05. Juli 2264
Sonnenstadt – Orion IV
Leise Geräusche rissen Naomi Carter aus dem Schlaf. Sie ließ sich nicht anmerken, dass sie wach war, sondern lauschte weiter den vorsichtigen Schritten mehrerer Beine. Zehn, wenn sie sich nicht verzählt hatte.
Wie haben sie mich gefunden? Oder ist es nur ein Zufall, dass einer von ihnen durch meinen Schlafplatz schleicht?
Sie glaubte nicht an Zufälle, aber selbst wenn es einer war, würde sie umziehen müssen. Und das bedeutete, sie musste Angus und Lilly eine Nachricht hinterlassen, wohin sie gegangen war. Aber ein Problem nach dem Anderen.
Zuerst musste der Alien sterben, der sich ihr näherte. Normalerweise waren die Schatten nicht derart leise und vorsichtig, er musste sie also gesehen haben. Offenbar noch bevor sie ihn gehört hatte, denn er schlich schon die ganze Zeit. Etwas, wofür sie sich selbst hätte ohrfeigen können, wenn sie nicht dabei gewesen wäre, sich noch immer schlafend zu stellen.
Als die Schritte sich ihr bis auf wenige Zentimeter genähert hatten, sprang sie plötzlich auf und den Alien direkt an. Bevor er reagieren konnte, hatte sie seinen Helm gegriffen und zog ihn mit all der Kraft, die ihr ihre Implantate boten. Erst passierte nichts, er versuchte sie mit seinen vier Armen zu greifen und von sich zu reißen, aber ihre Beine hatten sich um seinen Oberkörper geschlungen, der über seinem zehnbeinigen, spinnenartigen Unterkörper thronte.
Und dann hörte sie, wie die Versiegelung des Helms erst ächzte, dann knackte und schlussendlich mit einem lauten Knall brach. Sie riss ihn dem Alien vom Kopf und seine Tentakel, die diese Wesen anstelle von Haaren hatten, zuckten wild umher, während er versuchte die Luft anzuhalten. Aber sie gab ihm keine Chance.
Achtlos warf sie den Helm beiseite und donnerte ihre beiden Fäuste mit aller Kraft auf seinen Torso, bevor sie die Umklammerung ihrer Beine löste und sich von dem, jetzt keuchenden, Alien wegstieß.
Mit einem triumphierenden Lächeln stand sie über ihrem sterbenden Feind, bevor die Level Fünf Agentin seinen Kopf unter ihrem Stiefel zermalmte.
Nachdem sie den Alien getötet hatte, hatte Naomi eine kodierte Nachricht in einem Versteck hinterlassen und sich zu einem ihrer Ausweichverstecke begeben. Als Angus und Lilly das Versteck betraten, war sie gerade dabei, etwas zu Essen zuzubereiten.
Angus O’Neill war, genau wie sie, ein Level Fünf Agent der Terranischen Republik. Nachdem die Republik gefallen war, hatten sie versucht, das Zersplittern der Kolonien zu verhindern und eine vereinte Front gegen die unbekannte Bedrohung zu bieten, die der Schatten war. Aber ohne Erfolg.
Machthunger und Angst hatten Besitz von den Herrschern der Kolonien ergriffen und es dauerte nicht lange, bis die Zersplitterung nicht mehr aufzuhalten war – und damit auch der Schatten.
Als die Republik Hachero am 13. September 2242 gefallen war, hatten die beiden Agenten gerade den Regierungssitz infiltriert und waren dabei, den Präsidenten unter Druck zu setzen. Das plötzliche Auftauchen der fremdartigen Raumschiffe im System hatte ihren Plan vereitelt. Sie hatten versucht durch das Sprungtor zu fliehen und den Orion Pakt und das Rateri Protektorat zu warnen, aber das Sprungtor hatte bereits nicht mehr funktioniert.
Nach mehreren Jahren erbittertem Widerstand gegen die Aliens hatten sie sich auf eines ihrer Schiffe geschmuggelt als sie abrückten, um den Orion Pakt zu unterwerfen. Dort angekommen hatte sich das Szenario aus der Republik Hachero wiederholt. Ihre Anwesenheit und die Tatsache, dass sie wussten, womit sie es zu tun hatten, hatte keinen Unterschied gemacht.
„Mama!“, rief Lilly freudig und rannte auf sie zu.
Ihre Tochter war acht Jahre alt und ein kleines Wunder. Nach der Behandlung, die ihren eigenen Alterungsprozess gestoppt hatte und bei der ihr die Level Fünf Implantate eingepflanzt wurden, hätte sie eigentlich nicht in der Lage sein sollen, Kinder zu bekommen. Doch der lebende Beweis des Gegenteils sprang ihr gerade in die Arme und ließ sich von ihr drücken.
„Und, was habt ihr zwei so getrieben?“
„Papa hat mir gezeigt, wie man einem Alien die Tentakel abschneidet, ohne ihn dabei zu töten.“, erzählte sie begeistert, „Und dann hat der Alien mir gesagt, wo wir ein Gefangenenlager finden können.“, sie holte einmal tief Luft und schob ihre Unterlippe schmollend nach vorne, „Dann hat Papa ihn getötet. Obwohl ich noch gar nicht fertig war.“
Naomi sah Angus an, der mit den Schultern zuckte und sein Gewehr vom Rücken nahm, um es neben den kleinen Tisch zu stellen, der in der Mitte des Raums stand. Dabei behielt er immer die Tür im Auge, was für Naomi bedeutete, sie konnte sich auf das Essen und ihre Tochter konzentrieren.
Während sie die Suppe umrührte strich sie Lilly die langen blonden Haare aus dem Gesicht.
So jung und doch so alt. Ich wünschte, wir müssten ihr nicht all diese Dinge zeigen. Ihr beibringen, wie man tötet… zumindest noch nicht in dem Alter.
Aber sie hatten keine Wahl. Nicht nur, weil das Universum gefährlich war und Lilly andernfalls kaum eine Chance hatte zu überleben. Lilly war die einzige von ihnen, die die Sprache der Aliens intuitiv verstand, ohne mehrere Sekunden warten zu müssen, bis die Implantate die komplizierte Sprache übersetzten.
Niemand von ihnen wusste, warum. Nicht mal Lilly. Sie konnte die Worte nicht übersetzen, sie wusste nur, was die Aliens sagten. Naomi vermutete, dass es daher kam, dass sie die Tochter von zwei genmanipulierten und mit Implantaten vollgestopften Agenten war, die eigentlich nicht in der Lage hätten sein sollen, Kinder zu bekommen. Irgendetwas an ihnen beiden war anormal – und es hatte sich offensichtlich auf ihre Tochter ausgewirkt.
Sie stellte Lilly zurück auf ihre Füße.
„Deck den Tisch.“
„Oki.“
Wie sie dieses Wort hasste…
10. Juli 2264
Garavogue – Orion III
Eine Reise zwischen den Planeten des Systems war immer ein kompliziertes Unterfangen. Sie hatten keine eigenen Raumschiffe und Sprungtore funktionierten nicht. Sie mussten also regelmäßig einen der Aliens gefangen nehmen, um zu erfahren, wohin die Schiffe flogen.
Über kurz oder lang würden sie dabei auffliegen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis jemandem das Muster auffiel, das sie zwangsläufig hinterließen. Aber dieser Tag war nicht heute. Sie hatten den Transporter nach Orion III ohne Probleme benutzen können.
Nun lag Naomi, eingehüllt in dicker Winterkleidung, auf dem Balkon eines zertrümmerten Einfamilienhauses und beobachtete das Gefangenenlager drei Kilometer weiter durch die Fernglasfunktion ihrer Implantate. Lilly lag neben ihr, aber war auf ein echtes Fernglas angewiesen. Was auch immer sie von ihren Eltern mitbekommen hatte, die Fernglasfunktion ihrer Implantate war kein Teil davon.
„Was siehst du?“, flüsterte sie.
„Je zwei Aliens an den Eingängen zum Lager.“, gab ihre Tochter genauso leise zurück, „Ein paar mehr im Gebäude, ich kann aber nicht sagen, wie viele.“
„Mindestens Fünf.“
„Woher weißt du das?“
„Bewegung hinter den Fenstern. Du kannst erkennen, wie viele sich gleichzeitig bewegen und leichte Unterschiede in ihren Größen.“
„Oki.“
„Kannst du deinen Vater sehen?“
„Nein.“
„Gut.“
Auch sie selbst konnte Angus nicht sehen, aber das war ein gutes Zeichen. Er war dabei sich an die Basis heranzuschleichen. Wenn er sichtbar gewesen wäre, würde er seine Arbeit nicht richtig machen. Das einzige Problem war, dass sie auch keinen Funkkontakt mit ihm halten konnte. Was auch immer die Aliens taten, um die Sprungtechnologie zu stören wirkte sich auch auf ihren Funkverkehr aus. Und sogar auf ihre Implantate, die normalerweise Störsender durchdringen konnte, die selbst Hochleistungsantennen lahmlegten.
Irgendwann muss ich herausfinden, was genau sie mit uns
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG Texte: Daniel Isberner Alle Rechte vorbehaltenImpressum
Bildmaterialien: Daniel Isberner
Lektorat: Roswitha Druschke
Tag der Veröffentlichung: 27.08.2013
ISBN: 978-3-7309-4595-7