Invisible threads are
the strongest bonds
- Friedrich Nietzsche
Für einen Augenblick konnte sie alles sehen. Die zarten Strähnen, die aus ihrem Zopf gerutscht waren und die ihr der Wind ins Gesicht wehte. Sie konnte die Gesichter ihrer Freunde sehen. All die Farben und Schatten, die die untergehende Sonne auf ihre Mienen zeichnete. Für einen Augenblick stand die Welt still und sie konnte alles in sich aufnehmen, doch sie beschloss sich nur auf einen zu konzentrieren.
Wie das Licht sich in seinem dunklen Haar bracht. Die Ärmel seines Hemdes flatterten, schmiegten sich gegen die starken Arme, die sie so oft nachts gehalten und vor grausamen Träumen bewahrt hatten. Er war ihr Verbündeter, ihr Freund, ihr Partner. Er war ihre Welt – für diesen Augenblick.
Doch der Moment ging vorbei – die Zeit holte mit ihr auf und der Himmel verdunkelte sich. Alles schwand, selbst sie. Doch sie bereute nichts. Wollte sie auch suchen, sie fand in sich kein Bedauern. Sie dachte an nichts, wo sie doch wusste, dass sie bald nichts sein würde, und sie wartete darauf, dass die Dunkelheit sie verzehrte, so wie ihr Spiegelbild. Sie hatte ihren Feind vernichtet – und sich selbst.
Noch ein letztes Mal wandte sie sich dem Licht zu, dem Schimmer, der sie schon immer an ihn gezogen hatte. Und sie lächelte. Es war nicht das Lächeln von jemandem, der aufgab, sondern von jemandem, der nachgab. Es war klein, nur vage da, aber es war so unendlich wertvoll für alle, die nicht mit ihr untergingen.
Sie sah den Schock in seinen tiefblauen Augen, die Verwirrung und den Horror und unendlichen Schmerz. Sie sah noch so viel mehr, doch sie hatte nicht die Zeit, es alles auszusortieren. Doch sie sah das Begreifen auf seinen Zügen, während er wahrnahm, was sie schon tausend Male hatte kommen sehen, als sie sich entschieden hatte. Sie hörte seine Stimme, seine Rufe, doch sie verstand ihn über das Gebrüll und Getöse ihrer vollkommenen Ruhe nicht. Doch sie hörte ihren Namen und wandte sich zu ihm.
So vieles wollte sie sagen, so vieles, das ihr in dem Moment noch einfiel. Ich liebe dich wollte sie schreien oder Ich werde dich vermissen. Vielleicht auch Ich habe Angst, warum nur ich?!, doch es war alles viel zu nah an der Wahrheit, viel zu nah an der Furcht, die sie tief in sich fand und die Furcht vor dem, was sie ihm zurückließ. All die Leere.
So brachte sie es nicht über sich und lachte stattdessen leise und warm und es hallte in der weiten Stille nach. „Danke, Kyron“, wisperte sie und der stumme Wind brachte die Worte zu ihm. „Für alles.“ Und sie wusste, er würde verstehen. Er würde alles verstehen, selbst wenn er nicht wollte.
Und die Zeit bewegte sich weiter, pfiff und sauste an ihr vorbei wie um den angehaltenen Moment wett zu machen und sie schloss die Augen. „Sag den anderen … meine letzten Gedanken galten ihnen. Ich hoffe, wir sehen uns in einer besseren Zeit und einem besseren Leben wieder.“
Ihre letzten Worte wurden von dem Schmerz übertönt, der durch ihre Wirbelsäule stach, durch ihre Nerven schoss und ihre Gedanken zersplitterte. Sie konnte nicht denken und wunderte sich dennoch in abstrakter Weise, dass der Schmerz doch nichts mit ihren Nerven zu tun hatte – es war alles in ihrem Kopf.
Sie hörte ihn aus weiter Ferne ihren Namen schreien, ein verzweifelter Versuch, sie von dem Abgrund weg zu locken. Karou. Doch sie fiel in die Kluft mit dem Klang ihres Namens auf seinen Lippen und als ihre Realität mit ihrem Traum zusammenstieß, starb sie.
Martyrdom does not end something.
It is only a beginning.
- Indira Gandhi
Es dauerte eine lange Zeit. Eine lange Zeit, die wie Ewigkeiten schien und nichts war. Es war als hielte die Welt den Atem an, als würde man auf etwas warten. Einen letzten Schlag, eine letzte Entscheidung. – Von wem? Wenn sie das wüsste.
Sie schwebte im Nichts und es war ruhig. Viel zu ruhig. Ihr war, als würde etwas fehlen. Ein Teil, ein großer Teil, ohne den sie nicht vollständig war.
Und die ganze Zeit hielt die Welt den Atem an. Und wartete.
Doch der letzte Schlag kam nicht. Es kam nichts. Nur endloses Warten. Und schließlich, endlich – sie hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren – ein Sog, der sie durch Zeit und Raum mit sich riss. Schreie gellten an ihren Ohren. Wärme, Hitze und Feuchtigkeit glitten über ihre Haut. Sie konnte nichts sehen, sie konnte zu viel sehen. Da war ein Name. Und er verschwand. Atemlos versuchte sie an Luft zu kommen und schließlich war um sie herum blendend weißer Friede.
Alarmiert fuhr sie in die Senkrechte. In ihrem Schädel herrschte ein dumpfes Pochen und in ihrem Kopf herrschte – Leere. Verwirrt sah sie sich um. Über ihr spannte sich ein tiefblauer Himmel, nur durchzogen von kleinen weichen Wolkenfetzen. Sie hörte das Gezwitscher von Vögeln in den Baumkronen, den Wind, der durch die Blätter strich. Das endlose, taube Nichts war verschwunden. Unter sich spürte sie Gras und sandige Erde.
„Weißt du, es gibt bessere Orte für ein Nickerchen als auf dem Boden mitten im Nirgendwo.“
Ein Schatten beugte sich über sie. Erschrocken sah sie auf und begegnete blauen Augen, die sie amüsiert musterten.
„Hier, lass mich dir aufhelfen“, sagte der Fremde und bot ihr seine Hand an. Zögernd ergriff sie sie und ließ sich auf die Füße ziehen. Seine Finger waren kräftig und gezeichnet von Schwielen. Zweifellos waren sie kampferprobt und an körperliche Arbeit gewohnt.
„Danke“, sagte sie. Ihre Stimme fühlte sich rau an und klang vermutlich auch so. Doch sie ignorierte es und betrachtete ihr Gegenüber ein wenig genauer. Dunkle, bläulich schimmernde Haare fielen dem jungen Mann, der vor ihr stand, in die Stirn. Seine Gesichtszüge hatten etwas freundliches und gleichzeitig kühles an sich. Mit den hohen Wangenknochen hätte sie ihn glatt für einen Aristokraten halten können. Doch der hellgraue Umhang, der im Saum zerrissen und schlammbefleckt war, sprach dagegen. Seine Haare waren unordentlich und ein wenig zu lang, die Kleidung, die aus einer dunklen Tunika und nachlässig in die kniehohen Stiefel gestopften Hosen bestand, war dreckig. Sie bezweifelte, dass ein Adliger in solch einem Zustand in der Gegend herumlaufen würde. Wo auch immer diese Gegend, in der sie sich gerade befand, war. Sie sah nichts außer einem staubigen Weg, Wiese und Bäume.
„Mein Name ist Kyron“, sagte der Fremde und sie wandte sich erstaunt zu ihm um. Er ist nicht nur äußerst unförmlich gekleidet, sondern auch noch naiv, dachte sie. Denn wer verriet Fremden, die er grade auf der Straße gefunden hatte, einfach so seinen Namen? Er lachte leise. „Weißt du, das ist jetzt eigentlich der Teil, in dem du mir deinen Namen verrätst – und was du hier machst.“ Die vertrauliche Anrede schien ihm ohne Weiteres über die Lippen zu kommen, bemerkte sie. Seine Stimme war dunkel und seidig und in ihrem Klang lag etwas so Wohlbekanntes, dass sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Sie war sich sicher, diesen Mann noch nie in ihrem Leben gesehen zu haben.
„Mein Name …“ Sie stockte. Ihr Name … „Ich … ich heiße … Also, das ist …“ Herrgott, sie konnte sich an ihren Namen nicht erinnern! „Ich weiß es nicht.“
„Du weißt es nicht? Du kennst deinen eigenen Namen nicht?“, fragte er erstaunt. Sie schüttelte den Kopf.
„Ich bin mir nicht sicher … Wo sind wir hier eigentlich?“
„Im Königreich Aethir“, antwortete ihr eine andere dunkle Stimme und sie entdeckte über die Schulter von Kyron hinweg eine zweite Person. Ein zweiter Mann, fast komplett dunkel gekleidet, starrte misstrauisch zu ihr hinüber. Sein Haar war noch unordentlicher als das von Kyron und auch seine Kleidung war noch ein wenig dreckiger. Doch der Umhang war von dem gleichen Grau und hing ebenso wie bei Kyron nur über eine Schulter und verdeckte so die linke Seite seiner hochgeschossenen Figur. „Ihr spielt wirklich hervorragend“, sagte der zweite Fremde und sein hellblauer Blick wurde noch eine Spur schmaler.
Sie hörte, wie Kyron seufzte. „Das ist mein Bruder Cadán der Misstrauische“, erklärte er. „Entschuldige ihn bitte, er ist immer so.“
„Einer von uns muss ja immerhin Verstand haben“, bemerkte Cadán sarkastisch und trat nun auf sie zu. Unwillkürlich wich sie zurück. „Ich glaube Euch nicht, dass Ihr tatsächlich Euer Gedächtnis verloren habt“, sagte er. Sie zog widerwillig die Brauen zusammen.
„Wenn ich es doch aber sage, ich weiß nicht…“
„Euer Wort genügt mir nicht. Ich habe keine Ahnung, wer Ihr seid. Ihr könntet ein Auftragsmörder sein. Ein Räuber. Vielleicht auch…“
Kyrons freudloses Lachen unterbrach ihn. „Es ist doch offensichtlich, dass sie nicht weiß, wo sie ist, Cadán.“ Er sah mit einem freundlichen Lächeln zu ihr hinüber. „Du siehst sehr verwirrt aus. Ich nehme an, du kannst dich auch an niemanden erinnern, zu dem du gehörst?“
Sie sog beleidigt zischend den Atem ein. „Ich gehöre doch niemandem wie irgendein Ding!“, sagte sie und funkelte ihn an. Die Gegensätzlichkeit dieser Brüder verwirrte sie. Kyron blinzelte verblüfft, fing sich aber schnell wieder.
„Richtig. Verzeihung. Was ich fragen wollte war, ob du dich an deine Familie erinnern kannst?“, korrigierte er sich und ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Züge, als sie die leichte Röte auf seinen Wangen sah.
„Nein, ich weiß es nicht“, antwortete sie schließlich, nun ein wenig ruhiger und milder gestimmt.
„Da, siehst du, Cadán. Wir können sie doch nicht einfach verwirrt und allein hier zurücklassen.“ Er wandte sich wieder an seinen Bruder, der sie noch immer mit eisigen Blicken traktierte. „Und wie eine Mörderin sieht sie auch nicht aus.“
Neugierig sah sie an sich hinunter. Immerhin wollte sie wissen, was ihn dazu bewegte, zu behaupten, sie wäre keine Mörderin. Und vielleicht würde irgendwas an ihr ihr helfen, sich zu erinnern. Nur ein wenig diese stille Leere in ihrem Kopf füllen.
Sie trug einen langen dunklen Mantel über einem weißen, einfachen Leinenhemd. Um ihre Hüften spürte sie das Gewicht eines schweren Gürtels, an dem man gut hätte Waffen und Werkzeug befestigen können, doch von nichts dergleichen war eine Spur zu sehen. Ebenso wie bei Kyron und seinem Bruder steckten ihre Beine in dunklen Hosen und bis zu den Knien in festen Lederstiefeln, gut geeignet für Märsche, Ritte und Reisen. Doch wohin hatte sie reisen wollen? Und von wo war sie gekommen?
„Wir sollten uns um sie kümmern“, hörte sie Kyron fortfahren. „Es ist sicher nicht leicht, ohne Erinnerung irgendwo aufzuwachen. Das mindeste, was wir tun können, ist dafür zu sorgen, dass sie nicht obdachlos umherirren muss.“ Ein Schnauben von Seiten Cadáns. „Außerdem vertraue ich ihr. Ich weiß, dass sie nichts Böses will.“
Und sie sah auf in seine sanften blauen Augen und wenn sie vorher gedachte hatte, dass etwas an diesem Fremden vertraut wirkte, war das nichts im Vergleich zu der Flut von Bildern, die nun über sie hinein brachen.
Kyron, erinnerte sie sich, doch es sagte ihr dennoch nichts. Ein langes Schwert, so lang und breit wie sie keins gesehen hatte. Tödlich, scharf und glänzend. Der helle Umhang, blutbesudelt und doch ein Fleck von Licht inmitten von Dunkelheit. Er kämpfte. Er kämpfte für sie, um sie und mit ihr. Dunkle Schatten unter seinen Augen. Er lag auf seinen Knien in Schmerz, sowohl physisch als auch psychisch. Blut, dass sein Gesicht hinunterfloss. Karou!
Diese Gewalt von Erinnerungen, die nicht ihre waren, verwirrte sie noch mehr. Sie wusste, sie kannte ihn nicht und doch kannte sie ihn? Sie schüttelte den Kopf und versuchte tief einzuatmen, um den Schmerz, der durch ihren Schädel gezuckt war, zu lindern.
„Alles in Ordnung?“
Sie sah auf, als sie die besorgte Stimme von Kyron wahrnahm. Dem Kyron, der hier und jetzt vor ihr stand und der ihr so fremd war wie jeder andere es wäre. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie zusammen gesunken war und er sie aufgefangen hatte.
„Ja, ich … Ich glaube, mein Name…“, stotterte sie, noch immer überwältigt von dieser merkwürdigen Vision. „Mein Name ist Karou … Denke ich.“
„Karou“, wiederholte er leise und es sandte ein Kribbeln über ihre Haut. „Das klingt ziemlich … fremd.“
Enttäuschung machte sich in ihr breit. Sie hatte gehofft, er würde sich vielleicht an sie erinnern, wenn er ihren Namen kannte. Dann würde es vielleicht erklären, warum sie sich so fühlte wie sie sich fühlte.
„Das klingt ziemlich unsinnig und unglaubwürdig“, schnaubte Cadán, der noch immer nicht weniger als drei Schritte an sie heran gekommen war. „Warum erinnert sie sich ausgerechnet jetzt an ihren Namen? Wirkt irgendwie verdächtig.“ Er legte den Kopf schief.
„Cadán!“, zischte Kyron und sein Bruder sah überrascht zu ihm hin. „Es ist genug jetzt. Wir nehmen sie mit in die Hauptstadt, dann können wir entscheiden, was mit ihr wird.“
Ihr wurde schwindelig. Wurde sie nun etwa abgeschleppt wie eine Gefangene? Würde man sie am Ende hinrichten? Sie hatte doch nichts getan!
„He, alles gut, Karou. Beruhig dich. Keiner wird dir etwas antun.“
Wieder war es Kyrons Stimme, die sie beruhigte und sie bemerkte, dass sie wohl in ihrer Panik laut gedacht haben musste. Sie holte einen zittrigen, tiefen Atem und versuchte ihre Gedanken zu fassen.
„Also schön“, sagte sie schließlich entschlossen und sah zu den Brüdern auf. „Bringt mich in die Hauptstadt – wo auch immer die ist.“
Zur Antwort schenkte Kyron ihr ein freundliches Lächeln und Cadán verärgert zusammen gezogene Brauen.
„Also auf nach Aedon! Wir sind sowieso gerade fertig mit unserer Patrouille“, erklärte Kyron, steckte zwei Finger in den Mund und ließ einen durchdringenden Pfiff ertönen. Kaum drei Sekunden später kamen zwei riesige Kriegsrösser um eine Baumgruppe geprescht. Die Rüstung und Waffen, die sie trugen, klirrten und sie schnaubten angestrengt unter all dem Gewicht ihrer Montur. Doch als die Tiere vor ihr standen, konnte sie schwören, niemals schönere oder anmutigere Tiere gesehen zu haben.
Das Fell beider Pferde glänzte dunkel in der Mittagssonne und ihre großen hellbraunen Augen sahen wachsam zu ihr hinüber. Doch Karous Bewunderung verging, als sie begriff, dass sie nun auf eines dieser Tiere aufsteigen musste. „Oh nein, da setze ich mich auf keinen Fall drauf! Da bricht man sich doch alles, wenn man runterfällt!“, rief sie und trat einen Schritt zurück, nur um Kyrons Brust in ihrem Rücken zu spüren. Cadán saß bereits auf seinem Tier und beobachtete sie ungeduldig.
„Keine Sorge, ich halte dich schon fest“, lachte Kyron und ehe sie sich versah, hatte er sie um die Mitte gepackt und vor den Sattel gesetzt. Überrascht sog sie die Luft ein, während er sich hinter sie in den Sattel schwang. Einen Arm um ihre Taille gelegt und in der anderen Hand die Zügel haltend, trieb er das riesige Pferd schließlich in einen sanften Schritt und das Tier gehorchte widerstandslos.
„Es sind gerade mal drei Stunden bis nach Aedon. Wenn wir uns beeilen, können wir es vor Sonnenuntergang schaffen.“ Cadán hatte sein Pferd neben das von seinem Bruder gelenkt, behielt jedoch einen gesunden Abstand bei. Langsam fragte sich Karou ob diese Distanz etwas mit ihr zu tun hatte oder ob er einfach keine Nähe mochte. Es würde sie allerdings nicht erstaunen, wenn beides darin eine Rolle spielte.
Den Ritt über verlor keiner der drei viele Worte. Gelegentlich spürte sie den Blick von einem der beiden Brüder auf sich, doch sie war zu sehr beschäftigt damit, sich die Umgebung anzusehen und auszumachen, ob ihr irgendetwas bekannt vor kam. Sie umgingen einige kleine Dörfer, die friedlich in der Nachmittagssonne dalagen. Die Häuser bestanden nur aus einfachem grauen Stein und Strohdächern. Sie hörte Stimmen von den kleinen Marktplätzen zu ihr hinüber wehen und gelegentlich das Meckern einer Ziege oder das dunkle Muhen einer Kuh. Doch nichts, was sie sah, erweckte irgendwelche Erinnerungen in ihr. Es war als wäre ihr Kopf wortwörtlich leergefegt worden.
Schließlich sah sie die Sonne im Westen untergehen und die goldenen Felder, die sich rechts und links erstreckten, wurden in warmes goldenes Licht getaucht. Das Gezwitscher der Vögel erstarb langsam und die Stille der Nacht schien sich von Osten über die Welt zu ziehen. Und in dem Moment hatte der Anblick und Kyrons Nähe in ihrem Rücken etwas Nostalgisches, doch noch immer konnte sie es nicht einordnen.
„Wir werden bald in Aedon sein“, informierte sie die dunkle Stimme von Cadán und sie schrak aus ihren Gedanken. Im Laufe der Stunden hatte sich Kyrons Bruder auf ein paar Millimeter weiter heran getraut und seine eisigen Blicke hatten nachgelassen, doch seine Haltung war noch immer steif und abgeneigt. Karou presste die Lippen zusammen und nickte. Sie versuchte, sich ihren klopfenden Herzschlag nicht anmerken zu lassen. Was würde sie in der Hauptstadt erwarten? Was sollte sie von der Hauptstadt erwarten?
Don't walk behind me; I may not lead.
Don't walk before me; I may not follow.
Just walk beside me and be my friend.
- Albert Camus
Die Hauptstadt Aethirs war schon von Weitem erkennbar. Mit ihren vier majestätischen Türmen ragte sie weit über die Köpfe der drei Reiter empor. Stimmengewirr, Pferdewiehern, das Rollen von Karren war durch die mächtigen, offenstehenden Tore zu hören. Zwei Wachsoldaten verbeugten sich tief, als sie das Haupttor passierten.
Karou schaute verwundert zu ihnen zurück. War es üblich, dass sie Gäste und Reisende so ehrerbietig begrüßten? Sie traute sich nicht zu fragen. Vielleicht war das ja in jeder Hauptstadt so – woher sollte sie es wissen – und sie würde sich am Ende lächerlich machen.
„Willkommen in Aedon“, sagte Kyron hinter ihr und riss sie aus ihren Gedanken. Was sie sah, als sie den Kopf hob, verschlug ihr den Atem.
Sie hatten einen riesigen Platz erreicht, in dessen Mitte ein eindrucksvoller Brunnen Wasser speite. Laternen waren entzündet worden, nun da die Dunkelheit hereinbrach und verwandelten das Wasserspiel in einen geheimnisvollen Zauber. Banner zierten die Häuser ringsum und von irgendwoher drang die fröhliche Flötenmelodie eines Barden. Bürger, an denen sie vorbeiritten, verbeugten sich, grüßten höflich und voller Enthusiasmus und lächelten ihr zu. Und über allem thronte eine mächtige Festung. Golden, erhaben und voller Stolz erhob sie sich vor ihnen, ohne die Stadt allzu sehr in den Schatten zu stellen.
Überwältigt wandte Karou ihren Blick von den Turmspitzen ab und konzentrierte sich auf die Wachen, die mit ihren langen Spießen ihre Posten vor dem Tor hatten. Doch sie sahen nicht einmal auf, als Kyron und Cadán ihre Pferde hindurch lenkten. Ein eigenartiger Kontrast zu den Wachen, die am Stadttor gestanden hatten.
„Ist es denn sicher, Wachen zu haben, die nicht einmal aufsehen, um zu sehen, wen sie da in die Festung lassen?“, fragte sie. Kyron lachte in ihrem Rücken.
„Mach dir da keine Sorgen. Diese Soldaten sind vollkommen vertrauenswürdig“, sagte er und brachte sein Pferd im Innenhof der Burg zum Stillstand. Cadán tat es ihm gleich und beide saßen ab, bevor Kyron ihr hinunter half.
„Man wird dich in eins der Gästegemächer führen. Dort kannst du dich waschen und dich ausruhen. Es war sicher kein leichter Tag für dich“, erklärte ihr Kyron und erneut war Karou erstaunt.
„Aber … Wird der König das denn erlauben?“, fragte sie. Als Antwort sah sie ein freudloses Lächeln über Cadáns Gesichtszüge huschen.
„Für eine Nacht wird er es dir gestatten können“, sagte er. Und wie auf ein Stichwort erschienen zwei Gestalten in einem Torbogen, der wohl ins Innere der Burg führte. In dem Zwielicht, das im Hof herrschte, konnte sie die Personen nicht sofort ausmachen, doch bald standen eine Frau und ein Mann im Schein einer der vielen Fackeln, die an den Wänden brannten. Sie begrüßten Kyron und Cadán mit einem Lächeln, ehe sie mit verwirrten Mienen den Neuankömmling bemerkten.
„Thérine, Arian, das ist Karou“, erklärte Kyron und schob sie auf das Paar zu. „Wir haben sie in der Nähe von Serrem gefunden – sie hat ihr Gedächtnis verloren“, setzte er hinterher, als würde es irgendetwas entschuldigen.
Karou hörte Cadán schnauben. „Angeblich.“
„Serrem!“ Die hohe, entgeisterte Stimme lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder zu der jungen Frau – Thérine – hin. „Wie schrecklich!“ Ohne Cadáns Kommentar Beachtung zu schenken, eilte sie auf Karou zu und schloss sie in die Arme. Erst jetzt bemerkte Karou die leichte Wölbung unter dem langen Kleid. Unsicher erwiderte sie die Umarmung. „Du musst viel gelitten haben. Zum Glück konntest du entkommen!“
Karou schluckte. Entkommen? Woraus? Wovor?
„Thérine, jetzt beruhige dich wieder. Immerhin kann sich das Mädchen ja an nichts erinnern.“ Arian, der junge Mann, trat vor und legte der aufgelösten Frau eine beruhigende Hand auf die Schulter. Der fragende Blick zu Kyron und Cadán hin entging Karou allerdings nicht. „Mein Name ist Arian – der jüngste Bruder von Kyron und Cadán“, sagte er schließlich mit einer Verbeugung, als er sich mit den anderen zwei auf etwas geeinigt zu haben schien. „Das ist meine Frau Thérine. Bitte entschuldige sie, das sind die Hormone.“ Arian warf ihr ein schüchternes Lächeln zu, das seine blass-grünen Augen im Flammenschein leuchten ließ und Karou fiel die Ähnlichkeiten zu seinen Brüdern in den Zügen und den hellen Augen auf.
„Pah, Hormone! Was weißt denn du schon?“ Thérine schüttelte die Hand ihres Mannes ab und umschloss stattdessen Karous Finger. „Komm, ich zeige dir, wo du schlafen kannst. Du armes Ding musst so verwirrt sein.“
Verwirrt war sie allerdings. Hilfesuchend sah sie sich nach Kyron um, als die energische junge Frau sie mit sich zog. Doch dieser lächelte ihr nur aufmunternd zu ehe er sich seinen Brüdern zuwandte, die bereits in ein ernsten Gespräch vertieft zu sein schienen.
„Es tut mir schrecklich leid“, hörte sie Thérine sagen, während diese sie durch den Torbogen in die Burg führte. Neugierig wandte Karou sich ihr zu und betrachtete sie ein wenig genauer.
Die junge Frau – sie konnte kaum zwanzig sein – war klein und zierlich, selbst wenn ihr Händedruck das nicht glauben lassen wollte. Langes goldenes Haar floss ihr in Wellen über die Schultern und ihre Augen funkelten blau im Fackellicht. Ihr Gesicht war schön und anmutig und voller Güte. Unwillkürlich musste Karou lächeln. Sie hatte etwas Vertrautes, Warmes an sich. Es fühlte sich fast so an, als würde sie Kyron ansehen.
„Ich verstehe nicht“, sagte Karou schließlich. „Was könnte Euch so leidtun?“
Thérine blieb stehen, schlug sich die Hand vor den Mund. „Richtig – entschuldige. Du kannst dich nicht erinnern. – Kyron sagte, er hätte dich in der Nähe von Serrem, einem kleinen Dorf im Süden von Aedon gefunden.“
„Ist etwas in Serrem geschehen?“
Thérine nickte schwer und Karou glaubte, Tränen in den großen blauen Augen glitzern zu sehen. „Vor ein paar Stunden kam ein Bote. Er war von Kyron und Cadán geschickt worden; Serrem ist von Banditen überfallen worden. Sie sollen hunderte Frauen, Kinder und Männer ermordet und schließlich alles in Brand gesteckt haben, nachdem sie jegliche Kostbarkeiten aus den Häusern gestohlen hatten.“
„Banditen?“ Sie fühlte einen Kloß in ihrem Hals. Kam sie womöglich aus Serrem? Wie war sie entkommen? Hatte sie dort ihre ganze Familie verloren? Hatte sie wirklich niemanden? Wenn sie sich doch nur erinnern könnte!
„Zumindest sagte der Bote, es wären Banditen gewesen. Ich denke aber …“ Thérine hielt inne. „Nein, was ich denke ist unwichtig. Cadán würde mich erwürgen, wenn ich dir mehr erzählen würde.“ Sie schenkte Karou ein entschuldigendes Lächeln. „Er war schon immer so misstrauisch. Aber das ist wohl auch verständlich bei der Last, die auf seinen armen Schultern lastet.“
„Ihr scheint Cadán gut zu kennen“, bemerkte Karou und versuchte nicht an all die Toten zu denken, an die sie sich nicht erinnern konnte.
„Oh ja – ich bin mit Arian und seinen Brüdern aufgewachsen. Du kannst mir also Glauben schenken, wenn ich dir sage, dass du hier in Aedon vollkommen sicher bist. Cadán ist zwar misstrauisch, aber er ist ein guter Mann und er würde niemanden schutzlos ausliefern. Und ich werde mich um dich kümmern. Es muss furchtbar sein, wenn man sich an nichts erinnern kann.“
Karou nickte abwesend. Thérine führte sich durch lange Gänge und Treppen hinauf, die sich wanden und endlos zu strecken schienen. Hin und wieder passierten sie ein Fenster, durch das sie die weiße Scheibe des Mondes sehen konnte. Wandteppiche und Banner wechselten sich mit Fackeln ab. Schließlich bogen sie in einen Gang ein, in dem dunkle Holztüren in verschiedene Zimmer führten. Das alles kam Karou so seltsam bekannt vor. Dabei war sie sich vollkommen sicher, niemals auch nur Aedon betreten zu haben.
Sie seufzte leise, als sich die Kopfschmerzen mit einem leichten Ziehen in den Schläfen wieder bemerkbar machten.
„Keine Sorge, wir sind bald da. Mir tun allerdings auch schon die Füße weh. Die Schlafzimmer sind nun mal nicht so praktisch gelegen.“ Thérine hatte ihren Seufzer wohl falsch verstanden, doch das kümmerte Karou wenig. Sie dachte nun an ein Bett und einige Stunden erholsamen Schlaf.
„Ich danke Euch“, sagte sie schließlich, als Thérine verkündete, dass sie endlich ihr Ziel erreicht hatten.
Thérine winkte mit einem freundlichen Schnaufen ab. „Aber nicht doch, das ist doch kein Problem. Ich werde eben noch schnell nach einer Magd sehen, die dir …“
Hastig unterbrach Karou sie. „Oh nein, bitte. Das ist nicht nötig. Es sind bestimmt schon alle zu Bett gegangen und ich möchte niemanden stören. Ich bekomme es sicher noch selbst hin, mich umzuziehen. Aber vielen Dank“, setzte sie noch hinterher.
„Also schön. Dann lasse ich dich jetzt alleine, du bist sicher müde. Morgen werde ich dir aber eine Magd aufs Zimmer schicken und ich werde dir das Schloss zeigen. Wenn etwas ist, kannst du auch einfach nebenan bei Arian und mir klopfen.“ Sie wandte sich mit einem liebenswürdigen Lächeln um, als Karou nickte. „Gute Nacht“, rief sie noch, ehe sie in ihr eigenes Zimmer trat.
Karou atmete einmal tief durch. Ihr gegenüber schien der Mond wieder durch ein Fenster. Kühle Nachtluft strich ihr über das Gesicht und trug die leisen Geräusche der schlafenden Stadt mit sich. Unten im Innenhof war es mittlerweile dunkel. Kyron, Cadán und Arian und die Pferde waren verschwunden.
Noch einmal sog sie tief die Luft ein und tastete dann nach der Klinke ihrer Schlafzimmertür.
Sie würde heute in einem Zimmer des Schlosses schlafen. Dem Schloss von Aedon, der Hauptstadt von Aethir, an das sie sich nicht erinnern konnte. Weder an die Stadt noch an das Land. Und auch nicht an ihre Heimat – wenn sie denn eine hatte.
Sie wollte nach Traurigkeit und Wehmut in sich suchen – doch sie fand keine. Wie denn auch, wenn sie keine Erinnerung hatte, der sie nachtrauern konnte.
Entschlossen schüttelte sie den Kopf und drückte die Klinke runter. Wärme empfing sie als sie ins Zimmer trat – und ein unerwarteter Anblick. Sie hatte ein einfaches Bett und vielleicht eine Kommode erwartet.
Stattdessen fand sie ein breites Bett in der Mitte des Raumes. Kissen und Decken mit schweren seidenen, blutroten Bezügen und Felle lagen auf ihm verteilt und sahen himmlisch weich und einladend aus. Ein großer Teppich schluckte ihre Schritte, als Karou weiter ins Zimmer hineintrat. Ein Fenster, vor dem ein Schreibtisch stand, bot einen weiten Ausblick über Weiden und Felder und hinter einem Paravent entdeckte sie ein Kommode aus dunklem, kostbarem Holz und eine Waschschüssel, über der ein Spiegel an der Wand hing. Neugierig trat Karou näher.
Eine Frau, die wohl kaum mehr als zweiundzwanzig Winter gesehen hatte, sah ihr mit großen Augen von der Farbe von geschmolzenem Gold entgegen. Aus einem langen Zopf quoll dunkles Haar, das schwer über einer Schulter hang. Ihr Gesicht war bedeckt mit Schlamm und Ruß und Dreck, doch sie konnte darunter erkennen, dass ihre Haut hell und zart war und dass ihre Wangenknochen scharf hervorstachen und ihrem Aussehen etwas Aristokratisches oder Exotisches gaben.
Ihr Kleidung war dreckig und der Saum ihres Gewands eingerissen. Vorsichtig zog sie sich die hohen Stiefel von den Füßen und legte den schweren Gürtel und den Mantel ab. Sie stieg noch aus den Hosen und wusch sich hastig Gesicht und Hände. Mit feuchten Fingern fuhr sie sich durch die offenen Haare und kletterte dann im Unterhemd zwischen die Decken und Felle ihres Bettes.
Es dauerte kaum zwei Atemzüge und sie war eingeschlafen.
Ein Flüstern und Wispern lag in der Luft.
Der Wind war still und doch glaubte sie, Meilen weit hören zu können.
Pferde schnaubten, Schwerter klirrten und Kettenhemden rasselten. Irgendwo stampfte ein Huf, jemand rief etwas. Einen Namen. Doch all das war so weit entfernt. Sie sah nur Blut. Blut, so viel Blut. Es war nicht ihr eigenes. Es war … wessen war es?
Sie sah dunkle, stumpfe Augen. Eine Krone – oder nur ein Stein? – halb vergraben in Dreck und Lehm.
In ihren Adern brannte etwas, zerrte und biss und beruhigte sie dennoch. Magie floss durch ihr Blut, ihre Sehnen und Nerven.
Sie spürte Verzweiflung in der Luft. Und Erleichterung. Sie hang wie ein tiefer Atem über aller Köpfe. Es war vorbei. Es war vorbei. Es war endlich vorbei. Sie sank auf die Knie. Endlich vorbei.
„Karou!“
Sie lächelte. Sie kannte die Stimme. Sie liebte die Stimme. Sie lebte für die Stimme. Bis jetzt. Es war vorbei.
„Halt durch. Bitte, halt durch, Karou. Bleib bei mir!“
Sie seufzte. Wo sollte sie denn hingehen? Sie hatte nicht die Kraft.
„Lebe, Karou. Lebe, verdammt! Atme!“
Keuchend holte sie Luft, fand den Blick eines blauen Augenpaars. So blau und friedlich wie der Himmel, der sich über sie spannte. Sie wurde in eine warme Umarmung gezogen.
„Oh Gott, bitte lebe.“
Der Himmel wurde schwarz. Dunkel und eisig. Die Berührung wurde zu brennender Kälte. Schatten um sie her ertränkten die Welt in Rot und nahmen ihr die Sicht.
Ein Arm hob sich.
Ein gellender Schrei.
„Nein!“
„Nein!“
Sie warf die Bettdecke von sich, trat und schlug nach dem Schatten, der sich über sie beugte. Sie brauchte Luft. Luft. Sie musste atmen. Keuchend presste sie ihre Fäuste gegen die Schläfen. Reißender Schmerz tobte hinter ihrer Stirn.
Sie konnte sich an nichts erinnern.
„Karou! Karou, beruhige dich. Es ist alles in Ordnung.“
Sie hörte eine sanfte Stimme und rollte sich winselnd zwischen den Fellen zusammen. Dieser Schmerz in ihrem Schädel. Zarte Finger strichen durch ihr Haar, das ihr verschwitzt im Nacken klebte.
Sie konnte sich nicht erinnern.
„Schsch, es ist alles gut“, murmelte die Stimme und langsam entspannte sie sich. Doch das Ziehen in ihren Schläfen blieb.
„Hast du dich erinnert?“
Karou brauchte ein paar Augenblicke, ehe sie die Stimme als Thérines erkannte und sie den Kopf schüttelte.
„Nein.“ Ihre Stimme klang erstickt. „Ich weiß nicht … Es war ein Traum, doch ich … Ich erinnere mich nicht, was…“
„Schsch…“ Thérine unterbrach sie. „Streng dich nicht an. Wenn du es erzwingen willst, schadest du dir nur selbst.“
Sie nickte. Ein Rascheln von Kleidung und ein verhaltenes Räuspern ließ sie schließlich den Kopf heben. Sie entdeckte Arian, der verlegen in der Nähe der Tür stand und von einem Bein aufs andere trat. Wieder brauchte sie zwei Herzschläge, ehe sie begriff, dass sie in ihrer Panik jegliche Decken von sich gestrampelt hatte und nun lediglich im Unterhemd war. Hastig bedeckte sie sich.
Thérine lachte. „Keine Sorge, Arian wird dir nichts wegsehen. Und wenn doch, wird er wissen, was es heißt, eine schwangere Frau gegen sich aufzubringen.“ Dann wurde sie wieder ernst. „Wir sind hier, weil wir dich nebenan schreien hörten. Wir dachten, jemand hätte sich ins Schloss geschlichen.“
„Und meine verrückte Frau wollte es sich nicht nehmen lassen, diesem Eindringling eins überbraten zu wollen. Stattdessen fanden wir dich im Schlaf.“ Arian deutete auf einen silbernen Armleuchter, der zu Thérines Füßen stand. Begreifen schlich sich in ihren Verstand.
„Ich habe nach jemandem geschlagen als ich aufgewacht bin“, sagte sie und ihr Blick fiel auf eine rosa Schramme, die über Arians Wange lief. Unbewusst hob er die Hand zu seinem Gesicht.
„Ach, das ist nichts. In den Trainingskämpfen mit meinen Brüdern werde ich jedes Mal viel schlimmer erwischt.“ Er warf ihr ein fröhliches Lächeln zu und sie atmete auf.
„Wie geht es dir jetzt?“, fragte Thérine und beäugte Karou kritisch.
„Es … es ist alles in Ordnung“, antwortete sie. Die Kopfschmerzen waren nur noch eine vage Ahnung. Thérine antwortete mit einem strahlenden Lächeln.
„Wundervoll! Ich schicke dir Thiela, sie wird dir beim Anziehen helfen.“
Verwirrt blinzelte Karou sie an. „Wofür?“
Thérine war schon aufgestanden und scheuchte gerade Arian aus dem Raum. „Cadán hat uns zum Essen eingeladen. Ich gebe zu, von dir war nicht explizit die Rede gewesen, aber damit muss er wohl leben müssen.“ Wieder ein heiteres, unbekümmertes Lächeln. Sie hörte Arian etwas murmeln, verstand jedoch nicht, was genau er sagte.
„Verzeihung, wie spät ist es denn?“, fragte sie und schaute aus dem Fenster. Die Sonne stand hoch.
„Es ist gerade Mittag“, rief Thérine, ehe sie die Tür hinter sich zuzog. Karou seufzte. Was für eine energische Frau.
Vorsichtig tastete sie sich den Weg aus den Fellen heraus. Der Boden unter ihren nackten Sohlen war kalt und sie hüpfte hastig auf den riesigen Teppich und hinter den Paravent, wo noch ihre Kleider lagen. Die gleichen goldenen Augen wie am Abend zuvor sahen ihr in dem Spiegel entgegen und Karou beeilte sich die verknoteten Strähnen in ihrem Haar zu entwirren.
Sie war gerade mit einer morgendlichen Katzenwäsche fertig geworden, als es an der Zimmertür klopfte. Sie zögerte nur kurz.
„Herein?“
Ein junges Mädchen betrat das Zimmer. Über ihrem Arm hang ein langes seidenes Gewand. Sie knickste tief, die Augen auf den Boden geheftet und stellte sich als Thiela vor.
„Milady Thérine schickt Euch dieses Kleid. Sie sagt, Eure Gewänder sind dreckig und zerrissen. Ich kann sie gerne flicken und säubern, wenn Ihr wollt.“ Sie breitete das Kleid auf dem Bett aus. Im Licht der Sonne schimmerte es in allen Schattierungen von Ocker bis zur Farbe des Sandes.
„Das kann ich unmöglich annehmen!“, rief Karou. Sie hatte so etwas Kostbares noch nie in ihrem Leben gesehen. So etwas konnte sie nicht anziehen. Sie traute sich nicht einmal, den Stoff in die Finger zu nehmen, aus Angst ihn zu beschmutzen. „Ich kann doch einfach meine Kleider anziehen – oder nicht?“
Thiela beäugte sie misstrauisch. „Eure Kleider sind schmutzig und vollkommen ungeeignet für die Tafel des Königs“, antwortete sie. „Außerdem schickt Milady Thérine Euch dieses Gewand und es wäre unhöflich, es abzulehnen.“
Karou blieb die Spucke weg. „Die Tafel des Königs?“, echote sie. Die Magd schien sie nicht weiter zu beachten und drückte sie stattdessen auf einen Schemel. Mit einem Kamm entwirrte sie alle ihre dunklen Strähnen, bis ihr Haar glänzte wie poliertes Ebenholz und steckte es zu einer geflochtenen Frisur zusammen, sodass es ihr nicht mehr schwer im Rücken hing. Dann hielt sie Karou auffordernd das Kleid entgegen. Mit einem Seufzen nahm sie es vorsichtig entgegen und verschwand hinter dem Paravent.
„Ich werde Euch hinunter in den Speisesaal führen“, hörte sie Thiela sagen.
„Vielen Dank“, antwortete sie und wusste nicht, ob sie sich damit für das Kleid oder die Begleitung bedankte, während sie sich im Kreis drehte und versuchte, einen Blick aus alle Perspektiven auf das Gewand zu erhaschen. Der Stoff fiel in weichen Falten hinab bis zu ihren Knöcheln und fühlte sich wie Federn auf ihrer Haut an. Fasziniert betrachtete sie sich im Spiegel. Mit der Frisur und dem Gewand sah sie beinahe aus wie eine Lady und die Farbe des Kleides unterstrich die ihrer Augen.
„Hier entlang“, wies Thiela sie schließlich an und holte sie aus ihren Gedanken. Karou beeilte sich, in ihre Stiefel zu schlüpfen und folgte der Magd durch die Gänge des Schlosses. Dieses Mal stiegen sie weniger schmale Wendeltreppen hinunter und gelangten stattdessen über eine breite Treppe mit flachen Stufen vor eine riesige zweiflüglige Tür, vor der zwei Wachsoldaten postiert waren.
Sie blickten stur geradeaus, doch die Hände, die sie an die Griffe ihrer beeindruckenden Schwerter gelegt hatten, ließen keinen Zweifel daran, dass sie bei drohender Gefahr in einem Atemzug reagieren konnten.
Karou holte einen nervösen Atem und straffte die Schultern, froh, dass wenigstens die Magd neben ihr stand. Doch Thiela verabschiedete sich kaum, dass einer der Wachen eine Tür öffnete, mit einem eiligen Knicks und verschwand durch einen Gang.
Verdattert sah Karou ihr für einen Moment hinterher und wäre ihr am liebsten nachgerannt, doch es war zu spät.
„Karou!“
Erschrocken drehte sie sich um und fand sich Kyron gegenüber, der sie erstaunt ansah. Er trug nur einfache Kleider, der Umhang war verschwunden und seine unordentlichen Haare fiel ihm in Stirn und Nacken. Wieder überkam sie dieses seltsame Gefühl, ihn zu kennen und sie hieß es willkommen in all dem Unbekannten, in dem sie sich befand.
„Entschuldigung, ich habe dich nicht erkannt – ich wollte gerade … Also, ich meine … Was ich fragen … Wie geht es dir?“, stammelte er und ein zartes Rose legte sich über seine Wangenknochen. Unwillkürlich musste sie lachen.
„Es geht mir gut, vielen Dank.“ Sie lächelte zu ihm auf und erhielt als Antwort ein ebenso zaghaftes Lächeln von ihm. „Thérine sagte mir, sie wolle, dass ich mit Euch esse“, sagte sie und es klang eher wie eine Frage. „Ich hoffe, ich störe nicht?“
Das schüchterne Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen. „Oh nein, ganz sicher nicht. Thérine hat dich schon angekündigt“, lachte er, als er ihr seinen Arm bot und sie ihn den Saal führte. Wer ist er?, fragte Karou sich. Er lebte im Schloss, speiste mit dem König und war offensichtlich an Etikette gewöhnt. Und er kam ihr so beängstigend vertraut vor.
Der Duft von Braten und gekochtem Gemüse setzte ihren zweifelenden Gedanken ein Ende, als ihr leerer Magen sich lautstark vernehmen ließ.
Selbst erschrocken, schlug sich Karou die Hand vor den Mund. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal gegessen hatte – sie konnte sich genau genommen überhaupt nicht daran erinnern, jemals etwas gegessen zu haben. Sie hörte Kyrons leises Lachen neben sich und sie wandte ihr rotes Gesicht ab – und entdeckte die Speisetafel, von der ihr die mittlerweile bekannten Gesichter von Arian und Thérine freundlich entgegen lächelten. Erleichtert erwiderte sie es und ließ ihren Blick weiter schweifen. Über Speisen, Teller, Kelche, Krüge und Silberbesteck. Und begegnete dem kühlen Blick Cadáns am Stirnende der Tafel.
„Du brauchst kein Angst zu haben“, erklärte Kyron ihr, als er wohl ihre verspannte Haltung bemerkte. „Cadán hatte bereits seinen Anfall, in dem er drohte, Thérine lebendig zu begraben – er wird dir nichts tun.“
Er hatte sie wohl beruhigen wollen, doch sie sah ihn nur erschrocken an. Lebendig begraben?! Kyron lachte abermals, aber ein Hauch von Rosa schlich sich wieder über seine Ohren und Wangen.
„Entschuldige – das wollte ich nicht. Solche Drohungen meint Cadán natürlich nicht ernst. Thérine ist nicht nur die Frau von unserem Bruder, sondern auch eine sehr gute Freundin seit unserer Kindheit.“
Karou nickte nur und nahm gegenüber von Thérine zu Kyrons Rechten Platz. Sie versuchte, Cadáns traktierende Blicke zu ignorieren, doch es fiel ihr schwer, bei der Autorität, die er in den Wänden dieser Halle ausstrahlte. Hatte sie sich gestern noch getraut, ihm zu widersprechen – heute war dem nicht so.
Das Essen verlief schweigsam – wenn man von den scheiternden Versuchen, eine Unterhaltung zu beginnen, seitens Thérines und Kyrons absah. Und gleichzeitig fühlte sich all das schon wieder so vertraut an, dass sich ein kleines Lächeln auf Karous Lippen schlich.
„Milord?“ Die überraschend kraftvolle Stimme eines Dieners, der zusammen mit anderen wachsam an einer Wand gestanden hatte, unterbrach die lebhafte Diskussion zwischen Kyron und Thérine. Cadán sah auf.
„Was gibt es, Rey?“
Rey warf einen unsicheren Blick auf Karou. Cadán sah ebenfalls für einen Herzschlag zu ihr, nickte dann aber Rey zu. „Sprich!“
„Ein Bote ist eingetroffen – von der westlichen Grenze.“
Augenblicklich hatte er die Aufmerksamkeit der drei Brüder. Auch Thérine lehnte sich interessiert vor. Nur Karou war angesichts des plötzlichen Stimmungsumschwungs verwirrt. Einiges schien ihr in dieser Stunde nicht zusammen zu passen.
„Ist der Trupp ebenfalls zurück gekehrt?
Rey schüttelte den Kopf. „Sie müssten noch einen etwa einstündigen Marsch entfernt sein.“
Cadán nickte. „Du wirst sie empfangen und mir Bericht erstatten, sobald sie eingetroffen sind.“
Mit einer Verbeugung zog Rey sich zurück. „Milord.“ Er schlug sich die Faust vor die Brust, ehe er durch einen Bogeneingang verschwand.
Das war es wieder, dachte Karou. Milord. Und dann fiel alles mit absoluter Klarheit zusammen. Bilder und fremde Erinnerungen stiegen in ihr hoch, fügten die Puzzleteile zusammen, die sie bisher nur einzeln betrachtet hatte.
Cadán war der König von Aethir. Er war der, den man den Kriegerkönig nannte.
Er war misstrauisch, aber fair und loyal. Er begleitete seine Soldaten auf dem Schlachtfeld. Ein furchteinflößender Kämpfer, sowohl mit Lanze als auch dem Schwert. Und ein guter, bedachter Freund. Und Kyron und Arian waren seine Brüder. Die Prinzen von Aethir.
Alles machte Sinn, alles war so klar, als hätte sie es schon längst gewusst – als hätte sie ihn schon lange gekannt, ob gleich das gar nicht sein konnte. Und doch hatte sie sich nun erinnert, als hätte sie mit ihm Seite an Seite gekämpft.
Karou schnappte nach Luft, die Gabel rutschte ihr aus der Hand und fiel scheppernd auf ihren Teller. „Der König“, entfloh es ihr und die Brauen der anderen schossen in die Höhe. Hastig stand sie auf. „Es tut mir leid, ich wusste nicht … Ihr müsst meine Manieren … Oh Himmel …!“, stammelte sie, während sich sengende Hitze auf ihrem Gesicht ausbreitete und sie versank in einen angemessenen Knicks. „Verzeiht mir, Milord“, sagte sie an Cadán gewandt, ehe ihr Blick zu Kyron huschte. Ein amüsiertes, nachsichtiges Lächeln spiegelte sich nicht nur auf seinem, sondern auf auch Arians und Thérines Gesicht.
„Mach dir keine Sorgen, Karou.“ Kyron war neben sie getreten, half ihr aus dem Knicks und ihr Herz sprang auf einmal in ihren Hals. „Es wird Cadán nicht schaden, wenn er einmal anders behandelt wird, als der hochgeborene Pfau, der er ist.“ Sie hörte Thérines Kichern und Cadáns Schnauben, doch ihr Blick lag auf Kyron. „Außerdem …“ Er stockte. „Ich würde dich gerne … eine Freundin nennen und keine Untergebene.“
Karou sog überrascht die Luft ein. „Das … ist sehr … großzügig.“ Naiv. „Doch ich weiß nicht, ob …“
„Ach paperlapapp!“, unterbrach Thérine sie. „Freundschaft kennt keine Standesunterschiede. Wie wäre es, wenn du unseren Gast – unsere Freundin herum führen würdest?“ Sie wandte sie an Kyron. „Eigentlich wollte ich das tun, aber mir fiel gerade ein, dass ich noch etwas zu erledigen habe – und richtet auf Eurem Weg dem Koch aus, dass er wie immer exzellente Arbeit vollbracht hat.“ Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, war sie schon aus dem Saal gefegt und hatte Arian mit sich gezogen.
Tag der Veröffentlichung: 28.12.2013
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