Er betrat den Raum und sie fühlte, wie ihre Welt stehen blieb und sich dann auflöste.
Es war Sommer und ihr letztes Jahr in der Grundschule, als sie ihn zum ersten Mal sah. Er war neu, gerade in die Stadt gezogen. Mysteriös und gutaussehend (mit so weich aussehenden hellen, unordentlichen Haaren und dunklen, dunklen Augen). Er wirkte still, doch man sprach, wie intelligent er sei.
Sie erinnerte sich daran, wie ihr Lehrer ihn als Noah Weston vorgestellt hatte. Sie erinnerte sich daran, dass die Klasse viele Fragen gestellt hatte. Und sie erinnerte sich ganz bestimmt an seine Antwort.
„Mein Name ist Noah Weston. Dinge, die ich mag und Dinge, die ich nicht mag … Das will ich euch nicht sagen. Meine Träume für die Zukunft … Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Und meine Hobbies … Ich hab ein paar.“
Zu sagen, die ganze Klasse war perplex und überrascht, war wohl noch eine Untertreibung. Man konnte eine Stecknadel fallen hören in der Stille, die er hervorgerufen hatte. Doch ihr bester Freund, Tobias, brach in Lachen aus und brach das Schweigen.
„Das war witzig – ich mag den Kerl!“
Die drei waren unzertrennlich. Und bald fühlte sie, wie sich ihre aufgelöste Welt wieder zu drehen begann.
Aber als die Tage vergingen, entwickelten sich Gefühle, Leute veränderten sich … sie kamen und gingen.
Und dann, so unzeremoniell, so abrupt, kam ihre Welt zu einem erschütternden Stillstand.
Die drei wurden darauf Freunde. Auch, wenn Tobias zu laut war, und Noah zu still und ernst, fühlte sich Joanna bei diesen beiden wie zu Hause. Jeder Tag war gefüllt mit Scherzen, Gelächter und gelegentlichen Streitereien, doch sie glaube, so fühlte sich Glück an. Sie war glücklich.
„Hey, Noah! Hast du gewusst, dass Jo Windräder liebt? Sie liebt sie so sehr, dass es leicht ist, sie mit ihnen aufzumuntern. Als wir jünger waren und sie traurig war, hab ich einfach immer eins zum Drehen gebracht und sie fing an zu lachen.“
„Tss, wie ein kleines Kind.“
„Halt die Klappe, Noah! Und du auch, Tobias – verbreite hier keinen Unsinn.“
Die ersten Wochen der Junior High kamen wie in Kinderspiel. Die drei verbrachten ihre Zeit wie immer zusammen. Es war als würde sich niemals etwas ändern. Sie dachten, sie würden zusammen aufwachsen und selbst dann noch Kontakt haben. Nun da sie darüber nachdachte, war sie ziemlich naiv gewesen. So kindisch, unreif … so naiv.
Sie vermutete, weil sie zu jung waren, hatten sie es einfach nicht kommen sehen. Sie vermutete, weil sie zu jung waren, war es ihnen niemals in den Sinn gekommen. Sie vermutete, weil sie zu jung waren, waren es ungesprochene Worte, Worte und Gefühle, was sie am meisten erschütterte.
Im Frühling ihres dreizehnten Jahres starb Tobias.
Es war ein Unfall.
Das Seil, das einen Stahlträger in einer Baustelle festhalten sollte, löste sich und riss.
Und der Träger riss sich los und begrub Tobias unter sich (treuer, lustiger, verständnisvoller Tobias – ihr bester Freund). Er war auf dem Weg nach Hause, nach einem Nachmittag mit ihnen. Nur ein eine halbe Stunde zuvor war er da gewesen. Er war einfach da gewesen.
Und derjenige, der am meisten betroffen war, war Noah. Er hatte ihn viel weniger gekannt als sie es getan hatte. Er kannte ihn gerademal ein halbes Jahr. Es war Tobias, der angefangen hatte, ihn zu verändern. Sie waren wie Brüder. Er nahm seinen Tod schwerer als dessen Familie, schwerer als Joanna und schwerer als alle anderen. Und dennoch, die Zeit ist grausam und alles muss weiter gehen.
Die Frühling endete und der Sommer kam. Und zusammen mit den Windrädern, die sich leise im Wind bewegten, begann auch ihre Welt sich wieder zu drehen.
Sie beide taten einen Schritt vorwärts – einen Schritt und noch einen, noch einen und …
Als Tobias starb, blieb sein Platz, jedes Mal, wenn sie nach Hause gingen, unbesetzt. Wenn Außenstehende zu ihnen sahen und beobachteten, war es, als wäre zwischen den beiden leerer Raum. Es sah aus, als würde die Freundschaft der beiden zerbrechen. Doch in Wahrheit war die Stille zwischen ihnen ein Zeichen dafür, dass sie tief in Gedanken versunken waren. Dass beide an die Wenn-dochs und die Was-wäre-wenns dachten.
Sie erinnerten sich zusammen an Tobias‘ Macken und Gewohnheiten und lebten, als würde er in ihnen weiter leben (es war so viel besser, als ihn zu vergessen).
„Du bist zu spät, Noah!“
„Es tut mir leid – sehen Sie, da war eine schwarze Katze auf meinem Weg und Sie wissen ja, dass die Pech bringen sollen, also bin ich einen Umweg gegangen und …“
„Setz … dich einfach nur hin.“
Und als die Zeit verging, wurde der leere Raum zwischen ihnen kleiner. Es war nicht so, dass sie Tobias vergaßen (es war schwer, ihn jemals wirklich zu vergessen und sie sprachen oft über ihn und erinnerten sich). Es war nur so, dass sie fühlten, dass es an der Zeit war, weiter zu gehen.
„Hey, Noah, ich will einen Hund!“
„… Was?“
„Ich möchte einen. Aber ich weiß nicht, wie ich mich um einen Hund kümmern soll, also wirst du auf ihn aufpassen. Und wir nennen ihn Perry. Und der Tag, an dem wir uns zum ersten Mal getroffen haben, wird sein Geburtstag sein.“
„Und dich interessiert nicht, wann sein tatsächlicher Geburtstag ist?“
Und die zwei kamen sich näher. Sie hatten viel zusammen durchgestanden, verstanden den Schmerz des anderen. Und so war es kein Wunder, dass sie sich verliebten. Zumindest für sie fühlte es sich so an, als wäre er ihre erste Liebe.
Der Herbst kam und ging und der Winter nahm seinen Platz ein. Der erste Winter ohne Tobias.
Die Windräder hielten an und wurden weggepackt. Stattdessen wurden Mäntel und Handschuhe raus geholt.
Sie hielten sich an den Händen und wussten einfach, dass die Mauern, die sie erbaut hatten, eingestürzt waren.
Als der Schnee langsam fiel, wünschte sie sich, ihre Welt würde die gleiche Geschwindigkeiten haben wie die Schneeflocken.
In dem Jahr gingen sie zu einem See. Er war berühmt dafür, dass Schwäne sich dort über den Winter sammelten. Sie beobachteten die anmutigen Tiere vom Weiten.
„Warum ist dieses Reisbällchen so groß, Jo?“
„Es hat drei Geschmäcke – wenn du es nicht magst, iss es nicht.“
„Es ist zu groß. Und du hast viel zu viel gemacht. Wenn Tobias das sehen würde, er würde dich auslachen.
Der Tag war voll mit so viel Spaß und Freude. Sie wünschte sich, es würde weitergehen. Und wenn nicht, dann sollte es wieder geschehen. Mit Noah. Natürlich mit Noah.
„Noah, nächstes Jahr kommen wir wieder hier hin, oder? Versprichst du es?“
„Klar, Jo. Ich verspreche es.“
Vielleicht hasste Gott sie so sehr. Vielleicht liebte das Schicksal es, mit ihr zu spielen. Vielleicht, vielleicht …
Die Kirschblütenbäume ließen ihre Blüten fallen und der Frühling tat seinen letzten Atemzug, um dann dem Sommer Platz zu machen.
Die Windräder, die sie so sehr liebte, wurden wieder rausgeholt und begannen sich erneut zu drehen. Sie konnte nicht anders, als sie mit ihrem Leben zu vergleichen.
Es drehte sich und drehte, drehte, drehte und …
Es verlief alles wundervoll. Sie bereiteten sich auf ihre Zukunft vor. Sie waren in ihrem zweiten Jahr auf der Junior High, nur noch ein Jahr und dann gingen sie auf die Highschool. Und danach würde das College oder die Universität kommen. Gelegenheiten. Möglichkeiten. Türen zu ihrer Zukunft. Alles ging glatt. Es hätte alles glatt gehen sollen.
Vielleicht war es, weil sie vergessen hatte. Vielleicht war es, weil sie zu glücklich wurde. Vielleicht, vielleicht …
Sie gingen über die Straße, als es passierte.
Das Geräusch von kreischenden Autorädern.
Ein kleiner Junge, der seinem Ball nachjagte.
Grüne Verkehrslichter.
Und sie bewegte sich auf Instinkt. Sie ließ Noahs Hand los. Sie rannte so schnell sie konnte und schubste den Jungen in Sicherheit.
Sie rettete ein Leben … im Austausch gegen ihres.
Das letzte, was sie sah, war die Qual auf seinem Gesicht (oh, so unglücklich, oh, so untröstlich) und dann wurde alles schwarz.
„Noah, ich liebe den Sommer. Dann bewegen sich die Windräder im kleinsten Windhauch.“
„…“
„Und immer, wenn man sie drehen sieht, erwartet man, den sanften Wind zu spüren, oder? Ist es nicht so, als finde man Hoffnung?“ „…“
„Hey, hörst du mir überhaupt zu?“
„Das ist ziemlich merkwürdig, Jo.“
„Es tut mir leid, Noah, dass ich dir immer solche Sorgen mache. Es tut mir leid, dass … Ich … Als du angerufen hast, konnte ich einfach nicht antworten. Immer und immer und immer wieder hast du meinen Namen gesagt und ich hab keinen Ton raus bekommen. Es tut mir leid. Aber wenn es eine nächste Chance gibt, werde ich antworten.“
Im Sommer ihres vierzehnten Jahres starb sie.
Und seine Welt kam so unzeremoniell und so abrupt zu einem erschütternden Halt.
Tag der Veröffentlichung: 01.04.2014
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