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Legenden der Elben

Verbannt

 

 

 

 

Daniel Isberner

Legenden

 

Legenden besagen, dass vor tausenden von Jahren Magie in der Welt existierte. Die Völker von Foresun lebten in ihr und mit ihr und jeder von ihnen nutzte sie, auf ihre Weise: Die einen zur Zucht von Pflanzen, die anderen zum Schmieden von Waffen. Die Vielfalt der Magie bot viele Möglichkeiten.

Es wird sogar gesagt, dass manche Rassen von Grund auf mit Magie erfüllt waren. Elben lebten ewig und Werwölfe wandelten ihre Form.

Doch dann kam der Drachenkrieg.

Magische Wesen, die fliegen und Feuer speien konnten, brachen über die Welt herein und drohten, sie zu vernichten. Doch die einzelnen Völker vereinigten sich und drängten die Kreaturen zurück. Bis sie, aus Wut über ihre drohende Niederlage, ein lautes Brüllen erklingen ließen, dass ganz Foresun erschütterte. Mit einem Mal waren die magischen Schwerter der Menschen nur noch stumpfes Metall, die magischen Pfeile und Bögen der Elben lediglich morsches Holz und Zaubersprüche waren wirkungslos.

Elben wurden sterblich und Werwölfe waren auf ewig in einer Zwischenform gefangen. Die verbliebenen Drachen, zufrieden mit ihrem Werk, erhoben sich und verließen die Welt, um nie wieder gesehen zu werden.

So sagen es die Legenden.

 

Wahrheit


Magie ist ein Märchen, mit dem man Kindern Angst macht, um sie pünktlich ins Bett zu bekommen.

Der Drachenkrieg: Eine Erfindung der Priester, die ihre Tempel mit spannenden Geschichten attraktiver machen wollen.

Waffen waren niemals magisch, sondern sind technologische Meisterwerke. Die Bögen der Elben bestanden nicht aus morschem Holz, sondern aus leichtem Metall.

Magie… Magie ist für Kinder.


Prolog


Die Elben von Warildor lebten tief in den Wäldern, die dem Volk seinen Namen gaben. Hoch in den Bäumen hatten sie ihr Dorf errichtet und die Stämme ausgehöhlt, die selbst in den Kronen noch über zehn Meter maßen, dienten ihnen als Behausungen. Zwischen ihnen waren hölzerne, geländerlose Brücken gespannt. Die Bäume standen dicht genug, um sich gegenseitig Schutz vor Wind und Wetter zu bieten, wodurch es selbst im Winter nur selten Schnee im Dorf lag. Über die Jahre war so mancher Sturm spurlos – und beinahe unbemerkt – an ihnen vorübergegangen.

Die Fenster der verschiedenen Behausungen waren leicht geschwungen und wirkten dadurch beinahe lebendig. Sie erweckten den Eindruck, als würden die ausgehölten Bäume einen ansehen. Die Fenster waren nur selten verschlossen und nur wenige Elben machten sich überhaupt die Mühe, Glas darin einbauen zu lassen. Sollte schlechtes Wetter doch mal bis ans Dorf vordringen oder sie ihre Ruhe wollen, dann schlossen sie einfach die Fensterläden. Keines von beidem kam sonderlich häufig vor.

Fünf verschiedene Ebenen, von denen die unterste als Stall für Einhörner diente und die oberste als Auslauf- und Reitmöglichkeit, boten Platz für das gesamte Dorf. Je höher man, mithilfe von an Seilen gespannten Körben, kam, desto begehrter wurden die Behausungen. Am Boden deutete nichts auf ihre Anwesenheit hin, da Äste und Blätter die Sicht nach oben versperrten. Sie waren zwar nicht sonderlich dicht, aber die Entfernung zum Boden machte sie doch dicht genug, dass man nicht mehr gut genug durch sie hindurchschauen konnte, um das Dorf entdecken zu können. So mancher Wanderer, der sich in die Wälder von Warildor verirrt hatte, hatte nie bemerkt, dass er unter ihrem Dorf entlang geirrt war.

So schnell ihn seine Füße trugen rannte Aregas über die Brücken zwischen dem Haus seiner Eltern und der Bar durch die Nacht. Er war zu spät dran – nicht zum ersten Mal.

Wenn ich mich beeile, vielleicht komme ich dann doch noch wenigstens halbwegs pünktlich. Wenn ich mich schon wieder verspäte… Helaä wird es mir nie verzeihen. Sie war gestern schon sauer genug.

Abgelenkt von seinen Gedanken bemerkte er nicht, dass vor ihm ein anderer Elb auf die Brücke und in seinen Weg trat. Ungebremst stieß er mit ihm zusammen, so dass der Angerempelte umgeworfen wurde. Aregas verlor das Gleichgewicht und fiel zur Seite. Bevor er den Boden unter den Füßen verlor hing er über dem Abgrund. Sein Blick fiel durch die Äste und Blätter bis auf den weit entfernten Boden.

Während Aregas‘ Körper sich immer weiter über den Rand des Stegs neigte sprang unter ihm ein Eichhörnchen zwischen zwei Bäumen entlang. Die Zeit schien still zu stehen. Er hatte das Gefühl, eine Ewigkeit in die Tiefe zu starren und das kleine Nagetier zu beobachten. Nichts würde seinen Sturz in den Tod aufhalten können.

Plötzlich griffen zwei Hände nach seinen wild rudernden Armen und zogen ihn wieder zurück in Sicherheit.

„Aregas, pass doch auf. Willst du dich umbringen?“, schnauzte Erendo ihn an, „Lass mich raten, du bist schon wieder zu spät dran?“

„Ja… was… woher?“, antwortete Aregas, noch immer unter Schock von seinem Beinahetod.

„Du würdest nicht derart unaufmerksam über die Brücken rennen, wenn du einmal in deinem Leben pünktlich wärst.“

Erendo war sein Bruder. Größer, muskulöser und älter als Aregas. Die einzigen Merkmale, die die beiden Brüder sich teilten, waren ihre strahlend hellgrünen Augen und die glatten blonden Haare. Aregas war knapp einen Meter achtzig groß, mit schmaler Statur und einem beinahe immer fröhlichen Gesichtsausdruck. Erendo maß über zwei Meter, so breit wie er muskulös gebaut war und wirkte immer so, als wäre er wütend – wenn er nicht gerade betrunken war. Niemand der es nicht wusste hätte auch nur geahnt, dass die beiden verwandt waren. Natürlich wusste das gesamte Dorf wer sie waren. Kinder waren bei den Elben selten genug und Geschwister kamen beinahe nie vor. Das letzte Geschwisterpaar waren ihr Vater und dessen Bruder gewesen. Erendo war nach seinem verschollenen Onkel benannt.

„Ich sollte dich an den Füßen vom höchsten Ast des Baumes baumeln lassen“, erklang plötzlich die wütende Stimme von Jolin, der sich langsam erhob und abklopfte.

Der Sohn des Dorfältesten war, wenn es nach Aregas ging, ein genauso betrunkener Idiot wie sein Bruder.

Kein Wunder, dass die beiden Nichtsnutze die besten Freunde sind.

Laut sagte er jedoch: „Entschuldige“, und setzte dann in sarkastischem Tonfall nach, „Oh großer Jolin.

Der schien den Sarkasmus aber gar nicht zu bemerken. Stattdessen nickte er nur, als wenn er eine ernsthafte Entschuldigung und Lobhuldigung erhalten hätte – vielleicht glaubte er das sogar wirklich. Lediglich Erendo warf ihm einen warnenden Blick zu.

Ich bin zu spät dran.

„Ich muss weiter. Helaä ist eh schon sauer mit mir und…“

„Jaja, verschwinde endlich. Du machst morgen aber für mich den Haushalt, wenn du nicht willst, dass ich Vater sage, dass du dich beinahe umgebracht hast.“

Ohne zu Antworten machte Aregas sich wieder auf den Weg. Es hatte keinen Zweck, mit Erendo darüber zu streiten. Sein Bruder würde seine Drohung wahr machen, wenn Aregas nicht tun würde, was er verlangte.

Hinter sich konnte er die beiden nichtsnutzigen Elben lachen hören.


Als er endlich an der Bar ankam stand Helaä bereits davor und starrte wütend in die Richtung, aus der er kam. Ihre bis zum Hintern reichenden, feuerroten Haare unterstrichen ihre Wut noch zusätzlich. Sie war knapp zehn Zentimeter kleiner als er, aber in ihrem Zorn wirkte sie hühnenhaft. Er war zu spät – schon wieder.

„Ich weiß, ich weiß. Es tut mir leid. Ich hatte einen Zusammenstoß mit…“

„Ich will keine Ausreden hören“, erwiderte sie kalt, „wann war das letzte Mal, dass du pünktlich warst?“

„Ich…“

„Was?“

„Es tut mir leid“, entgegnete er nach einer kurzen Pause und mit gesenktem Blick.

„Wenn du morgen nicht Geburtstag hättest…“

Er atmete erleichtert aus. Morgen würde er achtzehn Jahre alt werden. Sie hatten sich getroffen, um in seinen Geburtstag hineinzufeiern und offenbar wollte seine Gefährtin sich von ihm nicht den Abend ruinieren lassen.

„Wenigstens hast du dich nicht soweit verspätet, dass wir nicht mehr reinfeiern können“, sagte sie mit deutlich fröhlicherer Stimme und ergriff seine Hand, um ihn in die Bar zu ziehen. Er folgte ihr mit einem dümmlich, fröhlichen Grinsen.

In der Bar, die sich seit einigen Wochen „Zum fröhlichen Frosch“ nannte, um aus der plötzlichen Vorliebe der Elben für Froschschenkel zu profitieren, waren die Tische gut gefüllt. Die Gäste, größtenteils Elben und ein paar wenige Menschen, saßen dicht gedrängt. Sie unterhielten sich in ohrenbetäubender Lautstärke, sodass es unmöglich war irgendetwas zu verstehen, was mehr als zwanzig Zentimeter von einem entfernt gesprochen wurde.

Die meisten von ihnen wirkten betrunken genug, um eine Schlägerei vom Zaun zu brechen und taten es auch mehr oder weniger regelmäßig. Die Menschen, größtenteils Männer, wirkten ungewaschen, rochen widerlich und bildeten damit einen deutlichen Kontrast zu den Elben, von denen selbst der Betrunkenste noch immer einen relativ adretten Eindruck machte.

Mehrere junge Elbinnen huschten zwischen den Tischen entlang, um Getränke zu bringen und Bestellungen aufzunehmen. Vereinzelt hatte Aregas gehört, dass die Menschen die Bedienungen anfassten, was so manchen von ihnen die betreffende Hand gekostet hatte – eine Lektion, die sich offenbar herumgesprochen hatte. Zuletzt hatte er von einem solchen Vorfall vor sechs oder sieben Jahren gehört.

Freie Plätze schien es keine mehr zu geben. Zum Glück hatte Helaä schon vor Wochen einen Tisch für sie reserviert. Aregas konnte jedoch nicht erkennen, wo der sein sollte.

Seine Gefährtin zog ihn durch die Bar zu einer Hintertür und öffnete sie, ohne auf die Bedienung zu warten. In dem kleinen Raum stand ein einzelner Tisch und ein gemütlich aussehendes Sofa. Auf dem Tisch stand eine Flasche Wein, die aus dem Reich der Bergelben von Ihrendall zu stammen schien.

Sie hat sich den Abend etwas kosten lassen.

Er drückte Helaäs Hand und zog sie enger an sich.

„Es tut mir leid, dass ich ständig zu spät komme.“

Sie hob ihre freie Hand und strich ihm sanft über sein Gesicht.

„Ich weiß.“


Zwei Stunden später war es endlich Mitternacht. Aregas und Helaä waren gut angeheitert und feierten seinen Aufstieg in die Reihen der Erwachsenen mit wilden Küssen und indem sie sich gegenseitig unter ihrer Kleidung streichelten. Als plötzlich die Tür aufgestoßen wurde trennten sie sich erschrocken und hastig voneinander.

Jolin, sturzbetrunken, kam herein und knallte seinen Bierkrug vor ihnen auf den Tisch.

„Was haben wir denn hier? Den Jungen, der mich über den Haufen gerannt hat und seine Gefährtin mit den Feuerhaaren. Habe ich deinen Geburtstagssex unterbrochen, Are…“, er schien, in seinem Suff, überlegen zu müssen wie Aregas hieß, „gus?“

„Verschwinde, Jolin!“, donnerte Helaä, die sich als Erste von ihrem Schrecken erholt hatte, den Störenfried an.

„Ah, Feuertitte spricht. Aber gehört der erste Fick des Tages nicht dem Sohn des Dorfältesten?“, er griff nach Helaäs Brust, doch die Elbin zuckte zurück. „Du willst doch sicher einen richtigen Elb und nicht dieses… Kind.“

Wütend sprang Aregas nach vorne und über den Tisch. Ohne darüber nachzudenken was er tat, schlug er mit der Faust nach Jolins Gesicht. Normalerweise hätte der größere Elb den Schlag mit Leichtigkeit abwehren können, aber er war zu betrunken und langsam.

Aregas Faust traf und er hörte Knochen knacken. Der Getroffene wurde mit überraschender Wucht herumgeschleudert und schlug mit dem Kopf auf die Tischkannte. Wieder hörte Aregas etwas knacken und dachte zuerst es wäre der Tisch gewesen, aber das Blut, das aus Jolins Kopfwunde floss und den Boden rot färbte, bewies das Gegenteil.

Er beugte sich zu seinem gefallenen Gegner herunter und tastete ihn nach einem Puls ab, konnte jedoch keinen finden.

„Scheiße!“, fluchte er leise.

„Ist er…?“, Helaä konnte den Satz nicht beenden, so geschockt schien sie.

„Ich glaube, er ist tot.“

Für die nächsten Minuten sagte niemand etwas. Stattdessen sah sich das Pärchen schockiert an. Was sollten sie tun?

Es war Aregas, der das Schweigen brach.

„Verschwinde!“

„Was?“

„Verschwinde. Du bist gegangen als Jolin hereinkam. Du weißt nicht was vorgefallen ist. Verschwinde.“

„Aber…“

Er ging zu Helaä herüber und nahm ihre Hände in seine.

„Was auch immer geschieht, ich kann mit den Konsequenzen leben. Meine Familie bringt Geschwister hervor, was sollen sie schon tun? Du dagegen…“

„Ich werde dich nicht allein lassen“, sagte sie mit Nachdruck.

„Betrachte es als meinen Geburtstagswunsch. Verschwinde, bevor jemand hereinkommt.“

Sie erhob sich langsam und ging zur Tür.

„Ich liebe dich“, waren ihre letzten Worte an ihn.

„Ich dich auch.“


Eine halbe Stunde später fing Aregas an Lärm zu machen und warf den Tisch um. Niemand würde das Krachen überhören können und der Tod von Jolin würde mit dem Krach in Verbindung gebracht werden – lange genug nach Helaäs Verschwinden, um sie nicht mit dem Toten in Verbindung zu bringen. Es dauerte nicht lange, bis einer der Kellner nach ihm sah. Ein kurzer Blick in den kleinen Raum mit der Leiche und dem Blut am Boden genügte ihm und er rief die Gardisten.


Am nächsten Morgen wachte Aregas in einer der Zellen im Keller des Ältestenrats auf. Er kannte die Zellen von einer Besichtigungstour, die er mit der Schule unternommen hatte.

Angeblich waren sie seit Jahrhunderten nicht mehr benutzt worden. Er wusste nicht, ob das stimmte oder ob es nur ein Gerücht war, aber wenn er sich den Staub ansah, der auf seiner und den anderen Pritschen lag, dann konnte er es beinahe glauben.

So habe ich mir meinen Geburtstagsmorgen nicht vorgestellt. Was sie wohl mit mir tun werden?

Er hatte keine Vorstellung. Verbrechen gab es in ihrem Dorf praktisch nicht. Hier und da vielleicht mal eine Schlägerei unter Trunkenbolden – Erendo und Jolin waren mit erschreckender Regelmäßigkeit daran beteiligt –, aber die konnte man bei den Heilern ausnüchtern lassen und stellte sie dann als Strafe zur Brückenwartung ab.

Aregas war aber nicht Teil einer Schlägerei gewesen – oder zumindest war das nicht das Ende dessen, was vorgefallen war. Er hatte jemanden umgebracht. Ob nun absichtlich oder unabsichtlich… Angeblich hatte niemals zuvor ein Elb einen anderen Elben getötet.

Er hörte schwere Schritte auf dem Gang vor dem Zellentrakt.

Sie kommen, um mich zu holen.

Mit einem Mal bekam er es mit der Angst zu tun.

Was, wenn sie mich hinrichten?

Die Tür wurde aufgestoßen und zwei hochgewachsene Gardisten in schweren, goldenen Rüstungen stampften herein. Beide trugen ein Schwert auf dem Rücken, das fast genauso lang war wie ihre Träger groß. An ihren Seiten trugen sie zusammengeklappte Bögen aus schwarz lackiertem Metall, die von einem Köcher mit Pfeilen auf der jeweils gegenüberliegenden Seite ihrer Hüfte vervollständigt wurden.

Trotz des Gewichts ihrer Ausrüstung, bewegten sie sich mit einer Anmut und Leichtfüßigkeit wie es sie nur unter Elben geben konnte.

„Der Ältestenrat will dich sehen“, sagte der Vordere der Beiden.

Mit zitternden Knien stand Aregas auf. Seine erste Reaktion war, sich in die hinterste Ecke seiner Zelle zurückzuziehen, aber was brachte es ihm? Die Gardisten würden ihn notfalls mit Gewalt aus ihr heraus und vor den Ältestenrat zerren. Er besann sich eines Besseren und ging zur Zellentür.


Die Gardisten führten ihn hinauf zum Ratssaal, der in der Krone des höchsten Baumes ihres Dorfes errichtet worden war. Seine riesigen Türen waren an den Rändern mit uralten Runen verziert, deren Bedeutung nicht mal mehr die Mönche des Tempels entschlüsseln konnten.

Mit einem Ächzen öffneten sich die Türen für ihn. Die sieben Ratsmitglieder saßen in ihren Thronen am anderen Ende des Saals – den man, aufgrund seiner Größe, eigentlich schon eher als Halle bezeichnen musste – mit riesigen Fenstern in ihrem Rücken. Das, sich an den Blättern des Baumes brechende, Sonnenlicht hüllte sie in bunte Farben, die sich, durch die ständige Bewegung der Blätter im Wind, konstant veränderten. Es war ein atemberaubendes Schauspiel, das Aregas zu einem anderen Zeitpunkt sicher gefallen hätte. Doch in diesem Augenblick löste es nichts als Angst in ihm aus.

Flankiert von den beiden Gardisten und mit weichen Knien betrat er zögerlich den Ratssaal. Er hatte zehn Schritte zurückgelegt, als er die Türen hinter sich wieder ächzen und dann, mit einem lauten Schlag, ins Schloss fallen hörte.

Mit einem Mal hatte er das Gefühl allein zu sein.

„Du hast meinen Sohn getötet“, begann der Dorfälteste, als Aregas die Mitte des Saals erreichte und die beiden Gardisten ihn festhielten, um ihn am Weitergehen zu hindern.

„Er… er hat mich angegriffen“, erwiderte er schwach.

„Dich angegriffen?“, donnerte der Dorfälteste zurück, „er würde niemals…“

Die Elbin zu seiner Rechten legte ihm eine Hand auf den Arm, um ihn zum Schweigen zu bringen.

„Wir haben den Bericht gehört, den du den Gardisten bei deiner Verhaftung gegeben hast“, sagte sie mit sanfter Stimme, nachdem sie Jolins Vater beruhigt hatte, „es ist unmöglich zu sagen, ob es der Wahrheit entspricht. Dennoch…“, sie schien einen Moment zu überlegen. „Wir haben die alten Texte studiert. Nach den Gesetzen steht auf Mord der Tod.“

Was?

„Es war kein Mord“, flehte Aregas, „Jolin hat mich angegriffen. Ich habe mich nur verteidigt“, bei den letzten Worten stiegen ihm Tränen in die Augen. „Ich habe mich nur verteidigt…“

„Wir haben uns beraten“, sprach die Elbin, deren Namen Aregas in seiner Panik nicht einfallen wollte, weiter. „Mit fünf zu zwei Stimmen haben wir entschieden, dass wir dir glauben.“

Erleichterung überkam ihn. Er würde nicht sterben. Er würde weiterleben.

„Dennoch“

Dennoch?

„haben wir entschieden, dass du bestraft werden musst. Für den Tod von Jolin wirst du aus Warildor verbannt und darfst niemals zurückkehren.“

Aregas sank auf seine Knie und versuchte gar nicht erst, seine Tränen weiter zurückzuhalten. Verbannung kam einem Todesurteil gleich. Der Boden der Wälder von Warildor war von allerlei blutrünstigen Kreaturen bevölkert, die ihn zerfleischen würden.

Warum töten sie mich nicht gleich?


******


Im Schatten des Tempels des Dorfes trafen sich zwei, in weite Roben gehüllte, Gestalten.

„Ist es vollbracht?“, fragte der Größere der beiden.

„Ja“, antwortete ihm eine weibliche Stimme.

„Gut.“

„Haben wir das Richtige getan? Was, wenn wir falsch liegen? Was, wenn er nicht der ist, für den wir ihn halten? Haben wir unnötig einen Elb sterben und einen anderen in die Verbannung schicken lassen?“

„Er ist der Richtige. Es besteht kein Zweifel.“


Kapitel 1


Jetzt muss Erendo die Hausarbeit doch selbst erledigen.

Aregas wusste nicht, warum ihm der Gedanke gerade in dem Moment kam, in dem ihn die beiden Gardisten aus dem Käfig schoben, mit dem sie sich aus dem Dorf abgeseilt hatten.

„Der Ältestenrat hat angeordnet, dass du das hier bekommst“, sagte einer der beiden und gab ihm einen prall gefüllten Rucksack.

„Was ist da drin?“, fragte er, als er den Rucksack an sich nahm.

„Ich habe nicht gefragt“, erwiderte der Gardist und trat zurück in den Käfig.

Er schloss die Tür hinter sich und drückte einen der Hebel in seinem Inneren zur Seite. Mit einem Zischen begann der Motor zu arbeiten und zog den Käfig langsam zurück hinauf ins Dorf. Für einen Moment beobachtete Aregas, wie Dampf aus dem Motor schoss und der Käfig in die Höhe stieg, dann wendete er sich dem Rucksack zu.

Das Erste was er sah, als er ihn öffnete, war ein zusammengeklappter Bogen aus schwarz lackiertem Metall und ein Köcher mit Pfeilen, wie sie die beiden Gardisten getragen hatten. Er zog beides heraus und drückte einen Knopf, der an der Seite des Bogens eingelassen war. Kleine Motoren, die in den Gelenken verteilt waren, setzten sich dampfend in Bewegung und klappten die Waffe aus.

Er zog einen der Pfeile aus dem Köcher und legte ihn ein. Dann hob er den Bogen und richtete ihn auf den in die Höhe entschwindenden Käfig. Langsam spannte er die Sehne, bis eine Anzeige an der Seite des Bogens grün aufleuchtete. Wenn er loslassen würde, würde er sein anvisiertes Ziel treffen.

Langsam senkte er den Bogen wieder und entspannte die Sehne, ohne sie jedoch losschnellen zu lassen. Die beiden Gardisten waren nicht für die Situation verantwortlich, in der er sich befand. Dennoch hatte er, für den Bruchteil einer Sekunde, die Sehne loslassen und sie beide in den Tod schicken wollen.

Was tust du?

Er schüttelte seinen Kopf über sein eigenes Verhalten und setzte seine Untersuchung des Rucksacks fort. Frisches Brot, Iresoblätter – nahrhaft, vitaminreich und langlebig -, mehrere Flaschen Wasser, ein kleines Zelt, eine Decke und ein Langdolch. Er zog den Dolch aus seiner Scheide heraus und sah ihn an.

Es war ein meisterhaft gearbeitetes Stück. Der Griff und die Klinge waren mit antiken Runen verziert. Stärke und Geschwindigkeit waren in den Griff gekerbt. Feuer, Eis und Tod in die Klinge. Nur wenige Elben wären in der Lage ihre Bedeutung zu entschlüsseln. Er hatte in der Tempelschule gelernt, wie man Runen las, aber außerhalb des Tempels sah niemand einen Sinn in ihnen. Wenn überhaupt, dann ließen sich manche Elben die alten Runen auf ihre Körper tätowieren. Aber nur die wenigsten wussten, was die Runen auf ihren Körpern bedeuteten – anders konnte er sich nicht erklären, wieso manch junges Elbenmädchen mit dem Wort „Suppe“ über dem Hintern durch die Gegend lief. Entweder erlaubten sich die Tätowierer einen Scherz oder die Elbinnen wählten die Runen einzig aufgrund ihres Aussehens.

Er hatte nie gefragt.

Die Runen in dem Dolch waren jedoch klar und ihre Bedeutung schien passend für eine solche Waffe. Feuer, Eis und Tod würden in seine Feinde fahren und der Griff sollte seinem Träger Stärke und Geschwindigkeit bringen.

Nichts davon würde geschehen, aber der Anblick der Runen gab ihm dennoch Zuversicht. Auf den ersten Blick sah die Klinge ausgesprochen scharf aus, was für eine offenbar antike Waffe eine echte Seltenheit war. Der Dolch war wertvoll.

Nicht nur wertvoll, er ist unbezahlbar. Wer sollte mir solch eine Waffe mitgeben – und warum? Was geht hier vor?

Er befestigte die Scheide am Gürtel, sodass der Dolch schräg hinter seiner Hüfte ruhte und verschloss den Rucksack wieder. Den kleinen Zettel, den er mit dem Dolch zusammen aus dem Rucksack gezogen hatte, zertrat er unter seinem Stiefel – ohne ihn zu bemerken.


Er hatte sich für eine Richtung entschieden, von der er wusste, dass er nach wenigen Kilometern auf einen Fluss treffen würde, dem er folgen konnte. Der Fluss war der einzige Unterschied, den es zwischen den verschiedenen Richtungen aus dem Wald gab. Ihr Dorf lag genau in der Mitte des Waldes, welche Richtung er auch immer einschlug, er hatte exakt dieselbe Strecke zurückzulegen. Der Fluss würde ihm jedoch als Wasserquelle dienen können.

Nie zuvor hatte er den Wald verlassen, aber sein Orientierungssinn würde ihn führen. Er hatte noch nie von einem Elben gehört, der sich auf dem Waldboden verlaufen hatte – zugegebenermaßen verließen auch nur die Wenigsten von ihnen das Dorf, und selbst dann blieben sie nie sonderlich lange oder entfernten sich sonderlich weit. Aregas hatte das Dorf ein einziges Mal zuvor verlassen. Vor zwei Jahren, als Teil einer Mutprobe mit seinen Freunden.

Er war bis zu dem Fluss gekommen, bevor er in ein Rudel Werwölfe gerannt war. Er konnte bis heute nicht sagen, wie er lebend davongekommen war.

Die Kreaturen hatten lange Schnauzen mit großen Reißzähnen. Sie standen auf muskulösen Hinterläufen und hatten lange ebenso kräftige Arme die in großen Händen mit langen, krallenbewehrten Fingern endeten, auf denen sie sich niederlassen konnten, um schneller zu rennen. Brust und Ohren waren die einzigen fellfreien Stellen der Kreaturen gewesen und waren ein Hinweis auf ihre elbische Abstammung gewesen. Ihre Augen hatten Intelligenz ausgestrahlt, die er in derartigen Kreaturen niemals erwartet gehabt hätte.

Sie hatten ihn für wenige hundert Meter verfolgt, bevor er ihre Schritte nicht mehr hatte hören können. Das hatte ihn jedoch nicht davon abgehalten, die gesamte restliche Strecke bis zum Käfig zu rennen.

Damals hatte er wieder nach Hause gekonnt. Heute konnte er das nicht. Er hatte eine Fluchtmöglichkeit vor den Wölfen gehabt. Heute…

habe ich die nicht. Was, wenn die Werwölfe in der Nähe zu Hause und noch immer da sind?

Er blieb plötzlich stehen. Wollte er wirklich eine Richtung einschlagen, in der er auf Werwölfe treffen könnte? Die Kreaturen waren gefährlich. Seine Hand wanderte zu dem Bogen an seiner Seite. Das Gefühl des kalten Metalls unter seiner Haut beruhigte Aregas und gab ihm Mut. Diesmal war er nicht wehrlos.

Als er sich dem Fluss näherte, nahm er den Bogen vom Gürtel, ließ ihn auseinanderklappen und legte einen Pfeil ein, allerdings ohne die Sehne zu spannen.

Er konnte jedoch keine Spur der Kreaturen entdecken. Vor zwei Jahren hatte er schon früh markante Fußspuren sehen können, deren Bedeutung er damals allerdings nicht verstanden hatte. Hätte er gewusst, um was für Fußabdrücke es sich handelte, wäre er niemals weitergelaufen. Der Weg schien jedoch schon länger unbenutzt zu sein, er konnte weder Abdrücke von Werwölfen noch von anderen Tieren oder Kreaturen entdecken.

Ein leises Wasserrauschen verriet ihm, dass sein Ziel nur noch wenige Meter entfernt war und hinter einer Reihe von Büschen liegen musste, die ihm die Sicht versperrten. Noch immer konnte er keine Spuren der Werwölfe entdecken.

Sind sie weitergezogen und haben ihr Jagdgebiet aufgegeben?

Er hoffte es. Dann konnte er sie möglicherweise komplett meiden. Er befürchtete allerdings, dass er weiter oben am Flusslauf so oder so auf sie stoßen würde.

Vorsichtig näherte er sich den Büschen, den Bogen mit eingelegtem Pfeil noch immer in den Händen, und versuchte durch sie hindurchzublicken, aber ohne Erfolg. Die Büsche standen zu dicht und waren zu hoch gewachsen.

Langsam zwängte er sich zwischen ihnen hindurch und versuchte so still wie nur möglich zu bleiben, während kleine Äste in seine Haut schnitten und Äste und Blätter leise raschelten. Er war erleichtert, als er durch sie hindurch war und das Gebiet hinter ihnen sehen konnte.

Im ersten Moment hatte er den Bogen schussbereit heben wollen, aber er erstarrte in der Bewegung. Die Lichtung war verlassen. Zumindest von Leben.

Überall am Boden lagen verkohlte Werwolf-Leichen. Hier und da konnte er noch die langen, spitzen Ohren erkennen oder die muskulösen Finger mit den scharfen Krallen, aber das waren Ausnahmen. Sie waren beinahe bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Er erwartete jeden Moment, dass ihm der Gestank von verwesendem Fleisch in die Nase steigen würde, aber der war offenbar schon lange verflogen. Hätte er nicht gewusst, dass es sich bei ihnen um ein Werwolf-Rudel handeln musste, da ihr Anblick sich vor zwei Jahren in sein Gehirn gebrannt hatte…

Was tue ich hier eigentlich?, schoss es ihm unvermittelt durch den Kopf.

Warum bin ich hierher gegangen? Ich hätte einen Umweg nehmen können, um weiter oben auf den Fluss zu treffen. Dann hätte ich wenigstens darauf hoffen können, ihnen zu entgehen. Wieder hierher zurückzukehren war dumm. Und gefährlich.

Der Ort hatte jedoch eine Anziehungskraft auf ihn gehabt. Bis vor einer Sekunde war ihm nicht bewusst gewesen, was er tat.

Bogen hin oder her. Wären die Kreaturen noch am Leben gewesen, wäre ich jetzt tot.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Er hatte sein Leben riskiert, nur um… um was eigentlich? Welchen Zweck hatte er damit verfolgt, an diesen Ort zurückzukehren?

Wollte ich… wollte ich, dass sie mich umbringen?

Nein. Die Verbannung hatte ihn getroffen, aber Selbstmord hatte niemals auch nur im Entferntesten seine Gedanken gekreuzt. Aber warum war er dann hier?

Aregas wusste nicht, wie lange er am Fluss gestanden hatte, aber es musste eine ganze Weile gewesen sein, denn als er seinen Blick vom Boden wieder auf die Welt um ihn herum richtete, war es deutlich dunkler geworden. Es wurde Zeit ein Lager aufzuschlagen. Die Frage war nur: Wo?

Zwischen all den Werwolf-Leichen wäre ein sicherer Lagerplatz. Kein anderes Tier schien sie auch nur angenagt zu haben. Aber wollte er wirklich an einem solchen Ort übernachten? An einem Ort des Todes?

Er holte das Zelt aus seinem Rucksack und baute es auf.


Kapitel 2


Seit zwei Tagen folgte Aregas nun schon dem Flusslauf. Das Wasser, das er ursprünglich in seinen Flaschen gehabt hatte, war längst aufgebraucht und durch Flusswasser ersetzt worden. Sein Brot hatte er zur Hälfte gegessen und mit Hasenfleisch, Beeren und Nüssen angereichert, die er gejagt beziehungsweise gefunden hatte. Die Iresoblätter hatte er unangetastet gelassen. Er würde sie sich für den Notfall aufheben, wenn er keine anderen Nahrungsquellen finden sollte.

Er hoffte, dass das nicht passieren würde.

Vor ihm bog der Fluss nach links ab. Er blieb an der Biegung stehen und überlegte, wie er weitergehen sollte. Wenn der Flusslauf nicht wieder auf seine ursprüngliche Richtung zurückbiegen würde, dann würde er ihn nicht aus dem Wald heraus, sondern tiefer in ihn hinein führen.

Ich kann nicht wieder tiefer in den Wald. Wenn die Gardisten mich finden, wie ich zurücklaufe… Ich wünschte, ich hätte mir die Karten des Waldes irgendwann genauer angesehen.

Aber ich habe auch nicht damit gerechnet verbannt zu werden.

Sein Blick fiel auf ein Einhorn, das keine zehn Meter von seiner regungslosen Gestalt an den Fluss trat und anfing aus ihm zu trinken.

Die majestätischen Tiere waren außerhalb der wenigen Elbendörfer von Foresun angeblich eine Seltenheit. Sein eigener Stamm hielt sie auf der untersten Ebene ihres Dorfes. Er wusste, dass ihre Gardisten sie als Reittiere nutzten, wenn sie die Wälder von Warildor verließen.

Mit langsamen Bewegungen löste er den Bogen von seinem Gürtel und klappte ihn aus. Das Surren der kleinen Motoren klang in seinen Ohren unglaublich laut und er konnte sehen, wie das Einhorn mit den Ohren zuckte. Es trank jedoch weiter. Offenbar hatte es noch nie zuvor einen elbischen Bogen gehört und war mehr verwirrt als verängstigt. Genauso langsam, wie er zuvor den Bogen genommen hatte, zog er nun einen Pfeil aus seinem Köcher und legte ihn in den Bogen ein.

Einhörner waren nicht nur selten, sie waren auch unglaublich lecker.

Bevor er jedoch auf das majestätische Tier anlegen konnte, spürte er plötzlich einen stechenden Schmerz in seinem Nacken. Er wollte mit einer Hand nach dem Tier schlagen, das ihn gestochen hatte, doch seine Muskeln reagierten nicht.

Bogen und Pfeil entglitten seinen Fingern und fielen zu Boden. Dann wurden seine Knie weich und er merkte, wie sie unter ihm nachgaben, bevor er das Bewusstsein verlor.


„Salz, wir brauchen mehr Salz. Und Pfeffer. Elben schmecken nur mit ordentlich Salz und Pfeffer“, hörte Aregas eine seltsam fiepsige Stimme.

Er versuchte die Augen zu öffnen, um den Urheber dieser seltsamen Feststellung zu sehen, aber seine Augenlider bewegten sich nicht.

Panik stieg in ihm auf. Wo war er? Er hatte eben noch am Fluss gestanden und ein Einhorn erlegen wollen und dann… was war dann geschehen?

Ein Stechen in meinem Nacken.

Er erinnerte sich. Etwas hatte ihn im Nacken gestochen. Er hatte gedacht, es wäre ein Insekt gewesen, aber dann hatten seine Muskeln ihm nicht mehr gehorcht und jetzt wollte ihn offenbar jemand kochen. Kein Insekt würde das tun.

Aber wenn es kein Insekt gewesen war, was…

Kobolde. Ich habe mich von Kobolden fangen lassen.

Die kleinen grünen Wesen waren berüchtigt für die Gifte, die sie mischten und auf die Spitzen kleiner Pfeile schmierten, die sie mithilfe von Blasrohren verschossen. Einer dieser Pfeile musste ihn in den Nacken getroffen haben.

Dann drang die Tatsache, dass sie ihn kochen wollten zu seinem Verstand hindurch. Kochen bedeutete Essen. Und das bedeutete, sie würden ihn töten müssen!

Die Panik in ihm wurde größer. Wenn er nicht mal in der Lage war, seine Augen zu öffnen, wie sollte er dann entkommen können?

„Ist er schon bereit, befragt zu werden?“, riss ihn eine weitere fiepsige Stimme aus seinen dunklen Gedanken.

„Nein, er scheint noch immer weggetreten zu sein. Wie viel Jorikextrakt war auf eurem Pfeil, Majestät?“

„Offenbar zu viel. Ruf mich, wenn er aufwacht.“

Dann hörte er leise Schritte, die sich von ihm entfernten. Mit viel Mühe schaffte er es, seine Augenlider ein kleines Stück zu öffnen, aber er schloss sie sofort wieder.

Ich brauche erst wieder mehr Kraft, bevor sie merken dürfen, dass ich wach bin. Sonst werde ich nie entkommen, bevor sie mich essen.

Der Gedanke jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Sie wollten ihn essen. Essen! Er war doch kein Tier.

Sein Atem fing an schneller zu gehen. Sofort versuchte er, ihn wieder unter Kontrolle zu bekommen, aber der Schaden war bereits angerichtet.

„Er ist wach!“, rief die erste Koboldstimme laut.

Mehr und mehr Stimmen wurden hörbar. „Er ist wach.“ „Der Elb ist wach.“ „Wann können wir ihn essen?“ „Ich habe Hunger.“ Dann wurde das Chaos zu groß und er konnte die einzelnen Stimmen nicht mehr auseinanderhalten.

Ein lauter Gong brach durch das Getöse und sofort wurde es still. Nur das Nachhallen des Gongs war noch immer zu hören.

Schritte näherten sich ihm, aber er hielt seine Augen geschlossen. In der Hoffnung, dass sie dachten er würde doch noch schlafen.

Plötzlich warf sich etwas auf seine Beine, wodurch er erschrocken zusammenzuckte und reflexartig seine Augen öffnete, um zu sehen, was auf seinen Beinen lag. Es war ein besonders dunkelgrüner Kobold, der vielleicht sechzig Zentimeter groß war, mit einer Krone aus geflochtenen Ästen auf dem Kopf. Er hatte eine lange, spitze Nase und kleinen Glubschaugen.

„Ah, der kleine Elb ist doch wach. Wolltest dich wohl schlafend stellen“, sagte der Kobold mit einem bösartigen Grinsen das scharfe Zähne enthüllte, „aber so leicht sind wir nicht zu täuschen.“

Aregas wollte etwas antworten, aber es kamen nur unverständliche Laute aus seinem Mund – seine Zunge war noch immer betäubt und wollte sich nicht richtig bewegen.

Der Kobold auf seinen Beinen kicherte.

„Will deine Elbenzunge noch nicht? Keine Sorge, das Gift wird rausgekocht. Sie wird dadurch nicht schlechter schmecken.“ Bei den Worten lief ihm Sabber aus dem Mundwinkel.

Angewidert schloss Aregas die Augen. Wie seine Zunge schmecken würde war nun wirklich seine geringste Sorge. Wichtiger waren die Fragen, wie er aus seiner Situation entkommen konnte oder wo sich sein Rucksack und seine Waffen befanden.

„Wann greifen deine Freunde an?“, fragte der Kobold nun.

Freunde? Was für Freunde?, schoss es ihm durch den Kopf. Laut fragte er:

„Was?“

„Ah, deine Zunge funktioniert wieder? Dein Kopf aber offenbar noch nicht“, sagte der Kobold und klopfte Aregas mit der geschlossenen Faust leicht gegen die Stirn. „Sag mir, was ich wissen will, oder wir werden dir noch Schlimmeres antun, als dich nur zu essen. Wann kommen die restlichen Elben, um unser Dorf anzugreifen?“

Das war es also. Die Kobolde dachten, er gehöre zu den Gardisten. Die Vorstellung ließ ihn, trotz seiner Situation, lachen.

„Was gibt es da zu lachen?“

Zu Aregas‘ Überraschung war die selbstgefällige Überheblichkeit aus der Stimme des Kobolds gewichen und von einem Anflug von Angst ersetzt worden. Das ließ Aregas noch mehr lachen – und den Kobold wütend von den Beinen des Elbs zurück auf den Boden springen.

„Lachst du mich aus, kleiner Elb?“, er zog ein Messer und kam zu Aregas herauf, um vor seinem Gesicht damit bedrohlich herumzuwedeln, „Lachst. Du. Mich. Aus? MICH!?

Aregas sah seine Chance, vielleicht die einzige, die er kriegen würde, und brachte all seine Kraft auf, um nach dem Messer zu schnappen und den Kobold an sich heranzuziehen. Erst als es schon zu spät war, schien sein Gegner zu begreifen, was geschehen war und seine Augen wurden plötzlich groß.

„Meine Sachen. Wo sind sie?“, fragte er mit schwacher Stimme, während er das Messer an die Kehle des Kobolds legte und ihn wie ein Schutzschild vor sich hielt.

Der Kobold strampelte um sich, antwortete aber nicht. Die ständige Bewegung kostete Aregas mehr und mehr seiner begrenzten Kräfte. Er zog das Messer enger an die Kehle des Kobolds und sah wie ein dünnes Rinnsal rosa Blut aus der Wunde und über seine Hand floss.

„Meine Sachen!“

Die Kobolde um sie herum rührten sich nicht. Keiner von ihnen ging los, um seine Sachen zu holen, aber es machte auch niemand einen Schritt auf ihn zu. Zumindest niemand, den er sehen konnte.

Hastig drehte er sich herum und erwischte einen von ihnen, der sich ihm langsam von hinten genähert hatte und jetzt schnell einige Schritte von ihm weg machte.

Die Welt vor Aregas‘ Augen drehte sich weiter und er hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, hielt sich jedoch aufrecht – wenn auch nur mit Mühe.

Wenn ich nicht bald von hier wegkomme, breche ich zusammen.

„Holt mir meine Sachen oder euer Anführer stirbt!“, grollte er mit lauter, bedrohlicher Stimme.

Tatsächlich bewegten sich diesmal ein paar der Kobolde und kamen nach einigen Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, mit seinen Sachen zurück.

Sie legten den Rucksack, den Bogen, die Köcher und den Dolch auf den Boden einige Meter von ihm entfernt.

„Zurück!“, befahl er, während er sich langsam seinen Sachen näherte.

Erst als er bei ihnen ankam, dämmerte ihm, dass er nicht wusste, wie er die Ausrüstung aufheben sollte, ohne seine Geisel loszulassen.

Was nun? Ich kann die Sachen nicht zurücklassen.

„Du!“, sagte er und deutete mit seiner freien Hand in Richtung eines der umstehenden Kobolde, „pack die Waffen in den Rucksack.“

Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, drückte er fester mit dem Messer zu, das an der Kehle des Koboldanführers lag. Neues Blut floss aus der Wunde und über seine Finger - das machte dem zögernden Kobold Beine.

„Es kommt keine Verstärkung, oder?“, es waren die ersten Worte, die der Kobold sprach, seit er ihn als Geisel genommen hatte.

Sie waren leise und mühsam hervor gepresst, um zu vermeiden, dass das Messer tiefer in seinen Hals schnitt.

Aregas antwortete nicht.

Nach einigen endlosen Sekunden war der Kobold, dem er befohlen hatte seine Sachen zu packen, fertig und machte ein paar Schritte zurück, um dann in der Menge der restlichen grünen Gestalten zu verschwinden. Die widerliche Kreatur hatte sich wenig Mühe gegeben, den Rucksack ordentlich zu packen. Sie war nicht mehr in der Lage gewesen, ihn zu schließen, da der Bogen deutlich herausstand.

Langsam ging Aregas in die Knie und zog seine Geisel mit sich. Mit einer schnellen Bewegung schnappte er sich einen der Riemen seines Rucksacks mit der Hand, die nicht das Messer hielt, und ließ ihn auf seine Schulter gleiten. Als er einige Schritte in Richtung des Tores machte, das er am Dorfrand sehen konnte, rührten die umstehenden Kobolde sich jedoch nicht.

Sie hatten nicht vor, ihn mit ihrem Herrscher davonkommen zu lassen.

„Lasst mich durch – oder er stirbt!“ Aregas wollte das Messer erneut fester an die Kehle des Kobolds drücken, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, befürchtete aber, dass er mittlerweile zu tief schneiden und seine Geisel töten würde.

Noch immer machte ihm niemand Platz.

Was nun?

Er hatte keine Antwort auf die Frage - sie befanden sich in einer Pattsituation.


Kapitel 3


„Wie konntet ihr das zulassen?“, schrie Helaä Aregas‘ Eltern an.

Die beiden alternden Elben standen in der Tür ihrer, in einen großen Baum gebauten, Behausung und versuchten diese der Gefährten ihres verbannten Sohne vor der Nase zuzuschlagen, aber die stemmte sich dagegen.

Seit Tagen hatte sie versucht, die beiden zur Rede zu stellen, aber sie waren immer wieder vor ihr geflüchtet. Diesmal hatte sie sie am Morgen überrascht, als sie Brot holen gehen wollten.

Damit hatten sie nicht gerechnet und die Tür nicht rechtzeitig schließen können, bevor die junge Elbin weit genug herangetreten war, um das zu verhindern.

Als die beiden älteren Elben für einen Moment weniger Druck auf die Tür gaben, um sich neuen Schwung zu holen, zwängte Helaä sich durch den dünnen Spalt und war im Haus. Aregas‘ Eltern sahen sie mit einer Mischung aus Wut und Überraschung an, die das Feuer in der jungen Elbin nur verstärkte.

„Er ist euer Sohn!“, schrie sie, „und ihr habt zugelassen, dass man ihn verbannt. Das ist praktisch ein Todesurteil.“

Die Erinnerung daran, dass Aregas mit ziemlicher Sicherheit sterben würde, brachte Trauer in die Augen von Aregas‘ Mutter und Tränen liefen der alternden Elbin über ihre Wangen. Der Anblick war zu viel für Helaä.

„Wie konntet ihr das zulassen?“ Sie wollte schreien, aber stattdessen schluchzte sie.

„Was hätten wir denn tun sollen?“, fragte Aregas‘ Vater voller Wut. „Der Ältestenrat hat sein Urteil gefällt – und es war ein mildes Urteil. Aregas hat den Sohn des Dorfältesten umgebracht… Unser Sohn ist ein Mörder.“

„Das stimmt nicht. Er hat nur…“, sie stoppte sich.

„Er hat nur was?“, fragte Aregas‘ Mutter mit einem Funken Hoffnung in ihrer Stimme.

„Nichts…“, log Helaä mit gedrückter Stimme.

Aregas hatte sich geopfert, um ihre Anwesenheit zu verschleiern. Seine Lüge jetzt aufzudecken würde nicht helfen. Wenn sie nicht erst nach seiner Verbannung von dem Prozess gegen ihn erfahren hätte… Aber es war zu spät das zu ändern. Wenn sie überhaupt etwas bewirken konnte dann nur, dass sie ebenfalls verbannt wurde.

„Wo ist Erendo?“, fragte sie, um davon abzulenken, dass sie sich beinahe verraten hätte.

Sie hätte jedoch nicht zu fragen brauchen. Sie hatte ihn auf dem Weg hierher in die Bar gehen sehen. Seit der Verbannung seines Bruders verbrachte er dort noch mehr Zeit als vorher. Von morgens bis abends trank er und fing Streit mit den Menschen an.

Immerhin ist er schlau genug, sich von den Elben fernzuhalten.

Sie war sich jedoch nicht sicher, dass ihm das ewig gelingen würde. Und niemand würde dem Bruder eines verurteilten Mörders Gnade zeigen.


******


„Du hattest genug. Die Sonne ist gerade erst aufgegangen und du kannst dich jetzt schon kaum noch aufrecht halten“, sagte Odular, der Barkeeper des fröhlichen Froschs, zu Erendo, als dieser ein weiteres Zwergenbier bestellen wollte.

„Mir geht es gut. Siehst du, ich rede sogar noch normal“, wollte der betrunkene Elb antworten, aber was herauskam klang mehr nach: „Mi t sut. St u i de so ach al.“

„Hier“, antwortete Odular und stellte ihm ein Glas mit einer hellblauen Flüssigkeit hin.

„Wa t a?“ Was ist das?

„Alkohol“, log der andere Elb.

Tatsächlich handelte es sich um eine Flüssigkeit, die er den Kobolden des Waldes abgekauft hatte. Ein Schlafmittel.

Erendo setzte das Glas an seine Lippen und trank es mit einem einzigen Zug leer.

„Das ist alles der Fehler des Jungen“, sagte er – für einen kurzen Moment vollkommen verständlich – dann fiel sein Kopf auf die Bar und er befand sich in einem tiefen Schlaf.


Als er wieder aufwachte, lag er vor dem Haus seiner Eltern und sein Kopf pochte vor Schmerz. Wie bin ich hier hingekommen? Er versuchte sich langsam aufzurichten, doch die Welt um ihn herum drehte sich und er schaffte es nur auf seine Ellenbogen, bevor er wieder zurückfiel.

Später würde er darüber glücklich sein, denn Gleichgewichtsprobleme waren ein sicherer Weg in den Tod, wenn man mehrere dutzend Meter über dem Boden in den Bäumen lebte. Jetzt verfluchte er jedoch noch den Barkeeper – Wie heißt er nochmal? – dafür, dass er ihm kein Bier gegeben hatte.

Odular. Genau. Das war der Name des verfluchten Sohns einer Menschenmutter. Der kann was erleben. Warte nur ab, ich…

Er versuchte sich erneut aufzurichten, um zurück zur Bar zu gehen und Odular zu zeigen, was er von ihm hielt. Bei dem neuerlichen Versuch hatte er jedoch auch nicht mehr Erfolg, als zuvor. Statt sich aufzurichten stieß er sich den Kopf an der Tür. Über seine dröhnenden Kopfschmerzen hinweg, merkte er das nicht.


******


Es klopfte einmal laut an der Tür und Aregas‘ Mutter wollte losgehen, um sie zu öffnen, aber Helaä hielt die Hand hoch, um sie zu stoppen.

„Du bleibst hier! Ich sehe nach wer das ist“ Ihr Ton machte es klar, dass sie keine Widerrede dulden würde.

Am Ende haut sie noch ab und ich brauche wieder Tage, bis ich sie zur Rede stellen kann. Das konnte sie nicht zulassen.

Als sie die Tür öffnete, sah sie zunächst niemanden, doch dann richtete sie ihren Blick nach unten.

„Erendo?“, fragte sie, schockiert über den Anblick des betrunkenen Elben.

Sie hörte, wie die beiden älteren Elben, aufgeschreckt von dem Schock in ihrer Stimme, von hinten herbeieilten, um nach ihrem Sohn zu sehen.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Daniel Isberner
Bildmaterialien: Victoria Petkau https://www.facebook.com/GedankenGruenGrafik
Lektorat: Tobias Böhme, Nicole Hanisch, Christina Klaus & Pippa Schneider
Tag der Veröffentlichung: 11.06.2014
ISBN: 978-3-7368-1965-8

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für π

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