sascha, der als einziger bei uns geblieben ist, mich an den Schultern packt und hochdrückt. Schnell bin ich in Jeans und Pullover und stehe, vom Captain gestützt, vor meinem Bett.

„Danke, Sascha, leg` dich wieder hin. Ich kümmre mich um den Jungen.“ Freundschaftlich legt mir Sascha die Hand auf die Schulter und verschwindet in eins der Abteile.

 

„Hier.“ Mathew reicht mir eine heiße Tasse Tee.

Wir sitzen in seinem Wohnzimmer. Es ist zweckdienlich, aber gemütlich. Die Wanduhr zeigt halb drei, als mein Blick darauf fällt. Seufzend schließe ich die Augen.

„Es ist mehr als nur die Mordaufklärung!“ Keine Frage, eine Feststellung.

„Möchtest du reden?“ Ich reagiere nicht, bleibe, mit geschlossenen Augen und der Teetasse in der Hand, sitzen.

„Gut, dann gibt es jetzt folgende Regeln für dich: Wir werden fürs erste dein Training so hoch ansetzen, wie es geht. Ich möchte sehen, ob es hilft, wenn du ausgepowert bist. Habe hier noch ein Gästezimmer, damit die Jungs ungestört sind. Außerdem kann ich dich hier besser beobachten.“ Da ich die ganze Zeit noch immer nicht reagiert habe, sagt er schließlich. „Außerdem möchte ich, dass du redest, oder es zumindest aufschreibst. Du musst beginnen alles zu verarbeiten. Ich werde mich auch mit Stuart in Verbindung setzen um alles von diesem Einsatz zu erfahren. Und jetzt komm`, ich zeige dir das Zimmer.“

Der letzte Satz lässt mich die Augen aufschlagen. Warum habe ich nicht daran gedacht, auf was ich mich einlasse, als Stuart mir die Adresse gab? Wehren hat jetzt jedoch auch keinen Sinn mehr.

 

Ergeben folge ich Mathew und kaum das ich liege, schlafe ich bereits ein.

4

„Capel, aufstehen! In zwanzig Minuten antreten auf dem Platz.“ Da ich keinerlei Sachen bei mir habe, springe ich aus dem Bett und flitze in die Baracke, wo bereits buntes Treiben herrscht.

In dem Moment, als ich das Gebäude betrete, verstummen alle Gespräche. Mit gesenktem Kopf gehe ich zu meinen Sachen, nehme mir Duschzeug und Handtuch und verschwinde im Bad.

„Dustin, ist alles in Ordnung?“ Überrascht hebe ich den Kopf, blicke von unter der Dusche in Jans mitfühlenden Augen.

„Sorry wegen letzter Nacht, wird nicht wieder vorkommen.“

„Darum geht es hier niemandem. Wir wollen wissen, ob mit dir alles okay ist!“ Hätte am liebsten Nein gesagt, doch nicke ich stattdessen nur. Drehe das Wasser aus und greife nach dem Handtuch um zum Spint zu gehen  und mich anzuziehen.

Verlasse als letzter mit den anderen die Unterkunft zum Trainingsplatz.

 

„Guten Morgen, meine Damen. Wir beginnen mit einem lockeren Aufwärmtraining von zehn Kilometern, ohne Gepäck. In einer halben Stunde erwarte ich euch am Parcoursfeld. Lukas und Jamil geben das Tempo an. Abmarsch!“

Als wir uns in Bewegung setzen, merke ich, wie Sascha sich zum Captain gesellt, um etwas zu besprechen. Aber ich bin bereits zu weit entfernt, um etwas zu verstehen.

Nach wenigen Metern hat sich Sascha neben mir eingereiht. Die ersten Kilometer laufen ganz gut, jedoch bin ich zu lange aus der Übung, so dass ich irgendwann Seitenstechen bekomme. Der Hals beginnt zu brennen und die Lungen wollen ihren Dienst versagen, doch weigere ich mich aufzugeben. Aus dem letzten Loch pfeifend erreiche ich, nur wenige Augenblicke nach den anderen, den Trainingsplatz. Erst da bemerke ich, dass Sascha noch immer neben mir ist und mich mustert.

Doch anstatt verschnaufen zu können, ordert der Captain uns zum Parcoursfeld und als Vorletzter reihe ich mich ein. Sascha behält mich weiterhin im Auge und bildet das Schlusslicht.

Der Hindernislauf verläuft alles andere als gut. Das Atmen fällt mir immer schwerer und bunte Punkte tanzen durch mein Sichtfeld. Stürze immer öfter, weil ich die Reifen nicht treffe, doch rapple ich mich auf und stolpere weiter. Das nächste Hindernis, eine Wand, schaffe ich ohne Saschas Hilfe nicht. Besitze ich nicht mehr die Kraft mich hochzuziehen. Auch wenn das Robben unter dem Netz entspannend aussieht, kostet es meine letzte Kraft. Schiebe mir mit jedem Schub Sand ins Gesicht, so dass ich am Ende des Netzes nichts mehr sehen kann.

„Thomas, lass` ihn pausieren. Er bringt sich selbst um, wenn er weiter macht.“

„Bring` ihn rüber!“, damit greift Sascha mir unter die Arme und zieht mich auf die Füße. Möchte protestieren, doch fehlt mir auch dazu die Kraft.

„Später noch einmal.“, ist alles was ich hervorbringe.

„Wir werden sehen.“, erwidert Sascha nur.

 

Gekonnt verfrachtet er mich unter die Dusche. Wäscht mir den Sand aus den Augen und hilft mir eine Boxershorts anzuziehen, bevor ich auf der Pritsche zum Liegen komme.

Bin zu erschöpft um noch irgendwelche Proteste von mir zu geben, so dass ich binnen Sekunden einschlafe.

 

Als ich wieder erwache, bin ich zum ersten Mal seit Wochen erholt. Tief durchatmend setze ich mich auf und erstarre vor Schreck. Sitzt Captain Mathew auf einem anderen Bett und beobachtet mich. Ein Lächeln umspielt seine Lippen.

„Fünf Stunden geschlafen, ohne Andeutung eines Alptraumes und so wie du ausschaust, geht es dir gut. Wir werden es heute Abend wiederholen. Sagen wir einundzwanzig Uhr. Ich werde dich begleiten.“ Mathew erhebt sich, doch bevor er geht, sagt er: „Geh` rüber ins zweite Gebäude, da sind die anderen. Mal schauen, in welche Gruppe wir dich schicken können.“

 

Etwas mulmig ist mir schon zumute, als ich vor dem Gebäude stehe und die verschiedensten Stimmen höre. In der Polizeiausbildung war ich stets einer der Besten drei, doch hier? Bei den Soldaten fühle ich mich am Boden, schlechter als schlecht.

 

„He Bulle, wieder von den Toten zurück?“, begrüßt Lukas mich, kaum dass ich den Raum betrete.

„Das kann ja heiter werden“, murmle ich doch Jamil gibt Lukas eine Kopfnuss, als er lachend erwidert.

„Mach dir nix, Lukas sitzt der Schalk hinter den Ohren. Komm rüber zu uns.“ Vorsichtig auf etwas Unerwartetes gefasst, gehe ich zu den dreien rüber.

„Wie geht es dir?“, fragt mich Dennis ehrlich.

„Soweit ganz gut. Hab` das erste Mal seit Monaten geschlafen.“ Zu spät bemerke ich, dass ich die Wahrheit sage, als mich verwunderte Blicke mustern.

„Macht euch keine Gedanken, mir geht es gut. Stuart weiß schon, warum er mich hierher geschickt hat.“ Die drei Augenpaare sehen mehr, als ich ihnen zeige, doch sagen sie nichts mehr dazu.

Schnell gehen die Stunden vorbei. Zeige Dennis, wie schnell ich beim Aus- und Zusammenbauen der Waffe bin. Schieße mit Jamil um die Wette. Nur Lukas ist der Einzige in der Gruppe, der mir etwas beibringen kann. Mit Sprengstoff habe ich, außer in der Ausbildung, nichts zu tun gehabt.

Lukas stellt eine Trainigsbombe scharf und wir versuchen angesträngt sie zu entschärfen. Plötzlich steht Joel in der Tür. „Jungs, Abendzeit, wo bleibt ihr?“ Auf seine Frage blicken wir vier schuldbewusst auf.

Die kleine Ablenkung, durch Joel’s unerwartetes Erscheinen reicht schon aus. Die Trainingsbombe von Jamil, Dennis und mir geht hoch. Lukas will uns zeigen, wie das richtig geht. Doch auch er lässt sich durch Joel`s Auftreten ablenken, so dass die Bombe nach zehn Sekunden explodiert.

Lachend klopft Dennis ihm auf die Schulter und Lukas straft ihn mit einem bösen Blick, aber auch er muss lachen.

Bekommen uns gar nicht mehr ein, während wir alles wegräumen und zum Ausgang gehen, wo Joel ungeduldig wartet.

„Jungs, ich will ja nicht drängeln, aber der Captain wartet in der Kantine!“

„Und das sagst du uns erst jetzt? Verdammt, Joel …“ lachend geht Joel voraus, doch wir rennen an ihm vorbei. Waschen uns in dem kleinen Bad die Hände und marschieren hinter Joel in den Speiseraum. Und tatsächlich, einschließlich des Captains sitzen alle am Tisch und warten.

„Dennis, Bericht bitte!“

„Captain, wir sind so was von tot. Keiner von uns konnte die Bombe entschärfen, sogar Lukas ist drauf gegangen, weil Joel uns abholen musste.“ Für eine Sekunde herrscht angespanntes Schweigen, so dass ich bereits denke: „Mathew wird gleich losschreien“, doch dieser reagiert gänzlich anders.

„Aber wie ich sehe, konnte Joel euch rechtzeitig retten und zusammenflicken.“

„Ja, Sir“, schmunzelt Joel.

„Die einzige Schwäche, die bei unserer Truppe ist, ist der Sprengstoff. Ich zieh` vor Dustin den Hut. Was die Waffen und das Zielen angeht, ist er fast so gut wie wir.“

„FAST?“ Lukas springt vor Empörung auf.

„Er hat mehr genaue Treffer, als Jamil und Dustin baut die Waffen schneller zusammen.“ Abwehrend hebe ich die Hände, als sich alle Blicke auf mich richten.

„Es war ein Zufall. Die Waffen waren mir vertraut. Mit einer unbekannten Waffe sieht es anders aus.“

„Dann werden wir es testen. Heute jedoch nicht. Dustin, ich möchte, dass du um neun auf dem Platz bist. Für die anderen ist Feierabend für heute.“

„Sir, ich bitte dabei sein zu dürfen.“

„Ja gut, dich kann ich gut gebrauchen, Sascha.“ Langsam erhebt Captain Mathew sich.

„Nicht, dass ihr auf krumme Gedanken kommt. Was ich mit Dustin mache, hat etwas mit ihm persönlich und dem Grund seiner Versetzung zu tun.“ Alle nicken verstehend und Mathew verlässt das Gebäude.

 

Das Abendessen verläuft relativ ruhig, wenn man mal von den Diskussionen rund um mein Können bei den Waffen absieht. Jamil und Dennis finden, dass ich meine Fähigkeiten viel zu sehr in den Schatten stelle, während wenigstens Lukas meine Aussage bestätigt, dass ich nicht viel besser bin, als die anderen. Zumindest, was das Entschärfen von Bomben angeht, erklärt er, als wir auf den Weg zur Unterkunft sind. Stöhnend lege ich eine Hand vor die Augen. Lachend schlägt Gregor mir auf die Schulter.

„Du kommst nur da raus, wenn du es beweist.“

„Bleibt mir wohl nichts anderes übrig“, seufze ich und verschwinde in meine Ecke um mich für das Training umzuziehen und Sachen zum Wechseln und Duschen einzupacken.

 

„Viel Spaß euch zwei!“ Lukas schlingt die Arme um Saschas Schultern. „Ich werde auf dich warten.“

„Mach` das nicht. Wir müssen morgen früh raus.“ Nach einem flüchtigen Kuss dreht sich Lukas grummelnd um und verschwindet im Duschraum.

 

„Du musst mich nicht begleiten.“, sage ich etwas kleinlaut auf dem Weg zum Trainingsgelände.

„Glaub` mir, Dustin, ich muss. Habe deinen Blick gesehen. Du bist bereit alles zu tun und wenn du über deine eigenen Grenzen hinwegtrampelst. Ich weiß nicht, was vorgefallen ist und ich werde auch nicht nachfragen, aber so lange du nicht bereit bist zu reden, werde ich immer zwei Augen auf dich werfen.“ Sascha will mir eine Hand auf die Schulter legen, doch weiche ich aus, was Sascha seufzen lässt. Schweigend legen wir die letzten Meter zurück.

Der Captain erwartet uns bereits.

„Willst du mitlaufen oder hier warten, Thomas?“ Immer öfter bemerke ich, wie Sascha den Captain duzt und erkenne die Verbundenheit in seinem Blick, doch wage ich es nicht eine Bemerkung dazu zu äußern.

„Ich laufe mit.“ Ohne weitere Worte laufen wir los. Sascha bestimmt das Tempo, was um einiges schneller ist, als mein eigenes. Die Runde, die wir laufen, ist größer und als wir nach zwei Stunden zurück am Trainingsplatz sind, pfeife ich bereits aus dem letzten Loch. Dennoch startet Thomas den Parcours. Wie am Vormittag, schaffe ich die Reifen mehr schlecht als recht. Ohne fremde Hilfe komme ich nicht über die Wand und bei der Hälfte des Netzes bleibe ich einfach liegen.

„Komm schon, Junge. Durch das Netz musst du noch, dann schaffen wir dich ins Bett.“ Mit letzter Kraft schiebe ich mich bis zum Rand. Ergreife die dargebotene Hand und lasse mich hinaus in die Höhe ziehen.

Mit Saschas Hilfe gelange ich in die Wohnung des Captains, wo er mich unter die Dusche steckt. Im Bett liegend kontrolliert er meine Werte, doch davon bekomme ich nur schemenhaft etwas mit. Drifte bereits ab, ins Land der Träume.

Doch ist es kein friedlicher Schlaf. Punkt zwei Uhr sitze ich schweißgebadet und keuchend im Bett.

„Es hat nicht geholfen“, keine Frage. Thomas steht mit einem Glas Wasser in der Tür und nachdem ich das Nachtlicht eingeschaltet habe, reicht er es mir.

„Du machst den Tagesablauf morgen ganz normal mit und in dreiundzwanzig  Stunden kommst du zum zweiten Training. So lange, bis du bereit bist zu Reden.“ Seufzend schallte ich das Licht wieder aus. Zu antworten brauche ich nicht, kennt der Captain doch meine Einstellung.

5

Pünktlich um sechs Uhr will der Captain mich aus dem Bett schmeißen, doch zu seiner Überraschung bin ich bereits auf. Respektierend hebt er eine Augenbraue. Schweigend gehen wir gemeinsam zum Hauptgebäude, wo die anderen bereits warten.

Erwartungsvoll sind die Blicke auf mich gerichtet, doch senke ich nur versagend den Kopf.

„Wir bekommen das hin.“ Captain Mathew legt mir aufmunternd die Hand auf die Schulter und schiebt mich weiter. Niemand sagt ein Wort.

 

„Also, alles wie gehabt. Jeder an seinen Bereich. Capel, Sie machen weiter Ihre Runde. Ich würde vorschlagen, heute den Sanitätsbereich mit Sascha und Joel.“

Bemerke das knappe Nicken, welches Sascha dem Captain zuwirft, als stumme Unterhaltung. Für heute habe ich also einen Babysitter an meiner Seite.

„Um siebzehnhundert treffen wir uns am Parcours, bis dahin kennt jeder seine Arbeit. Wegtreten!“

Mit gesenktem Blick begebe ich mich, hinter Sascha, in den Erste-Hilfe-Bereich.

„Jeder von uns beherrscht die Grundkenntnisse der Ersten Hilfe. Wollen wir mal sehen, in wie weit du bewandert bist.“ Während Joel schweigend hinter uns herläuft, zieht Sascha mich an seine Seite.

„Wie war deine Nacht? Hat das Training geholfen?“ Senke missmutig den Kopf, was wohl Antwort genug ist.

„Es wäre besser, wenn du dich jemandem anvertrauen würdest. Aber so wie ich Thomas kenne, wird er dich heute Nacht um eins aus dem Bett holen, zum Training. Ich werde mir wohl den Wecker stellen müssen, möchte nicht, dass du das ohne Aufsicht durchziehst.“ Ein leises, empörtes Knurren ist alles, was ich zur Antwort gebe. Lächelnd wuschelt mir Sascha durchs Haar. Als Reaktion springe ich zur Seite, angstgeweitet ist mein Blick.

„Dustin ich …“

„Nicht, Sascha!“

Joel hält Sascha am Arm fest, als dieser beschwichtigend auf mich zutreten möchte.

„Schau ihn dir an. Er reagiert in Panik. Gib ihm Zeit.“

Kann Joels Worten kaum folgen. Er spricht von mir und doch von jemand anderem. Ich und Panik, das ist unmöglich. Und doch zittert mein Körper unkontrolliert und der Atem geht hektisch.

„Komm mit, Dustin. Ich glaub‘, du kannst ein Glas Wasser jetzt gut gebrauchen.“ Ohne mich zu berühren schafft es Joel, dass ich mit ihm mitgehe. Den Blick nicht von Sascha nehmend, der jedoch nicht mitkommt. Seufzend senke ich den Kopf und hole zitternd Luft, als ich erahne, was Sascha vorhat. Er wird es dem Captain melden, das ist seine Pflicht.

 

Ich sitze mit Joel im Sanitätsbereich, als Kevin reingestürmt kommt.

„Egal, was ihr gerade macht, lasst es liegen und kommt! Der Captain hat uns geordert.“ Ohne ein weiteres Wort, oder auf uns zu warten dreht er sich um und verschwindet wieder.

„Wenn jemand so rennt, dann steht ein Auftrag an. Lass‘ uns mal schauen, um was es sich handelt.“

Nur zögernd folge ich ihm, bin mir nicht sicher, was mich erwartet.

„Schön, dass ihr alle da seid. Soeben habe ich eine Mitteilung bekommen, dass wir in Afghanistan erwartet werden. Eine deutsche Journalistin wird seit drei Tagen vermisst.

Also meine Herrschaften: Sachen packen, in zwei Stunden ist Abflug“. Ein gemeinschaftliches Rufen und alle drehen sich um zum Gehen. Freuen sie sich darauf wieder in Aktion treten zu können.

„Capel, warten Sie einmal!“ Warte gespannt darauf, was er mir zu sagen hat.

„Solange wir ihr Problem noch nicht im Griff haben, möchte ich Sie nicht dabei haben. Das Risiko für die Jungs wäre zu groß.“ Verstehend nicke ich. Die Kehle ist mir zu eng zum Sprechen.

„Mach‘ dir keine Sorgen, niemand schreibt dich ab, oder verurteilt dich. Ich möchte, dass du im Haus übernachtest und nach einem Trainingsplan arbeitest, den ich aufgestellt habe. Es wird jemand vorbeikommen, der dich unterstützt und ein Auge auf dich wirft. Ich hoffe, dass wir bald Fortschritte erzielen, denn beim nächsten Auftrag hätte ich dich gerne dabei!“ Damit verabschiedet sich der Captain und lässt mich allein im Besprechungsraum zurück.

 

Begebe mich langsam zum Haus, wobei ich einen Umweg über den Trainingsplatz und an der Kantine vorbei mache. Warte insgeheim nur darauf, dass ich die Jungs zum Flugzeug begleiten kann.

Wie auf Kommando erscheinen sie im Hof, als ich an der Baracke vorbei gehe.

„He, Dustin, komm‘“, fordert mich Sascha aufmunternd auf. „Auch wenn du nicht dabei bist, kannst du ein Stück mitkommen.“

Kameradschaftlich legt Gregor eine Hand auf meine Schulter.

„Beim nächsten Mal bist du dabei, versprichst du uns das?“ Wage es nicht jemanden bei Kevins Frage anzuschauen, als ich nur knapp Antworte:

„Ich werde es versuchen.“

 

„Da seid ihr ja. Einsteigen, Herrschaften. Viel Glück, Capel!“, verabschiedet der Captain sich.  Nickend nehme ich die Aussage zur Kenntnis und entferne mich so weit, dass das Flugzeug ohne Probleme durchstarten kann.

Habe lange der Maschine hinterhergeblickt, nachdem sie bereits fünf Minuten verschwunden ist. Wie gerne säße ich da drin, um alles Erlebte hinter mir zu lassen. Doch weiß ich, dass das nicht machbar ist.

 

Seufzend begebe ich mich zurück in das Haus des Captains.

Bin auf den Trainingsplan gespannt und hoffe zu erfahren, wer nach mir sehen soll.

Mit Entsetzen muss ich feststellen, dass das Training straff durchorganisiert ist. Viermal am Tag drei Stunden, mit ausgiebigen Pausen. In der Zeit soll ich eine mir unbekannte Nummer anrufen und Bescheid geben, wenn etwas ist. Vorausgesetzt, dass mich niemand zum Training begleitet. Und über Nacht wird immer eine Person mit im Haus schlafen und insbesondere das Nachttraining überwachen. Wo bin ich hier nur hingeraten? Jedoch hat es keinen Sinn zu jammern.

Kurz keimt die Überlegung in mir auf, das Training ausfallen zu lassen, als, wie vom schlechten Gewissen hervorbeschworen, das Telefon klingelt.

Nur zögernd nehme ich ab und lausche.

„Hey, du musst Dustin sein.“, meldet sich eine freundliche Männerstimme. Nach kurzem Räuspern antworte ich.

„Ja, der bin ich.“

„Gut, ich heiße Leon. Denke mal, dass dein Captain dir nicht gesagt hat, wer sich um dich kümmert. Also, tja, was soll ich sagen, ich bin derjenige.“

„Nein, er hat mir keinen Namen genannt.“

Mein Gesprächspartner lacht.

„Das sieht Thomas ähnlich. Also, pass auf, er hat mir eine Durchschrift deines Trainingsplanes gegeben und da ich es zu deiner ersten Einheit nicht schaffe, fängst du schon mal an und in einer halben Stunde wird jemand zu dir stoßen. Sei‘ lieb zu dem Kleinen.“ Damit legt Leon auf, lässt mir keine Zeit zu reagieren.

 

Noch einmal blicke ich auf den Trainingsplan, mit der Überlegung, das Training zumindest zu verkürzen, aber es hilft alles nichts. Missmutig ziehe ich mich um und begebe mich zum Aufwärmtraining. Gerade will ich mit dem Ausdauerlauf beginnen, als ich meinen Namen höre. Unsicher schweifen meine Augen über den Trainingsplatz, bis ich in der Sonne eine Gestalt erblicke.

„Gott sei Dank habe ich dich noch hier erwischt.“

Erkennen blitzt in den Veilchenblauen Augen auf, als er vor mir steht.

„Dustin also“ lächelt er mich an.

„Samuel, hey“ bringe ich kaum hörbar raus. Am liebsten würde ich im Erdboden versinken. Warum ausgerechnet er? Als hätte Samuel meine Gedanken gelesen erzählt er drauf los, während wir in einen lockeren Lauf verfallen.

„Leon hat mich geschickt. Ihm wurde der Plan so zeitig gegeben, dass er die anderen Termine nicht mehr verschieben konnte.“ Die Ironie war zum Greifen nah.

„Ich weiß nur nicht, um was es geht. Leon sagte nur, ich soll meinen Arsch auf den Stützpunkt bewegen und dich betreuen“, fragend sieht er zu mir rüber. „Kannst du es mir erklären?“

Überlege, wie viel ich ihm erzählen kann, doch schließlich sage ich nur:

„Bin das harte Training hier nicht gewöhnt und da man mich noch nicht beim Einsatz dabei haben wollte …“ Lasse das Ende unausgesprochen, liegt es doch auf der Hand.

„Na, dann versuchen wir das Beste rauszuholen.“ Damit schlägt Samuel mir leicht auf die Schulter und erhöht das Tempo.

 

Nach einer Stunde Lauftraining begibt sich Samuel, wie selbstverständlich, zum Parcours.

„Ich werde hier nicht mitmachen, sondern nur beobachten und eingreifen, wenn nötig. Schätze mal, dass du den Ablauf kennst.“ Bekomme nur ein Nicken zustande, war das Tempo für mich etwas zu hoch angesetzt. Doch will ich mir keine Blöße geben und beginne ordnungsgemäß das Durchqueren der Reifen.

Die Beine fühlen sich an wie Blei, sind zwanzig Kilometer doch kein Zuckerschlecken gewesen. Schaffe es kaum die Füße soweit zu heben, dass ich die Reifen nicht schleife.

Schwerfällig geht mein Atem und nass vom Schweiß  ist die Kleidung.

Trotzdem zwinge ich mich weiterzulaufen: Reifen für Reifen. Schaffe die Wand nur mit Armeskraft, wobei sich die Beine etwas entspannen können.

Will vor Samuel nicht als Verlierer dastehen, hole alles aus mir raus, was geht.

Zur eigenen Überraschung schaffe ich diesmal sogar das Netz, da ich auch hier hauptsächlich die Arme benutze. Nur das nächste Hindernis, die Leiter, will mir einfach nicht gelingen. Vier Anläufe später brennen mir die Oberarmmuskeln so stark, dass ich keuchend zu Boden gehe.

„Dustin, hör‘ auf“, ein klarer Befehl von Samuel, der augenblicklich neben mir hockt. Will seine Hand auf meiner Schulter abschütteln, doch Samuel drückt mich nur fester zu Boden.

„Nein! Ich habe die Unterlagen deiner letzten Trainingseinheiten durchgesehen. Was du heute geschafft hast, ist eine neue Grenze. Also Schluss für heute und ab unter die Dusche!“

Protestieren zwecklos, erkenne ich, als sich unsere Blicke begegnen. Lasse mich von Samuel hochziehen und zum Haus bringen, wo er mich im Badezimmer absetzt.

„Mach‘ dich frisch, ich bereite dir etwas zu essen zu, bevor du dich ausruhst.“ Damit schließt er die Tür und gibt mir keine Chance zu antworten.

Grübelnd schaue ich die geschlossene Tür an. Woher kennt er sich in diesem Haus so gut aus? Achselzuckend mache ich mich daran, mir die Schweißgetränkte Kleidung abzustreifen und steige, nachdem ich das Wasser aufgedreht habe, unter den Duschkopf. Ein Seufzer entringt sich meiner Kehle, als der heiße Strahl auf die angespannten Schultern trifft. Dadurch lockern sich endlich die Muskeln und ein Zittern durchläuft den Körper.

Nach gut zwanzig Minuten steige ich entspannt aus der Kabine.

Erst jetzt fällt mir ein, dass ich keinerlei Wechselsachen bei mir habe. Also wickel ich mir das Badehandtuch, nachdem ich mich abgetrocknet habe, um die Hüfte und eile ins Zimmer. Gott sei Dank hat Samuel mich nicht bemerkt. Obwohl ich an der Küchentür vorbei muss, um in das Gästezimmer zu gelangen.

Kurz darauf erscheine ich in der Küche, wo ein Sandwich und ein Salat auf mich warten, dazu ein eigenartiges Getränk. Von Samuel fehlt jede Spur.

Erleichtert setze ich mich an den Tresen und verputze alles, bis auf den letzten Krümel. Das Getränk riecht etwas eigenartig und es kostet mich einige Überwindung, aber schließlich ist auch das Glas geleert.

Voll und erschöpft lege ich mich ins Bett und schlafe binnen Sekunden ein.

 

„Hey Kleiner, aufwachen. Zeit fürs Training.“ Erschrocken von der sanften, jedoch bestimmenden Stimme setze ich mich auf. Ein Mann, Anfang vierzig, steht in der Tür. Unerwartet schaltet er das Deckenlicht ein.

Kneife die Augen zusammen um mich langsam an die Helligkeit zu gewöhnen.

„Komm‘ schon, aufstehen. Wir haben kurz vor eins.“

Aufstöhnend fällt der Kopf in meine Hände. Zeit fürs Nachttraining.

„Ich weiß zwar nicht, was Thomas mit einem Training um diese Uhrzeit bezwecken will, aber mir solls recht sein.“ Ich schon, behalte es jedoch für mich. Das einzig Gute ist, dass der Captain nur Laufen angegeben hat. Schließlich will er mich ja nicht umbringen.

 

„Übrigens bin ich Leon“, begrüßt er mich, als wir das Haus verlassen.

 

Das Lauftraining verläuft ruhig, auch wenn zwei Stunden Ausdauer mich an die Grenzen meiner eigenen Kraft treiben.

Erschöpft falle ich um halb vier ins Bett und schlafe binnen Sekunden ein.

Wie lange Leon noch da ist, weiß ich nicht, aber als ich am Morgen zum Frühstück in die Küche gehe, sitzt Samuel da.

 

„Guten Morgen“, lächelt er mich an. Komme ins Straucheln und muss mich am Türrahmen festhalten um nicht zu fallen.

„Na, ich hoffe mal nicht, dass dich das Laufen mit Leon so sehr in Anspruch genommen hat, dass du jetzt zu schwach bist.“

Wenn Samuel nur wüsste. Nicht Leon ist Schuld an meiner Schwäche, sondern er selbst. Traue mich nicht ihm in die Augen zu sehen, vor Scham, dass Samuel erkennt, was er in mir auslöst.

„Setz‘ dich endlich und frühstücke.“ Geräuschvoll zieht er den Stuhl neben sich zurück, lenkt so die Aufmerksamkeit auf sich. Langsam lasse ich mich neben ihm nieder, darauf bedacht Samuel weder zu berühren, noch anzuschauen.

 

Nach dem Frühstück beginnen wir mit dem Training.

Das ist das einzige Thema zu dem ich etwas sage. Alles andere ignoriere ich, wohlwissend, dass Samuel dies scheinbar absolut missfällt.

 

Etwas Gutes hat das ganze Training. Zum einen steigert sich meine Kondition und zum anderen meine Willensstärke.

Auch nachts verläuft alles ohne Zwischenfälle. Obwohl ich relativ viel Zeit mit Leon und Samuel verbringe, bleibe ich schweigsam. Keine Einzelheit, warum ich hier bin, kommt über meine Lippen.

 

Drei Tage geht es gut.

Captain Mathew und sein Trupp befinden sich im Landeanflug.

Es ist neunzehn Uhr und das letzte Training vor der Nacht läuft auf Hochtouren.

Auch wenn ich zeitlich noch nachhänge, schaffe ich den Parcours vollständig.

 

„Wie ist es gelaufen?“, fragt Mathew mich, als wir fast zeitgleich sein Wohnhaus betreten. Er sieht abgemagert und fertig aus. Der Einsatz muss alles von den Jungs abverlangt haben.

„Schätze mal, besser als bei euch. Wenn die anderen aussehen wie Sie …“ Lasse den Satz unbeendet, gibt es doch keinen Grund etwas auszudrücken, was er ohnehin weiß.

„Ja, da magst du Recht haben. Dennoch wüsste ich gern von dir, wie dir das Training bekommen ist.“ Mache einen tiefen Atemzug, bevor ich gestehe.

„Ich kann zwar zeitlich nicht mit euch mithalten, dennoch kann ich mit ruhigem Gewissen sagen, dass ich den Parcours endlich durchhalte und mir auch das nächtliche Laufen gut tut und ich keine Probleme nachts habe.“

„Das hört sich gut an“, pflichtet der Captain bei.

Merke, dass er noch etwas sagen möchte, doch klopft es an der Tür und Leon steckt den Kopf herein.

„Du siehst scheiße aus.“, begrüßt dieser den Captain und ungeachtet, dass noch jemand da ist, geht Leon zu ihm und gibt dem Captain einen Kuss.

Fühle mich etwas unbehaglich, stehe deshalb auf und will gerade das Zimmer verlassen, als Leon sagt: „Samuel begleitet dich heute Nacht.“

„Okay.“ und damit ziehe ich mich zuerst ins Bad und eine Viertelstunde später aus dem Haus zurück.

6

Gemütlich schlendre ich hinüber  zur Baracke. Bin zwar gespannt, wie es den Jungs geht, fürchte mich anderseits jedoch vor dem, was ich vorfinden könnte.

Allen Bedenken zum Trotz öffne ich, mit einer Sicherheit, die mir fremd geworden ist, die Tür.

Ein Schwall Gelächter und muntere Stimmen dringen an mein Ohr. Etwas ungläubig trete ich hinein und blicke in die Runde.

Die Stimmung passt nicht wirklich zum Aussehen der Soldaten.

Unzählige Blessuren, Verbände und Pflaster zieren die sportlichen Körper.

Gänzlich jeder trägt nichts weiter als Boxershorts, so, dass alle Verletzungen zu erkennen sind.

„Dustin, schau nicht so ungläubig. Keiner ist ernsthaft verletzt und die Mission war erfolgreich. Also feier‘ mit uns.“

Lukas wirft mir einen Flachmann zu und grinst.

Nur zögernd öffne ich sie, es riecht süßlich, aber dennoch undefinierbar.

Erst als ich einen vorsichtigen Schluck nehme, auf ein Brennen gefasst, lache ich auf. Es ist nichts weiter als Redbull.

„Sorry, Kleiner, was anderes kommt da nicht rein.“ Versteht Lukas meinen Blick falsch.

„Bin froh, rühre Alkohol nicht wirklich gerne an.“

„Stimmt, sogar das Bier in der Kneipe hat Dustin stehen gelassen, dass ich mich opfern und es trinken musste.“

„Als wenn es so ein Opfer für dich wäre.“ Damit legt Joel seinem Partner die Hand auf die Schulter. Niemand kauft Dennis den gequälten Gesichtsausdruck ab. Und wieder erbebt die Baracke vor Gelächter.

 

„Aber jetzt erzähl mal, wie es dir so geht? Was hatte der Captain für dich geplant?“ Sascha ist neugierig, genau wie alle anderen, bemerke ich, als es plötzlich still wird und mich alle gebannt ansehen.

„Training, nichts als Training und in fünf Stunden ist das nächste.“ Kurz überschlagen sie die Zeit, das erkenne ich an ihren Blicken.

„Nachttraining? Ich hoffe aber, kein Parcours.“

„Um Himmels Willen, Sascha. Ich glaube du kennst den Kommandeur gut genug um zu wissen, dass er nicht so leichtsinnig ist. Nein, nachts wird nur gelaufen. Meistens drei bis vier Stunden, aber es tut ganz gut.“ Muss ja niemand wissen, dass die Träume weg sind, da ich zur fraglichen Zeit wach und abgelenkt bin.

„Soll ich dich begleiten? Im Dunkeln sollte niemand alleine unterwegs sein.“

„Danke für das Angebot, aber Leon, oder Samuel begleiten mich.“ Versuche die Stimme gleichgültig klingen zu lassen, was mir nur bedingt gelingt, denn einige beginnen wissend zu lächeln, aber keiner gibt einen Kommentar ab.

„Was meinst du, wann bist du wieder bei unserem Training dabei? Zum einen möchte ich sehen, wie schnell du geworden bist, aber vor allem möchte ich eine Revanche beim Schießen.“ Jamil tut empört, aber das Glitzern seiner Augen straft der Mimik Lügen.

„Das werde ich wohl morgen erfahren.“

Zu schnell vergehen die Stunden und ehe ich mich versehe, steht Samuel in der Baracke.

„Ich glaube, wir haben einen Termin, Dustin.“ Leise seufzend erhebe ich mich.

„Bis morgen, Jungs.“

„Viel Vergnügen. Sam, kann ich dich kurz sprechen?“ Fragend gehen die Blicke zwischen Samuel und mir hin und her, wissen beide nicht wirklich, was los ist.

„Mach ruhig. Ich lauf die gewohnte Strecke. Bin sie mit Leon ja schon oft genug gelaufen.“ Damit drehe ich mich um und laufe los. Lasse Samuel keine Möglichkeit zu hinterfragen.

 

Dunkel erstreckt sich der Wald vor mir. Schon seit zehn Minuten habe ich die Baracken und alles Licht hinter mir gelassen. Von Samuel ist noch nichts zu hören. Erst jetzt kommt mir in den Sinn, dass er die Strecke nicht kennen könnte. Kurz keimt der Gedanke in mir auf umzudrehen, doch verwerfe ich ihn wieder, bin ich schließlich kein Kleinkind, das die Strecke nicht auch alleine schafft.

Nach zwei Stunden straffes Durchlaufen mit erhöhtem Tempo, gelange ich an die mir vertraute Hochebene. Der Vollmond spiegelt sich in der Oberfläche des Sees.

Wenn es bei Nacht schon so schön hier ist, wie muss der Anblick bei Tag erst sein?

Lasse mich im Gras nieder, nahe des Ufers.

Habe beschlossen hier auf Samuel zu warten, lange dürfte es ja nicht sein.

 

Tief durchatmend schließe ich die Augen, fahre mit einer Hand durch das Wasser. Zumindest müsste es das sein, jedoch hinterlässt die Hand dunkle Spuren, als ich sie an der hellen Trainingshose abwische. Ein mir bekanntes Lachen dringt unheimlich an mein Ohr. Erschrocken springe ich auf, drehe mich mehrmals im Kreis.

Bin ich etwa eingeschlafen?

Kneife mir in den Arm, schlage auf einen Baum ein, doch die Schmerzen sind real und egal, wie stark sie werden, das Lachen lässt nicht nach. Wird mit jedem Schlag noch lauter, bösartiger, wenn das überhaupt möglich ist.

„Nein du bist nicht real. Sie ist tot , seit Jahren. Lass mich endlich in Frieden.“

Lege die Hände auf die Ohren, doch vermag es nicht zu helfen.

„Du kannst mir nicht entkommen. Ich werde dich immer finden!“

Habe das Gefühl, als würde sich eine Hand auf meine Schulter legen, versucht mich in die Knie zu zwingen. Ruckartig drehe ich mich um. Die Hand rutscht mir von der Schulter.

Als ich die Person erkenne, trete ich zurück. Einen Schritt und noch einen, flüstre dabei:

„Du bist nicht real.“ Die Person versucht wieder nach mir zu greifen, sagt etwas, doch höre ich es nicht. Verliere den Halt. Erst da erkenne ich, dass ich dem Abhang im Süden zu nahe gekommen bin. Ich schreie nicht. Ein einziges Wort kommt über meine Lippen, wütend und ängstlich zugleich.

„Vater!“ Dann gebe ich mich kampflos dem Fall hin.

 

Der Sturz wird gebremst von Ästen und einer kräftigen Hand, die mich unnachgiebig festhält und nach oben zieht.

„Dustin, komm schon, hilf mit!“ Die Stimme ist mir bekannt, obwohl der wütende Klang befremdlich ist.

Als ein weiterer Ruck durch mein Bein geht, öffne ich die Augen. Samuel liegt bäuchlings am Klippenrand, hält mich fest und versucht mich hochzuziehen.

„Mein Bein ist eingeklemmt.“, zische ich beim nächsten Ruck. Es gibt keine Möglichkeit mich irgendwo festzuhalten. Hänge wie eine Ziehharmonika zwischen Samuel und den Ästen, in denen ich mich verkeilt habe.

Auch Samuel scheint es zu bemerken. Höre ihn einige Sekunden später sprechen.

„Hochebene. Dustin ist am Abhang eingeklemmt. Benötige Hilfe, mit Abseilen… Verstanden.“

„Sie sind unterwegs, Dustin, halt durch!“ Die Versuchung einfach loszulassen scheint mir im Moment verlockender als weiter zu kämpfen.

„Wage es nicht, Dustin!“ Ein kurzer Ruck verrät mir, dass Samuel mit meinen Absichten nicht einverstanden ist.

„Was ist hier gerade vorgefallen? Wer macht dir solche Angst?“ Samuel muss etwas mitbekommen haben, doch schweige ich weiter.

„Als du fielst, sagtest du „Vater.“ Motorengeräusche sind zu vernehmen.

„Dustin, ich behalte es vorerst für mich. Aber solltest du nicht reden, werde ich Meldung machen. Denn ich denke, dass ist der Grund, warum du überhaupt hier bist.“ Zum Ende des Satzes muss er schreien, weil sich der Hubschrauber senkt und zur Landung ansetzt.

Kurz darauf wird die Umgebung in gleißendes Licht getaucht.

„Was ist geschehen?“

„Wie schwer ist er verletzt?“

„Ansprechbar und bis auf das Bein scheinbar okay. Habe nur den Sturz gesehen, war wohl etwas zu langsam.“, höre ich sie sich unterhalten.

Zwei Seile, wobei eines einen Gurt hat, werden hinuntergelassen. Kurz darauf taucht Jan neben mir auf. Binnen Sekunden hat er den Gurt um meine Taille gelegt und lässt sich tiefer gleiten.

„Dustin ist im Gurt. Sam, kannst loslassen und etwas Seil nachgeben um das Bein zu befreien.

Das alles geschieht so schnell und routiniert, dass sich mein Gehirn gar nicht darauf einstellen kann.

Ein lautes Knacken, ein kräftiger Ruck und das Bein ist befreit.

„Aufwärts, ohne Hindernis.“, sagt Jan schließlich und schon geht es nach oben, zurück auf festen Boden.

Sascha, Daniel und Samuel erwarten uns bereits. Spiele mit dem Gedanken einfach aufzustehen, doch drückt Daniel mich bereits zu Boden, während Sascha sich die Verletzung ansieht.

„Abschürfungen und Prellung. Daniel, flieg zum Lazarett rüber. Sicherheitshalber röntgen.“ Ein Knurren entrinnt sich meiner Kehle, doch niemand reagiert.

Sascha und Samuel stützen mich auf dem Weg zum Helikopter und kurz darauf sitzen auch Jan und Daniel drin und wir fliegen ab.

7

Drei Stunden Krankenhausaufenthalt für einen geprellten Knöchel und etliche Schrammen.

Dennoch wird mein Training in den nächsten vier Tagen anders verlaufen.

Striktes Rennverbot und Laufen, nur das nötigste. Seufzend lasse ich mich auf der Pritsche nieder.

Wie konnte mir das nur passieren?

Wie hat Samuel das mitbekommen?

Seit wann ist er wirklich auf der Hochebene gewesen?

In der Baracke herrscht munteres Treiben, keiner achtet wirklich auf mich.

Wir haben gerade einmal zehn vor Sechs, doch hier geht es zu, wie in einem Ameisenhaufen. Alle machen sich fertig, obwohl sie frei haben, so wie Lukas gestern mitteilte.

Erschöpft fallen mir die Augen zu, habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen.

„Kleiner, der Kommandeur möchte dich sehen.“

Mir kommt es vor, als hätte ich nicht geschlafen, doch ist das Gebäude leer, bis auf Sascha, der sich über mich beugt.

„Komm, wenn es nicht allein klappt, stütze ich dich.“

Dankend verneine ich die Hilfe und stehe etwas schwerfällig auf.

Zwar nur langsam, aber alleine gehe ich, in Saschas Begleitung, zum Büro von Mathew.

Bereits beim Eintreten bemerke ich die unheilvolle Stimmung. Samuel sitzt auf einem der zwei Stühle, der andere ist für mich.

Sascha kommt nicht mit rein, bemerke ich, als er die Tür von außen schließt.

„Setz dich und erzähle mir, wie es zu dem Unfall kommen konnte.“ Darum herum würde ich sowieso nicht kommen.

Seufzend setze ich mich und schließe kurz die Augen.

„Ich dachte, ich könnte die Strecke allein laufen, da ich sie mit Leon öfter laufe. Samuel war noch im Gespräch, bin da oben wohl etwas zu weit an den Rand gekommen. Samuel ist im richtigen Moment gekommen, um mich zu halten und um Hilfe zu rufen.“

Werfe diesem einen bedeutungsvollen Blick zu und ein Lächeln bildet sich auf Samuels Lippen. Er wird die Geschichte so stehen lassen, solange ich ihm die Wahrheit sage. Habe ich überhaupt eine andere Wahl? Leicht nicke ich dem jungen Mann zu, als Zeichen, dass ich verstanden habe.

Kommandeur Mathews Blick ist alles andere als zufriedenstellend, dennoch nickt er ruhig.

„Samuel erklärte mir schon, was ihn aufgehalten hat. Wir werden wohl das Training abändern, solange das mit deinem Bein ist. Sam tue mir den Gefallen und liefere Capel bei Sascha ab. Soviel ich weiß, bist du da zuletzt gewesen.“

Damit entlässt Mathew uns und widmet sich den Papieren auf dem Schreibtisch.

Lautlos verlassen wir den Raum und das Gebäude.

Bis zum Erste-Hilfe-Bereich bricht keiner unser Schweigen.

Ich will gerade nach der Türklinke greifen, als Samuel seine Hand um meinen Oberarm schließt. Nicht grob, aber dennoch unnachgiebig.

„Heute Abend, um Zwanzig Uhr, treffen wir uns am Trainingsplatz. Das, was gestern geschehen ist, darauf möchte ich einige Antworten.“

Würde mich am liebsten weigern etwas zu sagen, doch weiß ich, worauf das hinausläuft, also nicke ich einwilligend.

Zufrieden löst er langsam die Hand, streicht den Arm hinab und dreht sich lächelnd um. Ob wegen meiner Antwort, oder der Gänsehaut, die sich gebildet hat, weiß ich nicht.

 

 

„Da bist du ja. Na, du machst vielleicht Sachen.“ Freundlich begrüßt mich Joel, als ich schließlich durch die Tür trete. Saschas Blick ist prüfend, aber sagt er nichts zum gestrigen Einsatz. Bin beschämt, dass ich ihre Nacht gestört habe.

„Ich hoffe, dass du in Samuel einen Freund findest.“, ist das einzige, was Sascha schließlich sagt, bevor er sich seiner Arbeit zuwendet.

Der Tag verläuft wie ein intensiver Erste-Hilfe-Kurs.

Abwechselnd zeigen Joel und Sascha mir, wie man diverse Verbände legt, das richtige Handeln bei Verbrennungen und die Vergabe von Injektionen.

„Deine Verbände sind als Ersthelfer ganz passable, aber zum Injizieren bist du nicht zu gebrauchen.“

Kameradschaftlich schlägt mir Joel auf die Schulter, als wir zum Abendessen gehen. Sascha ist sehr schweigsam und ein Blick in sein angespanntes Gesicht zeigt mir, dass er mich eingehend geprüft hat. Das war wohl auch der Zweck dieses Tages gewesen, was mir in der Kantine bestätigt wird. Alle hatten den Tag frei bekommen, bis auf die Sanitäter der Einheit, die mich überprüfen sollten.

Aber deswegen sauer auf Mathew sein? Wahrscheinlich, nur soll mir das nicht gelingen, schließlich ist es ja mein eigenes Verschulden, das der Kommandeur zu solchen Maßnahmen greift.

 

„Es tut mir leid, dass ihr wegen mir keinen freien Tag hattet.“ Das schlechte Gewissen lässt mich lustlos im Essen rumstochern.

„Ist schon gut, Dustin, wir wissen, dass dich etwas bedrückt. Der Albtraum, das sonderbare Training und gestern dein Unfall. Es hängt alles zusammen. Wenn du nicht anfängst alles zu verarbeiten,  was dir passiert ist, wird es nicht nur dir schlecht gehen. Wir möchten dir helfen, deshalb haben Joel und ich uns bereit erklärt, diesen Dienst zu schieben.“ Verlegen senke ich den Blick noch tiefer, bringe kein Wort hinaus.

„Ich glaube, Samuel weiß mehr als er sagt. Vielleicht hilft es dir, dich ihm anzuvertrauen. Er ist ein guter Junge, kommt ganz nach seinem Vater und bei Leon ist er in guten Händen.“

Unwillkürlich zucke ich bei den Worten zusammen. Wenn Sascha nur wüsste, aber Samuel scheint sich an sein Versprechen zu halten, jetzt muss ich meines wohl oder übel auch halten.

„Danke.“ Ohne ein weiteres Wort bringe ich das Tablett weg und gehe Richtung Trainingsplatz.

Obwohl ich noch eine Stunde Zeit habe, lasse ich mich bei den Reifen nieder und schließe die Augen.

 

„Dus, wo bist du? Komm zu deiner Mutter.“

„Mutter? Nein, das kann nicht sein. Du bist tot!“

„Aber Dus, ich bin es doch, das Mädchen vom Wald.“

Ich habe dich nicht retten können.“ Merke nicht, wie ich die Arme um mich selbst schlinge und beginne zu zittern.

„Du hast mich im Stich gelassen. Du bist egoistisch.“

„Nein, lass mich zufrieden! Du bist nicht real, nur in meiner Einbildung, aus der ich dich schon längst verbannt habe.“

„Dustin, komm, nicht schlafen, hier draußen.“ Erschrocken springe ich auf, habe nicht bemerkt, dass ich eingeschlafen bin.

„Komm mit, du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“ Lasse mich ohne Gegenwehr von Samuel hochziehen und wegführen.

Erst als wir am Strand langgehen und die kühle Seeluft mir das Hirn frei macht, realisiere ich, wo wir sind.

„Ich darf doch nicht …“, beginne ich zu protestieren, da legt mir Samuel einen Finger auf die Lippen.

„Ich werde mich nachher im Stützpunkt melden. Wenn mein … wenn Mathew bescheid weiß, wird es schon in Ordnung gehen.“

„Aber …“, versuche ich es noch einmal, doch schüttelt Samuel nur den Kopf und zieht mich weiter.

 

Nachdem wir eine ganze Weile schweigend laufen, fragt Samuel vorsichtig: „Dein Vater, warum hast du solch eine Angst vor ihm?“

„Ich …“ Was soll ich sagen? Das Ganze leugnen, dann will er eine andere Begründung, oder ich rede es schön. Da gehen mir Saschas Worte durch den Sinn. Seufzend schließe ich kurz die Augen und seit Jahren kommt etwas über meine Lippen, was ich noch niemanden anvertraut habe.

„Ich habe damals etwas gesehen, das ich nicht hätte miterleben dürfen. Also ja, ich habe panische Angst vor ihm und weiß nicht, ob er überhaupt noch lebt.“ Bemerke erst jetzt, wie ich zittre.

„Wir gehen zu mir, dann ruf ich an.“

 

Es stellt sich heraus, dass Samuels Haus ganz in der Nähe des Strandes ist, so dass ich bereits nach wenigen Minuten im Warmen sitze.

Der Tee, den mir Samuel gerade bringt, tut das Übrige um die zitternde Muskulatur zu lockern und mich entspannt in die Lehne des Sessels sinken zu lassen.

 

„Ich bin’s Sam. Sag Dad, dass Dustin bei mir ist. Leon, du weißt genauso gut wie ich, dass er noch niemandem etwas nützt … Vielleicht, dazu möchte ich nichts sagen … eine Woche Urlaub sollte denke ich reichen um das Eis zu brechen … Leon ich … ach vergiss es. Bis bald.“ In den Pausen die entstehen, scheint Leon etwas zu sagen, was ich jedoch nicht verstehen kann.

Es war nicht meine Absicht dem Telefonat zu lauschen, aber irgendwie lässt es sich auch nicht vermeiden.

Jetzt frage ich mich allerdings, wie ich mit dem Gehörten umgehen soll. Klar, ich kenne nur die eine Seite, aber dennoch gibt es mir zu denken.

„Du solltest dir lieber Gedanken machen, wie du deine Mutter retten kannst.“ Plötzlich sehe ich mich wieder in dem Kleiderschrank, in dem ich mich als Junge versteckt habe. Die Erinnerungen sind so nah, so real. Warum nicht mehr nur zur gewohnten Zeit?

„Weil du glaubtest fliehen zu können. Nur Beweise ich dir, dass du mir niemals entkommst. Nichts wird es ändern!“

Abrupt öffne ich die Augen, will ich doch nicht einschlafen. Aber ich schlafe nicht, sitze in Samuels Wohnzimmer und höre ihn in der Küche.

Doch sind wir nicht allein. Eine Gestallt versucht unbemerkt in die Küche zu gelangen. Noch bevor ich es recht realisiere, stehe ich und gehe hinüber. Vorsichtig drücke ich die Schwingtür auf und erstarre.

Ein paar Füße lugen hinter dem großen Tresen hervor, in der Mitte des Raumes, und gurgelnde, schmatzende Geräusche sind zu vernehmen.

„Samuel ich…“ Greife mir das Nächstbeste, das ich bekomme, eine Küchenschere, und springe um die Ecke, um erneut wie angewurzelt stehen zu bleiben.

Es ist kein Mensch, den ich gesehen habe, sondern ein riesiger schwarzer Hund, der über Samuel steht und dessen raue Zunge sein ganzes Gesicht bedeckt.

Als Samuel mich an der Ecke, mit der Schere in der Hand, sieht, steht er ruckartig auf. Der Hund ist irritiert und weiß nicht, was er machen soll.

Mein Gesichtsausdruck muss dem des Tieres gleichen, denn Samuel hebt langsam die Hände und kommt vorsichtigen Schrittes auf mich zu.

„Dustin, leg die Schere zurück. Hier ist alles in Ordnung. Das ist Fuchur, mein Hund.“ Beschämt von meiner Überreaktion lege ich Kopfschüttelnd die Behelfswaffe zurück und wende mich ab um die Küche zu verlassen.

Kaum, dass ich mich gedreht habe, steht der Koloss von Hund vor mir. Mit ungefähr einem Meter Höhe und schätzungsweise fünfundsiebzig Kilo  schwer ist dieses Tier alles andere als klein und leicht, aber die Augen sind zum dahinschmelzen.

Ich gerate in seinen Bann und strecke ihm behutsam eine Hand entgegen. Ein kurzer Blick zu seinem Herrn, dann schnuppert er und bevor ich erahnen kann, was er vorhat, liege ich auch schon auf dem Rücken.

„Fuchur, du …“ Weiter kommt Samuel nicht, erschreckt er sich vor meinem Lachen.

„Es ist schön dich einmal glücklich zu sehen. Würde das gerne öfter erleben.“ Sofort erstirbt mein Lachen und ich blicke misstrauisch in Samuels ehrliches Gesicht. Weiß bei den Worten nicht wirklich, wie ich reagieren soll.

Fuchur hat längst von mir abgelassen und sich neben mich gelegt.

Samuel streckt mir die Hand hin und ohne groß darüber nachzudenken, erfasse ich sie und lasse mich auf die Beine ziehen. Ihn in meiner Nähe zu fühlen, ist angenehm und mir wird verdammt heiß. Schnell bringe ich wieder mehr Abstand zwischen uns, was Samuel lächeln lässt.

„Komm, ich habe eine Kleinigkeit zu Essen gemacht.“ Möchte protestieren, weil mein Magen viel zu voll ist, stattdessen sage ich keinen Ton und folge ihm ins Wohnzimmer.

 

An diesem Abend reden wir beide nicht mehr viel. Samuel zeigt mir, wo ich schlafen kann und zieht sich in sein eigenes Schlafreich zurück, damit ich zur Ruhe kommen kann.

8

„Wo versuchst du dich nur zu verstecken? Du müsstest doch wissen, dass ich dich überall finden werde!“ Habe mich so weit wie es geht unter dem Bett versteckt. Noch ist der Lichtspalt an der Tür klein. Mit der zunehmenden Lautstärke der Stimme verschwindet der Lichtstrahl, um kurz darauf breiter zu werden. Er steht in meinem Zimmer. Beiße so fest die Zähne zusammen, dass es schmerzt, doch gebe ich keinen Laut von mir.

„Komm aus deinem verdammten Versteck und sieh` dir an, was du mit deinem Ungehorsam angerichtet hast!“ Er steht direkt vor dem Bett, Blut tropft neben ihm zu Boden. Tränen laufen mir die Wangen herunter. Ersticke das Schluchzen im Schlafanzugoberteil.

Hände greifen mich an den Schultern, aber nicht grob.

Blicke auf und erkenne das Mädchen, das mich an sich zieht. Beruhigende Worte werden geflüstert und langsam komme ich zur Ruhe.

„Dustin!“, die Stimme passt nicht zu der jungen Frau. Öffne die Augen und schreie. Er versucht wieder nach mir zu greifen, doch jetzt bin ich erwachsen und setze mich mit Schlägen zur Wehr.

„Dustin, wach auf!“ Hart werde ich gepackt und auf das Bett gedrückt, bin fixiert und kann mich nicht bewegen.

Eine beruhigende Hand legt sich auf die Wange, wischt mir die Tränen weg.

Leise Worte dringen sanft an mein Ohr.

Erkenne die Person nicht. Muss einige Male blinzeln, bevor sich der Schleier lichtet.

Samuel!

Er hockt über mir, sanft und doch unnachgiebig.

Einen Augenblick versuche ich ihn von mir zu schieben, möchte verhindern, dass er meine Reaktion auf sich spürt, doch Samuel rückt kein bisschen zur Seite.

„Ich könnte noch eine Weile hier sitzen. Also, wenn du willst, dass ich runtergehe, dann solltest du dich beruhigen!“

Das Lächeln auf seinen Lippen lässt das Blut schneller in unerlaubte Regionen schießen. Doch zwinge ich mich dazu, ruhig liegen zu bleiben, da alles andere mich nur noch mehr in Schwierigkeiten bringen würde.

Schließlich setzt er sich neben mich aufs Bett und sieht mich schweigend an. Viel zu intensiv ist sein Blick und ich vermag nicht zu der Kraft, ihm auszuweichen.

„Erzähle mir von deinen Träumen.“

Wie von selbst kommen die Worte über meine Lippen. Nur alles grob angerissen und doch ist es das erste Mal, dass jemand davon erfährt.

„So viel Blut. Erst bin ich Kind, dann erwachsen. Ich konnte sie nicht retten, nicht beschützen. Bin Schuld am Tod.“ Merke nicht, wie meine Stimme hysterisch wird, aber Samuel scheint es zu bemerken, legt mir eine Hand auf den Unterarm.

„Weder als Kind, noch als Erwachsener bist du Schuld am Tod eines Menschen, solange du ihn nicht selbst umgebracht hast.“

„Ich habe sie nicht beschützt!“

„Wie solltest du einen Menschen beschützen, wenn du noch ein Kind warst?“

„Sie hat nach mir gerufen, immer und immer wieder. Doch habe ich mich einfach nur versteckt.“

„Deshalb gingst du zur Polizei, damit du nie wieder schwach bist.“

„Trotzdem konnte ich sie nicht retten.“

Unsere Positionen verändern sich unmerklich. Die Bilder kommen beim Reden so real vor meine Augen, dass ich mich zu einer Kugel zusammenrolle. Leises Schniefen verrät Samuel, dass ich weine. Seine Hand ruht beruhigend auf meinem Rücken, wo sie kleine Kreise zieht.

„Du hast mir genug anvertraut, für heute. Schließ die Augen und versuche zu schlafen. Ich werde noch eine Weile bei dir bleiben.“

Es dauert einige Zeit, doch die beruhigenden Worte und das sanfte Streicheln lullen mich ein und schließlich falle ich in einen traumlosen Schlaf.

 

 

Zum zweiten Mal erwache ich vollkommen ausgeruht.

Die Decke fühlt sich schwer an und der Versuch sie von mir zu ziehen scheitert.

Wische mir den Schlaf aus den Augen und möchte mich aufsetzen, doch gelingt mir das auch nicht.

Der Grund dafür ist Samuels Arm über meinem Oberkörper.

Er ist neben mir eingeschlafen. Lächelnd schließe ich wieder die Augen und kuschle mich so weit es geht an ihn, ohne ihn dabei zu wecken. Dieser gibt jedoch einige Geräusche von sich und schließt den Arm enger um meine Brust, ohne aufzuwachen.

Obwohl ich es wahrscheinlich nicht sollte, genieße ich das Gefühl, selbst einmal derjenige zu sein, der Beschützt wird.

 

Lange ruht dieser Frieden in mir jedoch nicht. Ein Kratzen lässt mich hochfahren.

Die Tür wird aufgestoßen und eine schwarze Gestalt betritt das Zimmer. Hecktisch sehe ich mich nach Samuel um. Er liegt friedlich schlafend neben mir, scheint von alledem nichts mitzubekommen.

„Samuel wach auf!“ Rüttle an seiner Schulter, doch rührt sich Samuel nicht.

„Das wird dir nichts nützen, du kommst zu spät. Auch ihn wirst du nicht retten können. Ich werde dir alles nehmen, ALLES!“

Verzweifelt schüttle ich den leblosen Körper neben mir, bis er auf dem Rücken liegt.

„Nein …“ ein Knoten im Hals erstickt meine Stimme, muss ein Würgen zurückdrängen.

Hals und Oberkörper sind mit Blut verschmiert. Die Augen sind leer und stumpf.

„Er hat dir nichts getan!“, schreie ich los. Im gleichen Moment springe ich aus dem Bett, auf die Gestalt zu. Wie von selbst legen sich meine Hände um den Hals des Anderen und ich drücke zu.

Wir gehen zu Boden, er versucht sich zu befreien, doch zerkratzt er mir nur die Arme, was ich kaum zur Kenntnis nehme.

„Dustin!“ Woher kommen die Stimme und die Ohrfeige, die ich gerade kassiere? Wie von selbst lösen sich meine Hände vom Hals des Gegners.

„Nein…!“ Schreie auf, lege die Hände auf meine Ohren. Wie kann es sein, dass er doppelt ist? Weiß nicht, wer von den beiden mir gefährlicher werden kann und ziehe mich instinktiv in eine Ecke zurück. Mit angezogenen Knien und die Arme schützend über den Kopf gelegt wiege ich mich vor und zurück. Versuche mich zu beruhigen, weiß ich doch, dass alles nur eine Einbildung ist.

„Samuel…“ Unter verzweifelten Schluchzern entweicht mir sein Name. Spüre warm seine Hand an meiner Wange, nur ist es nicht real. Nichts ist mehr real.

„Ich bin hier, Dustin, sieh mich an!“ Schüttle langsam den Kopf. Wenn ich aufsehe, blicke ich in die toten Augen eines wertvollen Menschen, das kann ich nicht ertragen.

„Dustin, sieh mich an!“ Arme legen sich um meinen Oberkörper, ziehen mich an eine warme Quelle.

„Dustin, bitte, ich werde nicht verschwinden, nie! Komm zurück zu mir!“ Die Wärme legt sich schützend um mich. Kann endlich wieder durchatmen und öffne schließlich argwöhnisch die Augen, auf alles gefasst, doch passiert nichts.

Sitzen in einer Ecke des Gästezimmers. Samuel hat mich mit seinem Körper umschlossen, streicht mir unentwegt über den Rücken und das Haar.

Der Versuch aufzustehen und mich beschämt zu verstecken scheitert, da Samuel auf die kleinste Bewegung achtet und die Arme als Antwort fester um mich schließt.

„Höre auf vor mir wegzurennen. Ich bin nicht die Gefahr!“

„Nein.“ Schüttle bestätigend den Kopf. „Aber bei mir bist du in Gefahr.“ Jetzt erkenne ich die bittere Wahrheit. Um ein Haar wäre ich auf ihn losgegangen … und auf Fuchur. Ruhig liegt der große Hund vor der Tür, Argwohn im Blick. Erst jetzt realisiere ich die brennenden Arme. Blut und Zentimeterlange Kratzer zieren sie.

„Es tut mir so leid.“, flüstre ich an Samuels Brust gelehnt.

„Lass mich dir helfen. Gemeinsam werden wir eine Lösung finden.“ Nur zu gern möchte ich Samuel vertrauen, seine Unterstützung annehmen, doch die Angst ihn zu verletzen, oder gar zu töten ist zu groß.

Schmiege mich, ohne eine Antwort zu geben, tiefer in seine Umarmung. Sauge seinen Duft  ein, um ihn in Erinnerung zu behalten.

Nur noch ein wenig Zeit mit Samuel verbringen, bevor ich für immer gehe.

9

„Guten Morgen, Dustin. Ich habe die perfekte Idee, wie wir heute den Tag verbringen.“

Ziehe mir grummelnd die Decke über den Kopf.

Mein Vorhaben, mich aus dem Staub zu machen ist gescheitert, als ich in Samuels Armen wieder eingeschlafen bin.

Samuel muss mich ins Bett verfrachtet haben, denn da liege ich gerade und werde mit Frühstück geweckt.

„Komm schon, oder interessiert es dich nicht?“

„Nicht wirklich.“, knurre ich unter der Bettdecke. Samuel beachtet es nicht. Zieht mir die Decke vom Kopf und setzt sich zu mir aufs Bett.

„Pass auf, du sagtest, dass du nicht weißt, was aus deinem Vater geworden ist …“

Die Pause, die er einlegt, ist bedeutungsschwer und ich muss schlucken.

„… Ich möchte mit dir zusammen Nachforschungen anstellen. Damit du zumindest einmal weißt, wie du weiter verfahren kannst.“

Am liebsten würde ich protestieren, aufstehen und weglaufen, wie ein feiger Hund, nur, dass ich weiß, dass Samuel Recht hat. Möchte ich doch selbst endlich wieder ein normales Leben führen und dafür muss ich wissen, was aus meinem Vater geworden ist. Auch, wenn es mir schwer fällt, nicke ich zustimmend.

 

„Warum hast du noch nie versucht etwas über ihn rauszufinden?“ Sitzen nach dem Frühstück an seinem Laptop. Der Schreibblock ist bereits mit einigen Daten beschrieben.

„Habe einfach nur versucht alles zu vergessen. Dachte, dass ich so besser damit fertig werde.“

„Was offensichtlich nicht funktioniert hat. Jetzt machen wir es auf meine Weise.“ Lächelnd stößt Samuel mit seiner Schulter gegen meine.

Innerhalb von drei Stunden haben wir die letzte Adresse, von vor vier Jahren, gefunden.

Ansonsten ist nirgendwo der Name aufgetaucht. Bei dem Zeitungsartikel angekommen, der vom Mord an meiner Mutter handelt, wird mir schlecht. Lasse Samuel allein darüber lesen.

„Hier steht leider nichts über den Mörder. Wir müssen wohl oder übel die Behörden einschalten.“

„Lass uns zuerst zu der Adresse fahren, vielleicht weiß jemand etwas.“ Mir fällt es schwer diesen Vorschlag zu machen, das scheint auch Samuel zu bemerken, denn mitfühlend legt er mir die Hand auf die verkrampfte Faust.

„Dein alter Captain, kann er …“

„Nein!“, unterbreche ich ihn hysterisch, atme tief durch und erkläre, etwas ruhiger: „Ich möchte da niemanden mit reinziehen. Auch, wenn ich Stuart viel verdanke, nein, gerade ihn will ich nicht einweihen. Er hat bereits genug für mich getan.

„Okay, dann lass uns die Adresse aufsuchen!“

 

Das Haus entpuppt sich als Ruine. Vor zwei Jahren ist ein riesiges Feuer ausgebrochen. Nichts ist bewohnbar, geschweige denn betretbar. Die Anwohner sind woanders hingezogen zumindest die, die überlebt haben. Sechs von dreiundvierzig Mietern sind im Feuer umgekommen. Das sagt uns ein Mieter im gegenüberliegenden Haus.

 

„Kennen Sie vielleicht diesen Herrn? Vor vier Jahren hat er hier gewohnt.“ Halte dem etwas älteren Mann ein Foto meines Vaters entgegen, was ich aus der Zeitung habe.

„Mh, ihr Vater…“ Grübelnd blickt er vom Foto zu mir und wieder auf das Bild.

„Eine Schande, dass er sich nicht um Sie gekümmert hat.“

„Woher…?“ Der Alte winkt meine Frage weg, wie eine lästige Fliege.

„Sie würden ihn nicht suchen, wenn er bei Ihnen geblieben wäre… vier Jahre sagen Sie…“ Habe den Eindruck, dass der Mann versucht in die Vergangenheit zu blicken. Ungeduldig knibble ich an meinen Fingernägeln, bis Samuel mir Kopfschüttelnd seine Hand darauf legt und mein Handeln so unterbricht.

„Ja, es war nicht oft, aber ich habe ihn gesehen. Das letzte mal kurz vor dem Brand. Fast fluchtartig hatte er das Wohnhaus verlassen, als wäre er der Brandstifter gewesen.“

„Hat man denn den Täter ermitteln können?“

„Nein und heute wird nicht mehr nach ihm gesucht.“

Es ist eine aufschlussreiche Unterhaltung, auch, wenn sie uns nicht viel weiterbringt.

Dankbar verabschieden wir uns von dem alten Mann und fahren zurück in Samuels Haus.

 

„Du suchst mich? Was für eine Verschwendung! Verstecke dich nicht vor mir und wir werden schneller zusammen sein, als du denkst.“

„Alles in Ordnung, Dus?“

„Ja…, nein…“ Blicke mich orientierungssuchend um. Sitzen noch in Samuels Wagen, fahren gerade seine Auffahrt zum Haus rauf.

„Er war es wieder, stimmt’s?“

„Es sind schon lange keine Träume mehr. Sehe ihn ständig, in den unpassendsten Momenten.“

„So, wie gerade?“ Nicke schwach, das heftige Luftholen und die schweißnasse Stirn haben es verraten.

„Was hat er gesagt?“ Samuel tastet sich zögernd an das Thema ran, doch gibt er mir auch das Gefühl, nicht verrückt zu sein.

„Ich solle nicht suchen, mich nicht mehr verstecken und wir würden beide zufrieden sein.“

„Nette Aussichten.“

Nach fast zehn Minuten, die wir vor dem Haus im Auto sitzen, öffnet er schwungvoll die Tür.

„Ich weiß nicht, wie es mit dir aussieht, aber ich habe Hunger.“ Damit geht er rein, lässt mir die Entscheidung, oder besser gesagt, meinem Magen, der sich in diesem Moment lauthals meldet.

Samuels Lächeln ist entwaffnend und so folge ich ihm in sein Reich.

 

 

Während Samuel in der Küche etwas zu Essen zubereitet, verschwinde ich nach hinten ins Badezimmer, mit dem Gedanken mir eine Dusche zu genehmigen.

„Junge, die Dusche muss warten. Wir müssen uns unterhalten.“ Stehe, am Waschbeckenrand abgestützt, vor dem Spiegel, doch was ich da sehe, möchte ich nicht so recht glauben.

„Du hast den Gedanken zugelassen, dich nicht mehr zu verstecken, jetzt wirst du mich nicht mehr los!“ Öffne den Mund um zu widersprechen, doch hat er eigentlich Recht.

„Was ist mit dir geschehen?“ Stelle die Frage nur vorsichtig, sehe ich in dem Spiegel nicht mein Gesicht, sondern das meines Vaters.

„Das tut nichts zur Sache. Wo ich bin, was ich mache… Wichtig ist, was du aus dir gemacht hast.“

„Ich…“Weiter komme ich nicht, er fällt mir ins Wort.

„Du bist wie ich, lass es endlich zu und versteck dich nicht mehr vor deinem Schicksal.“

„Meinem Schicksal?“

„Ich werde es dir zeigen, lass mich für eine Sekunde in deinen Körper!“ Bin versucht zuzustimmen, lehne dann jedoch ab, doch es ist zu spät. Das kurze Zögern reicht aus.

„Endlich wieder vereint: Vater und Sohn. Ich zeige dir, was es heißt ein Jäger zu sein.“

Er zwingt mich, mich umzudrehen und gehe nun, fremdgesteuert, in Richtung Küche. Sitze in meinem eigenen Körper fest. Muss mit ansehen, wie ein anderer mich kontrolliert und kann nichts dagegen machen.

Es kommt mir vor, wie in einem Horrorfilm. Das Lachen aus meiner Kehle ist falsch.

„Du wirst dich daran gewöhnen und schon bald gehst du alleine auf die Jagd!“

Will schreien, protestieren, aufbegehren, doch bleibt mein Körper ruhig und entspannt. Seele und Körper arbeiten nicht mehr länger zusammen.

 

Haben mittlerweile die Küche erreicht, Samuel steht am Herd, den Rücken uns zugedreht. Von Fuchur fehlt jede Spur, hoffe, dass der schwarze Riese das Schlimmste verhindern kann.

„Kann ich dir bei irgendwas helfen?“ Samuel dreht sich bei der Frage nicht um, zeigt nur auf einen Salatkopf und Tomaten.

„Wenn du willst, kannst du den Salat zubereiten. Messer sind neben der Spüle im Kasten.“

Wie ferngesteuert begebe ich mich zur Spüle, suche mir das passende Messer und wäre fast an dem Spiegelbild meines Vaters erschreckt, aber nur beinahe, ist er es doch, der mich steuert.

Das Lächeln, das sich im Messer spiegelt, lässt mich das Schlimmste erahnen. Kurz blitzen Bilder meiner Mutter und des jungen Mädchens vor meinem geistigen Auge auf. Wie sie blutüberströmt und mit unzähligen Messerstichen auf dem Boden liegen.

„Wie Recht du mit diesen Erinnerungen hast, doch das Mädchen geht nicht auf meine Kappe. Und jetzt lass uns die Beute erlegen.“

Für einen kleinen Moment ist meine Rebellion so stark, dass er das Messer wieder fallen lässt, doch ist es nicht genug, um ihn gänzlich von seinem Vorhaben abzubringen.

Das kurze  Scheppern des Messers reicht aus, um Samuels Aufmerksamkeit zu erregen. Dieser dreht sich genau in dem Moment um, als mein Vater ihm das Messer zwischen die Schulterblätter rammen will. Dadurch verfehlt er sein Ziel, streift nur den Oberarm. Der zweite Hieb, den mein Vater ansetzt, wird durch Samuels Reaktion gänzlich vereitelt.

Ein leiser Pfiff, aus Samuels Mund ruft Fuchur herbei, der ohne weitere Aufforderung auf uns zuspringt und in meinen Arm beißt, so, dass das Messer zu Boden fällt.

„Du verdammter…“, versucht Vater zu fluchen, doch gewinne ich kurzzeitig die Oberhand zurück.

„Samuel, es tut mir leid. Egal was passiert, bitte komm mich nicht suchen, oder zur Hilfe. Ich werde mich melden, sobald ich alles unter Kontrolle habe!“

Damit drehe ich mich um und flüchte. Nehme mir Samuels Auto und fahre zurück zur Pension, die ich am Anfang gemietet habe. Verbarrikadiere mich in meinem Zimmer und zieh die Gardienen zu, so, dass niemand mehr hineinsehen kann.

Ich begebe ich mich ins Badezimmer, wo mich mein wütender Vater im Spiegel anfunkelt.

 

„Was zum Teufel…?“

„Das frage ich dich! Wieso hast du mich unterbrochen? Er wäre jetzt längst tot.“

„Und genau das darf nicht sein. Er ist mein Freund.“

„Freunde gibt es in dieser Welt nicht!“

„Ich lebe nicht in deiner Welt! Du bist in meinem Kopf und von da werde ich dich vertreiben, koste es, was es wolle!“

„Und wenn es dein Leben wäre? Bist du wirklich bereit alles zu geben, was dir lieb und teuer ist?“

„Du hast mir bereits alles genommen, ich kann nichts verlieren, das ich nicht mehr habe!“

Wütend schlage ich mit der Faust in den Spiegel, so lange, bis er zerbricht. Dass meine Hand vom Glas aufgeschnitten ist und blutet, realisiere ich nicht. Es ist ein zu angenehmes Gefühl, wenigstens für kurze Zeit, wieder allein in meinem Kopf zu sein.

 

Nach einer schnellen Dusche und dem notdürftigen Abbinden der Bisswunde und der aufgeschnittenen Hand, lege ich mich aufs Bett. Die Zeit habe ich nicht mehr im Blick.

Irgendwann fallen mir die Augen zu und ich schlafe ein.

10

Mein Vater erwartet mich bereits.

Breitbeinig und mit hoch erhobenem Haupt steht er an der Tür. Eine typische Soldatenhaltung. Das Haar kurz geschoren, die Augen vor Hass erstarrt und doch spiegelt sich mein Gesicht in seinem. Sehe aus, wie er, in jungen Jahren, sogar in der Statur und Größe stehe ich ihm in nichts nach.

„Willkommen zu Hause, mein Sohn.“ Es klingt nicht freundlich, spiegeln die Worte seine Haltung wieder. Aggressivität, stark gezügelte Wut, in jeder Silbe, die er spricht.

Muss schwer schlucken, kann ich dem Unausweichlichen sowieso nicht aus dem Weg gehen. Ist es doch genau das, was ich will. Dem Ganzen ein Ende setzen. Gewinnen, oder verlieren, etwas anderes gibt es nicht mehr.

Entschlossen trete ich ihm entgegen und folge meinem Vater ins Haus.

Kaum, dass die Tür ins Schloss fällt, stehe ich allein im Eingangsbereich. Von meinem Gegner fehlt jede Spur.

Soll ich abwarten, hier stehen bleiben, oder mir die Zeit nehmen mich umzuschauen.

Entscheide mich dafür, mir die Umgebung genauer anzusehen. Schnell wird mir jedoch klar, wo ich bin, ist es mein Elternhaus.

Das Haus, in dem ich fast neun Jahre meiner Kindheit glücklich verbracht habe, bis Vater meine Mutter umbrachte.

Angespannt und nur flach atmend gehe ich durch die Flure, immer darauf bedacht, dass mein Gegner jeden Moment um die Ecke kommen könnte.

Vor der Kinderzimmertür bleibe ich stehen, nehme mir die Zeit, das Zimmer zu betrachten und an die fröhliche Vergangenheit zu denken.

Der Frieden in diesem Zimmer wehrt nur kurz. Ein Hieb in den Nacken lässt mich nach vorn taumeln und ich falle auf das Bett.

„Das habe ich dir nicht beigebracht. Du sollst auf der Hut sein, immer und in jedem Augenblick.“

Reibe mir den Nacken. Was hat mein Vater vor? Warum dieses unbeabsichtigte Training?  Doch noch bevor ich ihn fragen kann, ist er auch schon wieder verschwunden.

Noch etwas benommen gehe ich aus dem Zimmer, den Flur bis zum Ende entlang und in das alte Schlafzimmer.

Bin darauf gefasst, eine Leiche, Blutrückstände, oder meinen Vater vorzufinden, aber nichts dergleichen passiert.

Nichts lässt auf die grausamen Taten schließen, die er damals begangen hat. Nur der frische Duft, den das Leben und meine Mutter in dieses Haus brachten, fehlt gänzlich.

Den nächsten Schlag sehe ich kommen, hebe den rechten Arm und kann blocken.

„Erinnere dich an deine Ausbildung.“ Wieder verschwindet Vater, bevor ich reagieren kann.

Kann noch nicht wirklich nachvollziehen, was er von mir verlangt.

Plötzlich ertönt ein markerschütternder Schrei. Laufe, ohne nachzudenken, in die Richtung, aus der der Schrei kam, hinunter in den Keller, wo mich der Geruch von Blut, Urin und Tod zum Stehenbleiben zwingt.

 

„Du bist Polizist, Dustin, tu deine Pflicht.“ Nur widerstrebend  gehe ich weiter, sehe zwei, nein, drei Körper, die auf unmenschliche Weise verstümmelt, aufgeschlitzt und geschlagen wurden.

Ein leises Wimmern lässt mich weiter in die Dunkelheit spähen und mit gezückter Waffe schrittweise vorwärts rücken.

Ein kleiner Junge, nicht älter als neun, mit zerzaustem Haar. Er ist überall Schmutz und Blutkrusten bedeckt. Tränenspuren lassen sein Gesicht blass erscheinen.

„Komm her Kleiner, alles wird gut, ich bringe dich hinaus.“ Beuge mich zu dem Kind, um im nächsten Moment zurück zu schrecken.

In der Hand, die er mir um den Hals legen will, hält er ein großes Fleischermesser. Es ist mit Blut beschmiert.

Ein Blick in seine Augen genügt und ich sehe mich selbst: meine Augen, meine Mimik.

„Hab doch keine Angst. Ich werde dir nichts tun, du bist schließlich ich.“ Umso näher der Junge kommt, umso weiter weiche ich zurück.

„Nein, das war ich nie und werde ich auch nie sein.“

„In deinem Innersten bist du immer noch der kleine Junge, der seine Mutter rächen will.“

„Nein…“ Die Worte bleiben mir im Hals stecken, als plötzlich nicht mehr das Kind, sondern ich selbst vor mir stehe.

„Dein geheimster Wunsch ist Rache. Ich bin hier um deine Rache auszuführen. Folge mir und ich bringe dich zu deinem Vater.“

„Wie kann ich wissen, dass du nicht mein Vater bist?“

„Weil dein Vater dir nicht helfen würde.“

„Nein, er würde mich in eine Falle führen, so, wie du es vorhast.“

Ziele in sekundenschnelle auf den Körper mir gegenüber und schieße. Verfehle das Herz nur um wenige Millimeter. Noch bevor mein Gegenüber zu Boden geht, löst er sich in Luft auf, bleibe alleine, in der Dunkelheit des Kellers, zurück. Nur der Geruch vom Tod erinnert daran, dass hier drei Leichen lagen.

„Sieh‘ nicht nur mit den Augen, Junge. Vertraue auf deinen Verstand!“

„Vater…“ Doch da ist er schon wieder verschwunden.

 

Auf alles gefasst, steige ich die Treppe empor zurück in die Küche. Nichts ist zu sehen, oder gar zu hören und doch liegt etwas Unheimliches in der Luft.

„Gas…“ Rieche das unsichtbare Gift, Sekunden, bevor ein Streichholz alles zum Explodieren bringt. Im letzten Augenblick springe ich zurück, hinunter in den Keller und verstecke mich unter der Steintreppe, bis die Feuersbrunst und die Detonation abebben.

Bleibe noch einige Minuten unter der Treppe, bis ich mir sicher bin, dass das Feuer endgültig erloschen ist. Erst dann wage ich mich hervor und mit gezogener Waffe stufenweise nach oben.

Mit allem habe ich gerechnet, aber nicht mit diesem Anblick.

In der gesamten Küche klebt Blut: an Wänden und Schränken, Spuren von Blut auf dem Boden, bis hin zu der Person, die ich am schmerzlichsten vermisse: meine Mutter.

Entstellt mit Schnitten, zerrissener Kleidung und einem grotesken Symbol auf dem Bauch.

Am liebsten wäre ich, wie der kleine Junge von damals, auf die Knie gegangen, hätte sie angefleht und geweint, doch dieses Kind bin ich nicht mehr.

„Hör auf mit deinen Spielchen. Ich mache da nicht mehr mit!“

„Ich sehe es und bin beeindruckt, dass du so stark bist.“

Drehe mich um und da steht er wieder. Nicht das kleine Kind, oder mein Spiegelbild, nein, mein Vater, wie ich ihn in Erinnerung habe. Mit blutverschmierten Klamotten und einem Messer in der Hand.

Noch bevor er die Waffe heben und einen Schritt auf mich zu machen kann, schieße ich einmal, zweimal, dreimal. Treffe ihn im Bauch und in der Brust. Dennoch schafft er es, mir das Messer in die Seite zu stechen, bevor er zu Boden sinkt. Hilfesuchend versucht er meine Hand zu ergreifen. Der Mann sieht mich flehentlich an. Blut läuft ihn aus dem Mund und immer wieder bekommt er Hustenanfälle, die ihn krampfen lassen. Die Reaktionen werden langsamer. Blut sammelt sich im Mund und lässt ihn röcheln. Noch ein kräftiger Anfall, starke Zuckungen, schließlich bleibt er Regungslos liegen. Mein Vater ist tot.

Alles ist still, kein Wind, kein Geräusch.

Nach und nach verblasst alles, bis ich allein im Dunklen zurückbleibe.

Die Schwärze, die mich umgibt, hätte friedlicher nicht sein können.

11

Schweißgebadet, gerädert und mit einer wachsenden Ungewissheit wache ich auf.

Alles tut mir weh und das Aufsetzen fällt mir schwer.

Unbewusst fasse ich mir an die Seite. Feuchtigkeit durchnässt mein Shirt. Es ist die Stelle, wo ich im Traum erstochen wurde.

Oder war das kein Traum?

Was ist in der letzten Nacht wirklich passiert?

Schwerfällig erhebe ich mich, begebe mich ins Bad um die Wunde genauer in Augenschein zu nehmen und notdürftig zu versorgen, genau wie die Hand, die wieder geblutet hat.

Einen Arzt aufzusuchen wäre richtig gewesen, kommt es aber für mich nicht in Frage. Traue ich dem Frieden in meinem Kopf noch nicht über den Weg.

 

Hier stehe ich jetzt also, blicke in den Badezimmerspiegel und sehe nichts, außer den dunklen Augenringe in meinem Gesicht. Keine Grimasse, die mich verhöhnt, kein Gelächter im Kopf. Sollte ich es jetzt endgültig geschafft haben?

Werde den Tag noch abwarten, bevor ich mich freue.

 

Aus einem Tag werden zwei, dann drei. Selbst am vierten Tag herrscht Ruhe.

Endlich wage ich es, dass Zimmer zu verlassen.

Samuels Auto steht noch vor der Tür, worüber ich sehr dankbar bin, macht sich die Stichwunde bemerkbar.

Wahrscheinlich sollte ich zum Arzt fahren und sie versorgen und nähen lassen, aber der erste Weg führt mich direkt zu Samuel, hoffe, dass er mir den Angriff verzeihen kann.

 

Samuel ist nicht zu Hause.

Nachdem ich das Auto in der Einfahrt geparkt habe, setze ich mich auf die Veranda, lehne den Rücken gegen die Häuserwand.

Ein kurzer Blick zur Seite bestätigt meine Befürchtung. Der Verband ist wieder blutgetränkt.

Erschöpft schließe ich die Augen, nur einen Augenblick, nur nicht einschlafen.

 

„Hey Dustin, komm schon Junge, aufwachen!“

Ein besorgter Befehl, ein leichter Schlag auf die Wange.

Benommen öffne ich die Augen, hatte ich nicht vorgehabt zu schlafen.

„Captain…“

„Jetzt nicht. Wir bringen dich erstmal ins Haus. Habe Sascha schon benachrichtigt, er wird gleich hier sein.“

„Aber Sam…“

„Ist noch im Dienst. Er sagte mir, dass du sein Auto hast und als ich hier vorbei gefahren bin und es stehen sah, wollte ich nachsehen. Wie mir scheint, genau rechtzeitig.“

Ein stechender Schmerz durchzuckt mich, als Mathew mich auf die Beine zieht. Hätte er mich nicht gehalten, wäre ich zurück auf den Boden gesunken. Einen Schrei kann ich gerade so noch verhindern.

Kaum, dass ich auf der Couch liege, klopft es an der Tür und Sascha eilt hinein.

„Ich will gar nicht wissen, wie das passiert ist.“, sagt er, während er die Wunde säubert, desinfiziert, näht und neu verbindet.

„Eigentlich müssten wir dich ins Lazarett bringen.“ Setze zum sprechen an, doch kommt der Captain mir zuvor.

„Ich glaube, er ist hier besser aufgehoben. Werde mit Leon sprechen, dass er den Jungen noch einmal pausieren lässt. Er ist gut und fleißig, glaube nicht, dass es da Probleme geben wird.“

Damit steht Mathew auf, um das Festnetztelefon zu benutzen.

„Samuel Mathew bitte…hier spricht Captain Mathew… Jawohl, ich warte eben…“

 

Das Gespräch rückt in den Hintergrund, da sich eine andere Frage hervorhebt.

„Sam und der Captain?“ Fühle mich nicht stark genug, um die Frage zu Ende zu formulieren, aber Sascha scheint sie auch so zu verstehen.

„Vater und Sohn, ja. Ich habe mich schon gefragt, wann du dahinter kommst.“

Das ich es bis heute noch nicht gemerkt habe, lässt mich selbst stutzen.

 

„In einer halben Stunde ist Samuel hier. Habe ihm die Situation erklärt und er wird noch etwas Medikation mitbringen.“, unterbricht Captain Mathew meine Grübelei.

„Dustin, können wir dich allein lassen? Habe noch einen Anruf vom Stützpunkt erhalten. Lukas und Dennis haben wohl wieder etwas rumexperimentiert.“

Auf Saschas Aufstöhnen schüttelt er nur den Kopf.

Aufmunternd legt Sascha mir die Hand auf die Schulter, bevor sie gehen.

 

„Sag mal, du machst vielleicht Sachen. Kaum lässt man dich aus den Augen, bringst du dich fast um.“, reißt Samuel mich aus dem Dämmerschlaf. Habe die Augen noch nicht ganz geöffnet, da hockt er schon neben mir.

Sein besorgter Gesichtsausdruck gefällt mir nicht, versuche Samuel mit einem Witz aufzuheitern.

„Wie könnte ich mich umbringen, wenn ich dich im Streit verlassen habe. Was macht dein Arm?“

Doch war es kein Witz, die Spannung zwischen uns ist geladen, vor unausgesprochenen Worten.

„Dank dir geht es mir gut, im Gegensatz zu dir. Hast du gekämpft? Was ist in den letzten Tagen geschehen? Verdammt, Dustin, ich war krank vor Sorge. Bin jeden Tag an der Pension vorbei. Bin in Versuchung gewesen, aber ich habe es dir versprochen.“

Unüberlegt lege ich eine Hand auf Samuels Wange. Halte die Luft an, doch er zieht sich nicht zurück. Hält einfach nur still und wartet. Unsere Blicke haben sich verankert, keiner wendet sich ab.

„Ich habe mit mir selbst gekämpft. Meiner Vergangenheit, der Gegenwart und meinem Vater. Aber nur im Traum. Doch muss ich mich irgendwie verletzt haben. Keine Ahnung. Brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es wirklich vorüber ist und dennoch habe ich Angst, dass er wiederkommt. Jetzt, wo ich hier bei dir bin.“

Kraftlos rutscht die Hand von seiner Wange, blicke demütig zur Seite.

Nun ist es an ihm, seine Hand an meine Wange zu legen und den Kopf so zu sich zu drehen, dass wir uns wieder ansehen.

„Du bist stark, Dus. Hast deine Vergangenheit besiegt. Lass nicht zu, dass die Erinnerung dein Leben zerstört. Fang endlich an zu Leben. Ich würde dich gerne begleiten, an deiner Seite sein und dich unterstützen. Wenn du es denn auch willst.“

Sein Kopf kommt meinem immer näher und ehe ich es richtig realisieren kann, liegen seine Lippen auf meinen. Nur zaghaft und kurz, aber unwiderruflich. Dieser Kuss geht von Samuel aus.

Sollte ich doch hoffen dürfen? Mich ihm öffnen können?

Intensiv ist sein Blick, mit dem er mich prüfend ansieht, auf meine Reaktion gespannt. Lege zaghaft meine Hand in seinen Nacken, halte ihn fest, ziehe ihn zu mir und berühre sacht mit der Zunge seine Lippen. Als er den Mund öffnet, tauche ich hinein, in seine Höhle. Werde mit einem leisen Aufstöhnen und seinem Zungenspiel belohnt.

Doch weiter geht Samuel nicht. Schiebt mich entschuldigend von sich. Sein Gesicht ist erhitzt und die Augen glänzen.

„Dafür haben wir Zeit, wenn es dir wieder besser geht. Wir kümmern uns jetzt erst einmal darum, dass die Entzündung zurückgeht. Und dann muss ich dir etwas erzählen, denn auch ich war nicht untätig.“

Sehe ihn neugierig an, doch Samuel lächelt nur, steht auf und kommt mit einem Glas Wasser und einer Tablette wieder. Nur widerwillig nehme ich beides entgegen und spüle die Pille mit ein paar Schlucken hinunter.

 

„Ich habe weitere Recherchen über deinen Vater angestellt.“, eröffnet Samuel das Gespräch, nachdem er mir eine Kleinigkeit zu Essen gemacht hat.

Jetzt sitzt er neben mir, hat meinen Kopf ungefragt in seinen Schoß manövriert.

„Ich dachte mir, wenn ich alleine Nachforschungen treibe, kann keiner irgendwelche Zusammenhänge finden. Habe deswegen auch die Polizei und Krankenhäuser angerufen.“ Die Pause ist bedeutungsschwer. Bin kurz davor mich aufzusetzen, Samuel zu schütteln, doch seine Hand auf meiner Schulter drückt mich bestimmt nach unten.

„Dustin, dein Vater lebt. Nach dem Brand hat er sich selbst in eine Psychiatrie eingewiesen.“

„Aber die Träume? Wie kann er das gewesen sein, wenn er noch lebt?“

„Ich weiß es nicht. Das wirst du ihn selbst fragen müssen. Ich habe uns einen Besuchstermin geholt.

Es war nicht einfach, aber ich habe ihn letztendlich bekommen. In zwei Tagen fahren wir gemeinsam da hin.“

In zwei Tagen sollte ich dem Mann tatsächlich gegenübertreten, der mich mein Leben lang durch die Hölle gejagt hat? Aber anderseits werde ich so endgültig abschließen, meinen Vater und die Vergangenheit vergessen können.

Entschlossen sehe ich Samuel an und nicke.

„Zwei Tage also!“

12

Mir war nie bewusst, wie kurz zwei Tage sein können.

Ich weiß nicht, wie das mit mir und Samuel geschehen konnte, doch in diesen zwei Tagen zeigt er mir, was er für mich empfindet. Samuel umsorgt mich, füttert mich und versorgt meine Wunden.

Mit leichten Liebkosungen hält er meine Libido auf Trab. Zwingt mich dazu, nur zu nehmen, darf Samuel selbst nichts zurückgeben. Ich genieße,  denke über meine eigene Zuneigung nach, die mit jeder Geste wächst.

Ich verliebe mich unweigerlich in den starken Typen, der seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Aber darf ich eine Beziehung zwischen uns zulassen? Schließlich ist Samuels Vater mein Vorgesetzter.

 

„Hey Dus, wo bist du mit deinen Gedanken? Wir wollen losfahren. Oder soll ich dir beim Anziehen helfen?“

„Ich bin schon fertig.“, gehe ihm entgegen. Sein Blick sagt deutlich, was er gerade gedacht hat und mir wird heiß, bei der Vorstellung.

Zügel mich jedoch, schüttle innerlich den Kopf um mich neu zu sortieren.

„Lass uns losfahren. Ich möchte endlich die Wahrheit erfahren.“

Lächelnd legt Sam die Hand auf meine Schulter und wir gehen zum Auto hinaus.

Erst nachdem ich im Wagen sitze, geht Samuel um das Auto und steigt hinters Lenkrad.

 

„Warum tust du das alles?“

Wir fahren bereits über eine Stunde, niemand hat ein Wort gesprochen, bis eben.

„Was meinst du?“ Samuel wirft mir einen unschuldigen Blick zu.

„Du weißt genau, was ich meine. Wie du mich umsorgst.“ Eine Hand legt sich auf mein Knie. „Und das. Du bringst mich völlig durcheinander.“

„Ach, tu ich das?“ Das Lächeln ist entwaffnend. „Ich mache das alles, weil mir etwas an dir liegt. Hast du Dummerchen es denn immer noch nicht begriffen?“ Im Moment scheine ich mehr als begriffsstutzig zu sein.

„Ich bin verkorkst. Mein ganzes Leben ist ein Desaster. Warum…?“ Das ruckartige Abbremsen auf dem Seitenstreifen lässt meinen Blick vom Schoß zu Samuel schießen.

„Dustin, jetzt höre mir genau zu. Dein Leben mag verkorkst gewesen sein, doch nur, weil du niemanden hattest, der dich begleitet. Dustin, du bist ein besonderer Mensch und ich möchte  gern an deiner Seite sein.“ Sanft liegen seine Hände auf meinen Schultern, wandern bestimmend zu meinem Nacken, wo Samuel mich zu sich zieht.

Der Kuss, der daraufhin folgt, ist besitzergreifend, verführerisch und selbstbewusst.

„Samuel ich …“

„Nein Dustin, ich möchte, dass du die Zeit mit mir genießt. Stelle einmal in deinem Leben keine Fragen.“ Meine Stirn ruht an seiner, während meine Hände Samuels Taille umfassen, streicheln seine mein Gesicht. Zustimmend nicke ich schließlich, möchte versuchen es einfach zu akzeptieren und zu genießen, was er mir gibt.

Die Restliche Fahrt verbringen wir meist schweigend. Das einzige Thema, über das wir noch reden, ist mein Vater. Doch auch da kann, oder will, mir Samuel nichts Genaueres sagen.

„Ich habe getan, was getan werde musste. Sei dankbar und gut ist. Den Weg gehe ich mit dir zusammen.“

 

Nach vier Stunden haben wir die Psychiatrie erreicht.

Samuel stellt sich offiziell als Pfleger vor, mich nur als Begleitperson. Bei der Anmeldung haben sie keinen Bezug zwischen mir und dem Patienten herstellen können, da ich den Nachnamen meiner Mutter angenommen habe.

„Sie können durchgehen. Am Ende des Ganges werden Sie den zuständigen Arzt treffen.“ Dankend gehen wir weiter. 

Unmerklich legt Samuel einen Arm um meine Schulter, zieht mich dichter zu sich und haucht mir einen Kuss aufs Haar.

„Du schaffst das, Dustin!“, versucht er mich aufzumuntern. Nicke schwach, je näher wir dem Ende des Flures kommen, umso schummriger wird mir. Am liebsten würde ich mich umdrehen und gehen, doch ist Samuels Arm wie eine Mauer.

 

„Guten Tag die Herrschaften. Sie wollen sicher zu Peter Nagelhöfer.“, begrüßt uns ein etwas älterer Mann im Arztkittel.

„Richtig, Samuel Mathew, ich hatte angerufen.“

„Dürfte ich den Grund Ihres Besuches erfahren?“

„Es tut mir leid, Sir, aber das ist vertraulich. Man versicherte mir, dass es keine Probleme geben wird.“

„Wird es auch nicht, aber der junge Herr an ihrer Seite sieht etwas blass aus. Ich mache mir nur Gedanken um das Wohl meiner Patienten.“

„Verständlich. Ich garantiere, dass es keine Schwierigkeiten geben wird.“

Nur widerwillig lässt der Doktor uns weiter, dabei ruht sein Blick weiterhin auf mir.

„Er ahnt etwas“, flüstre ich Samuel zu.

„Wir schaffen das, niemand wird etwas merken.“

 

Und tatsächlich kommen wir ohne große Schwierigkeiten in den Besucherraum, wo ein einzelner Mann am Fenster steht und hinaussieht.

„Sir Nagelhöfer, danke, dass wir mit Ihnen reden dürfen.“

Mein Kloss im Hals wächst immer weiter an, erst recht, als der Fremde nicht reagiert.

„Sam…“, doch dieser schüttelt den Kopf.

„Herr Nagelhöfer es wäre wichtig, wenn Sie mit meinem Freund reden würden. Sehen Sie ihn sich wenigstens einmal an.“

Weitere qualvolle Sekunden vergehen, bis der Angesprochene schließlich den Kopf dreht.

Wie auf Befehl keuchen mein Vater und ich gleichzeitig auf.

„Wie… ,Dustin, mein Junge.“ Zaghaft kommt er auf mich zu, streckt die Hand nach mir aus. Kurz bevor er mich jedoch berührt weicht er zurück.

„Das ist wieder ein krankes Spiel. Warum quälst du mich so mit der Vergangenheit?“

„Vater, ich bin real. Warum hast du Mutter und mir das angetan? Warum bist du hier und lebst?“ Es ist nicht geplant ihn anzuklagen, doch bricht die Wut sich ihre Bahn.

Beschwichtigend legt mir Samuel eine Hand auf die Schulter.

„Sieh in dir an. Er leidet, wie du gelitten hast. Dein Vater kämpft mit dem gleichen Dämon, wie du es tatest.“

Ein genauer Blick bestätigt, was Samuel mir sagt.

„Auch ich hatte die Alpträume und Halluzinationen. Doch durch deine Hilfe konnte ich den Dämon besiegen. Vater, du bist stark, du hast mich beschützt, die ganzen Jahre.“

„Nein, wie ist das möglich? Du müsstest tot sein, durch meine Hand und doch stehst du vor mir.“

„Ich bin dein Sohn, nicht dein Feind.“

Ein Krampf lässt den Mann zu Boden sinken. Sanitäter kommen hineingestürmt.

„Es geht schon wieder. Bitte lassen Sie mich mit den Leuten reden.“

Nur widerwillig ziehen die Angestellten sich zurück, behalten ihn bis zum Schluss genau im Auge.

„Dustin, du bist es tatsächlich. Ich habe gedacht, dass ich dich verloren hätte.“

„Vater, bist du das jetzt wirklich?“

„Ich bin es. Sag mir, wie du dich befreien konntest.“

„Nur durch dich und Samuel. Was ist mit uns geschehen?“

Seufzend setzt Vater sich auf einen der Stühle, deutet  zu weiteren Stühlen und wir tun es ihm gleich.

„Ich bin froh, dass es endlich vorbei ist. Du hast es geschafft mit dem Fluch zu brechen, der über unserer Familie liegt.“ Schüttle ungläubig den Kopf.

„Das musst du mir genauer erklären.“

„Seit Generationen sind die Männer der Familie verflucht. Dein Urururgroßvater, besser noch weiter zurückliegend, war ein Monster. Wahllos schlachtete er Frauen und Kinder ab. Ergötzte sich daran, die männlichen Nachfolger zum Zusehen zu zwingen, bis sie irgendwann selbst Hand anlegten und das erste Opfer folterten und töten. Seither waren alle Männer verflucht. Gezwungen zu töten, oder sie wurden verrückt. So, wie es mir ergeht. Ich sehe ihn noch immer, Tag für Tag und Nacht für Nacht. Er versucht mich zu zwingen, schwach zu werden, doch ich kämpfe dagegen an. Du bist der Erste, aus unserer Familie, der den Kreis durchbrochen hat. Du bist, von meiner Seite, der letzte Nachwuchs und wirst dadurch den Fluch nicht weitervererben. Zumindest hoffe ich das.“

„Dad, ich werde nie Nachwuchs haben“, platzt es unüberlegt aus mir heraus. Verständnislos schaut er mich an.

„Sir, ihr Sohn ist schwul. Er hat an dem weiblichen Geschlecht keinerlei Interesse.“ Senke verlegen den Kopf. Muss Samuel es so direkt sagen?

„Okay, ich verstehe. Hat sicherlich auch seine Vorteile. So stirbt der Fluch definitiv aus.“

„Aber Vater…“ Bin zwar froh, dass er es so locker aufnimmt, aber dennoch bin ich über die Reaktion geschockt.

„Junge, es steht mir nicht zu über dich zu urteilen. Du warst noch ein Kind, als ich dich verlassen musste. Konnte dir nichts beibringen, dich vor Fehlern bewahren. Warum sollte ich mir jetzt das Recht rausnehmen und über dich urteilen?“

Nicke stumm, die Wahrheit ist schmerzhaft, obwohl ich froh über die Aussage bin. Akzeptiert er mich doch so, wie ich bin.

„Danke“, hauche ich. Muss mir eine Träne aus den Augenwinkeln wischen.

„Sir, ich denke, wir sollten gehen. Ihre Pfleger werden ungeduldig. Ich danke ihnen, dass wir mit Ihnen sprechen durften.“

„Ich danke ihnen Herr Mathew, dass Sie Dustin hier her gebracht haben.“

„Nicht dafür. Habe es ja auch aus eigenem Interesse und vor allem für Dustin getan. Aber ich freue mich, dass ich auch Ihnen helfen konnte.“

„Es ist beruhigend für mich zu wissen, dass ich der letzte der Reihe bin. Es gibt für mich einen neuen Grund zu kämpfen. Und vielleicht, wenn ich den Kampf gewinne, sehen wir uns irgendwann wieder.“

Zögerlich nimmt Vater mich zum Abschied in den Arm.

„Ich wünsche dir alles Gute, mein Sohn.“ Sehe ich da Tränen in seinen Augen? Doch noch bevor ich mir sicher sein kann, dreht er sich weg und verlässt fast fluchtartig das Besucherzimmer.

Sitze zusammengesunken am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt. Bemerke Samuel erst, als er mir die Hand auf die Schulter legt.

„Lass uns nach Hause fahren, Dus. Wir haben es geschafft. Wissen, was wirklich passiert ist. Dein Vater ist nie Schuld am Tod deiner Mutter gewesen. Dir wäre es um ein Haar genauso ergangen, wie ihm. Doch hast du es geschafft. Hast in jedem Moment um die Kontrolle gekämpft und dich nicht verleiten lassen. Auch mich hast du nie wirklich angegriffen. Das warst alles nicht du und du hast solange gekämpft, bis du gewonnen hast.“ Bestimmt dreht er mich zu sich um. Hält mich im Stuhl gefangen.

„Dustin, es ist vorbei. Zeit nach vorne zu sehen und anzufangen zu leben.“

Nicke etwas benommen und lasse mich von Samuel nach oben ziehen.

Endlich kommt die Erkenntnis auch bei mir an.

Erleichtert seufze ich und berge das Gesicht in Samuels Halsbeuge.

 

„Fahren wir nach Hause!“

Epilog

Vier Monate sind vergangen.

Eine Zeit, in der ich mir Gedanken über meine Zukunft gemacht habe.

 

„Dus, komm endlich aus der Dusche!“, fordert mich Samuels unnachgiebige Stimme auf.

Auch, wenn ich das warme Wasser genieße, zieht es mich zu dem Mann, den ich lieben gelernt habe. Also verlasse ich das Badezimmer, nur mit einem Handtuch bekleidet.

„Komm her und erzähl mir, wie dein Tag war!“

Begebe mich in seine Arme, unter die Bettdecke.

„Ich bin froh, dass dein Vater mich wie einen seiner Soldaten behandelt. Der Parcours wird mittlerweile monatlich verändert, aber ich bin nicht der Einzige, der daran scheitert.

Ansonsten kann ich gut mithalten. Werde im Sturmtrupp eingesetzt. Beim nächsten Einsatz darf ich dabei sein. Der Kommandeur meint, dass ich soweit bin.“

„Das freut mich für dich.“ Leichte Küsse wandern über meine Schulter. Seine Hand streichelt meinen Körper. Gänsehaut überzieht mich von Kopf, bis Fuß.

„Dustin, ich habe leider eine schlechte Nachricht für dich.“

Samuels Körper, der über mich gebeugt ist, hält mich unter sich gefangen. Eine Hand an meiner Wange.

„Ich habe Post von der Psychiatrie bekommen.“ Würde mich am liebsten aufsetzen, doch Samuel lässt es nicht zu.

„Dein Vater hat den Kampf verloren. Vor einer Woche fand man ihn mit aufgerissener Pulsader im Badezimmer. Neben ihm lag eine Gabel. Sie haben ihn bereits verbrannt, da die Einrichtung keinerlei Informationen über Angehörige hatte.“

Ungewollt laufen mir die Tränen übers Gesicht, doch gebe ich keinen Ton von mir.

Sanft streicht Samuels Hand mir die Feuchtigkeit weg.

„Er hat endlich seinen Frieden gefunden, daran musst du immer denken.“ Mein Nicken ist kaum merklich, hat mich Samuel in seine Arme geschlossen.

Mein Körper sucht halt und Trost bei dem Mann, der mir durch die schlimmsten Tage geholfen hat; bei dem Menschen, der mich nicht aufgegeben hat, nein, der sogar mit mir gekämpft hat. Unablässig streichen meine Hände über seinen Körper. Suche seinen Mund und küsse ihn stürmisch, verlangend und Halt suchend. Den gibt Samuel mir nur zu gerne.

 

„Eines darfst du nicht vergessen: Ich werde an deiner Seite bleiben, so lange du es möchtest.“ Verschwitzt liege ich an Samuels Brust. Streiche mit den Finger über seine Brustwarzen. Träge hebe ich den Kopf, blicke fasziniert in seine veilchenblauen Augen.

„Für immer.“, hauche ich und besiegle es mit einem Kuss, der alle Fragen überflüssig macht.

Impressum

Bildmaterialien: Foto Handschellen: Lisa Spreckelmeyer, „Eheringe mal anders“, CC-Lizenz (BY 2.0) 
http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de; Quelle: http://www.piqs.de Blut: http://jamesrushforth.deviantart.com/
Tag der Veröffentlichung: 22.06.2014

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