Monster haben körperliche Fähigkeiten und Kräfte, wie z.B. übermenschliche Schnelligkeit, Stärke, etc.
Freaks haben geistige Fähigkeiten und Kräfte, wie z.B. Gedankenlesen, Telekinese, Visionen, etc.
Lucie ist ein Monster. Sie ist seit der ersten Klasse mit Aiden befreundet. Ihre Fähigkeiten sind, sich unsichtbar zu machen, durch Wände gehen zu können, sich zu teleportieren. Zudem hat sie noch die Freak-Fähigkeiten, mit anderen per Gedanken kommunizieren zu können.
Rin ist ein Freak. Sie ist seit einem halben Jahr neu an dem Schulcamp, auf das auch Lucie, Aiden und Raiden gehen. Ihre Fähigkeiten bestehen darin, durch Berührungen die Vergangenheit von Leuten sehen zu können – soweit diese sich nicht mental dagegen abblocken. Sie kann die Gedanken anderer manipulieren und in den Geist von Leuten eindringen, um diese zu kontrollieren.
Aiden ist ein Freak. Er ist der beste Freund von Lucie und wohnt mit ihr und seinem Zwillingsbruder Raiden in dem Schulcamp für Freaks und Monster. Seine Fähigkeiten sind Gedankenlesen, Gedankenmanipulation und er beherrscht ebenso wie sein Bruder das Element Feuer, allerdings in einer etwas anderen Form.
Raiden ist ein Monster. Er ist Aidens älterer Zwillingsbruder. Er beherrscht wie Aiden das Element Feuer, allerdings so konzentriert, dass es sich zu Blitzen entwickeln kann. Er hat besondere Schnelligkeit und ein extremes Riechvermögen.
Rin
Nachdenklich starrte ich aus dem Fenster. Große, schwarze Augen starrten mir entgegen. Tiefschwarz, kohlrabenschwarz. Ich konnte die Pupille nicht mal erahnen. Beinahe schien es, sie wären nicht von dieser Welt. Dämonenaugen. Nur eine kleine Lichtreflexion bewies, dass diese Augen lebendig waren.
Ich hörte das Tuscheln und Murmeln um mich herum. „Freaks.“
Ich musste grinsen. Wenn die nur wüssten, wie recht sie hatten.
Gelangweilt strich ich mir meinen Pony aus der Stirn – das Spiegelbild in der Fensterscheibe ahmte es mir nach – nur damit mir die braunen Fransen gleich wieder in die Augen fielen. Lucie mir gegenüber seufzte und ich sah zu ihr hin. Um ehrlich zu sein, konnte ich die Leute um uns nur dafür bewundern, dass sie uns nicht mehr als nur „Freaks“ nannten. Ihr Haar fiel ihr hell, fast schneeweiß um die Schultern, während sie ungeduldig mit ihren verschiedenfarbigen Augen zum Eingang hinstarrte. Eines leuchtete in amethystlila, während das andere in azurblau glänzte. Ihre Haut war blass und wirkte beinahe durchscheinend. Sie wirkte wie ein Geist – und das war gar nicht mal so weit hergeholt – doch sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, die Beine unterm Tisch ausgestreckt.
„Was ist?“, fragte sie, ohne mich anzusehen. Ich schüttelte den Kopf und sah ebenfalls zu der niedrigen Tür der dunklen Kneipe.
„Nichts“, antwortete ich.
Auf wen genau wir warteten, wusste ich nicht. Lucie hatte mir gesagt, es seien Brüder – Zwillingsbrüder, wenn ich mich richtig erinnerte – und einer von ihnen war ihr bester Freund seit der ersten Klasse. Die Namen hatte ich schon wieder vergessen.
Ich wusste nicht mal, warum ich überhaupt hier war. Also, genau genommen wusste ich das schon. Ich hatte Lucie durch ein Geschichtsprojekt in unserer Schule – die mehr Camp als Schule war – vor gerademal eineinhalb Wochen kennengelernt. Gestern hatte sie dann entschieden, dass ich sie heute begleiten müsse, da sie sonst zu wenige Leute waren, um in Teams Billard spielen zu können. Ich hatte sie zwar wohl ziemlich dumm angesehen, ihrem angepissten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, aber letzten Endes hatte sie mich dann mitgeschleppt und nun warteten wir hier seit einer geschlagenen Stunde und hatten beide schon fünf große Tassen Kakao bestellt und ausgetrunken – und ihrem wackelnden Bein unter dem Tisch nach zu urteilen musste sie wohl mittlerweile genauso dringend wie ich.
Gerade wollte ich aufstehen und nach der Toilette fragen – mehr oder weniger … Ich war nicht so der soziale Typ – ich hätte mir meinen Weg wohl eher dort hin gerochen (ich war mir sicher, dass war möglich). Allerdings machte mir die Eingangstür einen Strich durch die Rechnung, als sie aufging und über Lucies Gesicht ein kurzes Lächeln huschte, das schnell in eine genervte Grimasse wechselte. Ich drehte mich um, als ich zwei hochgewachsene Typen auf uns zu kommen sah. Das heißt, der eine steuerte zielbewusst auf unseren Tisch zu und schleppte den anderen hinter sich her. Ich erkannte in dem dämmrigen Licht aristokratische Gesichtszüge mit einem scharfen Kiefer und einer schlanken spitzen Nase. Die Iris seiner Augen war von einem stechenden Flammenrot und seine Haare waren … grau?
Ich blinzelte und sah nochmal hin. Wirklich. Und der Zweite hatten ebensolche Haare, nur dass seine ihm wirr vom Kopf abstanden. Ob das nun wirklich Zwillingsbrüder waren, konnte ich auch nicht sagen. Der andere hatte seine untere Gesichtshälfte hinter einem Schal verborgen, doch seine Augen waren dunkel. Onyxfarben. Ein wenig heller als meine.
„Sind die nicht ein wenig zu alt?“, fragte ich Lucie, als sie ebenfalls aufstand. Der Kerl mit den Flammenaugen stand nun direkt vor uns und ich biss mir auf die Lippe. Seine Gesichtszüge waren glatt und jung. Er war vielleicht ein, höchstens zwei Jahre älter als wir.
„Hey, Spitzmaus!“
Ich zuckte zusammen. Und seine Stimme war tief und einschüchternd. Er lachte leise.
„Meine Haare sind wenn dann silbern.“ Oh, hatte ich das „grau“ laut gesagt? „Wenn du die Haare von alten Personen suchst, sieh dir Lucie an.“
Ich wandte mich zu ihr um, die verärgert zu ihm hochsah. Er sah zurück und seufzte dann. Mit einem Schulterzucken ruckte er seinen Kopf in Richtung der Eingangstür und ich fragte mich, was er wohl für Zuckungen hatte.
„Warum kommt ihr erst jetzt?“, fragte ich schließlich. Aiden lächelte kurz.
„Mein Bruder Raiden sagte, er fände es zu anstrengend, den Berg hoch zu laufen und ist einen Umweg gegangen. Er hat wohl auf eine Fluchtmöglichkeit gehofft“, erklärte er.
Ich musste schnauben. Sein Bruder hieß Raiden? Aiden und Raiden? Wer tat denn sowas?
„Raiden, dein Bruder, ist doch der, den du hier rein geschleppt hast, richtig? Der andere mit den gr… silbernen Haaren?“, fragte ich, während ich an ihm vorbei sah und beobachtete, wie sich der andere mit den unordentlichen Haaren und dem Schal zwischen den Leuten hindurch zum Hinterausgang einen Weg bahnte.
„Ja, wieso?“, antwortete er.
„Nun, ich glaube, er hat seine Fluchtmöglichkeiten gefunden.“
Lucie
War das nicht irgendwie klar? Ich grinste zu Aiden und wartete auf eine Antwort. Rin hatte mittlerweile wohl verstanden, dass wir uns über unsere Gedanken unterhalten konnten. Ich lächelte sie an, doch sie schien mir von Anfang an nicht der soziale Typ gewesen zu sein.
Seit ich sie im Schulcamp getroffen hatte, war sie ziemlich verschlossen und ich wollte nicht ihre Gedanken lesen, ohne dass sie es wusste.
Ich behauptete nicht, ich sei der aufgeschlossenste Mensch der Welt, doch so ruhig war ich bei Weitem nicht. Nur das bekam niemand mit außer Aiden. Er schien mitgehört zu haben und grinste mich an.
„Er hat keine Autoschlüssel, er kommt nicht weit. Außerdem habe ich oben auf dem Berg geparkt und wie du weißt, ist er nicht unbedingt der Beste im Laufteam, auch wenn er es sein könnte“, sagte er zu Rin und mir. Er konnte sich ein lautes Lachen nicht verkneifen und sah über seine Schulter. Raiden kam wieder- wie immer mit seinem Tuch über der Nase- und funkelte uns mit seinen dunklen silbergrauen Augen an.
„Du hast mir die Schlüssel weggenommen!“, blaffte er Aiden an.
„Das kommt davon, wenn du meine Luft atmest, Raiden“, erwiderte Aiden sarkastisch und ging mit seinem Bruder in Richtung Kasse. Rin und ich nahmen uns unsere Jacken und folgten den beiden.
„Du bist mir neun Monate zu lang auf die Nerven gegangen.“
Nun musste auch ich lachen. Diesen Spruch brachte Raiden öfter. Er war der ältere Zwilling und musste Aiden das immer wieder unter die Nase reiben.
„Du hast mir ein Bein gestellt und bist als Erster durchs Ziel, altbewährte Taktik bei dir.“
Jetzt gaben auch Raiden und Rin ein kleines Schnauben von sich, woraufhin Raiden Rin eindringlich ansah. Ich hätte schwören können, es blitzen zu sehen, doch das konnte auch an Raiden allein liegen.
„Dreizehn oder acht?“, rief Aiden, der sich schon zwei Queues geholt hatte.
„Dreizehn“, sagte Rin überraschend und nahm sich den Queue mit der Nummer 13 eingraviert.
„Ich schätze, ihr beiden spielt zusammen?“, fragte Raiden und sah erst mich und dann Aiden an.
Spielen wir zusammen?
Willst du?, fragte ich. Aiden nickte und grinste mich an.
Die machen wir alle.
„Wir haben Tisch sechs“, sagte er zu den anderen und ging vor. Ich ging direkt hinter ihm und seine welligen Haare vielen ihm beim Gehen wie ein silberner Schleier um die Ohren. Hätte ich nicht gewusst, dass er ein Freak ist, hätte ich ihn auch für etwas – sehr viel – älter eingeschätzt, auch wenn sein markantes Gesicht für sein wirkliches Alter sprach.
Das hab ich gehört!
Ich lachte leise.
Anfangs spielten Rin und ich beinahe durchgehend zu zweit. Nur ab und zu bemühte sich einer der Jungs von seinem Stuhl. Sie hatten mittlerweile schon fünf Portionen Pommes und jeweils drei Burger verdrückt. Ich fragte mich, ob sie zum Essen hier waren oder zum Spielen. Wenn sie so weiter machten, würden wir sie nicht mehr durch die Tür bekommen.
Irgendwann hatte ich noch drei Kugeln, Rin noch zwei, doch sie versengte gerade die Weiße, was mir natürlich einen kleinen Vorteil verschaffte.
Ich bin dran, immerhin will ich noch ins Camp und das wird wohl nicht möglich sein, wenn ich so faul hier rumsitze und esse. Nachher passe ich nicht mehr durch die Tür. Aiden sah mich an. Ich grinste. Es war seine eigene Schuld, dass er in meinem Kopf herum spukte. Ich gab ihm den Queue und setzte mich zu Raiden.
„Na wie läuft’s?“, fragte ich und nahm mir eine Pommes von Aidens Teller.
„War das dein erster Versuch, Smalltalk zu führen?“, fragte er und lehnte sich zurück.
„Ich wette, du kannst deinen Bruder nicht schlagen“, sagte ich und konnte keine drei Sekunden zählen, bis Rin neben mir saß.
„Wie hast du das gemacht? Er ist doch so… desinteressiert?“, fragte sie amüsiert.
„Wenn es darum geht, seinen Bruder zu schlagen, lässt er sich nichts entgehen. Cola?“, fragte ich und winkte einem der hübschen Kellner. Sie nickte.
Sowas nennst du hübsch? Sieh dir diesen Vollbart an.
Konzentrier dich aufs Spiel. Du bist doch nur neidisch, weil er mit Bart nicht aussieht wie sein eigener Opa. Aiden sah mich mit einem feurigen Blick an. Ich lächelte sanft und bestellte Rin und mir eine Cola. Ich ging einfach davon aus, dass sie nicht selbst bestellen wollte. Sie war nicht der Typ dafür. Keine Minute später hatte der Kellner uns die Gläser Cola auf den Tisch gestellt und den Müll er Jungs mitgenommen. Er hatte wirklich einen merkwürdigen Vollbart. Zu schade.
Vor zwei Jahren hatte Aiden erst nach einer Woche Camping wieder vorm Spiegel gestanden und hatte sich unglaublich erschrocken. Ich war im Raum nebenan gewesen und hatte nur mitbekommen, wie seine Gedanken begonnen hatten, wie wild zu rasen. Ich dachte er hätte einen Geist gesehen. Als ich dann ins Badezimmer kam, sah ich, dass er nur sich selbst gesehen hatte und er aussah wie um etwa dreißig Jahre gealtert.
Ich wühlte in seinem Kopf nach dieser Erinnerung und sah mir seinen Gesichtsausdruck noch einmal an. Ich grinste sarkastisch. Wieso konnte man solche Gedanken nicht fotografieren? Er funkelte mich beleidigt an an.
„Ich hab grade an etwas gedacht“, erklärte ich Rin, als sie mich fragend ansah.
„Aiden und du. Ihr unterhaltet euch über eure Gedanken?“, fragte sie nach einer Weile.
„Ja. Wir haben unsere Kräfte in der zweiten Klasse entdeckt. Wir kannten uns schon ein Jahr- kurz darauf hatte er seine Eltern verloren und zog unter diesen Umständen zu seiner Tante, die über uns wohnt. Wir sind immer zusammen zur Schule gegangen, bis wir gemerkt haben, dass wir irgendwie miteinander verbunden sind. Wir haben uns eines Tages alles erzählt und gezeigt was wir können und seitdem sind wir die besten Freunde. Raiden kenne ich auch so lange, doch es ist ziemlich schwer ihm näher zu kommen oder zu ihm durchzudringen, weil er so ein Einzelgänger ist, seit seine Eltern gestorben sind und weil er gelernt hat seine Mauer zu errichten, sodass wir es nicht mehr mit dem Gedankenlesen versucht haben seit er zehn war“, antwortete ich ehrlich und nahm einen Schluck von der Cola.- Hatte ich erwähnt, dass ich nicht gerade ein stiller Typ war?
Rin schien ein wenig überrascht über meine Offenheit und nickte.
„Also sind ihre Eltern tot seit sie in der Grundschule waren? Das muss schwer sein“, murmelte sie nach einigen Minuten, in denen wir das aufbrausende Spiel der Jungs beobachtet hatten. Wir hatten schon unsere zweite Cola bestellt und mir kam es vor, als würden wir uns ganz gut verstehen.
„War es auch und ist es auch immer noch, aber sie kommen zurecht“, sagte ich.
„Du hast die Kugel geklaut!“, schrie Aiden plötzlich. Was hatte ich noch gleich gesagt?
„Ich hab die Kugel nicht angefasst!“, behauptete Raiden und verschränkte die Arme. Er drehte den Kopf zu uns und ich sah Rin an. Ihre Augen weiteten sich kaum wahrnehmbar, da blickte ich zurück. Raidens Tuch war ihm von der Nase gerutscht und seine untere Gesichtshälfte war nun zu sehen, die sich der von Aiden nicht im Geringsten unterschied. Ich musste mir ein Grinsen unterdrücken und stand auf.
„Raiden? Was ist das da in deiner Hose?“, fragte ich und deutete auf eine kugelförmige Ausbeulung in seiner Hosentasche. Er nahm die Kugel heraus und zuckte mit den Schultern.
„Er hat meine Kugeln verschoben“, rechtfertigte er sich und schob sein Tuch zu Recht. Ich sah Aiden an. Er hatte Kugeln verschoben – eigentlich fast alle. Ich seufzte. Es hatte keinen Sinn einen Streit zwischen ihnen zu verhandeln.
„Es ist schon spät. Wir müssen zurück ins Camp, morgen ist Montag“, erinnerte ich sie und zog meine Jacke an.
Rin
Wir alle zogen unsere Jacken an, bezahlten für unsere Getränke und das Essen und gingen zusammen hinaus. Die Jungs – Aiden – hatten sich dazu bereit erklärt, uns mit ihrem Auto mitzunehmen, damit wir nicht den ganzen weiten Weg durch den Wald zurück latschen mussten.
Auf meine Frage hin, warum sie uns denn nicht schon auf dem Hinweg mitgenommen hatten, bekam ich nur einen genervten Seitenblick aus Raidens dunkelgrauen Augen und die freundliche Antwort von Aiden, dass sie das Wochenende über immer bei ihrer Tante waren und sie sonst einen Umweg hätten machen müssen. Aha.
Allerdings schien Aiden vergessen zu haben, dass er das Auto ja absichtlich oben auf dem Berg geparkt hatte und wir jetzt diesen Aufstieg vor uns hatten. Eigentlich war der ja nicht so anstrengend, wenn da nicht das faule Gejammer von Raiden wäre. Ich sah wie Lucie und Aiden sich genervte Blicke zuwarfen, während sie vorne ran gingen, bevor Aiden einen Blick zurück warf und dann die Schultern zuckte.
Raiden ging neben mir, die Hände in den Hosentasche vergraben, das Gesicht halb hinter seinem Schal verborgen und starrte stur auf die Straße. Er schien meine Anwesenheit gar nicht zu bemerken oder war wohl zu sehr damit beschäftigt, vor sich hin zu murmeln.
„Ich hasse es. Immer dieses Rumgelaufe. Ich will nach Hause. Ich hätte gar nicht erst mitkommen sollen, ich wusste ja dass das eine Scheißidee von Aiden war. Kontakteknüpfen. Haha.“
Ich musste prusten. Also wenn der nicht zynisch und verbittert war, dann war er wohl gar nichts.
„Was ist?“, blaffte er plötzlich und funkelte feindselig zu mir rüber. Schnell zog ich den Kopf ein und blickte wieder nach vorn.
„Gar nichts“, murmelte ich und schlug mir innerlich vor die Stirn. Ich sollte einfach aufhören, ständig Leute anzustarren. Aber im Grunde genommen konnte ich nicht viel dafür. Irgendwie mochte ich ihn. Mir gefielen die kantigen Linien seiner Schultern, die man unter seiner Jacke erkennen konnte. Er war groß und schlank, mehr sehnig als muskulös und hatte eine stolze und gleichzeitig sehr lockere, entspannte Haltung. Und seine helle Haarfarbe war ein hübscher Kontrast zu seinen dunklen Augen. – Ich hätte ihn gern gezeichnet.
„Hab ich was im Gesicht?“
Seine Stimme holte mich abermals zurück. „Was?“ Ich blinzelte ihn an.
„Ob ich was im Gesicht hab oder warum starrst du mich so an?“
Ich spürte wie ich rot wurde. Am besten hörte ich einfach ganz auf, zu denken. „Äh … nee.“
Er hob eine Braue. „Was nee“, äffte er mich nach. So ein Arschloch.
„Außer deinem bekloppten Schal hast du nichts im Gesicht … Idiot“, murmelte ich und legte dann einen Schritt zu, um ein paar Meter vor ihm zu gehen. Vor mir wandte Lucie sich kurz um, lächelte mir zu und wandte sich dann mit einem Grinsen wieder an Aiden. Ich nahm an, sie hatte mitgehört und führte jetzt wieder eine ihrer stillen Unterhaltungen mit Aiden. Moment – vielleicht hatte sie auch meine Gedanken gelesen … und hatte auch meine Gedanken über Raiden mitbekommen. Wieso fiel mir das erst jetzt ein?!
Lucie lachte und grinste mich an. Na super. Aiden wusste jetzt vermutlich auch Bescheid.
Mittlerweile waren wir dann doch schon am Wagen angekommen. Aiden saß auf dem Fahrersitz, obwohl Raiden versucht hatte ihm die Schlüssel wieder abzunehmen und als erster dort zu sitzen. Zumindest glaubte ich, dass er das getan hatte, denn auf einmal war er nur noch ein silberner Schatten gewesen, der auf Aiden zugeschnellt war. Allerdings hatte dieser das wohl schon vorausgesehen und war eine Millisekunde schneller. Nun grinste er triumphierend zu seinem Zwilling hoch.
Ich zog die Luft ein. Schnelligkeit – eine körperliche Fähigkeit, Fähigkeiten eines Monsters. – Aber war Aiden nicht ein Freak – jemand, der geistige Fähigkeiten hat?
„Aiden hat seine Freak-Gene von ihrer Mutter geerbt. Raiden seinen Monster-Teil von ihrem Vater“, sagte Lucie, die neben mir aufgetaucht war. Ich gaffte sie an. Hatte sie nicht gerade eben noch neben Aiden gestanden? „Außerdem beherrschen beide das Element Feuer.“ In ihrer Stimme klang eine merkwürdige Note mit, als wüsste sie etwas Bestimmtes, dass noch mit den Zwillingen und ihren Elementen zusammen gehörte.
Ich beobachtete die zwei Brüder neidisch, die sich schon wieder um den Schlüssel rauften und seufzte. Ich hätte auch gern ein Element beherrscht. Man konnte wohl nicht alles haben.
„Können wir dann jetzt langsam?“, rief Lucie. Sie saß auf dem Beifahrersitz. Als Antwort schubste Aiden Raiden aus dem Wagen, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und zog die Tür zu. Für ein paar Momente starrte Raiden verdutzt auf den Türgriff ehe er mit einem Grummeln hinten einstieg. Ich ging um den Wagen rum und setzte mich neben ihn, darauf bedacht, ihm nicht zu nahe zu kommen – man hatte ja gesehen, was sonst passierte.
Die Fahrt war still. Aiden und Lucie unterhielten sich auf ihre Weise, Raiden redete sowieso nicht und ich hatte ja auch keinen. Also starrte ich beharrlich nach draußen, um ja nicht noch einen Blick auf Raiden werfen zu können.
Schließlich bog Aiden in den holprigen Waldweg ein, der zum Schulcamp führte und ich freute mich schon, mich endlich mit Block und Stift oder einem Buch unter meiner Bettdecke verkriechen zu können.
Und weißt du auch schon, wen du zeichnen wirst?
Ich keuchte, als ich Aidens Stimme in meinen Gedanken hörte, funkelte ihn dann aber an. „Klappe“, zischte ich. Als ob ich diesen … diesen … Ich meine, warum sollte ich ihn zeichnen? Gut, er war hübsch aber …
Aiden lachte. „Danke.“
„Was?“ Ich sah ihn verwirrt an. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter, seine roten Augen blitzten vergnügt.
„Ich sagte, danke. Für das Kompliment, meine ich.“
Ich brauchte einen Moment, um das zu verstehen, ehe mir einfiel, dass Aiden und Raiden ja fast gleich aussahen. Wieder schoss mir das Blut ins Gesicht.
Lucie
Im Camp angekommen, schnellte Raiden in seine Hütte, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Vielleicht muss er sich noch hübsch machen, witzelte Aiden und schloss das Auto ab.
Auch Rin verabschiedete sich, da ihre Mitbewohner wohl ziemlich nervig sein konnten, wenn man sich nicht an die Hausordnung hielt.
Aiden und ich ließen uns Zeit und gingen nochmal durch den Wald spazieren, bevor das Lagerfeuer anfing.
Es ist wirklich matschig hier, beschwerte er sich und stieg über einen Baumstamm.
Im Herbst ist es hier doch immer so…
Wie lief eigentlich dein Date gestern?, fragte Aiden überraschend und wühlte in meinen Erinnerungen.
Daniel ist furchtbar, antwortete ich ehrlich, Er hat mich bezahlen lassen, wollte mich zur Begrüßung küssen und hat mich erst noch dreimal um den Block gefahren, bevor er mich zu Hause abgesetzt hat. Er lachte und legte seinen Arm um mich.
Irgendwann kommt der Richtige. Dein erster Kuss kommt schon noch, kleines Gespenst, er nahm seinen Arm wieder weg und lächelte weiter vor sich hin.
Erinnerst du dich noch an unseren ersten Spaziergang ohne Erwachsene? Wir haben danach unglaublich Ärger von Annie und deiner Mum bekommen, weil wir fünf Stunden im Wald herum geirrt sind. Er blickte mit seinen feurigen Augen in meine Richtung und stieg über einen der umgefallenen Baumstämme. Es war ziemlich häufig, dass er in Erinnerungen schwelgte, vor allem, weil er so seine Eltern durch meine Gedanken sehen konnte. Da er seine eigenen Gedanken nicht lesen und sehen konnte.
Ja, ich weiß noch wie wir vor der Tür standen und es angefangen hatte zu regnen. Mum und Annie hatten uns überall gesucht und waren draußen herumgeirrt, während Raiden zu stur gewesen war um uns die Tür zu öffnen. Nach weiteren zwei Stunden kamen die beiden dann völlig durchnässt wieder. Das gab Ärger… Ich konnte mich an den Tag nur zu gut erinnern, es war knapp einen Monat nach dem Tod von Aiden und Raidens Eltern gewesen. Wir wollten einfach mal den Kopf freikriegen und haben uns das erste Mal gegenseitig unsere Kräfte gezeigt. Danach waren wir noch aufgewühlter als vorher gewesen, aber seit dem Tag wusste ich, dass ich Aiden alles anvertrauen konnte. Wobei ich nicht wirklich eine Wahl hatte. Eine Mauer zwischen uns beiden hatte noch nie funktioniert.
Raiden hat ein paar Wochen danach seine Mauer gebaut und dann standen wir mit unseren Kräften alleine da. Mich wundert immer noch, dass deine Eltern keine Fähigkeiten haben und du so ein Wunderkind bist.
Was heißt hier Wunderkind? Ich bin ein Geist. Ich glaube nicht, dass man Durchsichtigkeit, Durchlässigkeit und Telekinese als Wunderkind bezeichnen könnte. Dazu kommt noch, dass ich mich, Dank meines Aussehens, im Winter tadellos im Schnee verstecken könnte und niemand würde mich bis zum Frühling finden. Außerdem wussten wir nicht, ob mein richtiger Vater ebenfalls keine Kräfte hatte.
Ich lächelte ihn an und ging ein paar Schritte schneller, weil wir den langen Weg gegangen waren und es langsam kalt wurde. Ich konnte das Lagerfeuer kaum noch erwarten.
Ich denke nicht, dass du das überleben würdest, Eiswürfel. Ich hab noch meine Jacke im Auto, willst du zurück?, schlug er vor und zuckte mit den Schultern.
Nein, ich werde es wohl noch zehn Minuten aushalten, lehnte ich ab und ging weiter den matschigen Weg entlang.
Warte. Er stolperte hinter mir her, weil ich inzwischen ein beachtliches Tempo angelegt hatte, ohne es zu merken. Ich hielt an und blickte fragend zu ihm hoch. Wieso musste er nur so groß sein?
Komm her, befahl er und ich trat verwundert einen Schritt näher. Er legte seine Arme um mich und ich begriff. Er beherrschte das Element Feuer und irgendwie war es in ihm, weshalb er wohl auch im kältesten Winter ohne Jacke rausgehen konnte. Mir wurde sofort warm.
Wenn du mal zu anderen Mädchen so nett wärst, wie zu mir, hättest du bestimmt bald eine Freundin, neckte ich ihn.
Ich bin nett zu anderen Mädchen, verteidigte er sich und schob mich weiter.
Ich glaube Rin mag dich nicht, weil du ohne zu Fragen mitgehört hast, dass sie Raiden hübsch findet. Außerdem bist du… ein klein wenig arrogant, ich grinste in seine Schultern.
Ich bin alles andere als arrogant, meinte er und zupfte an einer meiner langen weißen Strähnen.
Wenn du meinst, gab ich zurück und sah ihm mit meinen verschiedenfarbigen Augen entgegen.
Rin
Zu sagen, ich war überrascht, als ich mein Zimmer betrat, drückte es vielleicht ein wenig milde aus. iMijkdsgZuerst dachte ich, ich wäre aus Versehen ins falsche Haus gegangen und hatte mich schnell entschuldigt und war wieder raus gegangen. Doch dort prangte an der Hauswand die große Fünf wie sonst auch. Verwirrt ging ich wieder in mein Zimmer.
Dort saß auf einem Bett mit pinkem Bezug ein Mädchen, das kaugummikauend in einem Magazin blätterte und zu irgendeiner Melodie, die aus ihren Kopfhörern drang, die Füße wippte. Entsetzt sah ich mich um.
Dort, wo vorher meine Fotos und Zeichnungen gehangen hatten war nun alles mit Postern vollgeklebt. Die Regale waren mit Klamotten, Schminke und allem möglichen Krimskrams vollgestopft. Wo zum Teufel waren all meine geliebten Bücher hin?!
„Oh, bist du die, die vorher hier gewohnt hat?“ Die Stimme des Mädchens riss mich aus meinen Gedanken. Ich war kurz vor einer Panikattacke. Hatte man mich hier raus geworfen? Warum? Wieso?
„Was heißt, ich hab vorher hier gewohnt?!“, fragte ich. Das Mädchen sah mich verständnislos an.
„Na, du bist umgezogen“, erklärte sie, als wäre ich irre. „In Hütte Nummer 7.“
„Nummer 7?“, echote ich.
„Das sagte ich doch grade.“
Benommen und verdutzt wandte ich mich um und trottete aus dem Haus. Draußen wandte ich mich nach links, um zu Hütte 7 zu gelangen. Warum war ich umgezogen? Oder besser, umgezogen worden? Hatte ich irgendwas getan? Hatten die anderen in der Hütte mich los werden wollen? Warum sollten sie? Ich hatte doch nichts mit denen am Hut gehabt.
Mir ging ein Licht auf. Das war vermutlich der Grund. Ich seufzte. Na super. Ich wollte gar nicht wissen, mit wem ich mir nun die Hütte teilen musste. Es hatte ja schon das ganze halbe Jahr gedauert, das ich hier war, mich an die alten zu gewöhnen.
In dem neuen Haus begrüßten mich die neugierigen und ein wenig misstrauischen Blicke von drei Mädchen. Ich starrte unbehaglich zurück.
„Rin?“, brach schließlich eine der dreien die Stille und stand auf. „Ich bin Leela“, sagte sie und gab mir die Hand. Verwundert schüttelte ich sie. Sie hatte blaue Haare und nachtdunkle Augen, in etwa so wie ich. „Das sind Kara und Akari.“ Leela deutete auf ein Mädchen mit schwarzen Haaren und indigofarbenen Augen, dann auf das andere Mädchen mit flammendroten Haare und beinahe ebenso roten Augen. Ich nickte nur steif und Leela lächelte ebenso verkniffen wie ich.
„Äh … Cool“, brachte ich hervor. Innerlich schlug ich mir vor die Stirn. Ich und meine sozialen Fähigkeiten. Leela lachte.
„Eigentlich wohnt hier noch jemand, aber die ist wohl wieder mit einem der Zwillingsbrüder unterwegs. – Da ist dein Zimmer. Wir haben es so eingerichtet, wie es in dem anderen Haus gewesen ist. Es tut mir leid, dass wir einfach so alles so umgeräumt haben aber die Mädchen aus deiner alten Hütte wollten das so schnell wie möglich hinter sich bringen und haben die ganze Zeit gedrängt. Sie meinten, du hättest eh nichts dagegen.“
Ich verzog das Gesicht. „Nee, das passt schon. Ich kann ja jetzt eh nichts mehr daran ändern.“ Ich lächelte sie an und bemerkte zu spät, dass das wohl auch als Beleidigung aufgefasst werden konnte. Die Rothaarige – Akari? – wandte sich mit schmalem Blick halb ab. Die andere, Kara, blickte mich nur mit großen Augen an. Sie sah aus wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Ich wollte einfach nur noch unter meine Decke.
„Ich … geh dann mal. Gucken, ob das alles … Also, ich meine, ich seh mir das mal an. Also nicht, dass ich nicht glaube, dass ihr das nicht hinbekommt oder hinbekommen habt. Es ist nur …“, stammelte ich. Akari zischte.
„Ja, nun geh doch.“
Whoa. Ich blinzelte sie an. Das war auch eine Art, sich auszudrücken. „Eh … Ja … Klar.“ Erleichtert huschte ich durch die Tür, auf die Leela gewiesen hatte und atmete erleichtert auf, als ich tatsächlich alles fast so auffand, wie es vorher gewesen war – also in dem anderen Haus.
„Ach, Rin. Wir wollten nachher alle zusammen zum Lagerfeuer gehen. Wenn du willst, kannst du mitkommen“, rief Leela. Ich seufzte. Richtig. Das Lagerfeuer. Das hatte ich vergessen.
„Klar. Kann ich machen. Also, wenn das … geht“, antwortete ich. Ich sah Kara nicken, als ich mich in der Tür kurz umdrehte, bevor ich in meinem Zimmer verschwand und die Tür hinter mir schloss. Ich kam einfach nicht mit Leuten klar.
Zwei Stunden später klopfte es an genau der Tür. Ich sah von der Skizze in meinem Schoß hoch, an der ich gerade arbeitete. Auf dem Blatt sahen mich zwei graphitgraue Augen schmal an. Nase und Mund waren hinter einem schwarzen dünnen Schal verborgen und die Haare standen wie silberner Sturm von seinem Kopf ab. Ich hatte einfach nicht widerstehen können.
„Ja?“, fragte ich. Ein Kopf mit langen blauen Haaren sah durch den Türspalt.
„Wir wollen losgehen – bist du fertig?“
Ich sah Leela an und dann an mir runter. Naja, was man so fertig nannte. Sie hatte sich ein dunkles Top, Röhrenjeans und Ballerinas angezogen. Ich war in abgewetzten Jeans, ausgeleiertem T-Shirt und einem viel zu großen Holzfällerhemd.
Seufzend schob ich meinen Zeichenblock von meinen Beinen und stand auf, um mir meine Sneakers anzuziehen und folgte ihr dann aus der Hütte, wo die Nacht kühl und frisch war. Ich trottete hinter den dreien her, während sie sich schnatternd unterhielten, als ich eine leichte Berührung an meinem Ellbogen spürte. Ich versuchte sie abzuschütteln, doch sie kam immer wieder. Irritiert wandte ich mich um und mir entfloh ein spitzer Schrei.
„Yo“, brummte Raiden. Ich legte meine Hand auf mein rasendes Herz.
„Sag mal, geht’s noch?“, zischte ich. Er hob nur eine Braue und zuckte die Schultern. „Was tust du hier?“
„Naja, ich war grade auf dem Weg zum Lagerfeuer und hab dich gesehen und wollte mit dir reden.“
„Mit mir reden?“ Ich sah ihn über meine Schulter hinweg an. Sein Blick war gelangweilt – doch das war er vermutlich immer.
„Ja, da du ja offensichtlich auch zu spät bist und ich mich entschuldigen wollte.“
„Ich bin zu spät? Aber …“ Ich sah nach vorne, doch Leela, Kara und Akari waren nicht mehr zu sehen. „Na toll. – Moment! Du wolltest dich bei mir entschuldigen?“
Er zuckte abermals die Schultern. „Ich war vielleicht ein wenig unhöflich vorhin.“
„Aha. Und das ist deine Entschuldigung?“, fragte ich trocken.
„Eigentlich war es ja nicht meine Schuld.“
„Wie bitte? Du hast mich dämlich angemacht, obwohl wir uns zum ersten Mal gesehen haben“, rief ich. Wieder ein Schulterzucken. Er hatte wohl die gleiche Kapazität an Mimik und Körpersprache wie ein Faultier.
„Ja, aber du hast mich dämlich angestarrt, obwohl wir uns zum ersten Mal gesehen haben. Das ist auch nicht wirklich höflich. Und so gesehen war das Folgende also nicht meine Schuld, sondern nur eine angemessene Reaktion.“
„Na toll. Du bist ein Arschloch, weißt du das?“ Ich versuchte, einen Schritt zuzulegen, um hin hinter mich zu lassen wie zuvor, doch er brauchte seine Schritte nur um eine Winzigkeit zu verlängern, um mit mir mithalten zu können. Wie ich doch so große Personen verabscheuen konnte.
„Ich geb mir Mühe. Aber du bist gar nicht so ein kleines, unschuldiges Mädchen wie man glauben könnte“, gab er zurück. Ich schnaubte.
„Man sollte ein Buch nicht nach seinem Einband beurteilen.“ Mann, klang das jetzt weise und tiefgründig. Nicht.
Raiden hatte darauf dann wohl auch nichts mehr zu sagen. Er entfernte sich auf ein paar Schritte, ging aber immer noch in meiner Nähe, sodass wir zusammen beim Lagerfeuer ankamen.
Wir kamen tatsächlich zu spät und so brieten bereits ein paar Schüler Marshmallows und anderes über dem Feuer. Raiden steuerte zielsicher auf seinen Zwilling zu, der mit Lucie am Rand der Lichtung stand, ich folgte ihm. Aiden und Lucie sahen uns entgegen.
„Und? Was ist diesmal deine Ausrede?“, fragte Lucie und ich sah Vergnügen in ihren Augen. Von Raiden kam – schon wieder! – ein Schulterzucken.
„Vermutlich hat er sich wieder auf der Straße des Lebens verirrt“, warf Aiden ein, schien jedoch mehr zu seinem Bruder als Lucie zu sprechen. „Oder er musste einer alten Frau über die Straße helfen.“
„Auf dem Weg hat mir eine Schafherde den Weg versperrt und ich bin beim Zählen eingeschlafen“, erklärte Raiden unbeeindruckt. Ich musste lachen. Das war eine der kreativsten und bescheuertsten Ausreden, die ich jemals gehört hatte.
„Rin! Ich hab gehört, du wohnst jetzt in der gleichen Hütte wie ich?“, sagte Lucie, als sie mich bemerkte. Ich sah sie erstaunt an.
„Achso.“ Eloquent wie immer.
Lucie
„Setzt euch! Wir wollen anfangen!“, rief Akari. Sie war unsere Camp-Schülersprecherin. Als sie gewählt wurde, kannte sie noch keiner, daher bereuten die meisten es bereits für sie gestimmt zu haben. Sie sah eigentlich sehr nett aus und in bestimmten Situationen konnte sie das bestimmt auch sein- davon war ich überzeugt- nur anscheinend hatten diese Situationen nichts mit dem Camp, noch mit den Schülern darin zu tun.
Freundlich wie immer, zischte Aiden und setzte sich zwischen Leela und mich. Er wollte vorher noch schnell in seine Hütte und war etwas später als ich beim Lagerfeuer angekommen. Rin saß rechts von mir und Raiden neben ihr. Mit seinen dunklen grauen Augen blickte er immer wieder zu Rin hinüber.
Das könnte noch was werden mit den beiden. Aiden blickte in Richtung Feuer. Die Flammen brachten seine Augen noch viel deutlicher zur Geltung. Sie loderten jetzt ebenfalls, während die Schatten auf seinem markanten Gesicht mit dem Feuer zu tanzen schienen. In diesem Licht war er unglaublich…
„Unterhaltungen einstellen!“, befahl unsere Schülersprecherin und stand auf. „Wie ihr alle wisst, wird jeder Lagerfeuer-Sonntag über ein bestimmtes Thema gehalten. Das heutige Thema lautet Musik und Gesang. Ich würde euch bitten“, sogar das klang wie ein Befehl, „euch in Gruppen von etwa vier bis sechs Personen aufzuteilen und euch zwei Instrumente rauszusuchen, mit denen ihr euer selbst gedichtetes Lied heute Abend noch vortragen wollt. Wie immer ist die Teilnahme freiwillig, es wäre jedoch schade, wenn nicht alle, die heute Abend anwesend sind, etwas vortragen.“
Etwa fünfzehn Minuten später hatten es doch alle geschafft, sich in ihre Gruppen zu setzen und wir konnten anfangen. Akari sagte jeder Gruppe ein Thema und ging dann selbst in eine Gruppe mit Leela, Kara und einem Jungen, den ich nicht kannte.
„Kälte“, sagte Raiden und gab das kleine Papier mit unserer Aufgabe an Rin weiter, die es ausdruckslos weiter gab. Aiden nahm ihn in die Hand und las ihn durch. Er bewegte beim Lesen immer die Lippen ein wenig mit. Ich wunderte mich aber mehr, dass er den Zettel ohne seine Brille lesen konnte. Soweit ich wusste, hatte er seine Kontaktlinsen heute nicht eingelegt.
Witzig. Die Feuer-Zwillinge sollen über Kälte und den Tod schreiben, meinte Aiden und funkelte zu Akari rüber. Sie war allerdings grade mit Kara und Leela beschäftigt.
So schwer kann das doch nicht sein.
„Dann wollen wir mal“, sagte ich laut. Es dauerte schon etwa zehn Minuten, damit wir uns auf ein erstes Wort einigen konnten, doch das wurde nach weiteren zwei Minuten wieder gestrichen.
„Ich kenne da so ein altes Lied… Das kann man vielleicht etwas umdichten?“ Angestrengt überlegte ich und grinste dann Aiden an, der nur wehmütig den Kopf schüttelte.
Wehe du formst das Lied wieder um!, drohte er mit einem feurigen, finsteren Blick. Er hasste es, wenn ich es machte, doch ich konnte nicht anders. Es war einfach schon in meinem Kopf.
Aiden just got colder and I’ll have you know I’m scared he dies and everything that he has said to me, was just a lie, until he left…, summte ich in Gedanken- Mayday Parade war eine geniale Band.
“Lucie!”, blaffte Aiden, womit er die Aufmerksamkeit von Rin und Raiden erlangte, die ihn nun verwirrt anstarrten.
„Ehekrise?“, fragte Raiden. Aiden funkelte seinen Bruder an und beugte sich wieder über sein Blatt Papier.
„Kümmer dich um deinen eigenen Kram“, brummte er.
Ist das dein Ernst?, fragte ich. Du hättest auch einfach aufhören können mitzuhören.
Kann ich nicht.
Kannst du doch, beharrte ich und schrieb ein paar Zeilen auf.
„Ich glaube… ich hab was“, sagte Rin und gab ihr Blatt an Raiden weiter. Er las es kurz durch, sah sie an und gab es an Aiden weiter. Mein bester Freund kümmerte sich allerdings wenig darum und gab es einfach an mich weiter. Man konnte auch übertreiben.
Nachdem wir fertig waren mit dem kleinen Lied, das Rin fast alleine getextet hatte, holte sich Aiden – immer noch eingeschnappt – eine Gitarre und Raiden eine Rassel, die als einziges Instrument noch übrig gewesen war.
„Du kannst rasseln?“, fragte ich gespielt verwundert. Er blickte nur böse, was mich zum Lachen brachte.
„Wir brauchen eine Melodie, die anderen sind schon fast fertig.“ Aiden zupfte ein paar Saiten, woraus so nach und nach eine traurige Melodie entstand. Als er fertig war, mussten wir nur noch Raiden einen angemessenen Takt zeigen, weil er sich sträubte, die Rassel die ganze Zeit über zu spielen.
„Das ist deprimierend. Ich will das nicht“, murrte er.
„Wir brauchen aber vier Leute“, erklärte Rin, worauf er sichtlich gereizt nachgab und die Rassel im Takt hin und her bewegte.
Hört sich nicht schlecht an, dachte ich. Aiden rollte mit den Augen. Was war nun sein Problem? An dem Lied konnte es wohl nicht mehr liegen. Aber er war davor auch schon in mieser Stimmung gewesen, nicht wahr?
„Rin, kannst du singen?“, fragte ich geradeheraus, da wir keine Zeit mehr zum ausprobieren hatten. Sie zuckte mit den Schultern. War nun aber auch egal, da Akari, freundlich wie immer, nach vorne trat und eine Gruppe nach der anderen vorstellte.
„Wir singen einfach zusammen, dann hört man unsere schiefen Töne nicht“, grinste ich sie an und sie wurde rot im Gesicht. Hatte ich vergessen… Sie war schüchtern.
Schüchtern? Sie ist scheu wir ein Rehkitz.
Klappe. Das wird schon. Was ist plötzlich los mit dir?, fauchte ich in Gedanken und funkelte Aiden an. Sollte er sich doch jemand anderen suchen, an dem er seine schlechte Laune auslassen konnte.
„Die Gruppe mit Raiden, Aiden, Rin und Lucie bitte“, befahl sie und wir drehten uns in den Kreis, sodass alle ums Feuer herum uns etwa gleichgut sehen konnten. Aiden begann die Saiten anzuschlagen und Raiden begann die Rassel so wenig wie möglich zu bewegen. Es hörte sich ein wenig unheimlich an, aber es passte zu den Zeilen von Rin.
„Cold winter air surrounded her neck“, begann ich mit der Melodie zu singen, die allerdings
an manchen Stellen noch hackte. Dann stieg Rin auch ein, zu meinem Glück.
„Blowed and puffed her hair apart.
Snow was falling on her chest,
Expanded into her frozen heart
Laying there with beautiful dead eyes,
The night came by and kissed her goodnight.”
Wir zogen das Ende etwa gleich in die Länge und kassierten unseren kleinen Applaus. Raiden hatte schon bei der Hälfte aufgehört zu rasseln, aber das war niemandem sonderlich aufgefallen.
Das war nicht mal so unglaublich schlecht, dachte ich und lächelte ein wenig.
Können wir gleich mal reden?, fragte Aiden. Ich nickte nur, während ich einer der anderen Gruppen zuhörte.
„Damit wären wir für heute fertig. Ich hoffe, ihr kommt nächsten Sonntag auch, es ist wie immer euch überlassen. Nehmt euren Müll mit und die letzten machen das Feuer aus. Gute Nacht noch. – Wie immer morgen um neun pünktlich zum Frühstück.“ Damit war ihr abendliches Terrorregime wohl beendet und wir machten uns aus dem Staub. Feuer auszumachen dauert eindeutig zu lange und war immer mit Mülldienst und sauber machen verbunden.
Rin und Raiden gingen weit hinter uns und obwohl Rin nicht sonderlich begeistert schien, mit ihm zu reden, zog es sie förmlich hinter ihm her. Wahrscheinlich würden sie einzeln heute Abend nicht mehr in den Hütten ankommen, so langsam wie sie ohne den anderen gingen.
Gehen wir noch einmal um den Wald?, fragte Aiden und zog mich am Arm in Richtung Wanderweg.
„Was soll das werden?!“
Ich zuckte zusammen. „Hast du mich erschrocken Akari“, hauchte ich atemlos und starrte sie an. Ich hatte sie gar nicht hinter uns gehört. Sie war ein verfluchter Ninja, wenn es um Campregeln ging.
„Wir wollten nochmal spazieren gehen“, erklärte Aiden, doch nachdem er mich am Arm ziehen wollte, wurde er gemahnt.
„Das geht nicht. Ihr müsst nach dem Lagerfeuer in die Hütten“, vermittelte sie uns diesmal weniger streng, als eine ihrer Augenbrauen zu zucken begann. Sie war wohl müde oder sie explodierte gleich… Ich wusste nicht ob ich erleichtert sein oder Angst haben sollte.
Lass uns morgen reden, ich will keinen Ärger mit ihr. Ich sah Aiden entschuldigend an. Er versuchte noch zu widersprechen, doch er fand wohl keine passenden Argumente und nickte.
„Gut, ich bin müde, Lucie. Lass uns gehen“, gähnte sie ein wenig gereizt und ging vor. Ein Glück, ich würde den morgigen Tag also doch noch erleben.
Kaum in unserer Hütte angekommen, wollte ich Rins Zimmer begutachten, doch sie war noch nicht zurück, oder in ihrem Badezimmer – jeder Schüler hatte sein eigenes aufgrund strenger Hygienevorschriften. Also warf ich mich in meinen Schlafanzug und schlüpfte unter meine Bettdecke.
Schläfst du schon?, fragte Aiden, der sich wohl auch gerade in sein Bett gelegt hatte.
Nein. Was wolltest du grade? Selbst wenn ich in seinen Gedanken nach der Antwort fischen konnte, wollte ich es nicht. Er war zwar fast durchgehend in meinem Kopf, doch es war unbeschreiblich verwirrend – und ich wunderte mich wie er es aushielt – zwei Gedankenverläufen gleichzeitig zu folgen. Ein Glück dass er Auszeiten hatte.
Hat sich erledigt. Hast du meine CD noch?
Ja, die liegt noch hier. Ich sah kurz auf meinen unsortierten Schreibtisch, auf meinen vor lauter DVDs und Büchern verborgenen Boden und schmunzelte. Ich glaubte zumindest, dass sie noch irgendwo hier lag. Soll ich sie dir vorbeibringen?
Hat Zeit bis morgen. Schlaf jetzt, kleines Gespenst. Sorry wegen gerade.
Sicher?
Gute Nacht, Lucie.
Nacht, Aiden.
Rin
Ächzend stemmte ich mich auf meinen Ellbogen hoch und schaute auf mein Handy auf meinem Nachttisch. Es war zwei Uhr morgens! Müde sah ich mich im Zimmer um, um heraus zu finden, was mich geweckt hatte. Doch alles lag dunkel und still da. Grummelnd wollte ich mich wieder unter meiner Decke vergraben, als ich etwas dumpf pochen hörte. Gereizt schlug ich die Bettdecke wieder zurück und starrte ins Zimmer.
„Psst“, zischte es. Ich sah zum Fenster und ließ einen spitzen Schrei los, als ich eine dunkle Figur vor der Scheibe sah, die ihre Hand hob und mit den Knöcheln anklopfte.
„Was zum?!“, rief ich und schlug mir gleich die Hand vor den Mund. Ich wollte auf keinen Fall Akari aufwecken. Ihr Vortrag, als ich zu spät in die Hütte gekommen war, hatte mir gereicht. Dabei war das doch alles Raidens Schuld … mehr oder weniger.
„Kannst du das Fenster aufmachen?“, drang es gedämpft durch die Scheibe. Ich wollte schreien. Doch stattdessen schaltete ich meine Nachttischlampe an und tapste barfuß hinüber.
„Was tust du hier?!“, fauchte ich, als ich das Fenster aufschob. Raiden sah mich verwundert an.
„Ich konnte nicht schlafen“, erklärte er und es schien, als wäre das für ihn Grund genug, mitten in der Nacht hier aufzutauchen. Ich spürte mein Gesicht rot werden, als er sich auf dem Fenstersims abstützte, sich durchs Fenster schob und geschickt und lautlos auf den Füßen landete, und mir einfiel, dass ich in nichts weiter als einem verrutschen alten T-Shirt und Shorts vor ihm stand. Doch das schien der nicht zu bemerken, während er sich neugierig in meinem Zimmer umsah.
„Was zum Teufel willst du von mir?!“, fragte ich. Er wandte sich um und mir fiel erst jetzt auf, dass sein Schal fehlte. Er sah aus wie sein Zwilling und gleichzeitig auch nicht. Sein Kiefer war scharf geschnitten, seine Nase gerade, schmal und spitz. Und er war in nichts weiter als grauen Jogginghosen, einem schwarzen T-Shirt und barfuß. „Und dich vorher normal anzuziehen war wohl auch zu viel verlangt.“
Er hob nur eine Braue und zuckte die Schultern. Damit wandte er sich dann um, um meine Wand zu inspizieren, die voll war mit meinen Zeichnungen. Fast augenblicklich wurde mir heiß vor Entsetzen. Mit einem Quietschen rannte ich auf ihn zu, doch es war zu spät. Interessiert beugte er sich vor, um die Zeichnung von sich selbst näher zu mustern und ich wollte sterben, als er sich wieder zu mir umwandte.
„Du bist gut“, sagte er nur, ehe er sich meinem Bücherregal zuwandte. Ich starrte ungläubig seinen Rücken an.
„Gut?“, echote ich.
„Na, auf jeden Fall besser als meine Tante.“ Ich sah ein halbes Lächeln an seinen Mundwinkeln zupfen, doch seine Augen erreichte es nicht.
„Äh … danke“, sagte ich. Er hatte grade eine Zeichnung von sich bei mir gesehen und interpretierte rein gar nichts darein?
„Hier bist du!“
Schreiend fuhr ich herum. Am Fenster standen zwei Jungs, die sich durch das Fenster lehnten und grinsten. Was zum Teufel sollte das hier werden?! Wollten sonst noch irgendwelche Jungs hier auftauchen? Ich wollte schlafen!
„Keine Sorge, kleiner Dämon. Wir wollten nur Raiden schnell abholen und dann kannst du schlafen“, lachte einer der beiden. Oh, dann hatte ich das wohl laut gedacht. Ich musterte ihn kurz. Er hatte unordentliches türkis-blaues Haar, das ihm in ein schmales Gesicht mit ebenso blauen Augen fiel. Der Kerl neben ihm hatte kurzes Haar in einem merkwürdigen Grün und dunkle Augen. Ich hatte noch nie jemanden mit grünen Haaren gesehen.
„Wir sollten uns vielleicht vorstellen, wenn wir schon mitten in der Nacht am Zimmer von einem Mädchen stehen, Ephraim“, schlug der Grünhaarige jetzt vor. Ich hob eine Braue
„Ach was, Kyle. Sie wird schon dankbar genug sein, wenn wir ihr Raiden abnehmen“, war die Antwort. Ich wusste nicht ob ich lachen oder ihn wütend anstarren sollte.
„Wie habt ihr mich gefunden?“, schaltete sich jetzt Raiden ein. Er hatte die Hände in den Taschen seiner Jogginghose vergraben und beobachtete die zwei gelangweilt.
„Survival Training 101, mein Lieber. Du hast viel zu viele Spuren hinterlassen“, sagte der Blauhaarige und Kyle nickte zustimmend. Raiden schnaubte. „Und jetzt komm mit, du schuldest uns Geld. Wer beim Poker verliert, muss bezahlen.“
„Aha“, entfloh es mir. Deshalb konnte er wohl nicht schlafen. Ich grinste ihn an, doch er sah nur beleidigt zum Fenster hin.
„Ach, der kleine Dämon kann reden!“ Ephraim grinste mich lässig an. Ich streckte ihm die Zunge raus, wandte mich dann aber schnell mit rotem Gesicht ab. Ich hörte ihn lachen und sah auch Kyle aus dem Augenwinkel schmunzeln. Na toll. Das musste jetzt auch wirklich sein.
Neben mir seufzte Raiden nun und sah zu mir hin. „Dann geh ich wohl wieder.“ Und mit einem Schulterzucken, das wohl in diesem Fall irgendwie eine Art Abschiedsgruß sein sollte, verschwand er durchs Fenster.
Ich rief ihm ein sarkastisches „Oh wie schade“ hinterher, doch er war schon weg. Stattdessen nickte mir Kyle zu und Ephraim verabschiedete sich mit einem Grinsen und tippte zwei seiner Finger in einem nachlässigen Soldatengruß an die Schläfe. Dann waren sie alle verschwunden und ich blieb allein in meinem Zimmer stehen.
Was zum Teufel war das gewesen?!, fragte ich mich. Und wieso war ich nicht auf die Idee gekommen, Raiden einfach das Fenster vor der Nase wieder zu zuschlagen?
Seufzend massierte ich mir meine Stirn und schlich dann in mein Bett zurück. Ich ließ mich hineinfallen und bemerkte erst dann, dass das Fenster nach wie vor offen stand. Zu faul, wieder hinüber zu laufen, ließ ich es offen stehen. Sollten mich die Mücken doch auffressen.
Lucie
Morgens am Frühstückstisch saßen Raiden und Rin neben mir.
„Aiden hatte keinen Hunger“, sagte Raiden.
„Ich hab doch gar nicht gefragt?“
„Guck mal in den Spiegel. Man sieht förmlich die Fragezeichen in deinem Gesicht. Er hat dir wohl nicht Bescheid gesagt?“ Obwohl Raiden so gelassen wie nur möglich war, nervte es mich.
„So gesprächig heute?“, gab ich dann von mir und schob meine Eier auf dem Teller hin und her.
„Hast du noch geschlafen?“, murmelte Raiden, der wohl heute wirklich auf Konversation setzte, zu Rin.
Was heißt bitte noch?
„Mhm“, machte Rin und beugte sich mit geröteten Wangen über ihren Teller. Raidens Mundwinkel zuckte. Sollte das ein Grinsen sein?
„Was war denn noch gestern Abend? Ich hab dich gesucht, du warst nicht in deinem Zimmer“, lächelte ich Rin an. Sie sah mich mit ihren dunklen Augen an.
„Ich hab mich verspätet. Akari hat mir eine Standpauke gehalten und dann bin ich schlafen gegangen“, sagte sie wieder auf ihren Teller schauend.
„Und dann hat sich Raiden bei ihr versteckt“, sagte der grünhaarige Mitbewohner von Aiden und Raiden.
Kyle? So hieß er doch…
„Wir setzten uns hierher. Akari macht uns Angst“, sagte ein weiterer Mitbewohner mit blauen Haaren. Ich konnte nicht anders und sah rüber zu Akaris Tisch, wo sie gerade den gutaussehenden Jungen, der gestern bei ihr am Feuer gesessen hatte, anschrie und sagte, er solle sich benehmen. Ein kleines Lachen konnte ich nicht unterdrücken.
Der Arme, dachte ich, obwohl Aiden heute noch nicht einmal geantwortet hatte.
Warte. Raiden hat sich bei ihr versteckt?!
„Wie? Versteckt?“, fragte ich und sah verdutzt in die Runde. Ich bekam zwei beschämte und zwei grinsende Gesichter als Antwort.
„Raiden hat beim Poker verloren und wollte nicht bezahlen. Wir haben ihn bei dem kleinen Dämon gefunden“, sagte Ephraim, so musste der blauhaarige heißen. Sonst suchte ich bei Aiden nach einer Antwort auf Namen und Gesichter. Ich war einfach ziemlich schlecht im Merken von solchen Dingen.
„Ich war nur kurz bei ihr“, verteidigte Raiden sich. Rin blickte immer noch stur auf ihren Kartoffelsalat. Ich grinste ihn nur an und aß weiter.
Später in den Klassen konnte ich Aiden nicht begegnen, da beim Unterricht Geschlechtertrennung herrschte. So könne man sich besser konzentrieren, meinten unserer Lehrer. Vor allen Frau Weingarten schrieb das Thema groß. Sie war im Lehrer-Schüler-Vorstand und eine der strengsten und widerwertigsten Lehrerinnen an unserer „Schule“.
Wir hatten zwei Stunden Unterricht. Morgens ab zehn und abends ab sechszehn Uhr. Dazwischen und danach hatten wir freie Auswahl an Aktivitäten. Meistens gab es Sport Angebote, sowohl für Monster, als auch für Freaks.
Ich sah Aiden beim Laufteam wieder, in dem auch Raiden war, während ich eigentlich Kanufahren sollte. In der Nähe unseres Camps war ein toller Fluss, der in viele Aktivitäten mit einfloss.
Er hatte eine kurze Jogginghose und ein ausgewaschenes T-Shirt von Raiden an, unter dem sich leicht sein Oberkörper abzeichnete.
Wo warst du heute Morgen?, fragte ich, als er sich für mich eine kurze Pause nahm.
Ich hatte keinen Hunger. Seine silbernen Haare fielen ihm in die Stirn und krausten sich im Nacken zu kleinen Locken. Aus seiner Haltung sprach Erschöpfung. Er sah mich mit einem lodernden Blick an, der sich wie automatisch wieder senkte. Seine Finger waren gekreuzt. Er log. Mein Herz beschleunigte. Wieso log er mich an?
Du hast immer Hunger, warf ich ein.
Stimmt. Er schnaubte. Sein Puls hob sich, als er auf dem Baumstamm näher rutschte und auf seine Schuhe starrte.
Also? Wo warst du?, hackte ich nach. Irgendwas stimmte nicht, ich war mir sicher.
Wieso lässt du mich nicht einfach lügen? Er grinste, aber seine Mundwinkel zuckten. Was war nur los?
Ich war noch in der Hütte. Ich musste nachdenken.
Über was?, fragte ich mich augenblicklich. Ich wollte nicht fragen. Es landete einfach in meinen Kopf. Seine Atmung wurde schneller und ich konnte hören wie er sich befahl ruhig zu bleiben.
Über dich, ein dunkles nervöses Lachen entfloh ihm, doch er stockte und sah mich an. Seine roten Augen hielten meinem Blick stand. Das wurde jetzt keine Liebeserklärung oder? Panisch pochte mein Herz in meiner Brust. Wieso? Ich?
Nicht auf diese Weise, Scherzkeks. Ich muss an dich denken! Seit Tagen schon. Ich kann nicht anders, es gibt keine Auszeiten mehr für mich. Auszeiten? Wann hatte er das Wort als letztes benutzt? Ich dachte vergeblich nach, ob es wohl eine andere Bedeutung für uns gab. Aber nein. Es bedeutete, dass er meine Gedanken hörte. Ununterbrochen. Wir hatten dies nur einmal bisher erlebt und das war nachdem seine Eltern gestorben waren. Er war die Wochen danach immer aufgewühlt gewesen, er war immerhin noch klein gewesen und hatte sich nicht kontrollieren können.
Was meinst du damit? Es gibt keine mehr?, fragte ich schließlich.
Ich finde einfach keinen Weg mehr raus. Ich hab den roten Faden verloren. Ich bin in dir verloren. Was willst du hören? Du weißt was ich meine. Verzweifelt sah er mich an.
Nein. Das…
Das kann nicht wahr sein? Ist es aber. Und es macht mich fertig. Ich brauche eine Auszeit. Jeder braucht seine Auszeiten… Du weißt wie hart das ist zwei Gedankengängen zu folgen. Das schlimmste ist, dass ich bald nicht mehr weiß, was ich denke und was du denkst. Es ist so schwer das zu trennen. Ich blickte eine Zeit lang sprachlos zu ihm rüber. Seine Hände verkrampften sich und lockerten sich wieder. Eine Entspannungsübung. Es ist wie zwei Menschen auf einmal zu sein. Und ein Mensch alleine ist schon schwer genug, bei uns Freaks und Monstern.
Aiden… Als das das letzte Mal passiert ist warst du unkontrolliert, jung und hattest grade deine Eltern verloren. Wieso gerade jetzt?
Ich weiß es selber nicht und ich kann nichts dagegen tun, du weißt, dass es nicht funktioniert zwischen uns eine Blockade zu errichten.
Aber es muss doch eine Lösung geben… Ich meine was ist mit dir los, dass du dich nicht kontrollieren kannst? Ich dachte angestrengt nach, doch in letzter Zeit gab es keine schwerwiegenden Veränderungen in seinem Leben. Ich meine, ich hätte davon mitbekommen- oder?
Lucie, ich glaube ich weiß woran es liegt. Er sah mich durch seine lodernden Augen an und sein Mundwinkel zuckte verbittert.
Woran?, fragte ich vorsichtig, als ich die ersten Blicke seiner Mannschaft bemerkte.
Das… kann ich dir nicht erzählen. Es wäre aber besser, wenn du demnächst nur mit mir kommunizierst… Weißt du? Versuche nicht in meine Gedanken zu kommen, sonst wird das Ganze noch komplizierter für mich…
Okay… Ich kann es versuchen.
Danke.
Er ließ ein lautes Knurren ab, als er aufstand und seinen Kopf schüttelte. Wahrscheinlich musste er Druck ablassen. Er sah sich kurz um, da seine Teamkameraden uns anstarrten.
Wir reden später weiter. Ich bin am Ende mit den Nerven.
Sicher?
Er nahm- wohl in dem Versuch mich zu beruhigen- eine meiner weißen Strähnen zwischen seine Finger.
Ich bin erschöpft... Er zog mich an sich, ließ aber sofort wieder ab. Ein bittersüßes Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen und müde drehte er sich um.
Ich sollte eine Runde laufen, entschuldigte er sich und ging, ohne einen weiteres Wort zu verlieren in schnellen Schritten auf ein paar Läufer zu.
Ich ging vom Platz in Richtung meiner Hütte. Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. So hatte ich Aiden noch nie gesehen. Er wirkte so kaputt… Wie sollte ich ihm nur helfen?
Rin
Ich stopfte meinen Block und meine Zeichenuntensilien in meine Umhängetasche, während ich die Hütte verließ, in der ich meine Kunst-AG hatte. Aus irgendeinem Grund hatten wir momentan das Thema Elemente und aus irgendeinem Grund waren all meine Skizzen übersät mit Flammen und Feuerbällen gewesen, ehe ich mich entschieden hatte, eine Szene tief unter Wasser in einem eisigen Meer zu zeichnen.
Ich seufzte, als ich in die feuchte Herbstluft trat. Wind ließ die bunten Blätter rascheln und trug von irgendwoher den Geruch von Popcorn heran. Ich hörte meinen Magen knurren und entschied mich, mir in der Hütte ein Sandwich zu machen und mich damit und einem neuen Buch auf die Couch zu setzen.
Doch irgendwie dachte ich mir schon, dass daraus nicht werden würde, als ich Lucie auf dem Geländer der Veranda unserer Hütte sitzen sah. Sie starrte auf ihre Füße, welche sie leicht wippend vor und zurück schwang.
„Hallo?“, fragte ich, als sie mich ansah. Sie sprang runter und strich sich ihre langen schneeweißen Haare zurück. Ihre verschiedenen Augen musterten mich eingehend und amüsiert.
„Na“, antwortete sie nun mit breitem Lächeln. Langsam bekam ich Angst. „Du hast heute doch bestimmt nichts mehr vor, oder?“
Ich warf einen Blick auf die Hüttentür, hinter der das Sofa und das Buch auf mich warteten, sah dann wieder zu ihr. „Äh … wieso?“
Ich hätte nicht fragen sollen. „Wir wollen eislaufen gehen.“
„Wir sind … Du, Aiden und … Raiden?“, fragte ich. Sie antwortete mit einem Nicken.
„So in etwa. Raiden will eigentlich nicht, aber er kommt bestimmt trotzdem mit – vor allem wenn du dabei bist!“
Ich hob eine Braue. „Warum sollte er dann mitkommen wollen?“
Sie sah mich erstaunt an. „Na, weil er dich mag.“
Ich spürte meine Wagen rot werden. „M-mag mich? Wie … wie kommst du darauf?“, stotterte ich und sah sie mit großen Augen an. Sie lachte.
„Sonst würde er dir wohl kaum hinterher schnüffeln. Und du bist die einzige, mit der er – seit Langem – wirklich spricht“, erklärte sie.
„Ach, äh … aber …“ Ich räusperte mich. „Aber wir kennen uns doch gar nicht?“
Ihr Lächeln zeigte ein Grübchen in einer Wange, ehe sie sich wortlos umdrehte und einen Rucksack aufhob, den sie wohl an einen Pfosten gelehnte hatte. „Auf jeden Fall kommst du mit, alleine will ich nicht gehen“, bestimmte sie. Ich seufzte.
„Kann ich vorher …“ Ich hob meine Tasche an. Sie wedelte mit der Hand.
„Beeil dich.“
„Ja, Ma’am!“, rief ich und rannte in mein Zimmer, wo ich meine Tasche auf mein Bett schmiss und aus meinem Schrank einen Rucksack mit meinen Schlittschuhen raus kramte. Ich hatte die Dinger zwei Jahre nicht mehr benutzt und ich bezweifelte, dass ich sie noch richtig benutzen konnte.
Als ich wieder rauskam, stand Aiden überraschender Weise nicht direkt bei Lucie. Von Raiden war unüberraschender Weise noch keine Spur.
„Na, kleiner Dämon?“, hauchte jemand in meinen Nacken.
Erschrocken fuhr ich herum und starrte in die blauen Augen von Ephraim. „Willst du dich immer so an mich ran schleichen?“, fuhr ich ihn an, als er mal wieder in Gelächter ausbrach.
„Wenn du dich immer so erschreckst, dann ja.“ Er nickte zu Aiden hin. „Wohin geht ihr?“
„Eislaufen“, antwortete Lucie. Aiden schien noch immer von irgendetwas angesäuert zu sein. „Wir warten noch auf Raiden.“
Kyle, der hinter Ephraim stand, schnaubte. „Das letzte Mal als wir ihn gesehen haben, lag er mit seiner zweiten Tüte Chips auf dem Sofa und hatte sich noch nicht geduscht.“
Lucie und ich rümpften synchron die Nase. „Na toll – das kann noch Jahre dauern“, murmelte ich.
„Ach was? Hast du dich etwas schon gefreut, ihn wieder zu sehen?“, witzelte der Blauhaarige. Ich warf ihm einen genervten Blick zu und sah, wie er noch zu etwas Weiterem ansetzten wollte, doch Lucie ging ihm dazwischen.
„Was tut ihr hier? Wollt ihr mitkommen?“
„Was? Wir? Schlittschuhlaufen? Oh nein. Wir wollten meinem lieben kleine Schwesterchen einen Besuch abstatten“, erklärte Ephraim. Und kaum hatte er das ausgesprochen, sahen wir Raiden und Leela hinter der nächsten Hütte hervorkommen.
„Oh“, machten Lucie und ich, während die zwei näher kamen. Ich sah Leela zu ihm hinauf lächeln.
„Danke fürs Begleiten“, sagte sie, ehe sie sich an uns wandte und Lucie und mich mit einem weniger strahlenden Lächeln begrüßte. Ephraim neben mir hob eine Braue und warf einen kurzen Blick zu Raiden, der keine Miene verzog – zumindest glaubte ich das, der Schal erlaubte mir relativ wenig zu sehen. Selbst Aiden hob beide Brauen. Irgendwo in meinen Lungen schien sich etwas zusammen zu ziehen.
Diesmal fragte niemand nach Raidens Ausreden. Stattdessen sprach Leela.
„Was macht ihr alle hier?“, fragte sie. „Vor allem du, Brüderchen?“ Sie wandte sich an Ephraim. Ich schlug mir mental vor die Stirn. Dass ich nicht vorher darauf gekommen bin, dass die zwei verwandt waren.
„Was? Darf man heutzutage nicht mal ein wenig Zeit mit seiner kleinen Schwester verbringen?“ Er legte in gespielter Kränkung eine Hand über sein Herz. Leela verdrehte die Augen und schob ihn dann zur Hütte. Nicht ohne noch ein Lächeln zu Raiden zu werfen. Ich verengte die Augen.
„Dann lasst uns gehen und das hier hinter uns bringen!“, sagte der ältere Zwilling kurz darauf und ich zuckte zusammen. Er sah mich an und ruckte seinen Kopf in die Richtung des behelfsmäßigen Parkplatzes, wo das Auto der Brüder stand. Ich nickte und Aiden und Lucie wandten sich auch um. Wie immer gingen die beiden vorne weg und Raiden und ich hinterher.
„Du hattest du heute die Kunst-AG?“, fragte er schließlich. Mein Herz sprang mir beinahe in den Hals.
„Ja – warum? Oder … woher weißt du das?!“ Ich sah erschrocken zu ihm hoch – stalkte der mich etwa? Es war doch schon nicht normal, dass er um zwei Uhr nachts an meinem Fenster stand. Mir fielen die Worte von Lucie ein Sonst würde er dir wohl kaum hinterher schnüffeln.
Raiden hob eine Braue. „Du riechst nach Papier, Kohle und Öl“, erklärte er. Ich formte ein stummes „Oh“ mit dem Mund. Richtig – extremes Riechvermögen und so.
„Aber ich hab doch gar nicht mit Öl gemalt“, erwiderte ich. Er zucke die Schultern.
„Aber vielleicht andere um dich herum.“ Kurz sah er geradeaus, ehe er den Kopf wieder zu mir drehte und ich glaubte, ein Grinsen in seinen Augen zu sehen. „Und? Was hast du gezeichnet?“
Das Blut stieg mir wieder in die Wangen. „Wasser.“
Er schien enttäuscht. „Oh … Sehr kreativ.“
„Und was hast du so gemacht…?“ Mit Leela wollte ich hinterher setzen, aber das blieb mir im Hals stecken.
„Du meinst, weil ich zu spät gekommen bin? – Weißt du, es war so, dass…“, fragte er. Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, das … Ach, vergiss es.“ Ich ließ den ein wenig verwundert dreinblickenden Raiden zurück und gesellte mich stattdessen zu Lucie, die hinter Aiden zurück gefallen war.
Lucie
„Mist!“, rief ich, als ich versehentlich gegen Raiden gefahren war. Zu meinem Erstaunen war er allerdings, derjenige der noch stand. Ich blickte hoch in seine Augen, welche im Kontrast zu seiner roten Daunenjacke, dunkelgrau auf mich runter blickten.
Ich versuchte mit den Kufen an meinen Füßen halbwegs in eine senkrechte Position zu kommen. Natürlich half er mir nicht hoch, das würde auch wirklich anstrengend sein, mich Bohnenstange hochzuziehen. Es dauerte immer eine Weile, bis ich wieder auf den Schlittschuhen fahren konnte.
„Hmpf“, machte Raiden und drehte sich wieder so, dass er sich mit den Ellenbogen auf die Bande lehnen konnte.
„Verdammt!“, schrie Rin von der anderen Seite der Halle. Sie war schon voller Eis. Wie oft sie wohl schon hingefallen war?
Er sah mich nochmal kurz an und fuhr dann sicher auf den Schlittschuhen in Richtung Rin. Ich setzte gerade an und wollte ebenfalls weiter, als Aiden sich in meinem Kopf bemerkbar machte.
Warte mal, Aiden fuhr grade in meine Richtung und eierte auf den Kufen wie ein kleines Kind. Er konnte noch nie wirklich Schlittschuhfahren.
Hilfst du mir?, er grinste mich an und hielt sich grade noch an der Bande fest, bevor er ausrutschte. Ich nickte, obwohl ich selber noch nicht sicher fuhr. Er nahm meinen Arm und zog sich daran wieder in Laufstellung.
Kann ich mir ansehen was los ist?, fragte ich vorsichtig. Ich wollte eigentlich nicht in mein Unterbewusstsein oder in seins eindringen, doch ich wollte irgendwie mit ihm nach einer Lösung suchen.
Ich weiß nicht, ob das so gut wäre. Vor allem nicht hier, sagte er und sah auf seine Schlittschuhe runter.
Ist gut. Später vielleicht, meinte ich. Plötzlich schwankte er wieder und ich griff ruckartig nach seiner Jacke, um ihn aufrecht zu halten. Dennoch ließ sich der Sturz nicht verhindern, doch Aiden drehte sich im Fall gerade noch so, dass ich auf ihm landete- und nicht er auf mir- was mich wahrscheinlich zertrümmert hätte. Mein Bein zuckte und landete auf seinem. Was war das grade? Ich hatte es nicht einmal bewegt…
Seine Mütze war verrutscht, sodass ein paar kleine, graue Strähnen sichtbar waren.
Dachtest du wirklich du könntest mich festhalten?, grinste er. Seine Augen flammten wieder in merkwürdigen orange-roten Tönen auf. Sein Atem bildete hier unten kleine weiße Wölkchen, die kurz darauf wieder verschwanden.
Ich hab es wenigstens versucht, meinte ich und fühlte mich plötzlich erschöpft und müde. Ich ging von ihm runter, stand auf und klopfte meine Jacke ab. Aiden setzte sich hin und schob seine Mütze gerade.
Ich denke du kannst mich jetzt tragen, sagte er und deutete auf sein Bein.
„Scheiße! Du blutest“, keuchte ich und Schwindel machte sich in mir breit.
Ist das offen?! War ich mit den Kufen auf seinem Schienenbein gelandet? Was war er auch zwei Köpfe größer als ich?!
Panisch kniete ich mit neben ihn. Ich konnte Blut einfach nicht vertragen und starrte perplex auf die aufgerissene Jeans und das Loch in seinem Bein. War ich das grade gewesen? Als mein Bein gezuckt hat, habe ich das getan? Mein Herz pochte und ich sah mich in der Eishalle um.
Tut das weh?, fragte ich eher mich selber. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Er blutete die Eisfläche voll! … Eigentlich… blieb das Blut größtenteils an seiner Hose hängen.
Ist vielleicht ein bisschen angeknackst. Zieh mir die Schlittschuhe aus, ich denke, das wird einfacher, so hier runter zu kommen und tu mir einen Gefallen: Hör auf zu denken, ich weiß nicht weswegen mir schlechter sein soll, wegen dem Anblick von Blut, oder wegen den Schmerzen in meinem Bein. Ich machte ihm langsam die Schuhe auf, versuchte meinen Blick von dem Blut fernzuhalten. Mir wurde unfassbar schlecht. Hatte mein Bein gezuckt, oder war das was anderes gewesen? Ich kannte nur eine Person die zu sowas in der Lage sein könnte… Aiden stöhnte vor Schmerzen, als ich die Schuhe von seinen Füßen zog.
Lucie, reiß dich zusammen. Jetzt zieh deine Schlittschuhe aus und komm neben mich. Versuch deine Kräfte einzusetzen um mich zusätzlich zu stützen, aber… nicht zu viel. Ich zog meine Schlittschuhe aus und setzte mich neben ihn. Er zog mein Gesicht zu sich, damit ich ihn ansah und nicht sein blutendes Bein. Ich konzentrierte mich darauf sein Bein zu fixieren, ohne hinzusehen.
Guck wie viel es blutet, log er und schob mich hoch, als ich meinen Kopf drehte um panisch nachzusehen, sodass ich aufrecht stand.
Nicht nett. Ich hielt ihm meine Hand hin und er zog sich an meinem Arm nach oben und stand halbwegs sicher auf einem Bein. Wir atmeten im selben Takt, viel zu schnell.
Komm auf die andere Seite, kleines Gespenst und guck nicht so verschreckt. Es ist nur etwas Blut an meinem Bein… Und vielleicht ein gesplitterter Knochen, das heilt wieder, er grinste mich schief an, doch das machte es nicht besser. Sicher tat das weh, man sah es ihm doch an. Seine Augen funkelten, so kurz stand er vor den Tränen und er schluckte immer wieder den Schmerz runter. Außerdem kreuzte er die Finger, wie immer, wenn er log. Ich wusste nicht, wer ihm das beigebracht hatte, aber er machte es wirklich jedes Mal.
Er zog seine Jacke aus, damit ich ihn besser greifen konnte und humpelte mit meiner Hilfe langsam zu einer Bank.
Danke. Jetzt ruf einen Notarzt, bitte. Er lächelte schwach und beugte sich über das Bein. Seine Hose war zerrissen und ein großer Blutfleck machte sich auf seiner Jeans breit.
Wenn du weiter darauf guckst, wird mir noch schlechter, kleines Gespenst. Ich wunderte mich, dass er so sanft bleiben konnte mit mir, schüttelte den Kopf und konzentrierte mich darauf, einen Krankenwagen zu rufen, als Raiden und Rin sich neben Aiden setzen und mit ihm redeten… So gut wie sie es konnten.
Zehn Minuten später, waren ein paar Sanitäter in der Eislaufhalle angekommen. Sie nahmen Aiden mit. Ich durfte allerdings nicht mitgehen, weil sie Angst hatten, ich würde den Krankenwagen voll brechen.
Die sechs Leute, die jetzt noch am Schlittschuhfahren waren, hatten so gut wie nichts mitbekommen. Nur ein paar Personen hatten das Eis nach dem Unfall verlassen.
Nachdem ich mich telefonisch beim Krankenhaus versichert hatte, dass es Aiden soweit gut ging, gesellte ich mich zu Raiden und Rin.
„Wie geht’s ihm?“, fragte Rin. Raiden fuhr neben uns her und begann dunkel zu lachen.
„Mein Bruder ist hart im Nehmen.“
„Sein Bein ist gebrochen, aber er hat nicht viel Blut verloren und kann morgen wieder raus…“, antwortete ich und blickte auf die Uhr.
„Hauptsache es geht ihm gut“, sagte sie und rutschte aus. Mit einem lauten Knall landete sie auf der Eisfläche.
„Verflucht. Wieso ich?“, schimpfte sie. Raiden begann zu grinsen und machte keine Anstalten, ihr zu helfen. Ich hielt ihr eine Hand hin und sie nahm sie dankend an. Allerdings fiel sie sofort wieder hin, als sie zu schwungvoll aufstand. Raiden konnte sich kaum noch halten vor Lachen und drehte sich auf den Kufen hin und her.
„Könntest du das lassen?!“, giftete Rin ihn an. Ich konnte sie nur zu gut verstehen.
„Es sieht nur so witzig aus“, brummte er und grinste vor sich hin.
Wütend schlug Rin auf das Eis, als sie wieder aufstehen wollte. Ich hielt ihr erneut die Hand hin und sie nahm sie erneut an. Diesmal zog sie sich vorsichtig nach oben. Ein leises Knacken war unter uns zu hören.
„Was zum…?“, fragte ich vorsichtig und horchte. Rin blickte aufgebracht in Raidens Richtung, als das Eis unter uns brach.
„Scheiße!“, fluchte ich lauthals.
„W-was?“, stotterte Rin und blickte perplex aufs gebrochene Eis.
„B-bitte verlas-krscht-sen sie die Eis-schht-fläche!“, knackte es durch die alten Lautsprecher.
Na, super. Was konnte heute noch alles schief laufen?
Rin
Verdutzt und schockiert starrte ich auf den mächtigen Riss, der sich in dem festen Eis aufgetan hatte und wo nun unsere Füße drin steckten. Für einen Moment hätte ich schwören können, dass ich das gewesen war – doch das war unmöglich. Erstens beherrschte ich kein Element. Zweitens hatte ich von dem Element Eis sowieso noch nie gehört. Es war höchstens möglich, dass man solch dickes Eis mit Monster-Kräften aufbrechen könnte … Doch die besaß ich auch nicht – der einzige, der hier …
Ich sah zu Raiden auf und begegnete seinem Blick. Er hob eine silberne Braue und schüttelte mit einem halben Grinsen in den Augen den Kopf.
„Die einzigen Fähigkeiten, die ich habe, sind Schnelligkeit und mein Riechvermögen“, flüsterte er, während Lucie lautstark versuchte, ihre Füße zu befreien. „Nichts mit Stärke. Da musst du schon zu Akari gehen.“
Er lachte als ich das Gesicht verzog. „Und was ist mit deinem Element? Was war das no… – Iiiiiiiiieep!“, quietschte ich, als Raiden mich unter den Armen packte. Er hatte sich selbst aus dem Eis befreien können – ich hatte nicht mitbekommen, wie oder wann – und half nun mir mit einem Ruck, mich aus dem Eis zu befreien.
„Mein Element ist Feuer, du kleines Genie. Versuch mal damit Eis auf diese Weise aufzubrechen.“
Ich sah zu der Stelle, wo er eben noch festgesteckt hatte und nun nur noch eine Pfütze war. Tja, das war wohl auch ein Weg.
Raiden half Lucie aus dem Loch, in dem sie stand und wir verließen die Eisfläche, so wie die gebrochene Stimme es uns immer wieder über den Lautsprecher empfahl. Herrgott, mit den Füßen unterm Eis konnte man sich ja wohl schlecht von der Stelle bewegen, oder?
„Machst du dir keine Sorgen um Aiden?“, fragte ich. Lucie lief vor uns und schien ihre eigenen Gedanken zu haben.
„Aiden ist Aiden. Wir beide haben schon so einiges schlimmeres überlebt. – Ich mache mir mehr Sorgen um Lucie. Wenn sie noch länger an das Blut denkt, können wir sie Aiden gleich hinterher schicken“, antwortete er.
„Ich dachte, du hast nur Monster-Fähigkeiten – kannst du trotzdem Gedanken lesen?“ Ich war mir selbst nicht sicher, ob ich diese Frage nun ernst meinte oder ob das Sarkasmus war.
Er schnaubte. „Ich kenne sie seit der ersten Klasse. Wir sind nicht unbedingt befreundet, aber ich weiß, dass sie Blut nicht sehen kann – vor allem nicht Aidens. Und sie ist blass wie eine Leiche. Man muss nicht Sherlock Holmes sein, um da eins und eins zusammen zählen zu können.“
Okay, ich glaubte, er hatte in den letzten zwei Minuten mehr gesprochen als in seinem ganzen Leben.
„Ein wenig gesprächig heute, oder?“, fragte ich und sah zu ihm hoch. Seine hellen Haare standen wie immer ab, als wäre gerade eben Wind in sie gefahren und sein Schal war fest um Mund und Nase gebunden. Ich verstand noch immer nicht, warum er so gerne sein Gesicht versteckte. Er zuckte die Schultern.
Inzwischen waren wir am Auto der Zwillinge angekommen. Raiden setzte sich auf den Fahrersitz und schien dabei auf komische Art fast erleichtert, endlich einmal wieder selbst fahren zu können. Ich setzte mich höflichkeitshalber zu Lucie auf die Rückbank. Sie war noch immer viel blasser als sie es sonst schon war.
Raiden startete den Motor und er herrschte wie so oft Schweigen.
„Was war das vorhin mit dem Eis?“, fragte Lucie irgendwann plötzlich. Ich zuckte erschrocken zusammen und begegnete ihrem Blick.
„Keine Ahnung.“ Ich zuckte die Schultern. „Technische Probleme und so…“
Sie runzelte misstrauisch die Stirn. „Ich hätte schwören können, Anwesenheit eines Elements spüren zu können.“
Ich auch. Aber außer uns hatte ich dort weder andere Freaks oder Monster gesehen. Ich zuckte abermals die Schultern.
„Hm“, machte sie nur und schien beschlossen zu haben, es dabei belassen zu wollen.
Raiden hielt auf dem matschigen Sandplatz, der den Parkplatz unseres Camps darstellen sollte.
„Rin.“ Er fasste mich am Handgelenk, als ich gerade ausgestiegen war und mir entfloh ein spitzer Schrei. Erstens, weil er vor weniger als einer Sekunde noch auf dem Fahrersitz gesessen hatte und zweitens, weil ich wusste, was jetzt folgen würde. Die Flut von Bildern, Emotionen, Erinnerungen. Ich schloss die Augen, versuchte mich darauf vorzubereiten und wartete. Doch nichts kam. Nichts passierte. Keine Regung. Nur Raidens warme Haut auf meiner. Mein Herz pochte in meinem Hals als ich vorsichtig ein Auge öffnete.
„Alles in Ordnung?“, fragte er. Ich holte einen zittrigen Atem und starrte verblüfft auf seine Hand. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Er klang wirklich ernsthaft.
Ich lachte nervös. „Nein, nein, ist schon … ist schon gut, du …“ Ich erinnerte mich, dass Lucie mir erzählt hatte, dass Raiden schon sehr jung angefangen hatte, eine „Mauer“, ein mentales Schild zu errichten. Es musste sehr stark sein, denn nicht eine vergangene EmpfinTutTutdung drang zu mir durch. Ich atmete erleichtert aus.
„Alles in Ordnung – was ist?“, fragte ich.
„Ich möchte dir etwas zeigen.“ Er ließ mich los und ruckte seinen Kopf in Richtung Fluss.
Ich sah zu Lucie hinüber. Sie lächelte und winkte mir nur zu, während sie zwischen den Bäumen verschwand.
„O-okay..“, erwiderte ich. Raidens Augen verengten sich leicht, als er hinter seinem Schal lächelte. Er war heute ungewöhnlich gut gelaunt. Er führte den Weg über einen Trampelpfad, vorbei an Farnbüschen und moosbewachsenen Bäumen. Schließlich kamen wir war am Fluss an. An dieser Stelle floss er nur langsam und plätscherte über ein Kieselbett hinweg. Raiden setzte sich in einer kleinen Bucht in den feuchten Sand. Verwirrt setzte ich mich neben ihn.
„Das hier wolltest du mir zeigen?“, fragte ich. Weiter hinten auf dem Fluss sah ich ein paar Kanufahrer, die wohl gerade in den letzten Herbstsonnenstrahlen zurück paddelten, ehe der Abendunterricht anfing.
„Nein“, antwortete er und ließ einen Stein über die sanften Wellen hüpfen. Er hatte seine Schuhe ausgezogen und baumelte seine nackten Füße im Wasser. Ich verzog das Gesicht. Das Wasser musste eiskalt sein. Aber vermutlich machte sowas Feuerbändigern nichts aus.
„Du hast vorhin nach meinem Element gefragt“, sagte er, den Blick auf die Bäume am gegenüberliegenden Ufer geheftet. „Ich hab dich angelogen.“
Ich hob eine Braue.
„Also nicht wirklich angelogen. – Ich lüge nicht. Aber ich hab nicht ganz die Wahrheit gesagt.“
„Ist das nicht das gleiche?“
Er zuckte die Schultern. „Möglich. Auf jeden Fall bin ich ein Feuerbändiger. Allerdings beherrsche ich das Feuer auf eine besondere Art.“
Ich glaubte, Lucie hatte mal so etwas angedeutet. Er sah zu mir und ich neigte den Kopf, forderte ihn stumm auf, weiter zu sprechen und versuchte, mich nicht allzu sehr von seinen Onyx-Augen ablenken zu werden.
Raiden brummte leise und schien nach Worten zu suchen. Ich musste lächeln. Er war wie ich eben niemand, der gut mit Worten umgehen konnte.
„Besser, ich zeige es dir.“ Er atmete einmal kurz tief durch und streckte dann die Hände aus. Seine Finger waren lang und kräftig aber dennoch schlank und seine Handflächen waren schwielig.
Und dann sprangen Funken von seinen Fingerspitzen. Überrascht wich ich zurück und er lachte leise.
Langsam ließ er die Funken zu Flammen wachsen und ich beobachtete es fasziniert, bis seine Hände komplett von rotem Feuer eingehüllt waren und Wärme sich zwischen uns ausbreitete.
„Wow“, wisperte ich.
„Pass auf.“
Plötzlich schien extreme Hitze von seine Händen aus durch die Flammen zu fahren und das warme freundlich Feuer wurde zu zischendem, zuckendem, fauchendem weißen Licht. Vollkommen sprachlos starrte ich die Blitze an, die er zwischen seine Händen hielt und kontrollierte.
Raiden schloss seine Linke und die Blitze verschwanden in ihr. Rechts zuckten sie weiter und das weiß-blaue Licht spiegelte sich in seinen Augen, verwandelte das dunkle Grau in ein merkwürdiges flüssiges Silber.
Dann schloss er auch die rechte, sodass die Blitze noch zwischen seinen Fingern hindurch zu sehen waren. Ich sog die Luft ein. Diese extreme Hitze, dieses gefährliche Naturphänomen hielt er einfach so in seiner Hand gefangen.
Er ließ die Blitze langsam kleiner werden, weicher, zahmer, bis wieder rote Flammen zwischen seinen Fingern hindurch leckten und dann waren auch die verschwunden.
„Wow“ traf es nun nicht mal mehr annähernd.
„Das ist …“ Ich suchte nach einer passenden Beschreibung.
„Freaky?“, bot er an. Ich war noch immer erstaunt.
„Das auch. – Kann das jeder Feuerbändiger? Wie machst du das?“, wollte ich wissen.
Er schüttelte den Kopf. „Ich kenne keinen anderen, der das kann. Auch nicht Aiden. Er beherrscht das Feuer auf andere Weise … Das ist bei ihm schwer zu erklären, ich verstehe es selbst nicht ganz“, erklärte er.
„Und wie machst du das?“, fragte ich. Er hatte seine Hände zurück gezogen und ich versuchte, einen Blick auf sie zu erhaschen. Ich wollte wissen, ob irgendwelche Hinweise auf die Flammen zu finden waren. Blasen oder verkohlte Fingerspitzen?
Raiden zuckte die Schultern. „Ich mach es einfach. Ich hab nie darüber nachgedacht.“
Ich nickte und beschloss, nicht weiter zu fragen, obwohl ich noch so neugierig war. Ich fand Elementebändigen fürchterlich interessant. Stattdessen saßen wir schweigend nebeneinander, während der Himmel dunkler wurde.
„Was hast du jetzt gleich?“ Er erinnerte mich schließlich, dass es noch den Abendunterricht gab. Ich seufzte.
„Mathe…“, murmelte ich. Er grinste. Zumindest glaubte ich das. Dämlicher Schal.
„Du bist in meinem Mathekurs?“
Ich sah ihn irritiert an. „Nein? Ich hab dich noch nie dort gesehen“, sagte ich. Er zuckte die Schultern.
„Wie auch. – Aber ich wollte jetzt eigentlich wissen, was du für Fähigkeiten hast. Freak, richtig?“
Herrje, er setzte heute wirklich auf Konversation. Das wurde langsam fast anstrengend.
„Ja, Freak“, antwortete ich nur. Er hob eine Braue und wartete. Ich verdrehte die Augen. „Fein, ich kann Gedanken manipulieren.“
Er pfiff leise durch die Zähne.
„Und in den Geist von anderen eindringen. Aber ich hasse das. Es ist furchtbar im Kopf von jemand anderem zu stecken. Oh, und die äh … Reaktion, die ich vorhin hatte? Bei Hautkontakt kriege ich alle Erinnerungen und Emotionen, die jemand jemals gehabt hat, mit. Auch nicht wirklich der Spaß des Lebens.“ Ich holte Luft. So. Jetzt wusste er es.
Und er sah mich merkwürdig skeptisch an.
„Oh nein, nein! Deine hab ich nicht mitbekommen! Deine äh … Barriere war oder ist zu stark dafür – Gott sein Dank“, beeilte ich mich zu erklären. Doch er hob nur wieder eine Braue und musterte mich irritierend.
„Kannst du dich nicht selbst abschirmen?“, fragte er schließlich. Ich seufzte wieder.
„Nein“, sagte ich ehrlich und beobachtete dann, wie er seinen Schal aufknotete und den Stoff in seinen Schoß legte. Um seinen Mund lag ein missbilligender Zug.
„Dann muss es dir wohl jemand beibringen.“
Erstaunt sah ich ihn an. „Ach? Und wie?“
Er legte den Kopf in den Nacken, sah zum Himmel hoch, an dem nun schon ein paar Sterne zu sehen waren. Kurz stolperte mein Herzschlag, als ich bemerkte, dass in ein paar Minuten der Unterricht anfing, doch dann schüttelte ich nur den Kopf. Eine Stunde würde ich doch wohl ausfallen lassen können.
„Versuch … eine Mauer zu bauen. Stell dir einen Ort vor, wo du ganz allein bist mit all deinen Gedanken und dann schotte dich von allem ab. Nur in deinem Kopf natürlich“, begann er. Ich legte den Kopf schief, versuchte mir einen angemessenen Ort auszudenken.
Vielleicht eine mittelalterliche Burg mit einer großen Bibliothek und einem Festsaal. Einem Thronsaal voller Feuerschalen rund um ein Wasserbecken. Aber da war es gruselig und kalt so allein.
Dann also vielleicht ein hübsches kleines Tal in den Highlands. Aber da war es schwer, eine Mauer zu bauen.
Eine einfache riesige Bibliothek würde es vielleicht sein können. Alt, mit hohen Regalen, voll mit Büchern, die ich bereits gelesen habe oder noch lesen will. Und mit Zeichenmaterial, flauschigen Decken und Kissen.
„Hast du es?“, riss mich Raiden aus meinen Gedanken. Ich räusperte mich.
„Ja – ähm, sorry, ich hab überlegt, welchen Ort ich nehme. Warte kurz.“
Ich hörte ihn nur schnauben, dann konzentrierte ich mich darauf, mich in dieser Bibliothek abzuschotten. Ich schloss alle Fenster, verriegelte die Türen und stellte mir eine dicke undurchlässige Mauer vor, die meine Gedanken vor allen anderen schützen sollte. Schließlich atmete ich tief durch.
„Okay – und wie wissen wir jetzt, dass das funktioniert?“, fragte ich und sah ihn neugierig an. Doch der hinterhältige Ausdruck auf seinem Gesicht gefiel mir nicht.
„Ich werde meine eigene Barriere kurz senken“, sagte er nur. Ich sog zischend Luft ein, als ich verstand.
„Was?! – Nein! Nein, nein, nein, nein, nein, das geht nicht! Ich …“ Ich konnte den Satz nicht beenden. Blitzschnell hatte er nach meiner Hand gepackt und hielt sie fest in seiner. Herrgott, keiner von uns kann kontrollieren, was ich sehe! war mein letzter Gedanke, bevor die Bilder meinen Verstand fluteten. Ich sah Raiden – nein, das war Aiden mit seinen roten Augen. Ein Mann mit ebenso silbernen Haaren wie die Zwillinge. Und eine Frau mit langem schwarzen Haar und Augen so rot wie das Meer. Dann gingen die Bilder in Flammen auf. Ein brennendes Haus, Raidens Mutter, die die Namen der Brüder rief. Angst. Angst und Schrecken und Horror fuhren durch mich, so stark, dass mir der Atem in der Lunge stecken blieb. Und dann war es dunkel.
„Schsch …“ Warme Arme schlossen sich um mich. Ich spürte Nässe auf meinen Wangen und wagte langsam, wieder zu atmen. Ich glaubte, die Schreie immer noch so hören, doch um uns her war es still. „Es tut mir leid“, hörte ich Raiden nuscheln.
„Tu das. Nie wieder!“, brachte ich hervor. Meine Hände zitterten. „Ich kann nicht kontrollieren, was ich sehe. Ich erlebe alles aus der Sicht desjenigen, dessen Erinnerungen ich dann teile, Idiot.“
„Tut mir leid.“ Er klang wie ein Kind, das beim Keksklau erwischt worden war. Unbeholfen fuhr er mir mit den Fingern durch die Haare. Ich wischte mir die Tränen von den Wangen und setzte mich auf.
„Willst du gar nicht wissen, was ich gesehen habe?“, fragte ich. Er wandte den Blick ab.
„Ich kann es mir schon denken“, murmelte er, dann stockte er.
„Was ist?“ Alarmiert sah ich ihn an. Er schüttelte den Kopf.
„Du … Du warst das!“, sagte er ungläubig.
„Ich war was?“
„Na, das Eis!“ Er gestikulierte zum Fluss und ich folgte seinem Blick. Eine glitzernde Eisfläche überzog einen Teil des Wassers. Weiß und undurchsichtig.
„Heilige Sch…“, zischte ich.
„Jetzt hast du wohl noch mehr zu lernen als nur deine Barrikade zu sichern“, bemerkte er trocken. Ich starrte ihn ungläubig an.
Lucie
Inzwischen war ich mir sicher, dass jemand mein Bein kontrolliert hatte. Ich konnte es nicht so merkwürdig bewegt haben. Der einzige Mensch den ich kannte, der zu sowas in der Lage war, war der Vater von Aiden und Raiden, doch er war schon lange tot.
Was noch viel schlimmer war, war dass die Verbindung zwischen mir und Aiden dazu geführt hatte, dass er noch mehr Schmerzen fühlte.
Mir wurde schlecht bei dem Gedanken an das Blut, das er verloren hatte. Sein Blut. Wie es rötlich auf dem Stoff seiner Jeans glitzerte. Ich würgte.
So ein verfluchter Mist!, dadadachte ich. Ich blickte auf die Blätter, die um mich herum lagen. Einen besseren Ort zum fluchen und nachdenken gab es nicht. Ein schiefes Grinsen bahnte sich den Weg zu meinen Lippen. Gut, dass meine Geschichtslehrerin krank war.
Ich saß auf der Spitze eines Hügels, meine Arme um meine Beine geschlungen.
Hier hatte üblicherweise einen unglaublichen Ausblick auf das Camp und den Wald, der um dieses herum lag. Weit konnte ich heute Abend aber nicht blicken, aber dafür war es nicht weniger atemberaubend. Leichter Nebel legte sich um die Spitzen der Tannen und Kiefern und machte die Welt um mich herum unwirklich.
Genau das was ich heute brauchte. Ich hob meine Hände langsam über die Blätter, die nach und nach die modrige Erde verließen. Meine Arme wurden von Wärme durchzogen, keine Sekunde hörte ich auf, an Aiden zu denken. Immer schneller flogen die Blätter um mich herum, ab und zu konnte ich meine Hände nicht davor schützen zu verschwinden.
Schneller, dachte ich und die Blätter wanden sich um meinen Körper, der Druck um mich herum brachte mich dazu aufzustehen.
Lucie…, hörhörhörte ich Aiden in meinen Gedanken flüstern. Konnte er mich hören?
Lucie!, ich schrak zusammen, sank schlagartig auf die matschige Erde zurück.
Aiden?! Wie ist das möglich? Ich nahm meine Schlittschuhe und stand auf, um mich umzusehen.
Ich weiß es nicht. Mach dir keine Sorgen um mich… Es war nicht deine Schuld, dass deine Kufe in meinem Bein gelandet ist. Irgendwie hat mein Bein gezuckt. Ich weiß auch nicht, warum genau das passiert ist, aber es geht schon wieder. Es ist nur ein gebrochenes Bein, kleines Gespenst. Das ist in ein paar Wochen wieder in Ordnung. Ich konnte mir nur zu gut denken, mit welchem spöttischen Grinsen er im Krankenhaus lag. Sein Bettnachbar musste sich Sorgen machen. Ich lachte leise und war ein wenig erleichtert. Warte was?!
Dein Bein hat auch gezuckt?! Warte… der Radius hat sich wieder verändert nicht wahr?
Kann gut sein. Aber hat er nicht aufgehört sich auszudehnen, als wir die fünfte Klasse abgeschlossen hatten?
Ja. Es wundert mich auch. Beides. Naja, Themawechsel bis wir mehr wissen, kleines Gespenst. Ich lief schon wieder in Richtung meiner Hütte, um mich zu duschen und umzuziehen.
Okay… Hmm… Ach, Geschichte fällt heute aus, also, wenn du morgen früh auf Krücken herkommen darfst, dann hast du praktisch keinen Unterricht verpasst.
Na toll… ich habe gehofft ich könnte mich wenigstens bis Mittwoch drücken, aber der Bruch ist wohl doch nicht so schlimm.
Tja.. was soll man da machen. Ich holte meinen Schlüssel aus meiner Hosentasche und schloss die Tür auf. Es waren wahrscheinlich alle bei ihren Abendstunden.
Sag mal… du gehst jetzt duschen oder?, fragte Aiden vorsichtig. Ich zuckte zusammen. Doch kurz darauf holte ich wieder Luft. Er konnte ja nicht sehen was ich sah, nur hören was ich dachte… obwohl… Ich zuckte wieder zusammen.
Wieso fragst du?!
Das war nicht so gemeint! Sein armer Bettnachbar. Der dachte bestimmt Aiden hätte Fieber oder Wahnvorstellungen.
Du solltest dir nur abgewöhnen, dich so lange im Spiegel anzusehen… Und vor allem… solltest du nicht alles kommentieren, was du siehst, kleines Gespenst mit Muttermal überm Bauchnabel. Wie bitte?!
Aiden!!
Da kommt grade ein Arzt rein, ich glaube er will mir ein Fiebermittel geben. Meine Bettnachbarin ist unmöglich. Wie merkwürdig die mich anstarrt… Als wäre ich geisteskrank.
Ich hoffe sie betäuben dich!
Tust du nicht.
Sei ruhig!
Kann ich nicht!
Streng dich an!
Ich versuch‘s ja!
Tust du nicht.
Ich weiß. Gute Nacht. Ich bemühe mich schnell einzuschlafen, kleines Gespenst. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und starrte bösartig auf ein Foto von ihm, das auf meinem Nachttisch stand. Ich hatte es mit zehn geschossen, im Garten von Annie. Er hatte ein blaues Auge und eine aufgeplatzte Lippe. Ich hatte damals unglaublich geweint, weil wir uns so gestritten hatten …und weil er aus dem Mund geblutet hatte, nachdem ich ihn gehauen hatte. Nur eine gute Sache hatte das Ganze gehabt. Sein letzter Milchzahn war ihm dabei rausgefallen.
Lass dir viele Schmerzmittel geben. Wenn ich dich morgen sehe, verprügele ich dich.
Bis ich blute, nicht wahr… Er war wohl eingeschlafen.
Mistkerl. Ich suchte mir meine Sachen zusammen und vergewisserte mich mindestens noch zwanzig Mal, bis ich sicher war, dass Aiden wirklich eingeschlafen war und stellte mich unter die Dusche, ohne in den Spiegel zu gucken.
Ich beeilte mich und ließ heißes Wasser über mich laufen. Wenigstens ging es ihm gut.
Eine Stunde vor dem Weckerklingeln wachte ich auf und fühlte mich wieder ganz in Ordnung. Der lange Tag gestern hatte meinem Schlaf wohl überraschenderweise gut getan.
Ich zog mir eine viel zu große Strickjacke-wahrscheinlich war sie von Aiden- über mein Superman T-Shirt und ging in die Küche.
„Du bist schon wach?“, fragte ich verwundert, als ich Rin schon auf einem Küchenstuhl sitzen sah.
"Ja, seit etwa einer Stunde ... Ich konnte nicht wirklich schlafen", antwortete sie und sah wieder auf ihren Zeichenblock, auf dem nur ein paar Kreise, Strichmännchen und Augen zu sehen waren. Es wirkte ziemlich zusammenhangslos.
„Sind das Raidens Augen?“, fragte ich, als ich mich neben sie setzte und ihr Blatt näher inspizierte.
"Äh ... Nein ... das .. also, das sind ... nicht Raidens", stammelte sie und klappte den Block zu. Ich konnte nicht anders und grinste sie an.
„Ihr wart gestern zusammen im Wald, oder? Was habt ihr da so gemacht?“ Ich stand auf und holte mir ein paar Cornflakes und einen Kakao.
"Wir haben zusammen in den Sonnenuntergang gesehen und heimlich geheiratet", antwortete sie sarkastisch und steckte ihren Bleistift hinters Ohr. Na, wenn das so war…
„Klingt romantisch. Kakao?“, bat ich ihr an.
„Öhm… ja, gerne“, sagte sie und sah mich ein wenig verwundert an. Ich schüttete ihr auch eine Tasse ein und stellte alles auf den Tisch.
„Wie geht es Aiden?“, fragte sie nach einer Weile und nahm einen Schluck aus ihrer Tasse.
„Ach ja… Dem geht’s gut… Nicht mehr lange, aber noch geht’s ihm gut“, grinste ich sie an. War er eigentlich schon wieder im Camp? Ich sah auf die Uhr. Zehn nach acht. Ich dachte nicht, dass er schon da war, um sich seine Prügel abzuholen.
Rin sah mich irritiert an und nahm noch einen Schluck von ihrem Kakao.
„War ein Scherz.“ War es das? „Ich hab gesehen, dass Raiden dich gestern zurück gebracht hat? Also… er war beim Matheunterricht?“
„Beim Matheunterricht? Oh nein ... Und äh ... also, ich auch nicht ... Weißt du ...“, stotterte sie ein wenig verlegen und sah mich direkt an. Wollte sie mir etwas sagen?
„Weiß ich was?“, hackte ich nach und nahm einen Löffel von meinem Frühstück.
„Also, das Eis gestern ... Das könnte - nur so unter Umständen - also möglicherweise ... theoretisch - und praktisch - glaube ich - ich meine, Raiden - also ... Das war ich.“
„Denkst du wirklich?! Willst du mir das mal zeigen?“, fragte ich erstaunt. Hatte ich sie also gespürt? Die merkwürdige Magie um mich?
„Ich kann das nicht auf Knopfdruck - glaube ich“, sagte sie und starrte unheimlich auf ihren Kakao. „Siehst du?“ Sie zuckte mit den Schultern und nahm einen weiteren Schluck.
„Man verbindet seine Fähigkeiten meistens mit einer bestimmten Reaktion oder Emotion. Vielleicht kannst du sie, wenn du weißt, welche es ist besser beeinflussen.“ Jedenfalls war es bei Raiden damals ähnlich gewesen…
„O-okay“, sagte sie und starrte auf die Uhr. Mein Wecker klingelte grade. Ich stellte mein Besteck in die Spüle und ging in mein Zimmer, um ihn auszuschalten.
Du bist schon wach gewesen?
Ja.
Dann hätte ich ja nicht warten müssen, um dir zu sagen, dass ich schon wieder in meinem Bett liege.
Wie?!
Ja. Komm rüber und schlag mich.
Masochist.
Sadist.
Ich bin sofort drüben.
Ich zog mir wetterfeste Klamotten an und putze meine Zähne.
„Ich geh rüber zu den Jungs“, sagte ich, als ich nochmal an der Küche vorbei kam.
„H-hmm“, machte Rin.
Ich öffnete die Tür und wollte grade losrennen, doch Aiden stand schon an der Treppe. Er lehnte sich grade auf eine seiner Krücken. Seine Augen blitzen auf, als er mich sah und er musste grinsen.
Ich stolperte die Treppen runter und lächelte.
Du hast ziemlich lange gebraucht, meinte er und ich boxte ihm in die Schulter.
Krüppel.
Gespenst.
Er umarmte mich zur Begrüßung und wir gingen- er humpelte- vor dem Unterricht spazieren.
Rin
Kaum hatte Lucie die Hütte verlassen, tippte mir jemand auf die Schulter, die Tür zu Akaris Zimmer ging auf und ich bekam gleich einen doppelten Herzinfarkt.
„Hör auf, dich ständig so anzuschleichen!“, fauchte ich Raiden an, der nur eine Braue hob.
Akari, die am anderen Ende des Raumes stand, bemerkte uns und musterte uns aus schmalen roten Augen.
„Was soll das hier?“, fragte sie und es klang als hätte sie uns bei etwas weitaus intimerem als nur nebeneinander zu stehen erwischt. Mir schoss das Blut ins Gesicht.
„Ja, Raiden.“ Ich wandte mich an ihn. „Was soll das hier?“
„Ich wollte nur nach deinen …“ Er legte den Kopf schief. „… Hausaufgaben fragen.“ Er schien stolz auf sich, diese Klippe umschifft zu haben, doch Akari machte ihm fast augenblicklich einen Strich durch die Rechnung.
„Hausaufgaben?!“, schrie sie und ihr Gesicht lief dabei rot an. Raiden und ich wichen einen, vielleicht auch fünf Schritte zurück. „Welche Hausaufgaben?! Die, die ihr gestern nicht mitbekommen habt, weil ihr geschwänzt habt um der-Himmel-weiß-was zu tun?“
Okay, ich hatte schon vorher Angst vor ihr gehabt, aber das war kein Vergleich zu dem Gefühl, jetzt wo sie wütend war.
„Du!“ Sie zeigte auf Raiden. „Es ist mir egal, ob du am Unterricht teilnimmst oder nicht – aber du wirst nicht andere Schülerinnen korrumpieren!“
Raiden warf einen verzweifelten Blick über seine Schulter zu mir, wo ich mich hinter seinem Rücken versteckte – was nicht schwer war, da er so groß war. Ich zuckte die Schultern und wies zur Tür, an die wir zurückgewichen waren. Er nickte und kaum eine Sekunde später standen wir auf dem Platz draußen. Überrascht sog ich die Luft ein und stolperte einen Schritt.
„Whoa, das ging schnell. – Was ist?“, fragte ich, als ich seinen düsteren Blick sah. Er schnaubte.
„Als wäre ich irgendein Monster, das kleine Mädchen entführt.“ Er schüttelte den Kopf.
„Nun, du bist nicht wirklich guter Einfluss“, erklärte ich. Kurz sah er mich nur irritiert an, dann warf er in einer beleidigten Geste den Kopf zur Seite. Ich musste lachen.
„Wie war das jetzt mit den Hausaufgaben?“, lenkte er schließlich ab. Ich wischte mir die Augenwinkel lang und verdrehte die Augen.
„Ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen, nur an diese dämliche Mauer gedacht“, sagte ich. Und vermutlich sah man es mir auch an. Auf jeden Fall fühlte ich mich wie der Tod persönlich. Raiden schien zufrieden. „Und es hat absolut nichts gebracht!“
Er seufzte. „Das werden wir nachher sehen.“ Er hob kurz die Hand und verschwand dann in die Richtung der Hütte, wo er jetzt Unterricht hatte. Zumindest glaubte ich das. Vermutlich würde er andere kleine Mädchen korrumpieren.
Ich seufzte und machte mich auf den Weg zu Geschichte. Ich würde wirklich viel lieber an diesem komischen Eis-Dingens arbeiten – oder es zumindest recherchieren.
Soweit ich wusste, hatte man noch nicht von Eisbändigern gehört. Aber ich hatte auch noch nie von Feuerbändigern gehört, die Blitze erzeugen können – und trotzdem hatte ich das Raiden tun sehen. Es könnte also möglich sein, dass das Eis eine Form von Wasser wäre. Aber warum sollte ich auf einmal dieses Element haben? Ich hatte mein ganzes Leben lang kein Wasser bewegt oder eingefroren – glaubte ich zumindest.
„Hey!“, riss mich Lucie von der Ferne aus meinen Gedanken. Neben ihr stand Aiden, der besorgt zu mir rüber sah.
„Hmm?“ Ich sah zu ihnen auf.
„Pass auf, da …“ Doch da war es zu spät. In meinen Gedanken war ich frontal gegen den Türrahmen der Hütte gelaufen. Stöhnend rieb ich mir die Stirn.
„Verdammt – warum passiert mir sowas in letzter Zeit immer wieder?“, murmelte ich und musste trotzdem über mich lachen. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Lucie und Aiden nun zu mir rüber humpelten – zumindest Aiden humpelte – und mich belustigt musterten.
„Alles in Ordnung?“, fragte Lucie. Ich winkte ab.
„Alles bestens – ich bin heute Morgen schon gegen die Tür gerannt“, erklärte ich und sie lachte als Antwort.
„Das war also das Geräusch, das ich da gehört hab!“
Ich spürte mein Gesicht wieder rot werden und jetzt lachte auch Aiden und beugte sich auf seinen Krücken vor. „Deine Tollpatschigkeit scheint tatsächlich Lucies zu übertreffen“, sagte er und wuschelte mir durch die Haare. – Hätte er mal lieber nicht. Er vergaß, dass er an Krücken ging – aus einem triftigen Grund – und stolperte auch prompt, sobald er die eine losließ, und fiel mit seinem Gesamtgewicht von etwa 75 Kilogramm auf mich. Mehr oder weniger. Er schaffte es, sich zu fangen und an mir abzustützen. So war ich seinem Gesicht und seinen flammendroten Augen näher als mir lieb war.
„Sorry“, murmelte er und grinste mich entschuldigend an. Ich blinzelte nur verwirrt.
„Du hast die Augen von deiner Mutter“, brach es dann aus mir heraus und ich verfluchte mich augenblicklich dafür. Aidens Augen weiteten sich und er wich erstaunt zurück.
„Was?!“
„Äh … ich …“ Nervös fummelte ich an meiner Tasche rum. „Also … das war … Raiden hat … Ich meine …“ Nervosität brachte nicht wirklich meine besten Sprachfähigkeit zum Vorschein. Doch zum Glück rettete mich Lucie, die mich in die Hütte zum Geschichtsunterricht reinschob.
„Wir sehen uns nachher, Aiden“, sagte sie laut und warf mir einen prüfenden Blick zu, doch sie fragte nicht.
Zwei Stunden später war ich erleichtert, endlich aus dem Raum und vor diesem eindringlichen Blick fliehen zu können. Schneller als man es von mir gewohnt war, schlüpfte ich aus dem Klassenraum und rannte zum Fluss hinunter. Ich würde es ihr – und Aiden – irgendwann erklären – wirklich! Nur nicht jetzt …
„Und was willst du jetzt machen?“, fragte ich Raiden, als er eine halbe Stunde zu spät an unserem Treffpunkt erschien („Eine schwarze Katze lief mir über den Weg – ich musste einen Umweg machen“). „Nochmal will ich nicht deine Vergangenheit erleben.“
„Ach?“, fragte er spöttisch. „Und wie willst du dich dann testen? Du willst doch nicht die ganze Nacht wachgelegen haben, ohne zu wissen, ob es was gebracht hat.“
Ich streckte ihm die Zunge raus. „Vielleicht will ich ja gar keine Mauer haben. Ich versteck mich einfach den Rest meines Lebens vor jeglichen Menschen, Freaks, Monstern und was es nicht sonst noch gibt.“
Er warf mir einen Blick zu. „Klingt zwar verlockend aber nein.“
Ich hob überrascht die Brauen. „Und das von Mister Anti-Sozial persönlich!“, schnaubte ich. Er zuckte mal wieder nur die Schultern und dann war meine Hand wieder in seiner gefangen.
„Raiden!“, rief ich, doch er ignorierte mich, als ich versuche, meine Hand aus seinem Griff zu winden.
„Denk an die Mauer“, sagte er nur und dann fielen die Bilder wieder über mich her. Es fing an mit dem Duft von Kuchen und Tee. Irgendwo im Raum knisterte ein Feuer, eine Tasse klirrte auf dem Unterteller. Sonst war es still. Ich – Raiden – saß neben Aiden auf einer Holzbank in einer kleinen, warmen Küche aber mir – ihm – war kalt. Eiskalt. Ich – er – spürte die Blicke von Annie, seiner Tante auf ihm. Voller Mitleid aus den meerroten Augen, die ihn so sehr an seine Mutter erinnerten, aber er – ich – wollte davon nichts wissen. Mom war weg. Mom und Dad waren … weg. Verbrannt. Er fühlte sich leer.
Er spürte Aiden neben sich. Er hatte seinen Tee auch nicht angerührt. Es tut mir so leid. Es tut mir so leid. Der Gedanke geisterte immer wieder durch seinen Kopf und ich hatte das unangenehme Gefühl, in seine privateste Privatsphäre einzudringen.
„Denk an die Mauer“, glaubte ich ihn zu hören und ich versuchte angestrengt, mich an meine Bibliothek zu erinnern. Mit verriegelten Fenstern und geschlossenen Türen. Die Erinnerung von Raiden verblasste und schließlich konnte ich wieder durchatmen.
Überrascht blinzelte ich Raiden an, der noch immer still vor mir saß, die Beine im Schneidersitz gekreuzt.
„Warst du das?“, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. „Wow“, hauchte ich und konnte ein breites Grinsen nicht unterdrücken. Auch auf seinem Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab und diesmal erreichte es beinahe seine Augen. Mir fiel mal wieder erst jetzt auf, dass er seinen Schal abgenommen hatte.
„Danke“, sagte ich und umfasste auch mit der anderen Hand seine, mit der er immer noch meine umschlossen hielt. Er neigte als Antwort nur den Kopf. „Aber bitte verrate mir jetzt, warum ich die gesamte Nacht an diese dämliche Mauer hatte denken sollen.“
Er lachte leise und legte den Kopf in den Nacken, wie immer, wenn er überlegte. „Keine Ahnung. Ich hab versucht, es dir so beizubringen, wie ich es mir selbst beigebracht habe.“
„Du lagst Nächte lang wach und hast nur daran gedacht?“, fragte ich ungläubig. Er hob nachlässig eine Schulter und mir war klar, dass er nicht darüber reden wollte. „Geht klar. Danke nochmal.“
„Gerne.“ Damit stand er auf, klopfte sich Sand und Blätter von seinen Jeans. Ich sah zu ihm hoch.
„Hey – was ist mit dem Eis-Zeugs?“, wollte ich wissen. Er reichte mir nur die Hand.
„Irgendwann“, antwortete er. Ich musterte ihn verwirrt. Um seine Augen lag ein müder, angestrengter Zug, sein Mund war verkniffen. Ich nickte.
„Okay.“ Ich versuchte, nicht allzu enttäuscht zu klingen und schob mich an ihm vorbei, doch er fasste nach meiner Hand.
„Es tut mir leid – es liegt nicht an dir …“ Einen Moment schwieg er. „Doch, eigentlich liegt es an dir“, gab er zu und seufzte. „Ich bin müde.“ Und dann war seine Hand in meinem Nacken und mein Herzschlag in meinem Hals. Er beugte sich vor, seine Lippen streiften warm meinen Mundwinkel. Ich stand stocksteif, starrte mit weiten Augen in seine. Ein kurzes Lächeln huschte über seine Züge, dann hauchte er mir einen Kuss auf die Wange und war kurz darauf zwischen den Bäumen verschwunden. Benommen wandte ich mich um, machte mich auf den Weg zur Hütte sieben.
Lucie
Gehen wir was essen?, fragte Aiden. Ich habe kein Mittagessen gehabt.
Klar, warum nicht. Ich hob meinen Kopf und sah ihm entgegen. Er kam zu unserer Hütte gehumpelt. Wir waren grade mit den Morgenstunden fertig gewesen, da hatte das Laufteam ein Notfallmeeting wegen Aidens Bein gehabt.
Na, sieh mal einer an… Er sah grade zur anderen Seite des Camps, wo Rin zu unserer Hütte gelaufen kam.
„Bücher… Regale… Bücherei“, hörte ich sie murmeln, als sie an mir vorbei lief.
Was war das denn? Aiden blickte fragend zu mir hoch und streckte eine Hand nach mir aus.
Du willst mir helfen? In deiner Verfassung? Er sah an sich runter, als würde er grade erst realisieren, dass er auf Krücken ging. Ich nahm meine Umhängetasche und sprang vom Geländer unserer Veranda auf den weißen Campboden.
Zum Glück konnte man sich im Camp immer einen Snack für zwischendurch holen, auch wenn man mal das Mittagessen verpasste.
„Aiden… erneut. Was soll es denn diesmal sein?“, fragte Maggie, unsere Cafeteriadame, als sie Aiden und mich in der Tür sah.
Erneut?
Ich war gestern und vorgestern schon nachmittags da, anstatt zum Mittagessen zu gehen.
Sicher doch…
„Einmal das Brathähnchen mit Kartoffelsalat“, sagte Aiden freundlich. Maggie sah ihn nur vorwurfsvoll an.
„Bitte?“, hängte er hinten an, worauf sie ihm einen Teller fertig machte.
„Möchtest du auch was, Lucie?“, fragte sie mich mit einem ihres gekonnten Lächelns.
„Nein danke, ich hatte Mittagessen“, winkte ich ab und setzte mich mit Aiden in eine Ecke der Cafeteria, in der wir ungestört waren.
Schmeckts denn wenigstens?
Ja sehr lecker, meinte er beim Kauen. Seine Augen funkelten das Brathähnchen an. Es ist nur etwas kalt… Er sah sich um und hielt seine Hand über seinen Teller.
Muss das sein?
Ich kann doch kein kaltes Hähnchen essen.
Können… wollen… bei dir wohl kein großer Unterschied. Als er sich vergewissert hatte, dass keiner in der Mensa war, außer uns, begann er seine Finger zu bewegen. Zunächst knisterten rötliche Funken über seinen Handrücken, die sich langsam aber sicher immer schneller bewegten.
Das Leuchten in seinen Augen wurde stärker, während sich vereinzelte Flammen bildeten, die seine Finger mit loderndem Züngeln umschlossen.
Das Feuer schien immer schneller zu kreisen. Er musste nicht mal auf seine Hand sehen, er sah mich direkt an, als ich kurz hochschaute.
Faszinierend meinst du?
Lange nicht mehr gesehen. Das ist alles, rechtfertigte ich mich und sah wieder auf seine Hand.
Seine flammenden Augen stachen förmlich das Feuer an, als sich langsam bläuliche Flammen durch die roten drängten. Seine Augen funkelten im Takt der brennenden Flammen in seinen Händen, als er ruckartig blaue Flammen aus seinen Fingerspitzen um seinen Teller kreisen ließ. Er war der einzige Feuerbändiger, von dem ich wusste, der blaue Flammen erschuf…
Sollte wieder warm sein. Er lächelte sanft und es sah aus, als würden die Flammen sich ehrfürchtig zurückziehen. Es war… wirklich unsagbar…
Schön? Bezaubernd? Fantastisch?
Ach, sei doch ruhig. Er begann zu lachen und nahm Messer und Gabel wieder zur Hand.
Sag mal… Weißt du eigentlich, woher Rin weiß, dass meine Mutter rote Augen hatte?
Habe ich ehrlich gesagt gar nicht drüber nachgedacht… Aber stimmt. Vielleicht hat Raiden ihr das erzählt?
Vielleicht. Er lächelte und nahm eine Gabel von seinem Brathähnchen, das an manchen Stellen schon ziemlich schwarz aussah. Wohl doch nicht so gut wie eine Mikrowelle.
Lucie?
Hmm?
Liest du mir nachher was vor? Ich blinzelte ihn perplex an. Seit Jahren hatte ich ihm nichts mehr vorgelesen. Eigentlich, seit er selber lesen konnte- er war ein echter Spätzünder gewesen, was das anging. Ich sah hoch und er fing meinen Blick beiläufig auf. Dennoch verlor ich mich in seinem rot. Es war alles, was ich noch sah. Feuer, Flammen, beißende Hitze. Meine Wangen begannen zu glühen. Mir wurde schlagartig warm.
Alles in Ordnung?, fragte Aiden besorgt und legte mir seine Hand auf die Schulter.
Ja… Ich schüttelte meine Gedanken ab und ging auf die Toilette, um mir das Gesicht zu waschen. Was war das grade gewesen? Es passierte so oft in letzter Zeit, dass ich Aiden so anders betrachtete… Was war nur los mit mir?
Wieder am Tisch, hatte Aiden bereits aufgegessen und seinen Teller weggestellt.
Also liest du mir was vor? Ich bin verletzt.
Sicher… Warum nicht, meinte ich und wir gingen zu seiner Hütte.
„Hey Ephraim, Kyle !“, rief er, als wir an zwei seiner Mitbewohner vorbei kamen.
„Hey Aiden“, sagte Ephraim.
Nicht Ephraim, das ist Kyle, kleines Gespenst.
Mist…Okay…
„Hallo“, begrüßte uns der richtige Ephraim.
„Wohin wollt ihr?“, fragte Aiden die beiden und stütze sich auf eine seiner Krücken, um gerade zu stehen.
„Wir gehen Raiden suchen und den kleinen Dämon.“
„Viel Glück. Raiden ist bestimmt an seiner üblichen Stelle“, sagte Aiden und wir gingen durch die Tür in sein Zimmer. Wie gewöhnlich war es unaufgeräumt. Auf seinem Schreibtisch lagen Schulsachen von wahrscheinlich zwei Jahren und auf seinem Teppich verteilten sich Anziehsachen, vor allem Jogginghosen von bestimmt drei Wochen.
Solltest du das nicht mal waschen?
Es stinkt noch nicht.
Es muss nicht stinken, um dreckig zu sein.
Ja, Mutter, bemerkte er und räumte schnell das meiste, was er tragen konnte mit den Krücken vom Boden weg. Danach legte er sich auf sein Bett und hob sein Bein auf ein Kissen.
Welches Buch?
Such dir eins aus, mein armes, kleines, hilfloses, krankes Kind. Ich grinste ihn an.
Gut. Er streckte sich, sodass er das Bücherregal über seinem Bett erreichen konnte. Dabei rutschte sein Pullover hoch, woraufhin ich einen Blick auf seinen athletischen Oberkörper nicht verhindern konnte.
Lucie… Du weißt schon, dass ich denke, was du denkst? Und ich glaube kaum, dass der Gedanke grade von mir kam… Vor allem weil du sabberst. Er zog seinen Pullover noch ein Stück höher und ich rollte mit den Augen.
Ich sabbere nicht, Idiot. Gib mir das Buch. Er lachte eine Weile und rückte den Pulli wieder zurecht, als ich mich neben ihn setzte.
„Dark Love“? Was ist das? Er grinste.
Ich hab es schon ein paar Mal gelesen. Es ist nicht so, wie du denkst, kleines Gespenst.
Ich grinste ihn nur allwissend an und nickte. Natürlich war es nicht so wie ich dachte… Selbstverständlich… Er war ja ein Mann und so was.
Rin
„Ein schöner Abend, nicht wahr, kleiner Dämon?“
Dieses Mal hatte ich Ephraim schon von Weitem kommen sehen und wandte mich nur mit einem genervten Augenverdrehen zu ihm um, als er sich neben mich auf das Dach von Hütte 7 zog, und klappte möglichst unauffällig meinen Zeichenblo
ck zu.
„Kannst du dir nicht vielleicht einen anderen Spitznamen ausdenken?“, fragte ich. „Oder häng ihn zumindest nicht überall dran.“
Er grinste nur breit. Die abendliche Sonne ließ seine Haare leuchten wie das Karibische Meer und ich konnte nicht anders als darüber zu lachen. Er ignorierte es.
„Tut mir leid, kleiner Dämon – aber das wird sich nicht ändern.“ Einen Moment musterte er mich. „Wo ist Raiden? Hast du es etwa geschafft, ihn abzuhängen?“
Als ob man ihn mit seiner Schnelligkeit jemals abhängen könnte, wenn er es nicht zulassen wollte, dachte ich und gleichzeitig schoss mir das Blut ins Gesicht, als ich mich an den Nachmittag mit Raiden erinnerte. Das Bild von seinem kleinen Lächeln kurz nach dem Fast-Kuss kam mir in den Sinn. Und in fast dem gleichen Augenblick sah ich wie sich Ephraims Augen weiteten.
Verwirrt sah ich ihn an, als ein lautes Lachen aus ihm herausbrach, das für meinen Geschmack ein wenig zu lang andauerte. Er wollte sich gar nicht mehr einkriegen. Erst nach geschlagenen fünf Minuten schaffte er es, sich zu beruhigen. Die Arme um seine Mitte geschlungen lag auf dem Rücken und hatte Tränen in den Augen.
„Kyle!“, rief er und der Grünhaarige zog sich ebenfalls zu uns hoch. Er hatte wohl die ganze Zeit auf der Veranda gewartet – ich hatte mir auch schon gewundert, wo er steckte, die zwei waren ja offensichtlich nicht ohne den anderen anzutreffen. Fragend sah Kyle uns an.
„Kyle, sieh dir das an!“, sagte Ephraim, immer noch ein wenig atemlos.
Ich hatte erwartet, er würde ihm nun etwas zeigen wollen, doch Ephraim grinste nur weiterhin und ich beobachtete wie Kyle eine Braue hob und mich erstaunt ansah. Mir ging ein Licht auf.
„Oh Gott …“, brachte ich hervor. „Bitte sag mir nicht, dass du ein Freak bist!“
Ich vergrub mein Gesicht in den Händen, als ich Ephraims zufriedenen Gesichtsausdruck sah.
„Hatte ich das noch nicht erwähnt? – Ich kann Gedanken lesen und meine Gedanken anderen mitteilen.“ Eine Brise streifte mein Haar. „Außerdem beherrsche ich das Element Luft – und jetzt verrat mir, wie du das geschafft hast!“
Ich nahm meine Hände vom Gesicht und sah wie er sich interessiert vorbeugte. Auch Kyle schien ganz Ohr zu sein.
„Wie ich was geschafft habe?“
„Raiden. Solange wir ihn kennen, ist er immer distanziert und scheint die ganze Zeit vor sich hin zu brüten. Wir sind Freunde, aber viel wissen wir nicht über ihn. Ich weiß nicht, ob es ihm Spaß macht, sich so mysteriös und unerreichbar zu geben mit dem Schal und allem, aber … bei dir scheint er kein Problem zu haben, anders beziehungsweise er selbst zu sein. Dich scheint er zu mögen.“
Verwundert sah ich Ephraim an. Er war nun schon der zweite, der andeutete, dass Raiden mich mögen würde.
„Ja, natürlich mag er mich“, sagte ich verwirrt. „Ich meine, wir reden des Öfteren miteinander und … er hat mir bei einer mentalen Barriere geholfen.“ Die offenbar nicht gut genug funktionierte.
„Er hat dich geküsst“, meinte er nur trocken und mir schoss die Hitze wieder ins Gesicht, die ich hatte zurückhalten wollen. Ich wandte mich halb ab.
„Das … das … Also das ist nicht…“ Ich sah auf, als ich ein weiches, dunkles Lachen hörte und war überrascht, Kyle lächeln zu sehen. Aber das änderte sich schnell wieder, als er auf einmal zusammen zuckte und ungläubig auf seine Füße starrte, die nun auf Grund einer dünnen Eisschicht quasi am Dach klebten.
„Oh mein Gott!“ Aufgeregt rutschte ich zu ihm rüber. „Das tut mir leid, das wollte ich nicht … Ich weiß nicht, wie … Tut mir leid!“ Ich fuhr fahrig mit den Fingern über das Eis, versuchte irgendwie herauszufinden, ob ich das irgendwie lösen könnte, während den beiden Jungs vor Unglauben fast der Mund offen hing.
„Du warst das?“, fragte Ephraim, als Kyle sich wieder gefangen hatte und einfach nur die Beine anzog und aus dem Eis raus brach. Anscheinend war er ein Monster mit der Fähigkeit Stärke.
„Das ist schwierig zu erklären – also, eigentlich gar nicht, weil ich keine Ahnung hab. Aber ja, das war ich.“
„Also magst du Raiden?“, grinste Ephraim. Ich blinzelte ihn an. Was hatte das nun damit zu tun, dass ich Kyle gerade an das Dach gefroren hatte? „Na, bestimmt wäre es nicht dazu gekommen, wenn nicht etwas Wahres dran wäre, oder?“
Ich wandte den Kopf ab. Ich verstand im Moment beim besten Willen, was Ephraim von mir wollte und warum er ständig so grinste als würde er einen Teufelsplan aushecken. So langsam hatte ich keine Lust mehr, von diesem Pärchen ausgequetscht zu werden.
„Wir sind kein Paar“, brummte Kyle. Ach verdammt sollte Ephraim sein! Ich funkelte ihn verärgert an.
„Du magst ihn wohl nicht nur, du stehst auf ihn, richtig?“ Ich glaubte fast seine Ohren hätten gleich ein schmerzhaftes Problem, wenn sich das Grinsen weiter ausdehnen würde, doch dann wurde es schlagartig weggewischt. „Raiden“ Und schon war es wieder da. „Wir haben grade über dich geredet.“ Mal ehrlich, musste das nicht weh tun?
„Lasst sie in Ruhe“, hörte ich Raidens dunklen Bariton. Ephraims Lächeln schien auf der Stelle wieder ein wenig abzunehmen. Kyle brummte nur abermals und packte seinen blauhaarigen Freund am Ärmel und zog ihn mit sich – kein Problem für jemanden mit seiner Monster-Stärke, nahm ich mal an. Dann nahm ich wahr, wie Raiden sich neben mich setzte. Seine Beine baumelten die Dachkante hinunter und sein Arm streifte fast meinen, als er nach dem Zeichenblock griff, der vergessen neben mir lag. Nachlässig, fast desinteressiert blätterte er darin herum und ich war froh, diesmal kein Bild von ihm darin zu haben.
„Du solltest nicht auf das hören, was dieser hyperaktive Idiot von sich gibt“, sagte er schließlich, während er die Konturen einer Kohlezeichnung nachfuhr. Dass er dabei alles verschmierte, schien ihn nicht zu kratzen. Ich riss ihm den Block aus den Händen.
„Das ist mir schon klar“, antwortete ich bissig. Ephraim hatte mich ein wenig sehr gereizt.
Raiden ließ mit einem dunklen Seufzen seine leeren Hände in den Schoß fallen. Die Bewegung hatte etwas seltsam Verlorenes an sich und ich musste mich zusammen reißen, um ihn nicht zu berühren.
„Es tut mir leid – es liegt nicht an dir … Doch, eigentlich liegt es an dir.“ Ich seufzte. Irgendwas war zwischen Raiden und mir – da konnte ich Ephraim so viel widersprechen wie ich wollte. Nur was, wusste ich nicht genau. Raiden verwirrte mich. Mit seinem distanzierten Verhalten und dass er gleichzeitig meinte, in meine Privatsphäre eindringen zu können. Ständig. Und gleichzeitig hatte Ephraim recht. Raiden ließ mich mehr von sich sehen als alle anderen. Er hatte mich sogar seine Vergangenheit sehen lassen, nur um mir mit meinen Fähigkeiten zu helfen. Es war fast, als wollte er mich sehen lassen.
Mit einem weiteren Seufzen, schob ich meinen Block unter meine Jacke und kroch zur Dachkante hin.
„Ich glaube, ich sollte jetzt besser rein gehen, bevor ich erfriere oder so“, sagte ich und machte mich daran, runter zu klettern. Er beobachtete mich nur still aus seinen Onyxaugen.
Später, als ich schon im Bett lag, hörte ich erst das Scharren von oben, das signalisierte, dass er nun auch das Dach verließ.
Lucie
Die nächsten zwei Wochen vergingen ziemlich schnell. Aidens Bein hatte sich gebessert und ich hatte eine zwei plus in Geschichte geschrieben.
Die Klausuren bei uns an der Schule waren meistens mündlich, aber zweimal im Jahr mussten wir auch eine schriftliche Arbeit abliefern.
Raiden und Rin hatten einige Zeit merkwürdigerweise nicht miteinander geredet, aber nach zwei weiteren Sozialisierungsprozessen von mir und Aiden – Kino und Bowling – hatten sie sich wieder eingekriegt und redeten wieder normal miteinander.
Was da wohl losgewesen war?
Das wüsstest du wohl gerne was? Aiden humpelte grade in mein Zimmer und lächelte mir entgegen.
Musst du nicht laufen? Grinste ich ihn über mein Mathebuch hinweg an.
Witzig, bemerkte er und setzte sich neben mich. Was lernst du grade?
Den ganzen Scheiß mit den Exponentialgleichungen.
Brauchst du Hilfe?
Ich lächelte leicht, als ich mich daran erinnerte, wie wir in der zweiten Klasse zusammen das kleine Ein-Mal-Eins gelernt hatten. Er hatte es nach einer Stunde perfekt drauf, konnte aber immer noch nicht richtig lesen. Ich, im Gegensatz dazu, konnte lesen wie eine Viertklässlerin, aber das Ein-Mal-Eins hakte heute noch.
Wenn du grade nichts Besseres zu tun hast.
Hab ich nicht.
War klar. Ich schüttelte den Kopf, da ich überhaupt keine Lust auf Mathe hatte. Ich hatte das Buch nur rausgeholt, um so zu tun als ob. Ich musste lachen.
Ich hab keine Lust zu lernen.
Dann machen wir was anderes. Wir könnten Raiden und Rin verschleppen. Sie scheinen sich näher zu kommen.
Auch nicht. Ich will schlafen, grinste ich ihn an und zog mir meine Decke über die Füße.
Dann schlafen wir zusammen, kleines Gespenst. Er grinste noch breiter als ich. Ich schüttelte nur den Kopf.
Gut. Was willst du machen?
Lass uns rausgehen. Ich brauche Bewegung.
Du kannst dich doch kaum bewegen. Ich nahm eine seiner Krücken und kletterte damit über mein großes Bett zu meiner Tür.
Gib sie mir wieder. Ich kann so nicht laufen. Das ist gemein. Er wischte sich eine imaginäre Träne weg und schob seine Unterlippe vor.
Ernsthaft? Hier. Ich sah die roten Hundeaugen an und streckte die Krücke so nach vorne, dass er gerade so rankam.
Danke, Herzchen.
Dir geht’s gut, ja?
Sicher. Wieso sollte es mir nicht gut gehen.
Komm jetzt. Ich hatte schon meine Jacke genommen und war in meine Schuhe geschlüpft. Es war in der letzten Woche bereits Schnee gefallen. Ein leider unvermeidliches Zeichen dafür, dass der Winter bereits angefangen hatte. Doch das Gute daran war, dass wir bald die Wintersonnenwende feiern würden.
Den Stillstand der Sonne, meinte Aiden als er hinter mir stand. Er war mir plötzlich so nah, dass es mir unangenehm war. Ich konnte seinen Atem neben meinem Ohr spüren. Er war mir in diesem Moment so ungewohnt vertraut, doch so fremd, wie jemand, dem man zufällig auf der Straße begegnet. Was war das schonwieder mit mir? Was war nur los…
Tut das nicht weh?, fragte ich und musste husten, um nach vorn zu gehen.
Was? Er wich ein Stück zurück.
So nah an meinem Kopf zu denken. Ich drehte mich um, musste reflexartig einen Schritt nach hinten gehen, als ich seinen Blick traf. Er brannte mir entgegen wie eine Stichflamme.
Lass uns raus gehen, grinste er und humpelte an mir vorbei aus der Tür. Er hatte es auch bemerkt. Ich war mir sicher.
Fünf Minuten später hatten wir und unter den bösen Blicken von Akari aus der Hütte gestohlen und waren in den Wald gegangen.
Willst du es mir zeigen? Ich möchte sehen, wie schwer es für dich ist, in meiner Nähe zu sein…
Lucie, ich kann dir das nicht zeigen. Du musst es dir schon selber ansehen. Ich kann dich schlecht daran hindern, aber ich rate davon ab. Ich hielt ihm meine Hand hin, um über den vereisten Baumstamm zu kommen. Er nahm sie entgegen und stützte sich mit seinem gesunden Bein ab.
Ich will es sehen.
Warte. Nicht hier. Lass uns doch oben auf deinen kleinen Hügel gehen, wo du normalerweise keinen Empfang hast. Er lächelte schief und ich zuckte mit den Schultern.
Von mir aus. Aber verrat niemandem meinen ultra-geheimen Ort. Er lachte dunkel und seine Augen funkelte mich belustigt an. Seine Haare glitzerten unter der Schwarzen Mütze und sein Atem war in der kalten Luft deutlich erkennbar. Ich zog meinen Schal zu Recht und wir schlenderten- er humpelte- auf den Hügel.
Jetzt?
Wie kann man nur so aufgeregt auf sowas sein. Er schüttelte den Kopf und setzte sich auf einen Baumstamm, auf dem kein Schnee lag.
Komm her. Ich setzte mich neben ihn und wartete.
Okay. Du weißt, alles was du hörst bekomme ich doppelt ab, ja? Es ist wie, wenn du zwei Spiegel gegenüberstellst. Plötzlich hatte ich Bedenken.
Aber du lässt es mich machen?
Ja. Wenn du es sehen willst, wieso nicht? Ich bin es ja gewohnt. Ich nickte.
Bist du soweit? Ich bin nervös.
Nimm meine Hände, auch wenn wir das seit der dritten nicht mehr machen müssen. Ich halte dich fest, kleines Gespenst. Er grinste und hielt mir seine Hände hin. Ich nahm sie entgegen, um mich an ihm festzuhalten. Wieder durchströmte mich eine ungewohnte Wärme.
Du holst mich zurück, wenn ich… du weißt schon was? Ich war schon einige Male zusammengebrochen, als wir getestet haben, wie viel wir mental aushalten konnten. Aiden konnte als Kind schon zwei Unterhaltungen folgen. Ich hatte es schwer einer zu folgen, wenn es nicht gerade unsere war. Er hatte sich aber auch immer irgendwie besser vorbereitet.
Ich hol dich zurück. Das letzte was ich sah, waren seine ehrlichen, feuerroten Augen. Ich schloss meine und holte tief Luft.
Zunächst sah ich Aidens Mutter, das mit seinen Augen und Rin war ihm wohl immer noch nicht aus dem Kopf gegangen. Darauf kam Annie mir entgegen mit einen Auflauf in der Hand. Hier. Ich fühlte mich glücklich. Ich merkte wie ich meine Augen öffnete, doch die Bilder fluteten mich weiter. Meine Gedanken strömten aus allen Richtungen auf mich zu. Schnee… Aidens Hände sind so weich. Hatte ich das wirklich gedacht? Hallte es in meinem Kopf doppelt? Es war wie zwei Spiegel, die man voreinander stellte, um tausendmal sich selbst zu sehen. Aidens Hände… Lucie?! Mein kleines Gespenst… Kleines Gespenst. Wieder flutete mich eine Welle von Bilden. Sie überwältigte mich. Ich fühlte mein Herz klopfte schneller und schneller. Aidens und Raidens Vater kam auf mich zu. Hob seine Hand. Wieso tat er das? Aiden… Er rief immer wieder Aiden sei ein Nichtsnutz. Ich hatte Angst. Seine Mutter kam in den Raum mit ihren wunderschönen roten Augen starrte sie ihm entgegen. Was soll das?! Raiden schaukelte auf einer… Sie ist schön. Fast wie ein Engel. Wer? Worum geht’s? Raiden!!, schrie sein Unterbewusstsein. Die einzige Familie, die er noch hatte. Meine Mutter kam auf mich zu. Aiden stand neben mir. Wir bekamen Kekse. Aiden weint. Aiden weint! Tut doch was! Holt sie zurück! Nein Lucie! Beruhige dich. Beruhige dich. Aiden!!
„Lucie! Das reicht!“, schrie er, seine Stimme Brach. Doch hatte ich das gedacht, oder gehört? Ich blinzelte. Mir wurde bewusst, wie langsam alles wieder klar wurde. Ich entfernte mich aus Aidens Gedanken, als ich merkte, dass seine Hände zitterten. Mir liefen heiße Tränen über die Wangen, die den kalten Schnee, der anfing zu fallen, schmelzen ließen.
Aiden starrte mit aufgerissenen Augen in mein Gesicht.
Mach das nie wieder. In seinen Augen spiegelte sich Angst und Unsicherheit. Er hatte es doppelt gefühlt. Er wusste, was ich gesehen hatte. Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Ich rückte ein Stück näher und umarmte ihn. Seine Hände schlossen sich fest um meine Hüften. Die heißen, bitteren Tränen wollten nicht aufhören und ich begann zu schluchzten.
Es ist furchtbar.
Es ist meine eigene Schuld. Er drückte mich fester und zog mich näher an sich ran.
Wieso gehst du nicht? Ich meine, du könntest gehen und mich einfach hier lassen. Unser Radius ist nicht so weit. Du könntest in eine andere Stadt ziehen und Ruhe haben. Einmal klar denken können. Ich kann mir nicht vorstellen, wie stark du das empfinden musst.
Und was, wenn er sich wieder erweitert? Du weißt, immer wenn wir länger voneinander entfernt sind, weitet er sich aus.
Stimmt.
Außerdem will ich hier nicht weg. Ich brauche doch jemanden, der mich festhält und mir meine Krücken wegnimmt. Er löste sich aus der Umarmung und wischte mit seiner Hand meine Tränen weg. Jetzt hör auf zu flennen, kleines Gespenst und zeig mir was du so mit Schnee anstellen kannst. Er nahm eine Hand voll Schnee und drückte ihn zu einem Schneeball zusammen. Ich lächelte. Das war eine Sache, die ich an ihm liebte. Er konnte so schnell wieder das kleine Kind sein, das mir Halt gab. Ich machte ebenfalls ein paar Schneebälle. Er hatte keine Chance mit den Krücken.
Rin
Grinsend ließ ich die nächste Ladung Schnee fallen, bevor ich einen Schneeball formte, den ich gegen einen nahegelegenen Baum fliegen ließ. Ich konnte nicht anders als lachend wie ein kleines Kind im Kreis zu hüpfen.
In den letzten Wochen hatte sich herausgestellt, dass meine Eis-Kräfte tatsächlich mehr oder wenig zum Element Wasser gehörten.
Naja, wenn ich sagte „herausgestellt“, dann meinte ich damit, dass Ephraim ein Glas Wasser über mich hatte schütten wollen, nur um dasselbe selbst ins Gesicht zu bekommen. Unbewusst hatte ich es abgewehrt und zu ihm zurück geschleudert. Er hatte hinterher geschworen, dass das nur ein Test gewesen war und dass er natürlich gewusst hatte, dass das passieren würde. Ich glaubte ihm nicht wirklich, allerdings hatte er sich dann dazu bereit erklärt, mir zu helfen, die Kräfte unter Kontrolle zu bekommen. Ich war mir jedoch sicher, dass er nur Angst hatte, selbst irgendwo festgefroren zu werden, denn er besaß weder Monster-Kräfte noch ein nützliches Element – aber mir sollte es recht sein.
Vor allem, da jetzt Schnee lag. So langsam bekam ich den Dreh raus und meine Schneebälle wurden immer härter und runder. Ich war zwar mittlerweile durchnässt bis auf die Knochen, aber das war es wert.
Aufgeregt wollte ich eine weitere Ladung Schnee über den Boden bewegen und war überrascht, als sich nichts tat. Ich versuchte es noch einmal und hörte ein lautes Platschen. Abrupt sah ich auf. Eine Lawine von kaltem Weiß war vom Dach gerutscht und direkt auf Raidens Kopf gelandet, der gelangweilt auf der Veranda gesessen hatte und ein Buch von mir gelesen hatte, das er mit den Worten „Deine Freunde sind auch meine Freunde“ aus meinem Regal geklaut hatte.
Jetzt sah er zu mir hinüber, während er sich den Schnee aus den silbernen Haaren schüttelte, ehe er umständlich aufstand. Ich musste mir ein schadenfrohes Grinsen verkneifen.
„Tut mir leid“, rief ich zu ihm rüber. Er schüttelte den Kopf.
„Nein, tut es nicht. – Komm her.“ Er winkte mich zu sich ran. Verwirrt folgte ich der Aufforderung und fand kurz darauf seinen Arm um meine Schultern wieder. Er zog mich dicht an sich und mein Herz sprang mir fast in den Hals. Dennoch ließ ich es zu und drückte mich noch ein wenig mehr an ihn, denn er war warm und mir war, wie ich nun doch bemerkte, eiskalt.
„Du bist halb erfroren“, bemerkte er beinahe tadelnd und mir fiel auf, dass ich zitterte wie Espenlaub. Ohne auf irgendeine Antwort von mir zu warten, trat er die Tür auf und schob mich hinein, wo mich Akaris missbilligender Blick begrüßte. Als sie Raiden sah wurden ihre Augen schmal.
„Du schon wieder! – Hast du niemals Benehmen gelernt?“, zischte sie. Er zuckte auf seine desinteressierte Weise die Schultern, während er seinen durchnässten Schal abnahm.
„Dir auch einen schönen guten Tag“, erwiderte er nur und keine Sekunden später standen wie in meinem Zimmer.
„Das s-solltest du d-doch la-lasse“, stotterte ich durch meine klappernden Zähne. „Kannst d-du nicht no-normal gehen?“
Er grinste nur und warf sich auf mein Bett. Das nun durchweichte Buch legte er auf meinen Nachttisch. Ich verzog das Gesicht, als ich es sah, sagte aber nichts und schnappte mir lediglich trockene Klamotten mit denen ich im Bad verschwand. Als ich zwei Minuten später dann neben Raiden auf dem Bett saß und immer noch zitterte, setzte er sich auf und nahm meine Hände in seine. Fast automatisch versuchte ich an meine schützende Bibliothek zu denken. Doch, was ich kurz darauf spürte, war nicht das Eindringen von fremden Erinnerungen, sondern nur Wärme, die sich in mir ausbreitete. Sie ging von ihm aus über meine Fingerspitzen, durch alle Nerven und nistete sich irgendwo tief in meinem Bauch ein. Ich seufzte wohlig.
„Die Vorteile eines Feuerbändigers“, sagte ich lächelnd und beobachtete wie sein Mundwinkel zuckte. Schließlich ließ er von meinen Händen ab, doch die Wärme blieb in meinen Körper.
Während ich ihn beobachtete, wie er sich daran machte, mein Buch zu retten, konnte ich nicht anders als mal wieder an den Fast-Kuss zu denken. In dem Moment hatte er, wenn auch nur kurz, wirklich gelächelt. Es war ein irgendwie niedliches, bescheidenes Lächeln gewesen. Doch ich wusste noch immer nicht, was es damit auf sich hatte – dem Kuss meine ich.
„Warum hast du mich geküsst?“ Am liebsten wollte ich mir die Hand vor den Mund schlagen, der mal wieder schneller als ich war. „I-ich meine… fast, also beinahe… geküsst?“ Ich war kurz davor mich selbst zu ohrfeigen für diesen Satz. Als hätte ich nichts Besseres zu tun als die ganze Zeit über sowas nachzudenken. Er hatte sicherlich schon Millionen Mädchen auf die Wange geküsst, doch gerade ich musste nachfragen, wieso.
Um ehrlich zu sein hatte ich die letzten Wochen nichts Besseres zu tun gehabt. Jedes Mal, wenn er mir über den Weg lief, musste ich daran zurück denken und bin ihm ausgewichen. Wir redeten erst seit ein paar Tagen wieder miteinander und ich musste das natürlich kaputt machen.
„Weiß ich nicht. Es kam so über mich“, er starrte auf seine andere Seite und ich bemühte mich, nicht allzu enttäuscht auszusehen.
Es kam so über ihn… Oh … Natürlich. Raiden Wie-auch-immer-sein-Nachname-lautete tat nun mal, was gerade so über ihn kam. Er war ja auch immerhin um zwei Uhr nachts in meinem Zimmer erschienen. Und deshalb bedeutete es nichts? Ich wollte nicht, dass es was bedeutete, aber … Wollte ich es wirklich nicht? Vielleicht sollte ich auf Lucie hören. Vielleicht war jetzt der Zeitpunkt ein wenig Offenheit zu zeigen… Vielleicht auch nicht. Aber vielleicht…
„D-du verwirrst mich…“, stammelte ich. Es war der einzige Satz gewesen, den ich aus meinem Gedankengewirr noch entziffern konnte. Nun gut, es war nicht der perfekte Satz… Ich kratzte mich am Kopf, um die hunderten imaginären Gedankenblasen loszuwerden, doch es bildeten sich immer wieder neue. Es war hoffnungslos.
„Würdest du mir einen Gefallen tun?“, fragte Raiden und errichtete erneut tausende Bläschen über meinem Kopf. Ich dachte unter anderem daran, wie ich diesen merkwürdigen Augenblick wohl skizzieren könnte.
„Ähm … Klar, aber was …“ Ich blinzelte mehrmals perplex, als Raiden sich vorbeugte und noch bevor ich ihn abhalten konnte, berührten seine Lippen die meinen. Kein Gedankenschwall. Nur seine Lippen auf meinen. Seine Hand legte sich sanft in meinen Nacken und zog mich näher an ihn. Ich ließ es ohne Widerspruch geschehen, bevor ich die Situation realisierte.
Immer noch verwirrt öffnete ich die Augen und er ließ von mir ab. Ich starrte ihn einfach nur an und wartete auf eine Erklärung. – Doch die kam nicht. Stattdessen schein er mich für einen Moment zu mustern, auf etwas zu warten. Sein Blick huschte von meinen Augen zu meiner Nase, zu meinen Lippen, wo er einige Atemzüge liegen blieb, ehe er mir wieder in die Augen sah. Dann lehnte er sich abermals vor und küsste mich erneut. Und diesmal war es anders, es war nicht nur eine Berührung.
Ich schlang die Arme um seinen Hals, zog ihn dichter an mich. Er antwortete indem er seine Finger fest in meinen Haaren vergrub und irgendwo in der Stille meiner Gedanken fragte ich mich, ob ich das hier nicht zu sehr genoss. Das Gewicht von seinem schlanken, sehnigen Körper auf meinem, nun da ich irgendwie auf meinem Rücken gelandet war, sein Atem auf meinem Gesicht und seine Finger in meinem Nacken. Immer wieder trafen unsere Lippen aufeinander, bis sich sein Mund an meinem zu einem Lächeln verzog und in mir ebenfalls ein Lachen hervor blubberte.
„Was heißt das jetzt?“, fragte ich schließlich, als ich wieder zu Atem gekommen war und er sah mit seinen sturmgrauen Augen auf mich runter – und zuckte die Schultern. Manchmal könnte ich ihn erwürgen.
„Du hast nach Cookies gerochen und ich wollte etwas abhaben“, erklärte er. Ich sah ihn ungläubig an. Bitte, bitte sag, dass das ein Scherz war.
„Ernsthaft?“, quiekte ich. Er lachte nur.
„Nein – also ja. Du hast nach Cookies gerochen. Aber ich denke …“ Er hielt inne, musterte mich verwirrt. „Ich denke … Ich … mag dich?“ Seine letzten Worte waren fast nur ein Wispern und er räusperte sich. „Ich glaube, das heißt es … macht man das nicht, wenn man … also, wenn …“
Ich unterbrach sein stockendes Geplapper. „Du magst mich?“
Seinen Blick konnte man wohl nur als erschrocken bezeichnen. „Ähm … Ja“, antwortete er und tiefrote Farbe kroch von seinen Ohrspitzen über seine Wangen. Hastig setzte er sich auf und tastete nach seinem Schal, den er nicht um hatte. Ich musste lachen.
„Weißt du, ich glaube … Ich mag dich auch“, sagte ich, nicht länger in der Lage, ihn so peinlich berührt und gequält drein blicken zu sehen. Und ich holte tief Luft und nahm von irgendwoher meinen Mut zusammen und küsste ihn. So. Jetzt war es raus. Der Gedanke, der seit Tagen und Wochen schon durch meinen Kopf geisterte. Raiden lächelte.
„Das ist … gut“, flüsterte er, streckte die Hand nach mir aus und ließ sie wieder fallen, den Blick auf meinen Nachttisch geheftet.
„Was ist?“, wollte ich wissen und drehte mich um. Mein Wecker zeigte kurz vor halb vier an. Erschrocken sprang ich auf. „Oh mein Gott – wir kommen zu spät!“, rief ich und suchte Klamotten raus, in denen ich draußen nicht auf der Stelle erfrieren würde. „Das ist alles deine Schuld!“
Raiden zuckte nur wieder die Schultern. Ich verdrehte die Augen. Natürlich kratzte ihn das nicht, dabei waren wir schon vor einer halben Stunde mit Lucie und Aiden verabredet gewesen.
„Jetzt komm schon.“ Ich zog an seiner Hand, nachdem ich mir Jacke und Stiefeln angezogen hatte. Er erhob sich schwerfällig vom Bett und ich wollte gerade schon zufrieden aus der Tür marschieren, als sich sein Arm um meine Mitte schlang ich mich mit dem Rück zur Wand wieder fand.
Mein Herz sprang mir wieder an den Hals und das Blut schoss mir ins Gesicht, als sein Mund meine Schläfen streifte, meine Wangen und meine Mundwinkel. Ich seufzte und erwiderte den Kuss, ehe ich ihn wieder von mir stieß und die Tür aufriss. Hinter mir hörte ich ihn lachen.
„Du bist ein arroganter Mistkerl“, beschied ich ihm und wusste sehr wohl, dass mein Gesicht dabei rot wie eine Tomate sein musste – wobei er nicht besser aussah. Vor allem weil seine Ohren die Farbe von Scharlach angenommen hatten und in einem merkwürdigen Kontrast zu seinen hellen Haaren standen. Und sein Grinsen, das sein Gesicht zu spalten wollen schien und zwei spitze Eckzähne offenbarte, sah alles andere als intelligent aus. Ich musste prusten.
„Wir müssen jetzt gehen“, sagte ich und warf ihm seinen Schal zu, den er fast augenblicklich um seine untere Gesichtshälfte band – und ich war fast schon enttäuscht. Er gab mir als Antwort nur ein Nicken und schob mich dann vor sich her aus der Hütte. Ich seufzte.
Am Parkplatz warteten Lucie und Aiden bereits äußerst ungeduldig auf uns und ich lächelte entschuldigend.
„Du verbringst zu viel Zeit mit meinem Bruder, wenn er schon auf dich abfärbt“, bemerkte Aiden. Ich wollte schon antworten, dass ich einfach nicht auf die Uhr gesehen hatte – was ja auch stimmte – doch Raiden ging mir dazwischen.
„Wir hatten starken Gegenwind. Außerdem ist der Postbote in der Tür stecken geblieben und wir konnten nicht raus.“
Jetzt musste ich ernsthaft lachen. Auch die anderen beiden konnten sich ein Kichern nicht verkneifen.
„Dir ist schon klar, dass wir keinen Postboten hier haben – oder, Raiden?“, fragte Lucie. Raiden sah sie verwirrt an, was uns allen nochmal Gelächter entlockte, ehe wir in den Wagen der Zwillinge einstiegen.
Lucie
Wenige Minuten, nachdem Rin und Raiden-viel zu spät- am Parkplatz angekommen waren, standen wir vor der Bowling-Halle.
„Ihr seid euch sicher, ja?“, fragte Aiden die anderen und grinste. Niemand von uns konnte spielen und das letzte Mal, als wir hier waren, hatten Aiden und Raiden sich furchtbar in die Haare bekommen.
„Wieso nicht?“, sagte Raiden, der heute merkwürdigerweise den Schal selbst über die Ohren gezogen hatte.
Was will er verbergen?
Aiden stach mir mit einem Finger in die Seite und schob mich vorwärts. Willst du hier stehen bleiben? Ich denke du weißt, was die beiden Verbergen.
Ich hörte ihn leise hinter mir lachen, als Raiden sich das Tuch von den Ohren zu Recht schob und Rin ihn kurz schockiert ansah.
Okay. Es ist offensichtlich. Wir wissen, wann Raiden seine Ohren verstecken muss. Ein leichtes Lächeln konnte ich nicht zurückhalten.
Aiden ging nun neben mir, grinste mich an und wir betraten gemeinsam die große Halle, die nach Käsefüßen und altem Holz roch. Ich rümpfte die Nase. Hoffentlich gewöhnte man sich an diesen Geruch.
„Hallo. Was kann ich für sie tun?“, fragte der Kassierer und grinste mit seinem falschen Lächeln in unsere Richtung.
„Wir nehmen eine Bahn für vier Leute.“ Wir bekamen unsere Schuhe und bestellten vier Cola, bevor wir uns zu den Tischen neben Bahn 8 setzten.
Willst du nichts dazu sagen? Ich grinste Aiden an, der Raiden beobachtete, wie er Rin beobachtete, wie sie die Kugel in die linke Rinne schoss.
Wieso sollte ich? Überlassen wir das den beiden. Er drehte sich zu mir und zwinkerte mir zu. Ich grinste zurück und nickte. Wieso nicht.
Ich war nun an der Reihe und schoss ganze zwei Pins um. Rin blickte aufmunternd in meine Richtung.
„Super gemacht“, sagte Raiden und nahm sich seine Kugel.
„Danke.“ Ich konnte nicht anders und lachte kurz auf.
Unsere Kellnerin kam mit den Getränken und wir spielten eine Weile weiter.
Aiden bemühte sich trotz Krücken die Kugel irgendwie zu werfen, doch er scheiterte kläglich.
Wird schon, versuchte ich ihn aufzumuntern, als er sich zu mir setzte.
Du weißt schon, dass wir nicht einmal, wenn wir drei alle unsere Punkte zusammen zählen würden, eine Chance gegen Raiden hätten? Ich sah auf die Anzeigetafel über der Bahn. Aiden hatte stolze zwanzig Punkte bisher, Rin hatte zwei und ich genau neun. Insgesamt machte das… Mathe…
Einunddreißig, half Aiden nach und schüttelte den Kopf. Raiden hat fünfundvierzig. Ich zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck von meiner Cola.
Wo liegt das Problem?, fragte ich.
Nirgends… Ich wollte es nur mal erwähnt haben.
Ich sah mich ein wenig in der Halle um, da Rin wieder dran war und… es war nicht schön mit anzusehen, wie sie die Kugel hinter sich warf. Fast. Eine Bahn weiter saß eine Gruppe Jugendliche aus der Stadt. Sie hatten womöglich nicht einmal eine Ahnung, dass wir hier lebten. Dahinter befand sich ein Senioren Club mit zusammenpassenden Outfits und Profi-Handschuhen. Hinter uns saß ein junges Paar, welches sich weniger auf das Bowling konzentrierte, als auf sich selbst und daneben saß ein älterer Mann mit Sonnenbrille, der gerade zu uns hinüber schaute. Ich blickte zurück, neigte meinen Kopf zur Seite und fragte mich, ob er wohl blind war.
Lucie. Das was du tust ist unglaublich unhöflich, ob blind oder nicht. Starr ihn nicht so an. Aiden grinste und nahm einen Schluck seiner Cola.
Ich kann da nichts für er starrt auch, verteidigte ich mich und drehte mich wieder zu den anderen.
Es ging noch eine Weile so weiter. Einmal traf Rin fast einen Kellner mit einer Kugel, als sie sich diese von der Halterung nahm. Doch alles in allem verlief der Abend ruhig und wir unterhielten uns zum Ende hin sogar über die Schule, da Aiden und ich nicht auf das was-auch-immer-zwischen-Rin-und-Raiden-ist-Thema eingehen wollten.
„Hier“, sagte Aiden zu Raiden und gab ihm die Schlüssel, die er ihm-obwohl Raiden fuhr- abgenommen hatte, um sicher zu gehen, dass er nicht abhaute.
„Danke“, brummte er und setzte sich nach vorn auf den Fahrersitz. Rin setzte sich daneben und schob ihren Sitz nach vorne, damit Aiden Platz für sein Bein hatte.
Der Gips kommt bald ab, nicht wahr?, fragte ich und lächelte ihm zu, als ich meine Tür schloss und mich zu ihm beugte, um ihm mit seinem Bein zu helfen.
Danke. Es geht schon, kleines Gespenst. Er lächelte, als er den Kopf senkte, um sein Bein in den Wagen zu heben. Ja, er kommt bald ab.
Wir fuhren bereits eine Weile, als wir den Wagen hinter uns bemerkten, der uns seit Anfang der Fahrt hinterherfuhr.
Denkst du auch er folgt uns?
Er will vielleicht nur in dieselbe Richtung.
„Raiden, fahr einmal um den Block bitte. Der Fahrer hinter uns macht mich nervös mit seinem nicht-vorhandenem Bremsabstand“, bat ich. Er nickte, da ihm wohl genauso unwohl war wie mir. Ich warf einen Blick zurück, um den Abstand zu unserem Auto nochmal zu überprüfen. Er fuhr viel zu dicht auf.
Gerade als Raiden um die Ecke biegen wollte, passierte es. Mit einem lauten Knall wurden wir in unsere Sitze gedrückt. Rin- die neben mir saß- gab ein lautes Stöhnen von sich, als der Wagen abrupt zum Stillstand kam und sie in ihren Gurt fiel.
„Was zur Hölle war das?!“, rief Raiden. Er sah nach ob es uns gut ging und stieg aus dem Wagen.
„Warte“, stöhnte Aiden, der gerade mit der Tür beschäftigt war. Vielleicht solltest du lieber warten, sagte ich und legte ihm meine Hand auf die Schulter.
Ich öffnete meine Hand und stieg aus.
Ich komme mit.
Wie du meinst. War nur gut gemeint.
Rin blieb im Wagen sitzen und schnallte sich ab. Während sie ihren Hals auf Wunden abtastete gingen Raiden und ich zu dem Fahrer des Wagens hinter uns.
„Hey! Was ist ihr Problem?“, rief Raiden aufgebracht. Ich hatte ihn noch nie so in Rage erlebt. Machte er sich etwa Sorgen um uns?
Ein sichtlich verwirrter, älterer Mann stieg aus dem Wagen und hob die Hände.
„Es tut mir so leid, ich wollte euch nicht so dicht auffahren. Ich bin nur müde. Ich sollte mir vielleicht ein Taxi rufen. Seit fünfundsiebzig Jahren bin ich in meinem Job, mache jeden Tag Überstunden…“ Der ältere Mann redete weiter, doch ich hörte nicht mehr zu, da ich von irgendwas abgelenkt wurde. Ich sah mich um.
Eine düstere Atmosphäre hatte sich angeschlichen und umgab uns nun mit allem was sie zu bieten hatte. Flackernde Straßenlaternen, kein Auto mehr in Sicht und es begann leicht zu nieseln.
Spürst du das?, fragte ich Aiden.
Der alte Mann ist am Reden. Es ist unhöflich, da nicht zuzuhören. Mein Blick wurde zynisch und als der ältere Autofahrer es bemerkte, sah er mich fragend an, redete aber weiter wie ein Wasserfall von seinen schweren Jahren als Arbeiter in einer Autowerkstatt.
Deine Schuld, meinte ich. Merkst du nicht, dass hier irgendwas nicht stimmt?
Ich merke nichts, außer den Schmerzen in meinem Bein, das grade gegen das Armaturenbrett fallen musste.
Irgendwas ist hier merkwürdig…, sagte ich und gerade, als ich es ignorieren wollte, sah ich jemanden ein paar hundert Meter weiter hinter einer Laterne stehen. Mein Herz setzte aus. Aiden stieg ruckartig aus dem Auto und stellte sich neben mich, als Raiden ebenfalls mit offenem Mund in die Richtung sah, rannte der Mann fort.
Der alte Mann sank zu Boden und bewegte sich nicht mehr.
Was ist hier los Aiden?! Du hast ihn auch gesehen nicht wahr? ... Aiden? Er blickte immer noch verwundert in die Richtung der Laterne. Raiden versuchte in der Zeit dem alten Mann zu helfen, doch wenn wir es alle gesehen hatten, war es bereits zu spät.
„Raiden? Du hast ihn gesehen, oder?“ Diese Stille brachte mich um. Ich hatte mir ihn nicht eingebildet. Aiden und Raiden standen unter Schock!
Rin stieg aus dem Auto aus und als sie uns sah mit dem alten Mann, schreckte sie zusammen.
„Was ist hier passiert?“, fragte sie und half Raiden nach dem Mann zu sehen.
„Wir haben Raiden und Aidens Vater gesehen“, sagte ich, doch ich glaubte mir selber nicht. Kein Wort von dem was ich von mir gab konnte wahr sein! Er war tot. Seit elf verdammten Jahren war er tot!
„Ihr habt was?“ fragte Rin verwundert. Sie blickte zu Raiden. „Ich dachte er wäre…“ Raiden sah sie erschöpft an und verstand.
Wir konnten den alten Mann nicht zurück lassen, also nahmen wir ihn in seiner Starre mit und brachten ihn in ein Krankenhaus. Sie stellten heraus, dass er im Koma lag- wie wir vermutet hatten, war es zu spät.
Es gab also keine Zweifel mehr. Wir hatten ihren Vater gesehen. Elf Jahre nach seinem Tod.
Zurück im Camp meldeten wir den Autounfall, woraufhin wir alle in unsere Hütten gingen. Keiner von uns redete mehr ein Wort miteinander, bevor wir alle einschliefen.
In dieser Nacht hatte ich Albträume. Ich träumte von Evann- so hieß der Vater der Zwillinge- wie er auf mich zu kam mit seiner erhobenen Hand und mich anschrie. Ich hatte es in Aidens Gedanken gesehen, das wusste ich noch. Ich träumte weiter und begegnete Aliè, der Frau von Evann. Aidens Mutter blickte mich mit ihren roten Augen direkt an. Voller Wut, doch ihre Wut wandte sich in Trauer, ihr Blick wurde sanft. Sie schrie, ich konnte nicht anders, als zuzuhören. Ich konnte mich nicht bewegen. War ich in Aidens Erinnerungen? Träumte er auch?
Plötzlich hörte ich meinen Namen. Lucie… Ertönte es in meinem Unterbewusstsein. Lucie… Wach auf!
Ich blinzelte ins Licht und bemerkte Aiden neben mir.
Alles in Ordnung?, fragte er, während er mir die Haare hinters Ohr strich. Ich setzte mich ein wenig verwundert auf und nickte. Erst jetzt bemerkte ich, dass wieder Tränen über meine Wangen rollten. Ich wischte sie fort, denn es waren nicht meine.
Bei mir ist alles gut, denke ich.
Lucie. Was hast du alles gesehen?
Ich habe deinen Vater gesehen und deine Mutter. Du warst so klein, dass du dich noch nicht kontrolliert bewegen konntest, Aiden. Was hat es damit auf sich?
Du weißt … Mein Vater hat mich früher ... Du konntest es sehen. Ich meine, du weißt es schon lange, nicht wahr?
Ich nickte und machte Platz auf meinem Bett, damit er sich hinsetzen konnte. Mit seinem Bein zu knien, war vielleicht nicht seine beste Idee gewesen.
Warum hast du nie nachgefragt?
Weil es mich nichts angeht. Du wärst schon zu mir gekommen, hätte ich irgendwie helfen können.
Er legte sich neben mich und seufzte. Dann schob er seine Arme hinter seinen Kopf und atmete tief ein. Sein T-Shirt- was ihm viel zu klein war- spannte sich über seine Muskeln und legte seinen Bauchnabel frei. Er blickte mich mit seinen rubinroten Augen an und sie schienen im Licht meiner Nachttischlampe zu flattern.
Ich wäre zu dir gekommen, ja.
Na siehst du. Du wolltest anscheinend nie darüber reden.
Nicht wirklich eins meiner Lieblingsthemen, Lucie. Was hast du noch gesehen?
Deine Mutter, wie sie weint und schreit.
„Hmm“, machte er und ich konnte seinen Brustkorb vibrieren sehen. Ich beugte mich- immer noch sitzend- über ihn und schaltete das Licht aus.
Schläfst du hier?
Warum nicht… Er strich mir erneut eine Strähne aus dem Gesicht, als ich mich neben ihn gelegt hatte.
Mein Herz fing an so laut zu pochen, dass er es mit Sicherheit hören konnte. Schlaf, befahl ich mir und versuchte nicht über ihn nachzudenken. Stattdessen dachte ich über Aliè und Evann nach und weshalb sie wohl so wütend waren als Aiden noch jünger war. Wieso hatten wir Evann an der Laterne gesehen?
Lucie?... Würdest du vielleicht einschlafen, bitte?
Ich zuckte die Schultern und schlief langsam neben ihm ein.
Rin
Raiden war still. Er war zwar mal wieder vollkommen unzeremoniell und unangebracht vor meinem Fenster erschienen, doch dann hatte er einfach mein Zimmer durchquert, hatte sich auf mein Bett fallen gelassen, an der Wand zusammen gerollt und schwieg nun eisern.
Ich störte ihn nicht. Stattdessen hatte ich es mir mit Kakao, warmen Socken und meinem Zeichenblock auf einem Sessel in meinem Zimmer gemütlich gemacht und wartet, während ich vor mich hin kritzelte.
„Es war keine Halluzination“, sagte er schließlich. Seine Stimme war leise, aber fest. Ich sah auf und begegnete seinem dunkelgrauen Blick und nickte. Er setzte sich auf.
„Er war da. Mein Vater ist dort gewesen.“ Ich glaubte, noch nie solch verzweifelte Verwirrung in seinem Gesicht gesehen zu haben. Er starrte auf seine Hände in seinem Schoß, als würden die die Antwort wissen. „Er ist tot. Er sollte tot sein. Ich hab gesehen, wie …“ Er stockte.
„Bist du dir sicher, dass es wirklich dein Vater war?“ Ich stand auf und tappste zum Bett hinüber, wo ich mich neben ihn setzte. „Es hätte jeder sein können. Es war dunkel und …“
„Er war es!“
Bei der plötzlichen Lautstärke seiner Stimme zuckte ich zusammen. Er sah mich entschuldigend an, ehe er den Blick wieder senkte.
„Er war es“, wiederholte er leiser. „Lucie und Aiden haben ihn auch gesehen und …“ Er zögerte, musterte mich. Zwei Minuten lang schwieg er, bis er Luft holte und sie zischen wieder ausstieß. „Es ist … ein Geheimnis. Nur vier Personen wissen oder wussten davon. Meine Mutter, Aiden, Lucie und ich. Mein Vater war … Mein Vater ist ein Blutbändiger.“
Ich sog erschrocken die Luft ein, starrte ihn ungläubig mit weiten Augen an.
Blutbändiger waren selten – extrem selten. Es tauchte höchstens einer innerhalb vier Generationen auf. Man sagte ihnen schwarze, gefährliche Kräfte nach. Sie konnten Menschen und andere Lebewesen beherrschen, ihnen jeglichen Kontrolle und jeden Willen nehmen und sie lenken, wie es ihnen gefiel. Das zog nicht nur anschließende geistige Verwirrung des Opfers nach sich, sondern auch körperliche Schäden. Oft überlebten die Opfer nicht – vor allem normale Menschen nicht.
„Dann … der alte Mann im Koma, er …“
„Er wurde von meinem Vater beherrscht, ja.“ Raidens Blick war dunkel und grimmig. Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb.
„Er wird sterben.“
Es war keine Frage, doch er nickte trotzdem und in mir stieg fürchterliches Bedauern hoch. Doch dann dachte ich an Raiden und seinen Bruder und wie es für sie sein musste, zu erfahren, dass ihr jahrelang tot-geglaubter Vater auf einmal am Straßenrand stand.
Meine Frage musste mir wohl ins Gesicht geschrieben gewesen sein, denn Raiden presste die Lippen aufeinander und wandte den Blick ab.
„Ich mochte meinen Vater nie“, sagte er und ich war erstaunt, dass er mir diese persönliche Information freiwillig gab. Ich hatte mich schon darauf eingestellt, es einfach dabei zu belassen.
„Ich war immer sein Liebling, der vorgezogene Zwilling, der Ältere, der Erste. Immer bekam ich irgendwelche Extras von ihm. Ein Lob, bestimmten Nachtisch. Ich durfte tun und lassen, was ich wollte. Und währenddessen wurde Aiden von unserem Vater bestraft, geschlagen für Kleinigkeiten, die er meistens gar nicht begangen hatte. Mein Vater wusste nicht, dass ich es wusste und ich habe ihn gehasst.“
Ich sah, wie sich seine Finger zu Fäusten schlossen. Kurz glaubte ich, statisches Knistern zu hören.
„Mein Bruder wurde ungerecht behandelt und ich … Ehrlich gesagt bin ich erstaunt, dass er mich überhaupt noch ausstehen kann – ich wäre fürchterlich wütend auf mich gewesen. Ich bin fürchterlich wütend auf mich. Ich hab nichts getan und nur still beobachtet und bedauert. – Nur meine Mutter konnte ihn hindern. Sie war angsteinflößend wenn sie wütend war, aber sie hat Aiden und mich immer mit gleicher Liebe behandelt und sie …“
Für einen Moment kippte seine Stimme und mein Herz brach für ihn. Vorsichtig nahm ich seine Hand, strich mit den Fingern über seine verkrampften Knöchel und ignorierte mein galoppierendes Herz.
„Sie hätte niemals sterben sollen“, beendete er seinen Satz, den Blick wie gebannt auf unsere Hände geheftet. „Dass er noch am Leben ist und sie … nicht – es ist falsch.“
„Aber vielleicht …“, setzte ich an und sah in sein Gesicht. „Vielleicht hat sie ebenfalls überlebt!“
Für einen kurzen Moment sah ich etwas über Raidens Miene huschen. Etwas, dass die Mischung aus Zorn, Trauer und Verwirrung brach. Doch es war so schnell verschwunden, wie es gekommen war.
„Dann hätte sie irgendwann in den letzten elf Jahren Kontakt aufgenommen.“
Ich seufzte. Stimme wohl. „Aber wieso hat das dein Vater nicht getan? Und wieso sollte er gerade jetzt auf einmal einen Autounfall seiner Kinder verursachen wollen? Und wie hat er das Feuer überlebt?“
Raiden sah mich überrascht an. „Feuer? Woher weißt du das?“
„Du hast es mir gezeigt – beziehungsweise, ich hab es gesehen, in deinen Erinnerungen“, erklärte ich.
„Ach ja.“ Er rieb sich die Schläfen und verzog das Gesicht. In seinen Augen stand Erschöpfung und nach wie vor Verwirrung. „Ich weiß gar nichts mehr.“
Ich seufzte und rieb mir ebenfalls die Augen. „Wir sollten vielleicht schlafen gehen – es bringt nichts, hier zu sitzen und über etwas nachzudenken, wozu wir die Antwort nicht wissen können.“
Er nickte nur, bewegte sich aber nicht von der Stelle. Ich sah ihn abwartend an und beobachtete, wie wieder rote Farbe von seinen Ohren über seine Wangen kroch. „Du hast nichts dagegen, wenn ich hier bleibe, oder?“, fragte er und nun wurde auch ich rot.
„Äh … Ich, äh, denke nicht“, stotterte ich. Doch bevor ich meinen Satz halbwegs zu Ende gebracht hatte, hatte er sich bereits unter meiner Decke vergraben. Verdutzt sah ich auf seine Statur hinab, die sich unter dem Stoff abzeichnete.
„Wolltest du nicht schlafen?“ Er klopfte auf die Matratze neben sich und mir stieg das Blut ins Gesicht. Zögerlich machte ich das Licht auf meinen Nachttisch aus und krabbelte dann ebenfalls unter die Decke.
An Schlaf war jedoch nicht zu denken. Die Fragen von zuvor und die nicht vorhandenen Antworten schwirrten durch meinen Kopf – und außerdem die Tatsache, dass ich seine Wärme spüren konnte und seinen Atem hörte, der mit jeder Minute langsamer und tiefer wurde.
Irgendwann, als er wohl schon längst eingeschlafen war, schaffte ich es endlich, mich zu entspannen, und schlief neben ihm ein.
Ich wurde geweckt, als mir irgendwas immer wieder ins Gesicht blies. Genervt wischte ich mir über Stirn und Nase, doch es blieb und ich öffnete irritiert die Augen.
Es war hell in meine Zimmer und ich konnte vor meinem Fenster das morgendliche Geplänkel der Vögel hören, während ich an meine Wand starrte … Ich stockte. Moment. – Das war gar nicht meine Wand – es sei denn, die war auf magische Weise zum Leben erwacht und hob und senkte sich nun und blies mir dabei auch noch ins Gesicht. Doch das war wohl ziemlich unwahrscheinlich.
Ich sah auf und bekam einen kleinen Herzinfarkt, als ich Raidens schlafendes Gesicht dicht an meinem wieder fand. Oh Gott… Die Wand war sein graues T-Shirt gewesen. Er war mir so nah, dass sein Atem mich streifte und ich seinen Herzschlag spürte. Einen Arm hatte er über und um mich gelegt, hielt mich an seiner Brust gefangen, den anderen hatte er angewinkelt unter seinem Kopf. Es gab offensichtlich kein Entkommen, ohne ihn dabei wohlmöglich zu wecken. Ich seufzte.
Allerdings dachte ich mir, da er ja eh schlief, konnte ich mir nun die Zeit nehmen und ihn ein wenig genauer betrachten. Weil das ja auch nicht merkwürdig oder stalkerhaft war. Aber ich fand immer wieder etwas in seinem Gesicht, dass ich interessant fand und ihn anzustarren, während er wach war, war noch merkwürdiger. Außerdem sah sein Gesicht im Schlaf ganz anders aus. Der angestrengte Zug um seinen Mund war verschwunden und die ewig leicht zusammen gezogenen Brauen waren entspannt. Sein silbernes, sowieso schon unordentliches Haar, war vollkommen außer Kontrolle und stand in alle Richtungen ab.
Ich fragte mich, ob er und sein Bruder ihre Gesichtszüge von ihrem Vater hatten. Soweit ich mich an das Gesicht ihrer Mutter erinnerte, meinte ich, dass sie viel weichere Züge gehabt hatte. Die Augen musste Raiden wohl definitiv von seinem Vater haben, da Aiden die seiner Mutter hatte und …
Ich erschrak. Raiden und Aidens Vater! Das ganze Desaster vom letzten Abend fiel mir wieder ein. Und dann erinnerte ich mich, welchen Wochentag wir hatten. Panisch sprang ich auf, sah mich hektisch nach meiner Uhr um. Dass ich dabei Raiden aufweckte sollte mir nur Recht sein. Es war kurz vor neun Uhr! Wir hatten nur noch wenige Minuten, bevor der Unterricht anfing.
„Was ist?“, hörte ich Raidens verschlafene Stimme murmeln. Er hatte ein Auge halb geöffnet und sah sich verwirrt um.
„Aufstehen!“, rief ich. „Wir müssen in den Unterricht, sonst …“ Ich hielt inne und lauschte, als ich eine Tür zufallen hörte. Oh Gott, hoffentlich würde jetzt nicht …
Ein wütender Schrei, der durch die Hütte hallte, ließ mich all meine Hoffnung vergessen, dass Akari heute einmal entgegen ihrer Gewohnheit, uns alle morgens aus den Zimmern zu scheuchen, einfach die Hütte verlassen würde. Ich konnte die Predigt, die sie offenbar Lucie und Aiden hielt, bis in mein Zimmer hören – und das lag am anderen Ende.
Auch Raiden war jetzt wach hatte sich aufgesetzt. Ich sah ihn flehentlich an. „Du musst gehen!“, zischte ich. „Akari hasst dich sowieso schon – sie würde dir den Kopf abreißen!“
Er sah mich mit weiten, wachen Augen an und nickte. Einen Atemzug später war er durch das Fenster verschwunden – keinen Augenblick zu früh.
Die Tür flog auf und Akari musterte mich aus schmalen brennend-roten Augen. Ich stand mitten in meinem Zimmer mit verrutschen Klamotten, unordentlichen Haaren und vermutlich dem panischen Ausdrucks eines Kaninchens.
„Du bist noch nicht angezogen“, sagte sie, als hätte ich das sonst übersehen.
„Ich – ich habe verschlafen, mein Wecker hat nicht geklingelt und …“
„Beeil dich!“ Damit flog die Tür wieder zu und ich hörte ihre Schritte, die die Hütte verließen. Sofort sammelte ich hastig irgendwelche Klamotten zusammen, packte in fliegender Eile meine Umhängetasche, die mir in dem Prozess dreimal runter flog, sodass ich jedes Mal alles erneut aufsammeln konnte und rannte dann aus dem Haus und quer über das Gelände. Ich war mir ziemlich sicher, in meinem Geschichtskurs eine irritierte Lucie und später Aiden mit mindestens einem blauen Fleck vorzufinden.
Ich riss die Tür auf, stolperte in den Klassenraum und erstarrte. Vor der Klasse stand nicht Ms Tanner, sondern ein vollkommen fremder Mann. Er lächelte mich an.
„Guten Morgen, Rin. Schön, dass Sie uns auch beehren. – Setzen Sie sich.“ Seine Stimme war tief und weich war mir vollkommen fremd, doch ich glaubte, einen bekannten Klang in ihm zu hören.
Ich folgte seiner Aufforderung und setzte mich in die vorletzte Reihe neben Lucie, die den neuen Lehrer ebenso verwirrt und genau betrachtete wie ich. Er hatte kurzes braunes Haar, das hier und da vorwitzige Wirbel aufwies. Sein Gesicht wies nichts Außergewöhnliches auf. Es gab keine besondere markanten Merkmale – weder die Nase, noch der Kiefer, noch irgendwas anderes. Doch irgendwas in den Zügen störte mich. Irgendeine Ungereimtheit war da. Seine Augen waren stechen blau und eiskalt. Sie wirkten, als gehörten sie in ein anderes Gesicht.
„Mein Name ist Mr Whitt. Ich vertrete von jetzt an Ms Tanner, die überraschenderweise versetzt worden ist. Ich bin sicher, wir werden gut miteinander auskommen.“ Er lächelte abermals, doch die Eiseskälte in seinen Augen verschwand nicht.
„Irgendwas stimmt nicht“, flüsterte ich Lucie zu. Sie nickte zustimmend.
Lucie
Nach der Predigt von Akari, dass in unserem Camp strikte Geschlechtertrennung herrsche und ich meinen Freund nicht einfach mit aufs Zimmer nehmen durfte, während ich mich damit verteidigte, dass Aiden nicht mein Freund war und nichts passiert ist, außer, dass wir nebeneinander geschlafen hatten- was vollkommen ignoriert wurde-, verkrümelte sich Aiden in T-Shirt und Shorts in seine Hütte zurück. Er hatte sich tausendmal bei Akari entschuldigt und ist rot angelaufen, als sie angefangen hatte von Verhütung zu sprechen und dass wir noch nicht bereit waren Kinder zu bekommen. Mein Gott… Sie konnte nerven. Ich machte mir schnell Frühstück, da ich dank unserer Oberaufpasserin fast eine halbe Stunde Zeit verloren hatte- obwohl ich pünktlich wach war. Daraufhin rannte ich durch den matschigen Boden im Camp zu unserer Hütte, wo ich eigentlich Ms. Tanner erwartet hatte. Doch stattdessen stand dort ein Lehrer, den ich zuvor noch nie gesehen hatte. Ich setzte mich auf meinen Platz und als kurz darauf Rin reinkam, wusste ich, ich hatte mich nicht in der Klasse geirrt. Der Lehrer stellte sich als Mr Whitt vor und kam mir eigentlich recht sympathisch vor, doch irgendetwas störte mich an ihm. Er war irgendwie… perfekt. Seine Haut war makellos, kein Muttermal, keine Narbe, keine andere Unebenheit zeichneten sein Gesicht, geschweige denn seine Arme. Außerdem hatte er diese Augen, die blau waren, wie Eiszapfen und ebenso kalt wirkten. Sie standen im starken Kontrast zu seinem so durchschnittlich, normalen Erscheinungsbild und schienen nicht in das Gesamtbild hineinzupassen. „Irgendwas stimmt nicht“, flüsterte ich schließlich Rin zu, die mir mit einem Nicken entgegnete. „Hast du seine Augen gesehen?“ Diesmal nickte ich zustimmend. Den Rest der Stunde verfolgten wir jede Bewegung des Lehrers und verhielten uns still in unserer Reihe. Aiden?, ich wusste er konnte mich hören. Außerdem wusste ich, dass er meine Gedanken mit verfolgte und kein Interesse an seinem momentanen Fach hatte. Ich denke wir sollten uns nach der Schule mal treffen. Wir sind uns alle sicher, dass wir Vater gesehen haben nicht wahr? Und jetzt taucht hier ein neuer, perfekter, wunderschöner, makelloser, blauäugiger… Ich hab‘s verstanden! Ich knurrte leise. „Ist was?“, Mr Whitt fing meinen Blick in seinen eisigen Augen ein und drehte fragend den Kopf. „Nein. Schon gut, ich habe es doch verstanden“, redete ich mich raus und versuchte mein bestes unschuldig zu lächeln. Gut gerettet, kleines Gespenst. Du hättest dich auch einfach unsichtbar machen können und hierher schweben. Ich schüttelte den Kopf. Wie kannst du grade so gut drauf sein?, fragte ich eher mich selbst, als Aiden und kritzelte irgendetwas von der Tafel in mein Heft. Ich wollte wenigstens so tun, als würde ich dem Unterricht folgen. Ich habe immerhin mit dir in einem Bett geschlafen…
Ksshcht!, machte ich- glücklicherweise nur mental- was dämlich war, da niemand uns hören konnte in unserem kleinen, privaten Gedankenraum. Ich meine ja nur… Es ist schon etwas merkwürdig, dass dieser Lehrer hier grade auftaucht. Ich rede gleich mal mit Raiden und wir treffen uns dann Anfang der Mittagszeit bei dir im Zimmer, okay? Einverstanden. Zweieinhalb Stunden später saßen Rin, Aiden und ich in meinem Zimmer und warteten auf Raiden, der noch eine Unterhaltung mit seiner Mathelehrerin hatte. „Er hat viel Stoff verpasst“, meinte Rin und setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl. Aiden und ich saßen auf meinem Bett und nickten, da klopfte es an der Tür. „Hey“, begrüßte Raiden uns und kam in mein Zimmer. „Schließ ab“, sagte Aiden und Raiden schloss die Tür ab. „Wir wissen alle, warum wir hier sind?“, fragte ich und nahm einen Blog und einen Stift zur Hand. Ich konnte besser nachdenken, wenn ich auf ein Blatt kritzelte. „Ja“, murmelten alle synchron, als Raiden sich neben Rin auf den Boden setzte. „Gut… Ich falle einfach mal mit der Tür ins Haus. Sind wir uns einig, dass wir Evann gesehen haben an der Laterne?“ Aiden und Raiden tauschten Blicke aus und nickten mir zu, während Rin mit den Schultern zuckte. „Das bedeutet der Mann im Krankenhaus wird nicht mehr aufwachen. Er wurde zu lange gebändigt- vermutlich gegen seinen Willen?“ Lucie… Bist du nicht etwas zu direkt grade? Willst du das jetzt klären oder nicht? Aidens Bein streifte meins und er zuckte. Was ist? Ich sah ihn an. Morgen kommt dein Gips ab! Grinsend kritzelte ich etwas auf meinen Blog. Ja. Mach weiter, kleines Gespenst. „Wenn das wahr ist, sollten wir herausfinden, wie lange er schon hier ist, warum er noch lebt und was er von uns will… Ich meine… Nach all den Jahren… Und wir sollten herausfinden, ob Aliè noch lebt…“ Rin nickte. „Ich finde wir sollten auch nachfragen, wieso er den Autofahrer benutzt hat“, sagte Raiden, in dessen Stimme ein dunkler Unterton mitschwang. „Wie wollen wir das alles anstellen?“, fragte Aiden und warf seine Arme hinter den Kopf und legte sich hin. Positive Einstellung wäre schon mal ein Anfang. „Dieser neue Lehrer. Ist es nicht merkwürdig, dass er einen Tag nach dem Autounfall hier aufkreuzt und unseren Unterricht übernimmt?“ „Du meinst Mr Whitt?“, fragte Raiden und sah uns verwundert an. „Was stimmt denn nicht mit ihm?“ „Hast du ihn dir mal angesehen?“ „Nein. Eigentlich habe ich ihn noch nie gesehen. Wieso?“ „Da hast du’s“, meine Aiden, „Er sieht einfach zu künstlich aus. Ich meine vielleicht ist er ein Monster und kann seine Gestalt verändern, aber er ist einfach ohne Mängel und so … durchschnittlich, wenn ich Lucie zitieren darf… Es ist nicht menschlich“ „Und seine Augen erst“, gab Rin hinzu und blickte zu Raiden runter. „Wir könnten ihn fragen?“, schlug ich vor, doch das war den anderen zu einfach. Sie dachten nicht, dass er irgendetwas preisgeben würde und fünf Minuten später hatte sich das Gespräch auch erledigt, da Raiden und Aiden zum Laufteam mussten-bei den Aiden in den letzten Wochen oft nur am Rand gesessen oder beim Aufbau der Hürden geholfen hatte. Wir einigten uns darauf uns einfach untereinander abzusprechen, falls wir Evann nochmal sahen oder Mr Whitt irgendetwas Merkwürdiges täte. „Ob es wohl was bringen würde, mit Mr Whitt zu reden?“, fragte Rin, als wir auf dem Weg zum Kunstkurs waren, da Kanufahren wegen der zugefrorenen Stellen im Fluss heute ausfallen musste. „Ich denke nicht… Wenn er was damit zu tun hat, dann wird er es wohl kaum zugeben, oder? ... Ich wundere mich nur, warum Evann diesen Autounfall verursacht hat. Ich meine, wenn er noch lebt… Wieso zeigt er sich nicht einfach?“ „Hmm“, machte Rin und zuckte mit den Schultern, „Ich verstehe die Situation gerade auch nicht…“ Ich seufzte und legte meinen Kopf in den Nacken. „Es ist alles ziemlich verwirrend grade… Ich freue mich nur, dass Aidens Gips morgen abkommt…“ „Ja. Gehst du mit ihm hin?“, fragte sie und blickte mich mit ihren großen, dunklen Augen an. „Wahrscheinlich… Ich denke schon…“, sagte ich. Wir öffneten die Tür zur Hütte vom Kunstkurs und setzten uns hinter die Leinwände, die ganz hinten im modrigen Klassenraum standen. Es roch nach Farbe und es war stickig, doch irgendwie gefiel es mir. „Also… Aiden hat die Nacht bei dir verbracht, oder?“ Verdattert starrte ich sie an. „Woher weißt du das?“, fragte ich. „Naja… Ähm... Also man konnte Akaris Standpauke heute Morgen deutlich hören…“, stammelte sie und begann etwas auf ihre Leinwand zu zeichnen. „Ja… Ich hatte einen Albtraum die Nacht, da ist er rüber gekommen und… ist da geblieben“, erklärte ich und versuchte möglichst beiläufig zu klingen. „Wieso fragst du?“ „Naja… … … Raiden… Raiden und ich haben uns geküsst!“ Sie blickte schnell auf ihr Bild und ihre Hand verkrampfte sich um den Bleistift. „Wo liegt das Problem?“, fragte ich, weil mir nichts besseres einfiel. Ich konnte ihr schlecht sagen, dass ich es schon seit einer Weile wusste. "Äh ... also ... es gibt kein Problem, aber ..." „Aber?“ „Du bist nicht überrascht?“ „Nicht wirklich. Ihr habt in letzter Zeit viel zusammen gemacht, nicht wahr?“ „Stimmt wohl“, bestätigte sie. „Seid ihr zusammen?“ „Ob ...? Ich ... keine Ahnung - darüber haben wir nicht ...“ „Oh… ok.“ Wir schwiegen uns darauf für ein paar Minuten an und malten an unseren Bildern weiter, während leise Entspannungsmusik im Hintergrund lief, die Akari angemacht hatte. Sie saß in der ersten Reihe und malte einen Regenbogen. Ein verstörendes Bild… „Sag mal… Wie habt ihr das eigentlich festgemacht?“, fragte Rin und ich blickte sie verwirrt an. Von was redete sie da? „Wer wir?“, fragte ich zurück. Ihre Augen weiteten sich. „Aiden und du“, sagte sie, als sie zurück auf ihre fast fertige Skizze sah. Was?! „Wie?! Aiden und ich haben gar nichts fest gemacht?! Da gibt es nichts zum festmachen. Ich meine… Ich und Aiden sind nur gute Freunde und das würde eh nicht funktionieren“, Was redete ich da?!, „Außerdem… Wir kennen uns schon zu lange“, behauptete ich und starrte ebenfalls auf mein Bild. Was dachte sie sich? Wieso dachte sie Aiden und ich wären zusammen? „Wie kommst du darauf?“, wollte ich wissen. „Ich weiß nicht… Es sah einfach so aus…“, sagte sie und zuckte mit den Schultern. „Aha…“, gab ich zurück, immer noch verwirrt starrte ich mein Bild an. Ohne es gemerkt zu haben, hatte ich rote Augen hinter einem flammenden Hintergrund gemalt. Sie starrten in den verschiedensten Tönen direkt aus dem Bild heraus und es fühlte sich an, als wären sie real. „Du hast echt Talent“, lobte Rin und machte ihren letzten Kohlestrich. „Danke…“ Wir standen noch einige Minuten vor unseren Bildern und warteten, bis wir es für richtig hielten zu gehen. Als wir dann auf dem Weg zu unserer Hütte waren, kamen die Zwillinge und Ephraim und Kyle auf uns zu. „Na kleiner Dämon? Wie geht’s uns heute?“, fragte Ephraim und zwinkerte Rin zu. „Gut“, sagte sie knapp. „Gut ist nicht wirklich ein aussagekräftiges Wort“, bemerkte Kyle und drückte Ephraim den Ellenbogen in die Seite. Aiden sah uns eindringlich an. Hatte er mitgehört? „Stimmt“, gab der Blauhaarige zurück, „Sagt mal, wollt ihr vielleicht mitkommen? Wir wollten heute Nacht durch den gruseligen Wald spazieren gehen und Gespenster und Dämonen jagen… Nichts gegen euch.“ Rin und ich grinsten ihn an und nickten. Wieso nicht? Ein wenig Ablenkung tat vielleicht ganz gut?
Rin
Es war dunkler als erwartet. Und Kälter. Definitiv kälter.
Die Schatten der Bäume umgaben uns und ragte hoch über uns auf, sperrten das Mondlicht aus, während schneidender Wind uns um die Ohren pfiff und desweilen ein unheimliches Heulen zwischen den Bäumen verursachte. – Allerdings fragte ich mich, ob das nicht Ephraims Schuld war, der jedes Mal kicherte, wenn ich zusammen zuckte. Am liebsten hätte ich ihm einen Ast über den Kopf gezogen.
Wessen Idee war es nochmal gewesen, sich nachts raus zu schleichen, um auf eine dämliche ‚Geisterjagd‘ zu gehen?!, fragte ich mich, während ich nach irgendwas tastete, an dem ich mich festhalten konnte, um die anderen nicht zu verlieren. Unüberraschender Weise bekam ich Raidens Jackenärmel zu fassen, der neben mir ging. Ich konnte sein helles Haar in der Dunkelheit ausmachen.
Ich glaubte Ephraim schon wieder vor sich hin kichern zu hören – und dass obwohl er vor uns ging!
„Na, schon verängstigt, kleiner Dämon? – Dabei haben wir den gruseligen Teil noch gar nicht erreicht!“
Haben wir nicht?!
Ephraim lachte. „Keine Angst, dein silberner Ritter wird dich wohl schon beschützen.“
„Ha. Ha“, sagte ich trocken, verfestigte meinen Griff an Raidens Jacke aber trotzdem. Der schnaubte.
„Und wer wird dich beschützen, du Pantoffelheld?“, rief er nach vorne. „Du versteckst dich doch auch jedes Mal bei einem Horrorfilm hinter deinem Freund.“
„Wir sind kein Paar!“, hörte ich Kyle knurren. Diesmal musste ich lachen. Doch ein Knacken im Unterholz ließ mich wieder zusammen fahren. Was wenn hier ein Irrer mit einer Axt rumlief? Oder ein verfluchter Werwolf?
„Was soll diese Geisterjagd eigentlich beinhalten?“, fragte Aiden, der zusammen mit Lucie hinter uns her humpelte. „Ihr glaubt doch wohl nicht ernsthaft an Geister – oder hast du zu viel Supernatural geguckt?“
„Hast du noch nie etwas von dem verlassenen Haus hier in der Nähe gehört?“, fragte Ephraim mit einem dunklen Kichern. Spätestens da wollte ich schreiend zurück rennen, doch Raiden legte mir einen Arm um die Schultern.
„Verlassenes Haus?“, echote Lucie. „Davon hab ich noch nie gehört.“
Ephraim seufzte, als wäre unsere Unwissenheit eine extreme Bildungslücke. „Jeder redet in letzter Zeit darüber. Einige andere sind schon da gewesen – in der Nacht natürlich – und haben ihre Namen an die Wände geschrieben. Es ist quasi eine Wette im gesamten Camp, wer sich traut, das Haus in der Nacht zu erkunden. – Dass ihr davon nichts wisst, ist wohl irgendwie logisch, da ihr ja nie da seid.“ In seinen Worten klang eine schmale Anschuldigung mit.
Kyle seufzte. „Und deswegen hat er es sich in den Kopf gesetzt, euch durch dieses Geisterhaus zu jagen“, erklärte er und klang, als würde es ihn alle Anstrengungen der Welt kosten, mit diesem nervenaufreibenden Kerl zusammen zu sein.
„Och Mann, Kyle!“, rief Ephraim und klang wie ein quengelndes Kind. „Jetzt hast du mir alles versaut!“
Lucie, Aiden, Raiden und ich schnaubten synchron. Ob vor Belustigung oder Empörung, wusste ich nicht.
„Deshalb hast du uns also um zwei Uhr nachts aus den Betten geschmissen?“, fragte Lucie.
„Ihr habt mir ja vorher zugestimmt“, erinnerte Ephraim unschuldig.
Stimmt, dachte ich und hätte mich am liebsten für diese Tatsache erwürgt. Ich hätte jetzt im Bett liegen können und schlafen. Stattdessen tat ich mir diesen gruseligen Spaziergang an.
„Sag mal, Raiden, könntest du vielleicht Licht machen – es nimmt zwar die Stimmung, aber das ängstliche Geschnatter vom kleinen Dämon geht mir doch langsam auf die Nerven.“ Ich glaubte zu sehen, wie Ephraim sich im Gehen umwandte und mir einen Blick zuwarf. Er hatte wohl mal wieder meine Gedanken gelesen. Ich streckte ihm die Zunge raus und errichtete schleunigst wieder meine Mauer.
„Dann hör doch einfach nicht zu!“, rief ich, war aber tatsächlich froh, Licht zu haben, als Raiden eine Flamme in seiner freien Hand erschuf, die zuckende Schatten in den Wald warf. Nun gut, vielleicht war das auch nicht die ideale Idee gewesen.
„Gib es doch einfach zu, Feigling“, meinte Raiden. In seiner Stimme klang ein Lachen. „Du hast hier die meiste Angst. Immerhin hast du keine brauchbaren Fähigkeiten.“
„Sei nicht so gemein“, wisperte ich, als ich sah wie sich Ephraims Schultern verspannten.
„Stimmt nicht!“, antwortete der patzig, doch man hörte deutlich sein Unwohlsein.
Lucie lachte. „Ist das dein Ernst? Du schleppst uns mit dir, obwohl du dir selbst gleich in die Hosen machst?“
„Ich hab keine Angst!“, rief er. Doch Kyle stieß ihm den Ellbogen in die Seite und es wurde still. Mittlerweile liefen wir schon über eine halbe Stunde.
„Wir lange dauert es noch?“, fragte Aiden irgendwann. Er hatte wohl gewisse Schwierigkeiten mit seinem Gips.
„Wir müssten bald da sein – dort!“, antwortete Kyle. Ephraim schien es inzwischen die Sprache verschlagen zu haben, da man ohne Raidens Flamme nicht mal mehr den Boden vor den Füßen erkennen würde. Der heulende Wind schwieg nun auch – anscheinend war es tatsächlich Ephraims Werk gewesen.
Raiden hob die Hand, auf der die Flamme tanzte, höher und die Silhouette eines düsteren Gebäudes ragte vor uns auf.
Es war zweistöckig, erkannte ich, als wir näher kamen, und aus Holz. Die Veranda, die einmal um das Haus zu verlaufen schien, sah vollkommen morsch und verfallen aus. Dort, wo wohl einmal Fenster gewesen waren, waren nur noch schwarze Löcher, die aussahen, als könnte alles Mögliche gleich daraus gekrochen kommen. Bretter hingen schief und eisige flüsternde Windböen brachten das alte Gebilde zum Knarren und Knarzen als wäre es ein schlafendes Lebewesen, dass besser nicht geweckt werden würde. Alles in einem sah es wie das Klischee eines verlassenen Hauses aus und ich atmete ein wenig auf. So gruselig konnte es wohl nicht werden – ich machte mir nun eher Sorgen um meinen körperlichen Zustand. In all dem morschen Holz würde ich mir mit meiner Tollpatschigkeit definitiv mindestens einen Knöchel verstauchen.
„Darin sollen einmal vier Morde stattgefunden haben“, informierte uns Ephraim, der nun neben mir stand und offensichtlich seinen Mut wiedergefunden hatte. Wir waren stehen geblieben, standen nun alle in einer Reihe und betrachteten das Gebäude. „Man fand alle Leichen auf einmal. Sie sollen übereinander gestapelt im Wohnzimmer gelegen haben. Die Wände waren voller Blut – alles war voller Blut. Damals war das Haus schon verlassen gewesen, deswegen hat man wohl bis heute die Spuren nicht weggewischt. Das war, glaub ich, vor achtzehn Jahren. Man hat den Mörder oder die Mörder allerdings nie gefunden. Manche glauben, die leben heute immer noch oder wieder in diesem Haus.“
Mir rann ein Schauer den Rücken runter. Vielen Dank auch, dachte ich. Gerade als ich glaubte, es würde nicht allzu schlimm werden.
„Dann lasst es uns hinter uns bringen“, sagte Raiden und Kyle nickte zustimmend. Beide stapften voran und erklommen vorsichtig die Stufen der Veranda. Ich beeilte mich, ihnen nach zu kommen, Ephraim, Aiden und Lucie folgten hinter mir.
Drinnen empfing uns Modergeruch und eisige Stille. Von irgendwoher drang Mondlicht durch ein Fenster und offenbarte uns eine große Eingangshalle, die wohl früher vielleicht mal ziemlich elegant ausgesehen haben muss, vor allem mit der breiten Treppe, die in den zweiten Stock führte, doch mittlerweile war sie leer und einsam.
Unter unseren Füßen knarrten die Dielen, als wir uns nach rechts bewegten, in Richtung des Mondlichts und ich achtete bedacht darauf, wo ich meine Füße hinsetzte, ohne jemals von Raidens Jacke los zu lassen. Das schien ihn jedoch nicht im Geringsten zu stören oder zu hindern.
Trübes Halbdunkel war um uns herum, tauchte die Ecken in schwarze Schatten. Dunkel getäfelte Wände schluckten jegliche Helligkeit. Hier und da sah es an den Wänden so aus, als hätte dort mal ein Bild gehangen. Wir fanden zwar einen Lichtschalter, aber dieser funktionierte wohl schon lange nicht mehr – außerdem wäre es noch unheimlicher gewesen, diesen zu betätigen. Wer wusste schon, ob dieses Haus nicht doch noch bewohnt war.
Fußspuren zogen sich durch eine dicke Staubschicht am Boden.
Schließlich kamen wir an das Ende des linken Flures und betraten ein Wohnzimmer. Das Wohnzimmer, wie mir klar wurde, als Raiden seine Flamme den Raum erhellen ließ. Dunkle Flecken und Spritzer bedeckten die Wände und waren über weiße Tücher verteilt, die wohl Möbelstücke unter sich bargen und wie fahle Geister in der Dunkelheit hervorstachen. Ein besonders großer Fleck war mitten im Raum auf dem Boden und schien sich unveränderbar in das Parkett gesogen zu haben und wies eine braun-rote Farbe auf. Mir wurde schlecht.
„Heilige Scheiße – du hattest Recht!“, zischte Kyle. Ephraim nickte nur. Angespannt gingen wir zwischen den verdeckten Möbeln durch, die wohl Sessel und Sofas waren. Es gab einen Kamin, durch den ein kalter Luftstrom ins Zimmer floss. Und rechts daneben führte ein dunkler Flur weiter ins Haus. Ich klammerte meine verschwitzten Hände um Raidens Finger. Er schien überhaupt nicht bewegt von all dem hier zu sein. Viel mehr schien er neugierig zu sein.
Irgendwo im Haus knackte etwas und ich presste mir erschrocken die Hand vor den Mund, um ein Quieken zu unterdrücken. Mein Herz schien mir aus der Brust springen zu wollen. Dann berührte mich etwas an der Seite und der Schrei entfloh mir doch.
„Nicht so laut, wir wollen doch keine Geister wecken“, flüsterte Ephraim, der sich vorbeugte und mir ins Gesicht grinste. Er hatte sich mal wieder von hinten angeschlichen – nur war das diesmal ganz und gar nicht witzig.
„Du Arschloch!“, fiepte ich. Meine Knie zitterten vor Schreck.
„Psst – seit mal still!“ Raiden ließ sein Feuer erlöschen und tauchte uns in Dunkelheit. Ich spürte, wie mein Atem raste, während er angestrengt in die Finsternis des Flures zu starren schien. „Da ist etwas“, sagte er.
„Wie bitte?“, fragte Kyle. Ich versteckte mich hinter Raiden. Ich wollte es lieber gar nicht wissen.
„Lass uns das mal ansehen!“ Ephraim war natürlich sofort begeistert. Ich wollte ihn erwürgen.
„Muss das sein?“, fragte ich leise.
„Ach komm schon, kleiner Dämon. Wir schreiben unsere Namen an die Wand und dann hast du eine Geschichte, die du erzählen kannst.“
Und wenn ich diese Geschichte gar nicht erzählen will?, fragte ich mich, aber Raiden zog mich schon vorwärts. Der Flur war vollkommen leer und führte geradeaus in einen Raum, der vielleicht mal ein Esszimmer gewesen war. Auch hier befand sich ein Kamin. Einen Raum weiter fanden wir eine Küche. Doch nirgendswo war etwas Merkwürdiges zu sehen.
„Es ist oben, ich kann es riechen“, sagte Raiden. Wir waren wieder in der Eingangshalle angelangt und ich wäre am liebsten raus gerannt. Doch wieder zog Raiden mich mit sich – allein draußen zu stehen wollte ich auch nicht.
„Was ist oben?“, fragte ich.
„Ich weiß es nicht. Etwas. Etwas, das nicht hier sein sollte.“
„Das sind vermutlich wir“, kicherte Ephraim. Ich hoffte, er hatte recht.
„Dummkopf – wir sind doch nicht oben und gleichzeitig unten!“, wisperte Kyle.
„Ich kenne den Geruch nicht.“ Raiden schien die zwei anderen Jungs zu ignorieren.
„Oh Gott, bitte lass es kein Gollum oder so sein.“
„Gollum?“ Ephraim sah mich belustigt an. Ich verzog das Gesicht.
„Na was denn sonst? Geister haben ja wohl keinen Geruch“, erklärte ich. Und Gollum persönlich begegnen wollte ich auch nicht.
„Das wäre dem hier aber zu hell“, sagte Ephraim. Kyle und Raiden brachten uns mit einem Zischen zum Schweigen und wir machten uns vorsichtig ans Erklimmen der breiten Treppe zum zweiten Stock. Der Himmel wusste, warum die Jungs unbedingt wissen wollten, was sich da oben rum trieb.
Oben fanden wir einen weiteren Flur, der sich sowohl nach links als auch nach rechts erstreckte. Raiden hatte nach wie vor keine weitere Flamme erschaffen und so war es leicht, das Flackern zu entdecken. Es kam aus einem Zimmer der rechten Seite und warf einen zitternden, goldenen Lichtschein an die gegenüberliegende Wand.
Kyle und Ephraim schlichen voran und spähten als erstes in den Raum. – Spätestens da war ich kurz davor, mir in die Hosen zu machen. Ängstlich klammerte ich mich an Raiden und wäre am liebsten in ihn hinein gekrochen.
„Es ist leer“, flüsterte Ephraim und ich atmete auf. „Da steht nur eine Kerze.“
Auf Kyles Gesicht zeichneten sich wie als Antwort Furchen. Irritiert zog er die Brauen zusammen, als sein blauhaariger Freund das Zimmer betrat.
„Hier ist die Wand mit den Namen! – Ha, das war ja einfach!“, rief der. Kyle spähte nach wie vor misstrauisch in den Raum und nun traten auch Raiden und ich heran.
Es stand tatsächlich eine flackernde Kerze dort auf einer umgestürzten Kiste. Um sie herum lagen Kissen und Decken verstreut. In einer Ecke entdeckte ich eine Matratze. Und obwohl überall Staub liegen müsste, wie in den anderen Räumen, war hier kaum etwas.
„Das Haus ist bewohnt!“ Ungläubig sah Kyle sich um, während Ephraim pfeifend unsere Namen mit Kreide der Wand hinzufügte, wo schon eine Liste anderer stand.
„Hast du das hier gerochen?“, fragte ich Raiden. Der neigte den Kopf als wäre er sich nicht sicher, zog sich den Schal vom Gesicht und schnupperte.
„Es wohnt nur eine Person hier“, sagte er, als wäre das die Antwort auf meine Frage.
„Hey, wo sind eigentlich Aiden und Lucie?“ Ephraim hatte sich umgewandt und sah uns fragend an. Erstaunt drehte wir uns um und entdeckten, dass die beiden tatsächlich nicht da waren.
„Seit wann sind die denn weg?“, fragte ich. Ein erschrockener Schrei verriet uns zwar nicht seit wann, aber wo die beiden wohl waren. Wir stürzten die Treppe runter und nach draußen.
Lucie
„Dann lasst es uns hinter uns bringen“, meinte Raiden und wir folgten der Gruppe ins Haus. Die Umgebung schien sich in einen dunklen Schleier zu legen. Es war schaurig hier im Wald und irgendwie war ich froh, als wir im Haus angekommen waren. Auch wenn es hier noch schlimmer wirkte, waren hier beschützende Wände um uns herum und solange Raiden seine kleine Flamme leuchten ließ, war es auch nicht weiter gruselig. Hast du keine Angst vor Geistern? Aiden blickte in meine Richtung. Er hatte den ganzen Abend ziemlich wenig geredet, was mich verwunderte. Nicht wirklich. Vorteil eines kleinen Gespenstes. Ich grinste leicht und ging weiter über die modrigen, knarrenden Dielen. Ein wenig Mondlicht drang durch die kaputten Fenster, die mit Stoffresten und verdreckten Glasscherben bedeckt waren. Es ließ die Staubkörner im Flur glitzern und das ganze Haus noch einsamer und verlassener wirken, als wir und nach rechts durch einen kleinen Gang bewegten. Komm mit, sagte Aiden. Ich musste einen kleinen Schrei unterdrücken, als er mich plötzlich am Handgelenk packte und zurückzog. Ephraim hatte gerade einen der Lichtschalter ausprobiert, über dem ein einsamer Nagel in die Wand geschlagen war. Wo willst du hin? Verwundert stapfte ich ihm hinterher. Durch die prächtige Eingangshalle, die mal sehr schön gewesen sein musste die Treppen hinauf. Ich hörte die anderen unten reden, als eine der Stufen unter uns mächtig krarrte, was einen Schrei von unten ertönen ließ. „Entschuldigung“, wollte ich rufen, doch Aiden hielt mir den Mund zu und führte mich weiter die Treppen hoch. Was soll das? Wo willst du hin? Komm einfach mit. Ich will dir was zeigen, sagte er und schon bald waren wir in einem alten Schlafzimmer, das sich links im langen Korridor der zweiten Etage befand. Ich schüttelte den Kopf und begutachtete die Bilder an der Wand. Aiden machte sich auf zu einem Fenster und nahm mit einem lauten Windstoß eine Decke ab, die darüber gehangen hatte. Sie hinterließ eine Staubspur in der Luft, die sich bis zum Boden wendete und im Mondlicht glitzerte, wie tausend kleine Sternchen, die sich langsam in der Luft bewegten. Wow, dachte ich. Wie konnte etwas, was mich immer wieder zum niesen brachte, in diesem Licht so schön sein? Ich stellte mich zu Aiden ans Fenster, woraufhin er mir staub ins Gesicht pustete.
Ebenfalls ‚wow‘, meinte er und zwinkerte mir zu, Du siehst in diesem Licht auch gar nicht mal so schlecht aus, kleines Gespenst. Ich nieste und fiel fast in Aiden hinein. Meinst du damit ich bringe dich zum niesen, alter Mann?, ich grinste. Du warst schon mal hier, oder? Du wusstest genau, wo du hinwolltest. Ja, ich bin hier schon einmal nachts hingelaufen um meinen Namen in die Wand zu ritzen. Ich hab es nur nicht geschafft, weil ich das Messer vergessen hatte. Ich hatte es aber erst bemerkt, als ich den gruseligen Weg schon hinter mich gebracht hatte, also habe ich das Haus und die Gegend erkundigt. Ich lachte leicht und sah in den vom schwachen Mondlicht beschienenen Wald. Wenn man sich anstrengte, konnte man die Strukturen der Blätter erkennen, die sich über dem dunklen Nachthimmel abzeichneten, der heute Nacht nur von ein paar einzelnen Sternen erleuchtet wurde. Mein Nacken kribbelte und ich spürte Aidens Blicke, während ich fühlte, wie er neben mir atmete. Mein Herz klopfte und ich versuchte meinen Puls zu kontrollieren. Nicht jetzt… Lucie, ich… Ich sah ihn an und seine Gedanken verblassten, als würde er sich selbst zurückhalten. Seine linke Hand verkrampfte sich um seine Krücke, als seine Augen mich einfingen. Sie loderten abermals, wie das Feuer, das durch seine Adern floss. Immer wieder wirkte es als versuchte die Dunkelheit Besitz von ihnen zu ergreifen, doch das Feuer in ihm war wohl stärker. So schienen seine Augen bald zu leuchten, als er seinen Blick wieder senkte. Er lehnte sich auf seine Krücke, dennoch wirkte er gefasst und hob seinen Kopf sofort um mir direkt in die Augen zu blicken. Was war das grade? Er wirkte von einen auf den anderen Moment so viel gelassener. Was ist los?, fragte ich beunruhigt, als er seine Hand auf meinen Arm legte. Aiden? Alles in… „Ich gebe auf“, flüsterte er. Es ging so schnell. Plötzlich fanden sich seine Lippen auf meinen wieder, er legte seine Hand in meinen Nacken und zog mich mit dieser an sich. Seine silbernen Haare schienen im Mondlicht zu glänzen, als seine feuerroten Augen sich schlossen. Wärme durchströmte meinen Körper, der sich nicht weigern konnte, sich sicher und geborgen zu fühlen, als seine Fingerspitzen sich in meinen schneeweißen Haaren verfingen. Meine Augen, die gerade noch vor Schreck weit geöffnet waren, schlossen sich langsam und ließen alles um mich herum in der Dunkelheit verschwinden. Meine Gedanken machten sich selbstständig und schweiften zu seiner dunklen Stimme, die schon so lange in meinem Kopf herum spukte. All die Jahre und ich hatte nie darüber nachdenken wollen wie seine Lippen sich anfühlten. Jetzt wusste ich es, ich fühlte sie in diesem Augenblick. Ich musste mich selbst dran erinnern zu Atmen, woraufhin meine Gedanken vollends bei ihm festhingen. Meine Hände legten sich wie von selbst auf seine Schultern und zogen an seinem T-Shirt. All die Jahre und ich hatte jeden einzelnen Gedanken ausgesperrt, der mich hätte auffliegen lassen. All die Jahre und er hatte dasselbe getan… Für einen endloslangen Moment war es still um uns herum… Für einen endloslangen Moment fiel der Vorhang und legte zwei Lügner frei, die sich küssten, immer und immer wieder…
Bis die Wirklichkeit uns einholte. Wir hörten die Schritte der anderen, die in den Raum nebenan gegangen waren, ließen voneinander ab und starrten uns an. Er nahm seine Hand von meinem Kinn.
Gehen wir…, sagte ich und schüttelte ungläubig den Kopf, als ich in Richtung Tür ging. Was genau hatten wir da grade getan? Die anderen waren noch im Nebenzimmer, als wir die Treppen nach unten stolperten und das alte, modrige Haus verließen. Willst du nicht darüber reden?, fragte Aiden sichtlich verwirrt. Er bemühte sich mit seiner Krücke hinter mir her zu kommen. Jetzt? Ich drehte mich beim Gehen um, um ihn anzusehen und lief. Ich war nicht wütend. Ich war nur verwirrt, wusste nicht was ich denken sollte und daher… wusste er wohl auch nicht, was ich wollte. Oder wusste er es? Wusste ich es? Ich weiß es genau, meinte er und grinste, als ich die Eingangstüre hinter meinem Rücken öffnete. Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, doch dieses verschwand sofort wieder, als ich rückwärts eine der Verandastufen herunter fiel. Ein spitzer Schrei entfloh mir und ich dachte schon ich würde mir alle Knochen brechen, doch ich landete nicht auf dem Boden. Ich landete in den Armen von jemandem. Ich öffnete meine Augen vorsichtig- die ich vor Schreck geschlossen hatte- und sah Aiden mit verwirrtem, dankbarem Blick hinter mich blicken. Mein Körper versuchte sein eigenes Gleichgewicht wieder zu finden, als es mir gelang, drehte ich mich um und blickte in ein fremdes Gesicht. „Hallo, mein Name ist Noctis. Mit wem habe ich die Ehre?“, fragte der dunkelhaarige Junge mit blutroten Augen. Verwirrt starrte ich auf meine Uhr. Es war halb drei und er lief einfach so im Wald herum und fing mich an einer Verandatreppe auf? „Lucie?“, rief Ephraim, der gerade aus der Tür gestürmt kam. Kyle, Raiden und Rin folgten ihm. „Äh… Ja… Alles in Ordnung“, ich wandte mich wieder zu Noctis, „Danke für die Rettung. Aiden, Rin, Raiden, Ephraim, Kyle und ich bin Lucie, wie man gerade unschwer überhören konnte.“ Ich deutete einzeln auf uns und stellte uns vor. „Oh… So viele neue Gesichter“, Noctis lächelte eigenartig und legte seinen Daumen an seine Oberlippe. Es sah aus, als wolle er sich gerade unsere Namen einprägen. „Und du bist?“, fragte Ephraim. Inzwischen stand er mit den anderen neben mir und wir bildeten einen Halbkreis um den merkwürdigen Waldbesucher. „Noctis“, sagte er und verbeugte sich. Verdutzt starrte Ephraim in seine Richtung und kratze sich am Kopf. „Was machst du um diese Uhrzeit hier im Wald?“, fragte Aiden, der sich wohl wieder vom Schock erholt hatte. „Ich wollte einen alten Freund besuchen.“ Seine Stimme klang angenehm dunkel und gelassen, wenn er redete. Er hatte ein weißes, sauberes T-Shirt und eine dunkelblaue Hose an, die seine gerade Haltung noch förmlicher wirken ließen. „Um diese Uhrzeit?“, fragte Kyle und sah ebenfalls auf die Uhr. „Ja. Ich dachte, er wäre zu Hause, doch er scheint nicht da zu sein. Was macht ihr eigentlich hier?“, fragte er und legte seinen Daumen erneut auf seine Oberlippe. „Wir wurden dazu gedrängt, Geschichte zu schreiben“, meinte Rin müde und gähnte. „Ihr habt zugestimmt“, wiederholte Ephraim von vorhin. Sie rollte mit den Augen und begann allmählich zu zittern. „Geschichte also…“, meinte Noctis und drehte sich um. „Wohin gehst du jetzt?“, fragte ich verwundert, als er bereits ein paar Schritte im matschigen Schnee getan hatte. „Ich wollte mir mein neues Zuhause ansehen. Hier in der Nähe ist ein Camp. Habt ihr davon gehört?“ Wer ist dieser Kerl?, fragte Aiden und stellte sich nun neben mich. Ich konnte seine Wärme spüren, als er meine Schulter mit seiner streifte. Ich denke… Ein neues Campmitglied… „Ja. Wir gehen alle dort zur Schule“, sagte Ephraim. „Oh“, Noctis drehte seinen Kopf nach hinten, „Dann könntet ihr mich ja begleiten?“
„Sicher können wir“, meinte Kyle und ging los. Was?... Also wir gehen jetzt einfach mit dieser fremden Person ins Camp?, fragte Aiden. Sieht so aus?.... „Ich bin heute Morgen eingezogen. Ich habe einen freien Platz bekommen in Hütte… zwölf“, meinte er. „Zwölf?!“, rief Ephraim empört. „In das freie Zimmer bei uns?“ Also wohnt er auch noch bei uns… Ich hab ihn noch nicht einmal gesehen. Wer ist dieser Kerl? Vielleicht ein angenehmer neuer Mitbewohner… Vielleicht noch ein merkwürdiger Zufall, wer weiß… „Damit wären wir wohl endlich vollständig“, meinte Kyle beiläufig. „Sieht so aus“, meinte Raiden, der Rin seine Jacke gegeben und den Arm um ihre Taille gelegt hatte, nachdem sie nicht mehr aufgehört hatte zu zittern. Den gesamten Weg lang unterhielten sich Noctis und Ephraim über „Sachen“, die in dem freien Zimmer gewesen waren und wo diese „Sachen“ jetzt waren und wie weiter mit diesen „Sachen“ verfahren werden sollte. Als wir dann angekommen waren, hatten sie sich geeinigt uns in Frieden zu lassen und nicht mehr über besagte „Sachen“ zu reden. „Einverstanden?“, fragte Ephraim. „Mhm“, machte Noctis, der bereits das Interesse am Thema verloren hatte. Die Jungs machten sich auf in ihre Hütte und Rin und ich steuerten auf Hütte sieben zu. Doch gerade als wir die Türe aufschließen wollten, ertönte ein lautstarker Pfiff hinter uns. „Lucie! Rin!“ Die Stimme kam uns nur zu bekannt vor, da wir sie heute Morgen erst zwei Stunden lang studiert hatten. Wir drehten uns um und sahen Mr Whitt vor uns, der mit strengem, eiskaltem Blick in unsere Richtung starrte. Mir lief ein Schauer über den Rücken, als Rin und ich gleichzeitig schluckten. So ein Mist… „Ich will mal nicht so sein… Ich war ja immerhin auch mal in eurem Alter“, sagte er. Mit seinen verwirrenden Gesichtszügen, wirkte er, als würde er sich freuen, uns zu sehen. „Also, nach einer Entschuldigung lasse ich euch gehen, aber ihr müsst morgen bei mir nachsitzen. Wenigstens das sollte ich verlangen.“ Unsicher nickte ich und starrte Rin an. Wir hatten uns immer noch nicht komplett umgedreht und würden dies mit Sicherheit auch nicht tun. „Entschuldigung“, sagten wir beinahe gleichzeitig und blickten uns wieder gegenseitig an. Was zum Teufel ist los mit diesem Lehrer? „Gut. Ich sehe euch beide morgen nach den üblichen Morgenstunden im Geschichtsraum.“ Wir nickten und schritten sichtlich verwirrt durch die Tür in Hütte 7.
Rin
Das Geschnatter von etwa 100 Schülern verursachte mir Kopfschmerzen.
Heute war einer der seltenen Tage, an denen wir uns entschieden hatten, in der Essenshalle Frühstück zu essen. – Beziehungsweise Ephraim hatte das mal wieder für uns entschieden.
Ich stocherte jetzt in meinem Rührei herum und beobachtete den Neuen – Noctis – wie er einen anderen Schüler mit Brotkrümeln abwarf. Warum er daran solch einen Spaß zu finden schien, war mir schleierhaft.
„Morgen“, begrüßte uns Raidens verschlafener Bariton. Wir alle sahen ihn überrascht an, als er sich neben mich auf die Bank setzte.
„Du erscheinst tatsächlich pünktlich zum Frühstück?“, fragten Aiden, Lucie und ich synchron – naja, mehr oder weniger. Inhaltlich hatten wir schon dasselbe gesagt.
Raiden zuckte die Schultern und sein Blick streifte mit einem Lächeln kurz meinen, ehe er mit irritiert zusammengezogenen Brauen ebenfalls zu Noctis hinüber sah, der noch immer dabei war, den armen Kerl mit Brotkanten zu bewerfen. Dass er dafür noch nicht verwarnt worden war, war erstaunlich. Allerdings schien er darauf zu achten, dass er nicht gesehen wurde.
„Was tut der da?“, fragte Raiden. Ich zuckte die Schultern und versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken – mit miserablem Erfolg. Die anderen schenkten mir mitfühlende Blicke und ich bemerkte, dass sie genauso müde aussahen wie ich mich fühlte.
„Verdammt, jetzt lass mich endlich in Ruhe, du Idiot!“, schrie Noctis‘ Opfer schließlich und ließ mich erstaunt und erschrocken zusammen zucken. Okay, er hatte nicht „Idiot“ gesagt, sondern etwas weitaus obszöneres, weshalb er wohl auch die Aufmerksamkeit der halben Cafeteria auf sich zog. Zudem war er aufgesprungen, hatte dabei seinen Stuhl durch den Saal geschleudert und sah nun aus, als würde er dem Neuen gleich an seine Kehle gehen.
Noctis lächelte unschuldig zu ihm auf. Die Brotkrümel, der er noch in der Hand gehabt hatte, waren auf irgendeine Weise verschwunden.
„Ich weiß nicht, was du meinst“, sagte er und hob seine Hände. Das „Opfer“ wurde rot im Gesicht.
„Du …!“ Er bückte sich nach einem der Brotkrümel, die um ihn verstreut lagen. „Du wirfst mich schon seit zehn Minuten mit dem Zeug hier ab!“
Noctis schüttelte den Kopf. „Das war ich nicht“, behauptete er und zeigte stattdessen auf einen Jungen am Nachbartisch.
Raiden und ich zogen beide die Brauen zusammen und ließen ein verwirrtes „Hä?“ hören. Wir hatten immerhin gesehen, dass er es gewesen war. Doch jeder andere – eingeschlossen Aiden und Lucie, die mit dem Rücken zu ihm saßen – im Raum schien keine Ahnung zu haben. Vor allem Ephraim nicht.
„Lass doch den Neuen in Ruhe, Chris“, schaltete der sich ein.
Doch das war gar nicht nötig. Chris‘ Aggressionen hatten sich schon längst gegen den anderen Jungen gewandt, der natürlich sofort seine Unschuld verteidigte. Noctis drehte sich mit einem zufriedenen Lächeln zu uns um und zog dabei die Füße an, sodass er auf seinem Stuhl mehr hockte als saß.
„Was sollte das?“, fragte ich verärgert, während hinter Noctis ein Streit ausbrach. Er zuckte die Schultern.
„Was meinst du?“
„Na, dass …“
Raiden fasste nach meiner Hand und drückte leicht zu. Ich verstummte und sah verwirrt zwischen allen hin und her. Ephraim aß vollkommen ungestört weiter, doch auf den Gesichtern der anderen sah ich für mehrere Augenblicke Misstrauen, ehe sie es verwarfen. Ich seufzte und beließ es dabei.
Zwei Stunden später saß ich im Geschichtsraum und wollte gerade aufstehen und vielleicht versuchen, Raiden am Fluss zu erwischen oder einfach nur einen Ort zum Schlafen zu finden, wo Akari mich nicht finden würde. Dann fiel mir das Nachsitzen ein, dass Mr Whitt uns aufgebrummt hatte.
Mein Blick traf Lucies und wir verdrehten beide die Augen und ließen uns stöhnend wieder auf die Plätze fallen. Mr Whitt lächelte uns aufmunternd zu – zumindest glaubte ich, dass es aufmunternd wirken sollte – als er Blätter vor uns hinlegte, auf denen Daten aufgelistet waren und daneben leere Felder. Ich verzog das Gesicht, als mir sofort klar wurde, was er da von uns wollte.
„Damit ihr euch nicht langweilt“, erklärte er und verließ dann mit einer knappen Entschuldigung den Raum.
Genervt und müde machte ich mich daran, irgendwelche geschichtlichen Ereignisse hinter die
Daten zu schreiben – was sollte ich auch anderes tun (schlafen war mir zu riskant) – bis irgendwas am Fenster scharrte. Mit gehobener Braue beobachtete ich Raiden, der eins der verklemmten Fenster öffnete und keine Sekunde später auf dem Fensterbrett saß. Warum er hier war, fragte ich gar nicht erst, er wusste es ja vermutlich selbst nicht.
„Yo“, brummte er und zog sich den Schal vom Gesicht. Ich versuchte mal wieder, ihn nicht (allzu sehr) anzugaffen.
„Was machst du hier?“ Die Frage hatte Lucie irritiert gestellt. „Wolltest du nicht Aiden ins Krankenhaus bringen, wegen dem Gips?“
Raiden kratze sich im Nacken. „Wollte ich, ja. Aber er war irgendwie nicht glücklich damit, Zeit mit seinem geliebten älteren Bruder zu verbringen. Ich glaube, er will, dass du ihn bringst.“
Lucie verdrehte die Augen. „Dir ist doch klar, dass weder Rin noch ich Auto fahren können?“
Raiden stockte verwirrt und ich musste kichern. Dann stöhnte er genervt, als er realisierte, dass er Aiden nun doch fahren musste.
„Was macht ihr eigentlich hier?“, fragte er, vermutlich um Zeit zu schinden und seine Aufgabe noch weiter aufzuschieben, nun da er sie schon nicht hatte abwälzen können.
„Nachsitzen“, erklärte ich. „Mit Whitt hat uns gestern Abend noch erwischt.“
Raiden verzog das Gesicht, was ich merkwürdig fasziniert beobachtete, denn er verzog selten irgendwas im Gesicht. Dabei zog er auf fast niedlich Weise die Nase kraus und zwischen seinen Braunen erschien eine steile Falte. Ich schüttelte den Kopf, als er sich auf den Platz links von mir fallen ließ, seine langen Beine unterm Tisch ausstreckte und die Arme verschränkte.
„Dann leiste ich dir Gesellschaft“, sagte er.
Ich antwortete mit einem sarkastischen „Mh-hm“, während Lucie abermals die Augen verdrehte. Uns war beiden klar, was er damit bezweckte.
„Du sollst Aiden ins Krankenhaus bringen, du Idiot!“, rief Lucie. „Außerdem bin ich doch wohl Gesellschaft genug.“
Raiden holte schon Luft, um ihr zu antworten, was sie wohl noch mehr auf die Palme gebracht hätte, als die Klinke runter gedrückt wurde.
Binnen Bruchteilen einer Sekunde hatte sich Raiden zu mir gebeugt, mir einen Kuss auf die Wange gehaucht und war dann durch das Fenster wieder verschwunden. Verdattert sah ich ihm hinterher. Feigling.
Mr Whitt entließ uns kurz darauf mit einem freundlichen Lächeln, bei dem es mir kalt den Rücken runter lief. Vorsichtig und mit Abstand drückte ich mich an ihm vorbei und floh quasi aus dem Raum. Lucie tat dasselbe und ich runzelte die Stirn. Irgendwas stimmte mit diesem Lehrer einfach nicht.
Tag der Veröffentlichung: 15.02.2014
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