Cover

Prolog

 

 


Die Nacht hüllte ihn in schwarzen Samt. Um ihn herum war es still, als befände er sich tatsächlich unter einer dicken Decke. Silberne Fäden durchzogen den Stoff, vergingen mit einem leisen Platschen auf den Blättern. Frost ließ sie im bleichen Mondlicht glitzern wie tausend Diamanten.
Mit einem lautlosen Seufzen lehnte er seinen mächtigen Körper gegen einen schmalen Baumstamm, ohne die Kälte zu spüren, die sich in ihn hätte hinein brennen müssen. Seine Augen schienen sich durch die Dunkelheit zu bohren. Hell und kühl. Ein Sturm aus Eis. Und dahinter eine Glut, die noch übrig war von vergangenen Sommern. Doch als er zum weißen Mond hinaufsah war ihm, als fürchte selbst der, dass selbst die ihm vergehen könnte.
Sein einsames Heulen, hinauf zum verhangenen düsteren, Himmel verhallte ungehört.

 

 

 


Rotkäppchen

Fahles Licht fiel zwischen meinen Vorhängen ins Zimmer. Schon seit einiger Zeit lag ich schlaflos und merkwürdig unruhig da, den Blick auf das verdeckte Fenster geheftet, und beobachtete wie sich die Dunkelheit in ein zartes Rosa verwandelte und schließlich immer heller und kälter wurde. Ich wagte es nicht, die Augen zu schließen. Bilder verfolgten mich. Bilder von Blut, Tod und dem Ende der Welt. Schon die ganze Nacht schreckte ich immer wieder aus irgendwelchen Albträumen auf, ohne dass ich genau hätte sagen können, was passiert war. Ich erinnerte mich nur noch an das Blut. Und einen Wolf. Einen großen, schwarzen Wolf mitten in der Nacht, im Wald. Seine Zähne waren lang und scharf. Mir wurde schon bei dem bloßen Gedanken kalt und schwindelig.  Also lag ich starr da, darauf konzentriert, die Gedanken beiseite zu schieben. Erst der schrille Schrei meines Weckers zum wer-wusste-wievielten Mal ließ mich zusammenfahren. Benommen sah ich auf, tastete nach dem Störenfried, fand ihn und ließ ihn schließlich verstummen. 
Müde sank ich wieder tiefer in ihre Kissen, zog die Decke höher. Mir war nicht danach, aufzustehen und in die Schule zu gehen. Dazu fühlte ich mich viel zu erschöpft nach einer Nacht voller unbegründeter Albträume. In meinem Kopf pochte es unaufhörlich.
Erst ein Blick auf den Wecker verriet mir, dass ich verschlafen hatte, ohne dass ich wirklich geschlafen hatte. Hastig schlug ich die Decke zurück, ging barfuss zu meinem Fenster hinüber und riss die Vorhänge beiseite. Winterliche Morgensonne durchflutete den Raum, machte die Suche nach neuen Klamotten für den Tag einfacher. Mein Blick glitt über T-Shirts, Jeans und Pullis. Schließlich griff ich nach einem weißen Hemd über einem grauen T-Shirt zu blauen Jeans. In der Dusche brach ich alle meine Rekorde, ohne dass ich dabei aufhörte, nervös von einem Bein auf das andere zu hüpfen. Es dauerte keine zehn Minuten, bis ich vor dem Spiegel stand und zweifelnd eine meiner wilden roten Locke zwischen den Fingern drehte.
Kopfschüttelnd fuhr ich einfach mit meinen Fingern durch sie hindurch, fasste sie zu einem seitlichen Zopf zusammen und sprintete zurück in mein Zimmer, schnappte meine Tasche und Schlüssel für meinen Hyundai. Niemand war in der Küche oder im Wohnzimmer, der mich begrüßte oder verabschiedete. Natürlich nicht. Meine Eltern waren schon früh zur Arbeit gefahren und meine Schwester studierte Biologie in Pennsylvania. Dann knallte die Wohnungstür hinter mir zu und wäre in meiner Hast beinahe die Treppe hinuntergefallen, doch ich fing mich gerade noch und ereichte meinen Wagen, wobei ich fast bäuchlings auf der Motorhaube landete. Der Boden unter meinen Stiefeln war glatt und vereist. Winter in New York. Happy New Year!, dachte ich sarkastisch. Denn heute fing das neue Halbjahr an. Für mich mit einem hervorragenden Start. 
An der Edward A. Reynolds West Side High School angekommen waren die Tore schon längst geschlossen und der einzig freie Parkplatz war … weit vom Haupteingang entfernt. Frustriert zerrte ich meine Tasche vom Beifahrersitz und rannte ins Gebäude. Meine erste Stunde war englische Literatur. Das eine Fach, in dem ich nicht gut war. Dennoch war das kein Grund, direkt am ersten Tag viel zu spät zu erscheinen. Ohne Rücksicht auf Verluste schlitterte ich um eine Ecke, prallte abrupt mit jemandem zusammen.
Ein verärgert gezischtes „Pass auf!“ ließ mich aufsehen. Sofort trat ich einen Schritt zurück. Ich blickte geradewegs – wenn man davon absah, dass ich meinen Kopf ziemlich weit in den Nacken legen musste, um in sein Gesicht zu sehen – in ein eisblaues Augenpaar. Tiefschwarze Haare fielen in ein fein geschnittenes Gesicht mit einer geraden, schlanken Nase, Lippen um die ein missbilligender Zug lag und diesen kalten Augen, die mir das Fleisch von den Knochen zu brennen schienen. Etwas Aristokratisches und gleichzeitig Wildes haftete den Zügen an, in denen etwas stand, das ich beim besten Willen nicht deuten konnte.  Erst als sich eine dunkle Braue hob bemerkte ich, dass ich dabei war, ihn schamlos anzugaffen. Ihn, Daith Warden, Captain des Basketball-Teams der EARWSH, Schulschwarm (fast) aller Mädchen und arrogantes Arschloch von Gottes Gnaden.
„Hat man dir nicht beigebracht, dass es unhöflich ist, Leute anzustarren, Downey?“ Seine Stimme war weich und dunkel. Und gleichzeitig hörte ich das Eis klirren. Für einen Moment war ich überrascht, da ich sie tatsächlich zum ersten Mal hörte, dann starrte ich erbost zu ihm auf, stemmte die Hände in die Hüften.
„Woher kennst du meinen Nachnamen?“, fauchte ich, die Tatsache außer Acht lassend, dass ich nun hoffnungslos zu spät war.
Daith schnaubte nur abfällig und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Haltung war Distanzierung und Abweisung pur. Trotzdem hielt mich das nicht davon ab, ihn einmal kurz von oben bis unten zu mustern. Zum ersten Mal sah ich ihn aus der Nähe. Er war mindestens einen Kopf größer als ich, dabei war ich nicht klein. Seine Statur war schlank, trotzdem konnte man unter dem karierten Baumwollhemd und den dunklen Jeans die langen, sehnigen Muskeln von Jahren Kraft- und Ausdauertraining erahnen. Die Ärmel des Hemdes waren lässig hochgeschoben, entblößten seine kräftigen Unterarme. Seine langen, schlanken Finger krallten sich in seine Oberarme.
„Nun, Downey? Ich warte noch immer auf den Knicks, die Entschuldigung und dein Verschwinden.“ Reine Arroganz sprach aus seinem Ton. Ich sog verärgert zischend die Luft zwischen den Zähnen hindurch ein.
„Dann kannst du lange warten, Warden. Hoffen wir für dich, dass du so geduldig bist wie eine Schildkröte.“, gab ich bissig zurück, reckte das Kinn und marschierte an ihm vorbei. Er hinderte mich nicht. Ich glaubte nur ein Grollen zu hören, das irgendwo tief aus seinem Brustkorb zu kommen schien. Ich ignorierte es.
Im Kurs für englische Literatur war ich natürlich viel zu spät. Ich erhielt missmutige Blicke der anderen Schüler und Nachsitzen von Mrs Bennett. Seufzend ließ ich mich neben Dacia Summers auf den Stuhl fallen. 
Dacia sah mich mit ihren großen dunklen Rehaugen an. Ihr schmales Gesicht wurde von schulterlangen braunen Haaren umrandet. Ihr schlanker, zierlicher Körper steckte wie immer in schwarz. Pullover, Jeans, Schuhe. Schlicht und schwarz. Seit unserem Beginn an der Highschool waren wir Freundinnen. „Was ist passiert?“, flüsterte sie, musterte mich neugierig.
„Hab verschlafen und bin schließlich noch in Mr Arschloch höchstpersönlich rein gerannt.“, knurrte ich unwirscher als beabsichtig und strich mir eine rote Strähne aus dem Gesicht. Neben mir kicherte Dacia hinter vorgehaltener Hand.
„Und das alles am ersten Tag. Herzlichen Glückwunsch“, lachte sie. Mein boshafter Seitenblick brachte sie nur noch mehr zum Lachen, sodass schließlich Mrs Bennett auf uns aufmerksam wurde und mich an einen anderen Tisch verbannte, bis es schließlich zum Ende klingelte – Was für eine Gnade – und ich beinahe fluchtartig den verhassten Raum verließ.
Auf dem Gang wartete Dacia auf mich.  Sie saß auf einer Bank, die Beine angezogen, die Arme über die Knie gelegt. Mit ihrem zierlichen italienischen Puppengesicht sah sie zu mir auf und lächelte. „Kyra!“, rief sie so begeistert, als hätten wir uns gerade eben erst wieder getroffen, sprang auf und mir um den Hals. „Entschuldige, dass ich vorhin so gelacht habe, aber du sahst zu niedlich aus.“, lächelte sie ohne Spur eines schlechten Gewissens.
Ich ignorierte das niedlich und winkte ab. „Geht schon, solange mir so was heute nicht noch mal passiert.“
Dacia lachte glockenhell. Ich verdrehte die Augen. Sie war ständig so gut gelaunt und schien in allem einen Grund zum Lachen zu sehen. „Also schön. Du hast also heute Nachsitzen, richtig? Aber sonst steht heute Abend noch?“
Dacia hatte mich auf einen Kino-Abend eingeladen. Ein Leonardo-DiCaprio-Film-Marathon stand an, den meine Freundin um nichts in der Welt verpassen würde. Und wenn sie dafür das Kino überfallen müsste. Sie war ein schrecklicher Fan von ihm. Und wenn ich „schrecklich“ sagte dann meinte ich auch schrecklich.
Ich seufzte leidgeprüft. „Natürlich. Heute Abend um sieben Uhr vor dem Regal Union Square Stadium.“, bestätigte ich. Sie grinste als Antwort glücklich, doch dann runzelte sie die Stirn, starrte finster über meine Schultern hinweg den Gang entlang.
„Sieh an, sieh an. Was für ein Fang, Amelia.“, murmelte sie.
Ich drehte mich um, um zu sehen, wie sich Amelia Aves an unseren Basketball-Captain schmiegte wie eine dieser merkwürdigen Federboas. Was allerdings nicht das Merkwürdige an der Sache war, die sich dort abspielte.
Seit Daith Warden vor eineinhalb Jahren von der Himmel-wusste-woher an die EARWSH kam versuchte Amelia, das It-Girl und Schlampe vom Dienst Nummer eins der Schule, sich an ihn ran zu machen. Doch bis jetzt hatte er sie und jede andere eiskalt abblitzen lassen. Bei Amelia ist es einmal sogar so weit gegangen, dass er drohend die Faust gehoben hatte und tatsächlich mit den Zähnen nach ihr geschnappt hatte.
Dumm nur, dass Amelia, die Gute, weder solche Gesten noch das Wort „Nein“ verstand. Nun hatte sie ihn gestellt und klammerte sich an seinen Arm wie eine Ertrinkende, ohne dabei aufzuhören, ununterbrochen mit den Wimpern zu klimpern. Doch wie gesagt, das war nicht der merkwürdige Teil. Der war nämlich: Warden ließ all das geschehen. Und das obwohl, man ihm den Ekel ins Gesicht geschrieben sah. Der Körperkontakt ging ihm eindeutig gegen den Strich. Er hasste Körperkontakt. Selbst bei wichtigen Basketball-Spielen weigerte er sich, die Gegner auch nur mit der Schulter zu streifen, um an die Bälle zu kommen. Zudem war er ein Einzelgänger durch und durch. Selbst die Schülermengen in der Cafeteria schienen ihm zu viel zu sein, denn er tauchte selten dort auf und ließ auch sonst niemanden an sich ran, geschweige denn in seine Nähe. Und normalerweise gelang es ihm auch, jeden mit seinem abweisenden, arroganten Gehabe auf Distanz zu halten. Nur bei Amelia schien diese Taktik zu versagen. Wahrscheinlich war ihm das nun klar geworden und er hatte sich ergeben. Ich wollte mich gerade genervt von diesem ganzem „Rumgeturtel“ abwenden, als sein Blick mich traf. Seine hellblauen Augen wurden schmal, seine Lippen verzogen sich langsam zu einem provozierenden, spöttischen Lächeln. Zumindest glaubte ich das zuerst.
Nachdem ich seinen Blick für ein paar Sekunden erwidert hatte und schließlich fragend eine Braue hob, fiel mir auf, dass dieses Lächeln immer mehr einem Zähnefletschen glich. Auch der Ausdruck in seinen Augen wechselte von etwas, dem Triumph am nächsten kam, in Zorn. Unbeeindruckt dessen hob ich das Kinn, beobachtete, wie er etwas zischte, das ich nicht verstehen konnte und Amelias Oberarm packte. Überrascht quietschte sie, als er mit ihr den Gang hinabstürmte. Ich wusste nicht, ob es Zufall war oder der enge Gang, aber er ging so dicht an mir vorüber, dass seine Schulter die meine streifte. Und für diesen einen Moment glaubte ich in seinem Blick so geballte Frustration zu erkennen, dass ich gar nichts mehr wusste. Dann waren er und Amelia verschwunden.
Neben mir zog Dacia zischend die Luft zwischen den Zähnen ein. „Was war das denn gerade?“, wollte sie wissen. Ich schüttelte den Kopf, während ich ein kleines Grinsen nicht verbergen konnte. Ich hatte Daith Warden tatsächlich aus dem Konzept gebracht? „Wenn ich das wüsste.“, antwortete ich. Ob die Antwort mir oder Dacia galt konnte ich selbst nicht so recht sagen.
„Auch egal. Wir sollte jetzt zu Chemie gehen.“, sagte sie und zog mich mit sich, in die gleiche Richtung, in die auch Daith verschwunden war. Es klingelte schrill, der Gang leerte sich schnell.
Nach der letzten Stunde saß ich schließlich im Winter-Nachmittags-Sonnenlicht von New York und verabschiedete mich von Dacia, die noch etwas erledigen musste und deshalb nicht auf mich warten konnte. Mir rutschte eine Augenbraue in die Höhe. Ich konnte mir schon denken, was oder wer dieses Etwas oder dieser Jemand war.
„Grüß Jayden von mir!“, rief ich ihr hinterher, während sie in ihren Smart stieg. Mit rotem Gesicht wandte sie sich ab, winkte mir über die Schulter, bevor sie im Wagen saß, aus der Parklücke setzte und vom mittlerweile fast leeren Gelände verschwand.
Ein paar Augenblicke sah ich ihr hinterher, genoss die Sonne, die vom weißen Schnee unter meinen Stiefeln schwach reflektiert wurde. Irgendwann stand ich auf, um mich doch noch zum Nachsitzen zu trollen, als es in dem Dreieck zwischen meinen Schulterblättern zu kribbeln begann.
Jemand beobachtete mich. Ich spürte deutlich einen merkwürdig stechenden Blick in meinem Rücken und wirbelte herum. Der Parkplatz lag beinahe verlassen da. Nur noch ein paar vereinzelte Autos parkten dort. Ein paar der Dächer waren mit Schnee bedeckt, andere reflektierten stark das Sonnenlicht. In ein paar Bäumen raschelte der eiskalte Wind, ließ mich frösteln.
Ich konnte niemanden sehen. Ich war allein. Und trotzdem verfolgte mich das Gefühl, als ich schulterzuckend ins Gebäude zurückging. Ein warmer Schauder überlief mich, bevor ich um eine Ecke bog und es abrupt endete.

 

 

Die Nacht versprach äußerst unangenehm zu werden. Kalter Regen peitschte um die Häuser. Die Straßen schimmerten ebenso feucht und schwarz wie seine Haare, die ihm lästig in Stirn und Nacken klebten. Schneeschlamm-Spritzer bedeckten die Spitzen seiner festen Stiefel, ließ den Saum seiner dunklen Hosenbeine nass werden. Sein Atem hing ihm weiß vor Mund und Nase, während er unruhig auf und ab ging. In den letzten Nächten wurde er immer nervöser. Um ihn herum leuchtete das Nachtleben, verbarg Mond und Sterne am Firmament. Autos und Stimmen tosten um ihn herum. Es fiel ihm mit jedem Atemzug schwerer, sie auszublenden. In ihm brannte und zerrte es. Fuhr seine Krallen aus und grub sie ihm in die Eingeweiden. Keuchend krümmte er sich vornüber, stolperte in eine Gasse. Er musste spucken, schmeckte Galle auf der Zunge.
Er glaubte schon, den Asphalt unter Pranken zu spüren. Seine Ohren zuckten nervös. Schneidend kalter Wind fuhr unter seine Jacke, er glaubte, ihn in seinem Fell zu spüren
Heute nicht …
Fast befürchtete er, wahnsinnig zu werden, als ein silberner Wagen ihn fast streifte. Vor Schreck machte er einen Satz, verschmolz endgültig mit den Schatten der Gasse. Sein rasendes Herz verdrängte all das Brennen und Zerren in ihm.
Heute nicht!
Die Fahrerin schien ihn in der Dunkelheit nicht gesehen zu haben und doch war es ihm, als verfolge ihr Gesicht ihn. Für sie!

 

 

 
Zu Hause ließ ich meine Schlüssel neben eine Vase auf einem kleinen Tisch in der Diele fallen. Dann ging ich mit meiner Tasche nach oben, setzte mich erschöpft vor den Schreibtisch. Zu gern hätte ich mich für ein paar Stunden Schlaf aufs Bett geschmissen aber dann wäre ich am nächsten Tag Gefahr gerannt, noch mal Nachsitzen aufgebrummt zu bekommen. Zudem hätte ich Dacias ach so tollen Filmmarathon verschlafen können. Also begab ich mich an die Hausaufgaben.

Später war ich mit den Nerven so am Ende, dass ich fast nicht mitbekam, wie unten ein Schlüsselbund im Schloss klapperte. Das Klappern von Geschirr riss mich endgültig aus meiner Starre und ich eilte aus meinem Zimmer.

„Mom!“, rief ich und grinste meine Mutter, die Geschirr auf dem kleinen Esstisch in unserer Küche verteilte, an.

Lächelnd sah sie auf, begrüßte mich. Ihr bernsteinfarbener Blick wirkte müde. Trotzdem konnte das ihrem spitzen, anmutigen Gesicht nichts anhaben. Ihre schulterlangen roten Locken wirbelten kurz auf, als sie sich zum Herd umdrehte. Es roch nach Reis und Hühnchen.

„Wie war die Schule?“, fragte sie. Ihre Stimme war weich und mütterlich. Etwas, was ich nicht ausstehen konnte, aber gleichzeitig konnte ich auch nichts dagegen, dass ich mich trotzdem jedes Mal geborgen fühlte.

„Geht so. Erster Schultag eben.“, murmelte ich, mein Blick fixierte die zwei Gedecke auf dem Tisch, während ich auf meiner Unterlippe kaute. „Kommt Dad nicht?“, lenkte ich ab, als sie hellhörig wurde. Sofort wirkte sie wieder erschöpft. Bedauernd schüttelte sie den Kopf.

„Leider nein. Er hat mich vorhin angerufen; er muss Überstunden machen.“

„Oh … Ähm … Ist es in Ordnung, wenn … Ich bin gleich um sieben mit Dacia verabredet.“, stammelte ich ein wenig unsicher. Ich wollte sie nicht allein hier sitzen lassen. Moms Braue rutschte in die Höhe.

„Sicher? Wo denn?“ Es war deutlich, dass sie mir auf Anhieb nicht ganz glaubte. Dacia und ich unternahmen selten etwas. Ich unternahm selten etwas.

„Kino. DiCaprio-Marathon.“, gab ich knapp Bescheid. Jane lächelte darauf ebenso gequält wie ich.

„Du solltest gehen.“, sagte sie nickend. Ich kaute noch immer auf meiner Lippe.

„Sicher?“

„Natürlich. Geh nur. Du sollst mal rauskommen. Um sieben Uhr sagtest du?“

„Ja.“

„Dann solltest du langsam fahren.“

Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass sie Recht hatte. Hastig sprang ich auf, rannte in den Flur und packte meine Schlüssel. Mit einem Abschiedsgruß über die Schulter stolperte ich nach draußen. Es hatte geregnet, die Straße war spiegelglatt, der Schnee matschig geworden, was mich noch mehr Zeit beim vorsichtigen Fahren kostete, als ich eh schon vergeudet hatte. Doch schließlich konnte ich meinen Wagen auf dem Parkplatz abschließen. Es war bereits zehn nach sieben. Leise vor mich hinfluchend zog ich mir die Kapuze meiner Jacke tief ins Gesicht, da es wieder angefangen hatte zu regnen und rannte zum Kino hinüber. Darauf bedacht, nicht auszurutschen, wich ich einem Schneematschhaufen aus, als ich wieder den Blick von heute Nachmittag im Rücken spürte.

Ich wirbelte herum. Es war ungewöhnlich still und leer. Nur eine Gruppe Jugendlicher, die mich nicht beachtete, lungerte um eine Bank herum. Die Enden ihrer Zigaretten glimmten in der Dunkelheit. Sonst lag alles in Schatten, von einzelnen Laternen spärlich erhellt. Ein Auto fuhr vorüber. Kurz glaubte ich in dem Scheinwerferlicht eine Bewegung in den Schatten zu sehen und fühlte mich merkwürdig an meine Albträume erinnert. An den Wolf mit seinen blutigen Fängen. Das Licht verschwand um eine Ecke und mit ihr die Erscheinung. Kurz kniff ich die Augen zusammen, um in der Nacht besser sehen zu können. Dann schüttelte ich den Kopf. Einbildung. Da war niemand.

Typisch. Kaum fängt das neue Jahr an legte ich meine Marotten vom ständigen Haarezwirbeln ab und wurde stattdessen paranoid.

Im Kino-Gebäude hielt ich Ausschau nach Dacia. Sie war vermutlich schon völlig zerissen. Was wenn sie den ersten Film verpassen würde? Wie schrecklich, dachte ich sarkastisch. Dabei war der erste Film doch Titanic.

Ich verdrehte die Augen. Warum tat ich mir das an?

Endlich entdeckte ich meine beste Freundin bei einer Sitzgruppe.

„Ich habe dich schon erwartet.“, sagte sie mit heiser verstellter Stimme, als ich sie erreichte. Dann war sie ernst – ungewöhnlich – und hob eine dunkle Braue. „Was ist passiert? Bist du wieder in Warden rein gerannt?“

Verdutzt schüttelte ich den Kopf. „Nein. Wieso?“

Ihr Kinn ruckte in eine Richtung schräg hinter mir. „Er ist keine halbe Minute nach dir hier erschienen. Verschweigst du mir etwas?“

Unwillkürlich musste ich lachen. „Daith Warden? Mr Arschloch und ich? Nein, danke. Du müsstest mich doch besser kennen.“, sagte ich und drehte mich um. Er stand tatsächlich dort an der Kasse, ein paar Meter von mir entfernt.

Sein schwarzes Haar sah feucht aus und war ihm aus der Stirn nach hinten geschoben. In seinem Nacken kräuselte es sich leicht. Er trug, anders als heute Morgen, ein dunkles T-Shirt, darüber eine schwarze Lederjacke. Seine langen schlanken Beine steckten in ebenso dunklen Jeans, die nachlässig in schwarze Boots gestopft waren.

Ich erschrak, als ich mich bei dem Gedanken ertappte, mit den Fingern durch seine dichten Haare zu fahren. Hastig schüttelte ich die Idee ab. Das war schwachsinnig. Auch wenn ich zugeben musste, dass er gut aussah, war er immer noch ein eingebildetes arrogantes Arschloch.

„Du lässt mich heute wohl nicht in Ruhe, wie?“

Abermals erschrocken sah ich auf, als ich seine Stimme dicht vor mir vernahm. Ich hatte ihn nicht kommen sehen oder hören. Neben mir stand Dacia auf, straffte wenig eindrucksvoll die Schultern. Neben seiner hochgewachsenen Statur wirkte sie winzig.

„Was willst du damit sagen, Warden? Ich würde sagen, du lässt mich nicht in Ruhe.“, gab ich zurück.

In seinen hellen Augen glitzerte es spöttisch, um seine Mundwinkel zuckte etwas.

„Ach? Und was hatte der Blick gerade zu bedeuten?“ Etwas glänzte hinter seinen Lippen, während er sprach.

Empört stemmte ich die Fäuste in die Seiten. „Ich bin nicht dazu verpflichtet, mich vor dir zu rechtfertigen!“, zischte ich. 

Kurz huschte Ärger über seine Züge, dann kehrten Spott und Arroganz zurück. „Das ist richtig. Allerdings schuldest du mir immer noch eine Entschuldigung.“

„Wie gesagt, auf die kannst du von mir aus warten, bis du schwarz wirst.“ Dieses Mal blieb der Ärger. Zornig funkelten wir uns gegenseitig an.

„Fein!“, schnappte er schließlich.

„Fein!“, gab ich ebenso feindselig zurück. 

Mit einem dunklen, aggressiven Knurren wandte er sich brüsk ab, hielt auf Amelia zu, die uns in einiger Entfernung beobachtet hatte und mit unschuldiger Miene zu ihrem Freund aufsah, kaum dass er sie erreichte. Er blaffte ihr irgendetwas zu, woraufhin sie verwirrt von ihm zu mir sah, ehe sich ein hinterhältiges Lächeln auf ihren Zügen breit machte, das sie mir über seine Schulter hinweg zuwarf. Ich konnte mir denken, was das hieß.

„Auch egal!“, fauchte ich, wirbelte zu Dacia herum. Die sah mich verdutzt an.

„Schon wieder!“, rief sie.

„Hä?“, fragte ich äußerst eloquent und sah vermutlich ebenso dumm aus der Wäsche wie sie.

„Der Blick!“

„Der Blick?“, echote ich. War das eine neue Geheimsprache? „Was für ein Blick?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß auch nicht. Warden sieht … hat dich schon wieder so angesehen. Wie heute Morgen.“

Ich hob irritiert eine Braue. „Was heißt so angesehen?“ Dacia hob die Schultern.

„Ich weiß auch nicht …“, wiederholte sie. Ich seufzte genervt.

„Ist ja auch egal. Holen wir uns die Karten.“ Minuten später saßen wir im Kinosaal. Popcorn-Geruch füllte den Raum, während die Werbung anlief. Die Lichter wurden gedämmt, als ich hinter mir ein dumpfes Stöhnen vernahm, auf das ein „Verdammt!“ folgte. Bei dem mittlerweile vertrauten Klang der Stimme drehte ich mich um. 

Das gibt’s noch nicht!, fluchte ich innerlich, als ich das stechende Augenpaar erkannte. Er erwiderte meinen finsteren Blick.

"Langsam hab ich die Nase voll! Stalkst du mich, du Schwein?!"

"Das wäre mir die Zeit nicht wert, Rotschopf!"

Ich sog lautstark zischend die Luft ein. "Was war das?"

"Du hast mich verstanden."

In der Dunkelheit sah ich nur, wie sein Gesicht sich bleich, von der Leinwand teilweise beschienen, abhob, hörte seine vor Hohn triefende Stimme. Fragend legte er den Kopf schief.

„Fällt dir jetzt schon nichts mehr ein, Ginger?“

Ich starrte ihn verdattert an. Was glaubte er, der er ist? Er hatte kein Recht, mich so anzumachen! Wütend schleuderte ich ihm ein "Eingebildetes Arschloch!" entgegen. Zugegeben, das war nicht gerade einfallsreich, doch die Wirkung trat trotzdem ein. Er verzog das Gesicht.

"Egozentrische Hexe", kam dann zurück.

Ich wusste nicht, wie wir dazu kamen, uns gegenseitig Beleidigungen an unsere Köpfe zu schmeißen, aber wir steigerten uns immer mehr da rein. Selbst Dacias Versuche, mich zu beruhigen und die verärgerten Rufe um uns wurden ausgeblendet.

Ihm schien Amelias Bemühen um seine Aufmerksamkeit ebenfalls egal zu sein. 

"Bastard!", zischte ich. Ein dunkles sarkastisches Lachen.

"Was? Damit wolltest du mich treffen, Rotkäppchen?“

Tatsächlich musste ich feststellen, dass ich nicht sonderlich viele Beleidigungen oder Flüche parat hatte, während seine immer kreativer wurden.

Er beugte sich vor, sein Gesicht schwebte nur ein paar Zentimeter vor meinem. Ich überlegte, ob ich ihm ins Gesicht spucken sollte, bis er wieder sprach. Grinsend. Eine Maske voller Hohn. Seine weißen, ebenmäßigen Zähne blitzten dabei unheimlich auf. „Pass auf, was du tust, Rotkäppchen. Weich bloß nicht vom Weg ab. Der große böse Wolf könnte dich fressen!“, raunte er.

Ich erschauderte, konnte nichts mehr erwidern. Der Wolf! Der riesige schwarze Wolf mit den blutigen Fängen. Blut … Blut! Wessen Blut?  Mit einem Mal fühlte ich mich, als wäre ich wieder in meinem Albtraum gefangen. Ich riss die Augen auf, schnappte nach Luft. Immer wieder drehten sich die Bilder in meinem Kopf, zogen in Endlosschleifen an mir vorbei, während ich Daith anstarrte. Nur nebenbei bemerkte ich wie durch einen Schleier seinen Gesichtsausdruck. Wieder war dort diese geballte Ladung Frustration. Um seinen Mund lag ein ironischer Zug. Was war das, was ich in seinen Augen sah? Schmerz? Den Tod? Er lehnte sich in seinen Sessel zurück, während ein Schrei in mir aufstieg.

"Kyra!", keifte Dacia, zerrte an meinem Oberteil. Ich fuhr zusammen, sah mich hektisch um. Es konnten nicht mehr als ein paar Sekunden gewesen sein, die ich in dieser Angststarre verbracht hatte.

"Was?!", fuhr ich sie schließlich an, schluckte den Schrei entschlossen hinunter. Sie sah mich verständnislos an. 

"Was tust du da?"

"Ich ..." Ich sah zu Daith, der verbissen das Gesicht angewandt hatte. 

„Ich hoffe inständig, der böse Wolf kriegt dich, Rotkäppchen.“, knurrte er. Ich musste die Albtraumbilder erneut abschütteln. Ich riss mich um Dacias Willen zusammen und gab keinen Kommentar mehr dazu ab. 

Auf einmal kam mir alles heute Abend schrecklich lächerlich vor. Als wäre ich im falschen Film gelandet. Buchstäblich. "Tut ... tut mir leid.", murmelte ich an Dacia gewandt, doch sie winkte ab und schaute weiter ihre Tragödie. Ich verkroch mich in meinem Sitz und versuchte mich auf den Film zu konzentrieren.

Irgendwann, noch im Laufe von Titanic, hörte ich, wie Daith in der Reihe hinter mir aufstand, beobachtete aus dem Augenwinkel, wie er ohne einen Blick zurück den Saal verließ. Er kam nicht mehr wieder. Himmel und Hölle mochten mich zukünftig vor diesem Idioten bewahren!

Begleitung

Ich wurde erhört. Die nächste Woche begegnete ich ihm kein einziges Mal. Nur ein paar Mal hörte ich seine Stimme auf den Gängen. Und jedes Mal lief mir ein Schauder den Rücken hinunter, in meiner Brust saß ein merkwürdiger Knoten.

Auch die Woche danach blieb er mir fern, bedachte mich nur aus einiger Distanz mit mörderischen Blicken, während Amelia ständig um ihn herum schwirrte und Gerüchte darüber verbreitete, dass Daith und ich heimlich zusammen gewesen waren, er mich abserviert hatte und ich nun wieder um seine Gunst buhlte.

Ich verdrehte die Augen und ließ mich auf meinen Platz in Mathe fallen. Wenigstens ließen mich die Albträume in Ruhe. Vorne an der Tafel standen bereits ein paar Formeln. Mr Lorman sortierte seine Unterlagen, ließ seinen Blick kurz durch die Klasse schweifen.

In meinem Mathekurs gab es nur einige Schüler, etwa fünfzehn. Nicht mal Dacia besuchte diesen Kurs mit mir.

Mr Lorman begrüßte uns knapp und wandte sich zur Tafel um, als es an der Tür klopfte. Unwillig rief er „Ja, Herein“.

Kurz erschien der Kopf unserer Sekretärin, sie bat ihn nach draußen. Nur eine Minute später erschien er wieder.

„Da der Mathekurs der Senior-Stufe über uns und unserer ziemlich klein sind und Ms Mere heute krank ist, wurde ich gefragt, ihren Kurs ebenfalls zu übernehmen und mit den anderen ein wenig zu wiederholen. Also rückt ein wenig zusammen, damit alle an den Tischen sitzen können.“, gab er uns Bescheid, während sich an der Tür schon die Neuankömmlinge drängten. Sie sahen ebenso begeistert aus wie wir.

Ich erschrak kurz, als ich Daith entdeckte, der Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst hatte. Sein arroganter, gelangweilter Blick, der über unsere Köpfe schweifte sagte nur zu deutlich aus, was er von dieser Idee, von wegen Wiederholung, hielt und wo wir uns unseren Mathekurs hinschieben konnten. Er entdeckte mich fast in demselben Moment, in dem ich ihn gesehen hatte und ertappte mich schon wieder dabei, wie ich ihn anstarrte. Für einen Atemzug hoben sich seine dunklen Brauen überrascht, bevor sie sich unwillig zusammenzogen.

Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her als ich sah, wie sich die hinteren Reihen füllten und bei mir in der ersten Reihe die Stühle weitestgehend frei blieben. Letztendlich war tatsächlich nur noch der Platz neben mir frei und Daith Warden stand als Letzter im Raum, ohne dass etwas an ihm unschlüssig oder zögernd wirkte. Es war schlichtweg Weigerung, die aus seiner Haltung sprach. In den hinteren Reihen wurde gekichert und getuschelt.

„Nun, Mr Warden. Wollen Sie sich nicht auch setzen? Ms Downey wird sie sicher schon nicht beißen.“, sagte Mr Lorman.

Ich sah, wie Daiths Kiefer arbeiteten, sich anspannten und mahlten.

Nein, ich nicht. Er wird sicher mich beißen, sollte ich auch nur falsch atmen., dachte ich, als ich seinen Blick sah. Wie so oft zuckte schließlich etwas um seine Mundwinkel und ich glaubte schon, ein sanftes, kleines Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen, als er schon wieder einfach nur der arrogante Mistkerl war.

„Richtig. Ms Downey würde mir eher die Augen auskratzen.“, bemerkte Daith trocken, bevor er mit den gefährlich geschmeidigen Bewegungen eines Raubtiers auf mich zukam. Sein Rucksack schabte über die Politur des Tisches. Er setzte sich, verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust und streckte die langen Beine unterm Tisch aus. Eingeschüchtert rückte ich ans Ende meines Tisches – nicht dass ich vorgehabt hätte, ihm nahe zu kommen, ohne dass er mir mit seinem Blick den Tod oder schlimmeres versprach, sollte ich auch nur einen Finger in seine Richtung ausstrecken – und beobachtete heimlich aus dem Augenwinkel, wie er einfach nur still dasaß, den Kopf im Nacken, die Augen geschlossen. Alles an ihm deutete darauf hin, dass ihm dieser Kurs buchstäblich am Arsch vorbeiging und fast sah es so aus, als wäre er eingeschlafen. Sein Atem ging ruhig und tief, seine Miene wirkte ausnahmsweise beinahe friedlich und entspannt. Da war nichts eingebildetes oder arrogantes mehr. Dass er dann so unvermittelt sprach ließ mich zusammenfahren.

„Wird es dir nicht irgendwann langweilig, mich ständig so anzustarren, Downey?“, flüsterte er dunkel.

Hitze kroch mir den Hals hinauf, brachte meine Wangen zum Brennen. Wie, zur Hölle, hat er das mitbekommen?, schoss es mir durch den Kopf, doch ich hob das Kinn, starrte stur zur Tafel hin, an der Mr Lorman schrieb.

„Aber sonst geht’s noch, Warden? Wie eingebildet kann man eigentlich sein?“, raunte ich zurück.

Neben mir richtete er sich auf, legte die Unterarme über den Tisch. Seine Hände baumelten auf der anderen Seite über die Tischkante. Langsam wandte er den Kopf, so viel konnte ich aus dem Augenwinkel erkennen. Ein Blick sagte mir, dass er die untere Gesichtshälfte an seiner Schulter barg und mit einer Mischung aus Irritation, Misstrauen und Verwunderung zu mir rüber sah.

Ich tat es ihm unbewusst nach, funkelte ihn an. Er hob nur eine Braue. Kurz glitt sein Blick über mich, dann wandte er sich wieder ab.

„Ich weiß nicht wieso, aber du bist äußerst merkwürdig, Hexe.“, sagte er leise, fast sanft, ehe er sich wieder zurücklehnte, die Augen schloss.

„Danke gleichfalls, Arschloch!“, knurrte ich, drehte mich abrupt von ihm weg, versuchte ihn zu ignorieren. Gelegentlich glaubte ich, er wäre näher gerückt oder ich meinte, seine Blicke auf mir zu spüren, was es mir schwer machte, doch jedes Mal, wenn ich hinsah, saß er genauso dort, wie zuvor.

„Und, Mr Warden? Können sie mir die Antwort nennen?“, riss Mr Lormans Stimme mich aus meinen Gedanken. Hastig sah ich zur Tafel, betrachtete die Gleichung, die dort weiß auf schwarz stand. Ich hatte kaum etwas diese Stunde mitbekommen.

Daith hob den Kopf, starrte mit verengten Augen auf die Tafel. Seine Lippen waren einmal mehr zu einem harten Strich zusammengepresst. Verwirrt sah ich zwischen ihm und der Gleichung hin und her. Warum starrte er sie an, als wolle sie ihm an die Kehle gehen?

In den hinteren Reihen hustete ein paar der Seniors vernehmlich.

Mr Lorman legte den Kopf schief. „Kommen Sie. Das hatten Sie doch bereits letztes Jahr gehabt. Zeigen Sie meinen Schüler, wie man das hier rechnet.“ Auffordernd hielt mein Mathelehrer ihm die Kreide entgegen.

Ich sah, wie Daith das Gesicht verzog, die Nase rümpfte. War er wirklich kurz davor, sich zu weigern und Mr Lorman auflaufen zu lassen? Oder sah es nur so aus? Wer wusste schon, was er dachte.

Kopfschüttelnd griff ich mir Stift und Papier. Auch wenn ich Daith beim besten Willen nicht leiden konnte, das hier konnte ich mir nicht länger ansehen.

Unauffällig schob ich ihm den Papierfetzen, auf dem ich die Lösung für ihn bereitet hatte, hin. Für einen Augenblick weiteten sich seine Augen fast unmerklich, bevor er sie sich zögernd griff. Sichtbar widerwillig stand er dann auf und ging mit ebendieser Eleganz, die mir vorhin schon aufgefallen war, nach vorne. Von hinten flüsterte jemand, sodass alle es hören konnten: „Er will’s echt versuchen! Der blamiert sich doch nur. Warum geht er nicht gleich auf eine Sonderschule für Mathe?“ Aber Daith schrieb und schaffte es tatsächlich, immer wieder auf den kleinen Zettel zu sehen, ohne dass es auffiel und führte die Gleichung scheinbar ohne Mühe fort. Gelassen stand er dort vorne. Er schien sich der ganzen Blicke in seinem Rücken entweder nicht bewusst oder ignorierte es geflissentlich, während seine Hand sich von links nach rechts bewegte und ordentliche, aber schwungvolle Zahlen hinterließ. Fasziniert beobachtete ich das Spiel seiner sehnigen Muskeln an seinem Unterarm, der wieder freilag. Die Seniors hinter mir sogen überrascht die Luft ein.

Mit einem merkwürdig stolzen Gefühl konnte ich mir gerade eben noch ein Grinsen verkneifen, als ich wieder nach vorne sah. Doch das verging, als ich sah dass nicht mehr Daith schrieb, obwohl die Gleichung noch nicht zu Ende geführt worden war. Warum stand er da so reglos und starrte stumm die Tafel an? Hatte er einen Fehler entdeckt? Nein, ich war mir sicher, dass ich alles richtig hatte. Außerdem könnte er doch kaum einen Fehler entdecken, wenn er selbst keine Ahnung hatte, oder doch? Nein, einen Fehler konnte er unmöglich entdeckt haben. Ich runzelte die Stirn, da ich sein Gesicht nicht sehen konnte, er stand mit dem Rücken zur Klasse. Mr Lorman sah fragend zu uns hin. Niemand rührte sich. Alle verstummten.

„Mr Warden, was tun Sie denn?“, durchbrach Mr Lormans Stimme die angespannte Stille, „Wissen Sie nicht weiter?“

Wie als Antwort rutschte die Kreide mit einem schiefen Quietschen von der Tafel ab, hinterließ einen dicken weißen Strich. Erst war es nur seine Hand. Doch bald darauf ging es auf seinen Arm über, schließlich zitterte er am ganzen Körper. Ich lehnte mich ruckartig über meinen Tisch, um besser sehen zu können, als Daith einen Arm um seine Mitte klammerte. Mit einem leisen Klacken fiel die Kreide zu Boden. Er krümmte sich vornüber, keuchte heftig.

Mittlerweile war die halbe Klasse aufgesprungen. Mir inklusive, wie ich leicht überrascht feststellte. Mit drei, vier Sätzen war ich bei ihm, als er mit einem dumpfen Laut zu Boden fiel und sich erbrach.

„Hey, Warden, was ist los?“, kamen besorgte Rufe von hinten. Schwer atmend blieb er auf den Knien liegen. Keine Antwort. Er zuckte nur wieder und wieder zusammen. Für einen kurzen Augenblick sah er zu mir hin und ehe ich mich versah, saß ich neben ihm und hielt seinen Kopf zwischen meinen Händen.

„Warden, hörst du mich?“

 Schweiß glänzte auf seiner Stirn, er war leichenblass. Die Augen hatte er fest zusammengekniffen. Seine Lippen bewegten sich, als wolle er etwas sagen, aber nur ein Winseln drang aus seiner Kehle. Er zitterte unkontrolliert.

„Was ist mit ihm?“, fragte jemand, der sich halb über meine Schulter beugte.

„Geht es ihm gut?“, fragte ein anderer. Ich warf ihm einen mörderischen Blick zu.

„Natürlich, er erfreut sich bester Gesundheit, deswegen liegt er am Boden, kurz nachdem er sich erbrochen hat. Das tut er, weil er ja sonst nichts Besseres vor hat.“, fauchte ich ihn an. Ich wusste nicht, wieso, aber ich hatte auf einmal das Bedürfnis, Daith zu verteidigen. Langsam glaubte ich wirklich, ich hatte sie nicht mehr alle. Erst der Spicker und nun das!

„Hexe…“, hauchte Daith. Ich sah auf ihn hinunter, sah seine hellen Augen einen Spalt geöffnet und beugte mich zu ihm runter, um ihn besser verstehen zu können. „Brauche…“, setzte er an, schloss dann die Augen und schluckte hart. „Verschwinde. Ich will dich nicht … nicht …“ Ein weiterer Krampf unterbrach ihn. Mit einem schmerzerfüllten Stöhnen krallte er seine Finger in sein Shirt. „Nicht in meiner Nähe!“, beendete er den Satz.

„Das interessiert mich gerade wenig, Warden! Du musst zu einem Arzt.“, erwiderte ich.

„Nein!“, keuchte er. Seine Hand schoss vor, packte den Saum meines Oberteils. „Kein Arzt! Bitte, kein Arzt!“ Er sah flehend zu mir auf, bevor er abermals Galle spucken musste und zusammenbrach.

„Mr Lorman, bitte…“, flehte eine Schülerin. Ich sah zu ihr herüber. Unser Mathelehrer hatte bereits sein Handy am Ohr, ließ es aber sinken, als er etwas hinter mir sah. Daith hatte sich halb aufgerichtet, die Zähne vor Schmerz gefletscht.

„Kein Arzt … bitte …“, brachte er hervor. Die Klasse schaute ihn ungläubig an. In dem Moment sah er so flehend und schutzlos aus wie ein kleiner Welpe. Nichts war mehr von der arroganten Masche übrig geblieben. „Ich tue alles … Nur kein Arzt! Es geht … es geht gleich wieder … es ist nichts …“

„Es ist nichts?!“, brüllte Mr Lorman auf einmal. Selbst Daith zuckte zusammen, ein Winseln entrang sich ihm abermals. „Verdammt, Warden, Sie sind in meinem Unterricht zusammengebrochen und haben sich übergeben! Und jetzt wollen sie mir weis machen, es ist nichts?“

Kurz herrschte Schweigen, bis Daith sich weiter aufrappelte. Er war noch immer schrecklich blass, aber die Krämpfe hatten aufgehört. „Kein Arzt …“, flüsterte er.

Mr Lorman musterte ihn. Schließlich atmete er tief durch. „Okay. Fein. Wie Sie wollen, kein Arzt. Allerdings muss Sie jemand nach Hause fahren.“

Daith blieb stumm. Kein weiterer Protest, während er sich das durch den Kopf gehen ließ. Doch bevor er annehmen oder ablehnen konnte war Mr Lormans Blick auch schon auf mich gefallen.

„Ms Downey, Sie begleiten Mr Warden.“, sagte er. Aus seiner Stimme sprach tödlicher Ernst. Daith neben mir saß auf einmal kerzengerade, bevor er sich wieder in einem Krampf vornüber beugte. Mir fiel die Kinnlade herunter.

Was?! Warum ich?“

Was?! Warum sie?

Daith und ich sprachen gleichzeitig, während wir zu ihm aufsahen, darauf hofften, dass das ein schlechter Witz gewesen war.

„Doch, natürlich.“, erklärte mein Mathelehrer, als läge es auf der Hand. „Ihnen scheint viel an seinem Wohl zu liegen und außerdem müssen Sie den Stoff schon können, wenn Sie schon so dreist sind und Mr Warden einen Spickzettel zuschieben, Ms Downey.“ In seinem Blick lag der Weltuntergang. „Und Mr Warden, Sie akzeptieren oder ich rufe einen Arzt.“ Drohend hob er sein Handy.

Mir blieb die Spucke weg. Allein mit Daith Warden. In einem Auto. Auf dem Weg dorthin, wo auch immer sein Zuhause war. Das war doch nicht fair! Warum ich? Warum durfte sich kein anderer mit Mr Arschloch abquälen?

Daith knurrte leise, doch dann wandte er den Blick ab. „In Ordnung. Alles, nur kein Arzt.“

Erstaunt sah ich ihn an. Warum wehrte er sich so vehement gegen einen Arzt, dass er sogar mich in Kauf nahm?

Ich atmete tief durch, seufzte dann. Das konnte mir doch egal sein. Ich würde das jetzt hinter mich bringen. „Also schön, Arschloch, fahren wir.“, knurrte ich und stand auf. Fordernd hielt ich ihm meine Hand hin, während die anderen gaffend um uns herum standen und vermutlich dem Blickduell zwischen mir und Warden folgten, ehe er meinen Unterarm ergriff und wankend auf die Füße kam. Mr Lorman scheuchte sie auf ihre Plätze, als Daith und ich mit unseren Sachen auf den Gang traten. Er stützte sich auf meine Schulter, mein Arm lag um seine schlanke Mitte. Sein Rucksack, sowie auch meiner hangen über meine Schulter.

„Alles in Ordnung? Geht es mit dem Laufen?“, fragte ich der Höflichkeitshalber. Er wischte mit einem Knurren die Hand durch die Luft und warf mir einen dunklen Blick zu.

„Meinen Beinen geht es ausgezeichnet, danke.“, schnappte er.

„Oh tut mir ja leid! Ich wollte nur freundlich sein, verdammter Sturkopf!“, warf ich zurück. Kurz blinzelte er mich verwundert an, dann zogen sich seine Brauen wieder zusammen, er wandte das Gesicht ab. Ich verdrehte die Augen.

„Dein oder mein Wagen?“, fragte ich schließlich. Lieber Himmel, diese Frage hörte sich absurd an. Ein kurzes Zögern von Daith, dann:

„Deinen.“

Grimmig nickte ich, führte ihn zum Haupteingang. „Da es deinen Beinen ja so gut geht und du wahrscheinlich jetzt locker einen Marathon hinlegen könntest – soll ich meinen Wagen holen oder laufen wir über den Parkplatz?“

Wieder brummte er unwirsch. „Wir laufen. Bringen wir das hier schnellstmöglich hinter uns.“

Als ob ich etwas anderes im Sinn gehabt hätte! Ich verkniff mir diesen Kommentar und konzentrierte mich darauf, nicht mit Daith hinzufallen, als wir die Stufen zum Parkplatz hinunter stolperten. Kaum waren wir unten angekommen schüttelte ein weiterer Krampf ihn. Himmelherrgott, was war denn los mit ihm?

„Ich hab dir gesagt, du sollst mich nicht so anstarren, Downey! Ich hab wahrscheinlich nur irgendetwas Falsches gegessen – na und?“, fauchte er, als es wieder vorüber war. Ich schüttelte den Kopf.

„Genau so siehst du auch aus.“, pflichtete ich ihm mit gedehntem Sarkasmus bei. „Und außerdem hat dich niemand dazu gezwungen, dich vor mir zu rechtfertigen. Es ist mir scheißegal, an was du denn gerade krepierst, nur beeil dich bitte!“

Darauf schwieg er. In seinem Brustkorb vibrierte und gluckste es, während er sich auf mich stützte, was das Humpeln zu meinem Wagen noch erschwerte. In seinem Gesicht stand purer Unglaube, doch gleichzeitig sah er aus, als würde er jeden Moment lauthals loslachen. An meinem Wagen angekommen hatte es wieder aufgehört. Sein Gesicht war nur noch blass und von jener Eleganz war kein Tropfen mehr übrig geblieben. Vorsichtig legte er seine zitternde Hand aufs Wagendach und stieg ein. Ich wartete bis er saß, bevor ich um die Schnauze herumging und mich hinters Lenkrad setzte. Neben mir war Daith regelrecht zusammengesackt, sein Kopf lehnte schwer am Türrahmen.

„Geht es?“, fragte ich, nun doch ein wenig besorgt und runzelte die Stirn. Er schüttelte schwach den Kopf.

„Mach einfach hin.“, sagte er, bevor er die Augen schloss und sich nur noch auf seinen tiefen, angestrengten Atem zu konzentrieren schien.

Ich biss die Zähne zusammen, schluckte einen weiteren bissigen Kommentar runter und fuhr los. „Wohin eigentlich?“, fragte ich dann aber, als ich vom Gelände bog. Er zuckte zusammen und schien aus einem Dämmerzustand aufgeschreckt zu sein.

„Richtung Süden. 15 Central Park West.“

Beinahe hätte ich meinen Fuß auf die Bremse gestampft. Ungläubig sah ich zu ihm hinüber. „Da? Du wohnst wirklich in diesem …“

Müde sah er zu mir hinüber. Ich schluckte. 15 Central Park West, auch genannt The Fifteen, war ein riesiger moderner Wolkenkratzer umgeben von alten Häusern, in der Nähe vom Broadway. Man hatte dort alles inklusive; Nanny, Spa, riesige Terrassen, Heimkinos, Butler, eigene Auffahrt und was nicht sonst noch alles. Hunderte riesige Penthäuser befanden sich darin und man hatte von fast jedem einen Blick über den Central Park und Manhattan. Einige von denen kosteten bis zu Hundert Millionen Dollar!

Ein hysterischer Lacher suchte sich seinen Weg nach draußen. Ich zwang ihn hinunter und schnaubte. „Sehr guter Witz, Warden. Wer hätte denn so viel Geld?“

Er seufzte. „Meine Familie ist schon etwas älter und hat auch in der Wirtschaft in Europa, vor allem Russland, Deutschland und England, viel ihre Finger im Spiel.“

„Genau. Und meine Mutter ist die Königin Frankreich.“, entgegnete ich.

„Downey, ich mein’s ernst. Willst du mich jetzt nach Hause bringen oder nicht? Dann fahr mich gefälligst zu der Adresse. Und sei endlich still.“

„Von wollen kann hier überhaupt nicht die Rede sein, Warden!“, rief ich. „Und ich fahr dich zu der Adresse, in der du auch wirklich wohnst. Wirklich, ich kauf es dir nicht ab, also spuck doch gleich die Wahrheit aus. Du brauchst dich nicht bei mir wichtig zu machen.“

„Verdammt, Kyra!“, brüllte er, wirbelte zu mir herum. Ich zuckte zusammen, hielt den Blick aber auf die Straße vor mir gerichtet. „Jetzt glaub mir doch! Ich hab es nicht nötig, mich bei dir wichtig zu machen! Ich wohne 15 Central Park West und jetzt fahr gefälligst dort hin!“

Kurz sah ich verdutzt zu ihm rüber. Er hat mich bei meinem Vornamen genannt. Seine Stimme klingt mächtig, wenn er so brüllt. Er meint es wirklich ernst. Die Dinge schossen mir durcheinander durch den Kopf, sodass ich mich nicht entscheiden konnte, welcher Tatsache ich als erstes näher gehen sollte. Schließlich entschied ich mich, es dabei zu belassen und ihn einfach dorthin zu fahren und bog in die Columbus Avenue, bald darauf in die Central Park West ein.

Die ganze Fahrt über saß er nur noch schweigend neben mir, den Kopf an der Scheibe.

Irgendwann hielt ich vor dem riesigen Gebäude. Voller Staunen blickte ich an der hellen Fassade nach oben. Wirklich riesig.

Daith schien aus einem Schlaf zu erwachen, denn er blinzelte leicht verwirrt als er den Kopf hob, sah mich mehrere Herzschläge an, ohne mich zu erkennen, sah dann zu dem Gebäude hinüber.

Ich biss mir auf die Unterlippe. In dem Moment sah er so verloren und verletzlich aus, dass er wirklich süß aussah. Ich schüttelte den Kopf. Niemals hätte ich Daith Warden und süß auch nur im gleichen Satz erwähnt, aber trotzdem…

Als ich den Motor ausschaltete schien er endgültig wach zu werden und der Moment war vorbei. Mit einem gemurmelte „Danke“ tastete er nach dem Griff, hatte die Tür schon geöffnet, als ich ihn zurückhielt.

„Warte. Ist jemand da?“, fragte ich, musterte ihn. Er hob eine Braue.

„Wie?“

„Ist jemand bei dir zu Hause. Keine Ahnung – deine Mutter, dein Vater, Geschwister?“

Er schüttelte den Kopf. „Im Moment nicht. Aber ich komm schon allein zurecht, du …“

Bevor er etwas Weiteres sagen konnte stand ich auf seiner Seite, hielt ihm meine Hand entgegen. „Dann bleibe ich.“, sagte ich. Ja, Daith Warden war ein Arschloch, ich allerdings leider nicht. Ich konnte ihn doch nicht einfach so sich selbst überlassen, wenn er doch noch nicht mal normal auf seinen eigenen zwei Beinen stehen konnte.

„Das ist nicht nötig.“, protestierte er. Seine Stimme klang nicht mehr so gepresst und erschöpft wie zuvor und für einen Augenblick wollte ich ihm glauben, doch dann sah ich wie grau sein Gesicht im Sonnelicht war und schüttelte den Kopf.

„Vergiss es. Ich bring dich jetzt nach oben.“, sagte ich während ich seine Tasche vom Rücksitz holte. „Also, welches Stockwerk?“

Ich drehte mich um und sah, wie er sich wackelig am Türholm aus dem Auto zog. Das konnte ja was werden.

„Fünfunddreißig. Stockwerk Fünfunddreißig.“, antwortete er mit einem merkwürdigen Zug um den Mund. Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf. War das nicht das höchstgelegene Penthouse? Auf der letzten Etage? Das Penthaus für 88 Millionen Dollar? Das ein russischer Milliardär für seine Tochter gekauft hatte und dann doch wieder zum Verkauf gestellt hatte?

„Bitte, kein Kommentar dazu.“, sagte Daith und ich nickte, hang mir seinen Rucksack über die Schulter und packte ihn wieder um die Mitte, seine Proteste ignorierend. Mir fiel ein, dass er wirklich schwach sein musste, dass er den Körperkontakt mit mir aushielt.

In der riesigen eleganten, fast schon protzigen Eingangshalle kam uns ein Concierge entgegen, lächelte Daith an. „Alles in Ordnung, Mr Warden? Sie müssten doch noch in der Schule sein. Sie sehen blass aus.“ Sein Blick huschte zu mir, an mir hinunter, wieder rauf, wurde missbilligend. Was? Bin ich nicht fein und teuer genug?, wollte ich zischen, doch Daith kam mir zuvor.

„Sander, das ist Kyra Downey. Sie hat mich von der Schule hierher gebracht.“, sagte er mit einem verkniffenen Lächeln. Auf dem Gesicht des Concierge – Sander – zeichnete sich Verständnis ab.

„Oh, verstehe…“, nickte er. „Soll ich Ihre Mutter anrufen?“

Heftig schüttelte Daith den Kopf, verlor dabei fast das Gleichgewicht. „Nein, nein. Bitte, das ist nicht nötig.“

Kurz pressten sich Sanders Lippen zusammen, dann nickte er abermals. „In Ordnung. Ihr Vater ist aber leider im Moment auch nicht da und Dan und Luca sind…“

„Ich weiß, danke.“, unterbrach Daith ihn, nickte dann nach links. „Dort ist der Aufzug.“

Das galt mir. Ich führte ihn in die Richtung, während ich immer wieder Seitenblicke zu ihm hinwarf. Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass er so höflich und gleichzeitig bestimmt sein konnte. Gut, ich hätte es auch niemals für möglich gehalten, dass er süß aussehen konnte. Also war er doch nicht durch und durch ein arrogantes Arschloch.

„Wer sind Dan und Luca?“, fragte ich, als wir im Fahrstuhl standen und das Schweigen langsam unangenehm wurde.

„Meine jüngeren Geschwister.“, antwortete er nur. Ich wollte noch Weiteres erfragen, doch etwas in seinem Blick sagte mir, dass ihm auf keinen Fall danach war, mit mir Smalltalk zu führen.

Es dauerte nicht lange, dann standen wir im achtundzwanzigsten Stock in einem weiten, lichtdurchfluteten Penthaus mit hohen Decken. Marmorsäulen stützen eine weiße Decke mit einer Kuppel in der Mitte. Es war alles modern in weiß und creme eingerichtet. Um zwei Kamine standen Sesselgruppen. Doch das war erst der Flur, wie mir auffiel. Wir wandten uns nach links und ins Wohnzimmer. Mehrere Sofagruppen standen auf weichen Teppichen. Zwei Plasmabildschirme hangen an den Wänden, reflektierten das Sonnenlicht, das von außen durch deckenhohe Panoramafenster schien.

Daith machte sich von mir los, schlich zu einem der Sofa hinüber und ließ sich schwer darauf fallen. Ich bemerkte es nur am Rande, während ich zu den Terrassentüren ging. Man hatte eine atemberaubende Sicht auf die Skyline Manhattans und den verschneiten Central Park.

„Mach die Türen auf und geh raus, bevor du dir die Nase dort plattdrückst. Mom rastet aus, wenn Flecken an die Scheiben kommen.“, kam Daith Stimme von hinten. Wie in Trance folgte ich seinem Vorschlag und trat auf die weite Terrasse. Die Luft hier oben fühlte sich sauber und herrlich seicht an, wenn sie auch immer noch eiskalt war. Vorsichtig trat ich an die Balustrade, sah in schwindelerregende Tiefen. Autos und Menschen wirkten dort unten unbedeutend.

„Wow. Das ist der Wahnsinn!“, entfuhr es mir und wirbelte zu Daith herum, der immer noch bleich auf einem der Sofa lag und sich einen Arm über die Augen gelegt hatte. Hastig strich ich mir meine Haare aus dem Gesicht, als ein Windstoß sie aufwirbelte und trat wieder nach drinnen. „Kann ich irgendetwas tun?“, fragte ich und beugte mich über ihn.

„Du könntest verschwinden, das würde mir äußerst gut tun.“, erwiderte er, seufzte dann aber. „Aber das wird bei dir wohl nicht in Frage kommen. Also könntest du mir eine Hühnerbrühe machen.“

Ich blinzelte ihn an, schwieg, bis er seinen Arm ein Stück hob und mich misstrauisch ansah. „Eine Hühnerbrühe?“, fragte ich vollkommen verblüfft.

„Ist das so abwegig?“, gab er zurück. Ich schüttelte den Kopf.

„Es ist nur…“ Es ist nur … ja, was? Das ich nicht glauben konnte, dass er wie jeder normale Mensch aß? Ich hatte sie wirklich nicht mehr alle. „Ich weiß nicht wo die Küche ist und wo sich Schüsseln, Töpfe, Zutaten oder sonstiges befindet.“

„Du gehst durch den Flur ins Esszimmer, dort weiter durch das zweite Wohnzimmer in die Küche. In einem der Hängeschränke findest du dieses Fertigzeugs. In einem von denen findest du auch Aspirin. Töpfe sind irgendwo unten.“, erklärte er.

„Aspirin?“

„Ich hab Kopfschmerzen, woran du nicht ganz unbeteiligt bist. Und jetzt mach schon.“ Ungeduldig wedelte er mit der Hand in der Luft. Die Zähne zusammengebissen ging ich also durch die Einganshalle, ein prunkvolles Esszimmer und ein gemütliches Familienzimmer mit Billardtisch, einem riesigen schwarzen Flügel und haufenweisen Spielkonsolen in die Küche. Hier war wieder alles Marmor und Chrom. Modern. Aber irgendwie auch schlicht. Nach kurzem Suchen fand ich dann auch das Fertigzeugs, einen Topf und eine Schüssel. Die Aspirin legte ich neben ein Glas Wasser bereit.

Es dauerte nicht lange, bis ich das Wasser erhitzt und die Brühe aufgegossen hatte, doch trotzdem wanderte ich die ganze Zeit unruhig auf und ab, ohne wirklich sagen zu können, warum. Schließlich balancierte ich die Schüssel mit Suppe und Löffel in der einen Hand, das Glas in der anderen und ging zu Daith zurück, der noch immer auf dem Sofa lümmelte. Er sah nun bei weitem nicht mehr so schlimm wie vorher aus.

„Hier.“, sagte ich, als ich sein Gewünschtes auf einem kleinen Beistelltisch abstellte. Er zuckte zusammen, hob den Arm wieder.

„Danke.“, antwortete er, während er sich aufsetzte, die Schüssel in die Hände nahm und darüber pustete. Ihm dabei zuzusehen hatte etwas merkwürdig Friedvolles. Als er mir jedoch einen Blick zuwarf, bevor er sich über die Brühe hermachte sah ich schnell weg und ging wieder im Raum auf und ab. Irgendwann fiel mir die Wand im Rücken von Daith auf. Gerahmte Fotos hangen dort. Und das nicht nur ein paar. Neugierig trat ich näher.

Einige Familienfotos waren dabei. Ein großer dunkelhaariger Mann mit ebenso dunklen Augen und markanten Gesichtszügen hatte auf jedem dieser Bilder einen Arm um eine fast ebenso große Frau gelegt, die mit einem gütigen Gesicht und blauen Augen in die Kamera lächelte. Langes rabenschwarzes Haar fiel ihr über die Schultern. Auf einem Foto stand eine junge Frau daneben. Ihr Haar war dunkel, ihr Gesicht spitz, ein wenig markant, ihre Augen ein faszinierendes Gold. Sie sah dem Mann sehr ähnlich. Auf einem weiteren kam ein kleiner Junge dazu, der grinste, als gäbe es einen Preis dafür zu gewinnen. Schwarze unordentliche Haare fielen in ein Gesicht mit so blauen Augen wie die der Frau. Mit einiger Verspätung erkannte ich Daith. Auf weiteren Bildern sah man, wie Daith größer, erwachsener wurde. Ein anderes Kind kam hinzu. Schlaksig, fast ein wenig dürr mit dunklen Haaren und dunklen Augen war da ein Junge. Daneben ein Mädchen mit schwarzen Haaren und wieder blauen Augen. Auf dem aktuellsten Bild war dort diese Familie mit Daith, etwa siebzehn Jahre, dem Junge von vielleicht neun Jahren und das Mädchen mit fünf. Das mussten Luca und Dan sein. Wer aber wer war konnte ich nicht sagen. Und wer war diese Frau mit den goldenen Augen?

Ich betrachtete die anderen Fotos. Schnappschüsse auf Reisen in Paris, Moskau, San Francisco. Bilder, auf denen die Kinder drauf waren. Daith, in einem Alter von vielleicht sieben Jahren, der auf einem schwarzen Hund saß und blauäugig mit einigen Zahnlücken grinste.

Ich tat einen Schritt zurück. Wer war dieser Daith auf den Bildern? Ganz anders, als der jetzt hinter mir auf dem Sofa saß. Ich drehte mich um, betrachtete kurz seinen Hinterkopf, dann wieder das Kind auf den Fotos. Die zwei sahen sich zum verwechseln ähnlich, dann aber auch wieder nicht.

Seufzend wandte ich mich ab, setzte mich auf ein Sofa Daith gegenüber, ohne die Unruhe in mir unterdrücken zu können und sah überall hin, nur nicht zu ihm. Wieder kaute ich auf meiner Lippe.

„Ist etwas?“, fragte Daith schließlich und legte den Kopf schief. Flüchtig sah ich zu ihm hin, bevor ich den Kopf schüttelte.

„Alles in Ordnung. Geht es dir besser?“, erwiderte ich. Auf seiner Stirn erschien eine steile Falte, er musterte mich. Irgendwann nickte er

„Würdest du mir noch eine machen?“, fragte er und hielt mir die Schüssel hin. Mit spitzen Fingern nahm ich sie entgegen und flüchtete wieder in die Küche. Wenig später reichte ich sie ihm wieder. Er nahm sie mit einem kleinen Lächeln wieder zwischen die Hände, pustete wieder darüber, bevor er sie mit geschlossenen Augen trank.

„Danke.“, sagte er, als er die Schüssel absetzte – wieder. Ich nickte nur, sah mich um, nach irgendetwas, das mich von ihm ablenken konnte. Was war ich denn so nervös?

Er legte abermals den Kopf schief, beäugte mich. Ich schluckte trocken.

„Es geht dir besser.“, hörte ich mich sagen. Er hob eine Braue. Dann war von einer Sekunde auf die andere meine Hand in seiner gefangen. Erschrocken sah ich auf sie runter. Seine Hand war groß und klammerte sich so fest um mein Gelenk wie eine Stahlklammer. Mit einem Ruck saß ich auf der Sofakante, seine Hand lag auf einmal in meinem Nacken und seine Lippen auf meinen. Sie schmeckten nach Huhn. Ganz leicht nur, aber doch so bemerkbar, dass mir der Kopf schwirrte. Die Zeit blieb stehen. Einfach so. Ohne ersichtlichen Grund. Erst als er sich von mir löste setzte sie wieder ein, schien dann die versäumte Zeit von eben aufholen zu wollen. Sein Atem streifte sacht mein Gesicht. Der Blick seiner blauen Augen war unergründlich. Benommen sackte ich auf dem Sofarand zusammen. Seine Hand war aus meinem Nacken verschwunden.

„Kyra…“, setzte er an, streckte die Hand aus. Ich schlug sie fort. Und noch ehe er erneut auch nur Luft holen konnte sprang ich auf, stolperte von ihm weg.

„Ich kann dann ja gehen, wenn es dir besser geht.“, brachte ich hervor und war erstaunt, wie selbstsicher ich klang. In einem letzten Anflug von Würde straffte ich meine Schultern und warf ihm einen kalten Blick zu, ehe ich mich umdrehte, durch die hohe Eingangshalle ging. Meine Schritte hallten von den marmornen Wänden wider. Hinter mir rief er meinen Namen. Ich ignorierte ihn. Warum nur brannten meine Wangen so?

Im Fahrstuhl atmete ich tief durch, drängte jegliche Tränen zurück und betrat dann das Foyer unten. Mit sicheren Schritten verließ ich das teure Gebäude, beachtete Sander nicht und hielt auf meinen Wagen zu. Eiskalte Luft ließ mich frösteln und meinen Kopf klar werden.

Daith Warden hatte mich eben geküsst. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag, während ich in meinen Taschen nach meinen Schlüsseln tastete. Zu spät fiel mir ein, dass ich sie in Daiths Apartment auf einen der Beistelltische gelegt hatte.

„Hier.“ Ich hörte seine Stimme dicht hinter mir. Sein Atem kitzelte meinen Nacken, während er mir die Schlüssel über meine Schulter reichte. Ich schnappte sie mir, darauf bedacht, ihn nicht zu berühren.

„Zu nett auch. Danke, Arschloch.“, zischte ich ihn an, ohne mich umzudrehen. Ich spürte, wie er kaum wahrnehmbar zusammen zuckte. „Und jetzt verzieh dich in deine teure Wohnung!“

Ohne ihn weiter zu beachten stapfte ich auf meinen Hyundai zu, öffnete die Fahrertür und ließ mich auf den Sitz fallen. Mit einem letzten giftigen Blick an seine Adresse fuhr ich los.

In dieser Nacht träumte ich wieder von dem Wolf. Er schlich um mich herum, sein Fell glänzend wie die Nacht. Darunter zeichneten sich die Muskelstränge in geschmeidigen, fließenden Bewegungen ab. Immer wieder umkreiste er mich, lauerte, kam näher. Von seinen Lefzen troff Speichel und Blut, während er mich nicht aus den Augen ließ. Gebannt von seiner schrecklichen Schönheit folgte ich ihm mit dem Blick. Sein Maul öffnete sich, offenbarte seine scharfen Zähne, eine rote Kehle, in der ein gutturales Knurren grollte. Dann sprang er, zerfetzte mir Leib und Seele.

Schreiend fuhr ich in die Höhe, blinzelte in die Dunkelheit meines Zimmers. Nichts bewegte sich. Ich war allein.

 

 

 

Ruhelos strich er um die Blocks. Über ihm leuchtete der Mond grell, erhellte die Bürgersteige. Er hätte nicht sagen können, was er hier machte oder wie er hier her gekommen war. Es hatte ihn einfach nach draußen getrieben. Doch selbst hier zwischen den engen Häuserzeilen, wo der Wind um Ecken und Kanten pfiff fühlte er sich eingeengt und eingesperrt. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er über scheinbar endlose Weiten gejagt ist. Aber das war… In der Zeit bevor. Bevor das Monster in ihm erwacht war und nun Nacht für Nacht seine Klauen tiefer in seine Eingeweiden grub. Nur heute hatte er Frieden gefunden. Schnurrend schlief der Wahnsinn in ihm, doch die Unruhe war noch immer da.

Kurz blieb er stehen, beobachtete in der Dunkelheit eine Frau mit ihrem kleinen, zitternden Chihuahua, die wohl noch eine Runde um den Block gehen wollte. Den Block, den er nun seit fast einer Stunde umkreiste wie irgendein Beutetier. Ein Streifenwagen fuhr irgendwo in der Nähe mit heulenden Sirenen vorüber. Eine kleine Gruppe von Studenten ging lachend und lallend an ihm vorbei. Er roch Alkohol und Drogen, verzog angewidert das Gesicht. Wütend auf das Schicksal und die Welt rammte er seine Hände in die Hosentasche, hob witternd die Nase. Abgase überlagerten jeden Geruch, er konnte nichts finden. Mit einem frustrierten Knurren wandte er sich ab, tauchte in Dunkelheit ein und verfluchte diesen Tag. Einiges hätte niemals passieren sollen.

Wer vom Wege abweicht

„Oh mein Gott, Kyra!“ Dacia hüpfte aufgeregt wie ein kleiner Welpe an mir hoch und runter. „Du wirst es nicht glauben! Du wirst es nicht glauben, sage ich dir!“

„Da bin ich mir sicher.“, sagte ich trocken und schlug meine Spindtür zu. Kaum freute ich mich, diese schrecklichen Albträume los zu sein, da ging das ganze schon wieder von vorne los. Und wieder war ich mit dröhnenden Kopfschmerzen und einer undefinierbaren Unruhe erwacht. Und dann ging mir dieser verfluchte Kuss nicht aus dem Kopf! Was hatte er sich dabei gedacht? Vermutlich gar nichts!

Verdammt sollte dieser Wolf sein! Verdammt sollte Daith Warden sein! Ich wollte gar nicht wissen, was für Gerüchte jetzt wieder über uns an dieser Schule kursierte, wegen der Sache gestern. Aber vermutlich war nichts davon so schlimm, wie das, was tatsächlich geschehen ist.

Dacia schien meine düstere Stimmung nicht zu bemerken. Oder sie ließ sich davon nicht beeinflussen. Munter plapperte sie weiter, erzählte irgendetwas von Theater und letzte Plätze.

„Moment!“, unterbrach ich sie. „Willst du damit sagen, du hast mich einfach so in irgendeinem verdammten Theaterkurs angemeldet?!“

Heftig nickte sie. „Sieh mal, Kyra. Es ist doch so, dass du meistens nur zu Hause hockst und weiß der Himmel was machst. Deswegen bin ich der Meinung, dass du dich einfach in irgendwelche Kurse eintragen solltest, um Leute kennenzulernen, da du ja schon nicht einfach zum Feier aus deinem Loch kommen willst. Und deine Mutter hat auch…“

„Meine Mutter?!“, unterbrach ich sie. „Du hast das mit meiner Mutter abgesprochen?“

„Natürlich.“ Ganz unschuldig sah mit ihren dunklen Augen zu mir hoch. Dann wechselte sie rasch das Thema, als sie erkannte, dass ich alles andere als erfreut darüber war. „Und jetzt haben wir noch die letzten Plätze in dem Kurs bekommen. Ist ziemlich voll. Ach genau, und als nächstes wollen die das Stück Medea einproben.“

Stöhnend ließ ich den Kopf in den Nacken fallen. Lieber Himmel, lass das ein Traum sein! Probehalber zwickte ich mir in den Arm. „Au!“, zischte ich und rieb mir die schmerzende Stelle. Also doch die harte Realität.

„Sag mal, was war das gestern mit dir und Warden?“, fragte Dacia auf einmal ganz unvermittelt.

Ich wandte den Kopf zu ihr. „Wieso? Was hast du gehört?“

Sie zuckte die Schultern. „Also … So einiges … Aber ich möchte jetzt wissen, was wirklich passiert ist.“

Ich biss die Zähne aufeinander. Verdammt noch eins, kann denn wirklich niemand an dieser Schule seinen Mund halten?, dachte ich, seufzte dann aber und schilderte ihr den gestrigen Nachmittag. Den Schlussteil beschönigte ich dadurch, dass ich ihr sagte, ich wäre einfach nach Hause gefahren, nachdem es ihm einigermaßen besser gegangen war. Was genaugenommen keine Lüge war.

„Also ist doch eigentlich nichts passiert, außer dass Daith höchst würdelos zusammengebrochen ist?“

„Genau.“, stieß ich zwischen den Zähnen hervor und versuchte nicht daran zu denken, dass sehr wohl etwas passiert war.

„Aber wieso sucht er dann nach dir?“

„Wie bitte?“ Ich verschluckte mich fast an meiner Spucke, sah mich hektisch um. Kein Arschloch in Sichtweite.

„Vorhin bin ich ihm begegnet und er hat nach dir gefragt. Er will mit dir reden.“, sagte sie. Ich krümmte mich innerlich und konnte mir sehr gut vorstellen, worüber er denn reden wollte. Allerdings hatte ich nicht das geringste Bedürfnis nach irgendwelchen Begründungen, Ausreden, was auch immer. Er war ein Arschloch. Punkt.

Ich nickte als Antwort für Dacia nur und breitete in meinem Kopf bereits einen Plan aus, wie ich ihm entkommen konnte. Doch der ging fehl. Meine Annahme, er würde sich nur wegen mir nicht in die Cafeteria wagen, erwies sich als ein Tagtraum.

An der Essenstheke spürte ich seine Präsenz nur zu deutlich hinter mir. Tief durchatmend versuchte ich ihn zu ignorieren, doch er packte mich nur einfach so sanft und gleichzeitig bestimmt wie am Tag zuvor an meinem Arm und drängte mich an einen leeren Tisch. Absolut sprachlos von seiner Dreistigkeit ließ ich es geschehen, sah mich nur noch hilflos nach Dacia um, die ebenso verwirrt zurückschaute.

„Wir müssen reden.“, sagte er schließlich, als er sich setzte. Ich weigerte mich, am gleichen Tisch wie er Platz zu nehmen.

„Das glaube ich nicht. Es gibt nichts zu bereden.“, erwiderte ich, und wollte mich aus dem Staub machen, doch er fasste wieder nach mir, zog mich mit erstaunlicher Kraft weiter zu sich ran.

„Setz dich, Rotkäppchen.“, forderte er. Ich verschränkte die Arme.

„Und wenn ich nicht will?“                  

Er hob nur eine Braue, bedachte mich mit einem höchst verärgerten Blick. Doch dann breitete sich ein zuckersüßes Lächeln auf seinem Gesicht aus, das nicht auch nur ansatzweise seine Augen erreichte. Ich war erstaunt, dass man tatsächlich so hinterhältig lächeln konnte.

„Du willst oder du landest auf meinem Schoß. Es ist deine Wahl, Hexe.“

Ich schluckte angestrengt und sah mich um. Der größte Teil der Schüler hatte sich abgewandt und tuschelte. Einige sahen ganz offen und neugierig zu uns rüber. Schließlich willigte ich ein, setzte mich ihm gegenüber hin, so weit weg wie möglich. Er quittierte es mit kaum mehr als einem Blinzeln.

„Also, was denkst du, ist gestern passiert?“, fragte er und beugte sich über den Tisch. Fast automatisch lehnte ich mich auf meinem Stuhl von ihm weg.

„Nichts. Gestern ist nichts passiert.“, gab ich als Antwort. Auf seiner Stirn erschien jene steile Falte, die ich gestern mehr als einmal gesehen hatte. Fast hätte man meinen können, er mache sich Sorgen um meine geistige Gesundheit. Woran ich nichts auszusetzen hätte. Vielleicht würde er mich dann in Ruhe lassen.

„Gut, dann sage ich dir, was gestern passiert ist.“

Ich grub die Zähne in meine Unterlippe, sah zur Seite. Ich hatte keine Ahnung, was jetzt kommen würde und das ließ mir ein wenig mulmig zumute werden. Ich hatte keine Ahnung, wie ich Daith Warden einschätzen sollte. Ich hab ihm deutlich gemacht, dass ich nicht weiter auf das Thema eingehen wollte, dass es für mich vergessen und nie passiert war. Was wollte er denn von mir?

In der plötzlichen Stille klang das schief Schaben von Stuhlbeinen über den Boden viel zu laut. Ich ignorierte es und all die Blicke, als ich aufsprang, abwehrend die Hände von mir streckte.

„Weißt du was, Warden, behalt es! Ich will es nicht wissen.“, brachte ich hastig hervor, sah zu ihm auf. Er war ebenfalls aufgesprungen, betrachtete mich mit einer Mischung aus Argwohn, Zorn und Unglaube, wollte die Hand ausstrecken. Ich schüttelte den Kopf, trat ein, zwei Schritte von ihm weg. „Du gehst mir allmählich gewaltig auf die Nerven. Warum kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?“, fragte ich ihn.

Seine Hand sank, er legte den Kopf schief. Dann sah er sich um, schien sich der Blicke erst jetzt bewusst zu werden. „Kyra, hör zu…“

„Ich hab gesagt, ich will es nicht wissen.“, fiel ich ihm ins Wort, drehte mich um, ließ ihn stehen und ging auf den Ausgang zu. Dacia sprang von einem weiter entfernten Tisch auf und folgte mir ohne ein Wort. Ich entschloss mich, Daith Warden von nun an aus dem Weg zu gehen und ihn einfach nur noch zu ignorieren. Dieses eingebildete Arschloch konnte mir gerne gestohlen bleiben.

Der Rest des Tages verlief relativ ruhig. Daith begegnete ich nicht mehr. An einem Automaten zog ich mir eine Dose Cola und einen Schokoriegel, weil ich dank Mr Arschloch ja nichts mehr hatte essen können und trollte mich mit Dacia in die verschiedensten Kurse. Endlich wühlte ich in meiner Tasche nach meinen Schlüsseln und freute mich auf einen ruhigen, faulen Nachmittag vor dem Fernseher und ein entspanntes Wochenende darauf als Dacia mich am Arm festhielt.

„Was tust du?“, fragte sie. Ich blinzelte sie verwirrt an.

„Ich suche meine Schlüssel.“ Was sonst auch?

„Aber wir haben jetzt Theater.“, gab sie mir Bescheid. Ich starrte sie perplex an.

„Jetzt?“, brachte ich hervor. Sie nickte. Noch einige Herzschläge sah ich sie an, bevor ich meine Hand langsam aus der Tasche zog, die Tasche sinken ließ. Da ging mein schöner Nachmittag dahin.

„Dacia, willst du mich auf den Arm nehmen?“, fragte ich sie, suchte nach irgendwelchen Anzeichen in ihrem Gesicht, dass das doch bitte ein Scherz war. Doch sie war ernst und schüttelte den Kopf. Großartig!

„Komm schon, so schlimm wird es nicht sein! Es wird sicher Spaß machen.“, zwitscherte sie, zog mich mit sich. Stöhnend folgte ich ihr. Warum? Womit hatte ich diesen Plagegeist namens Freundin verdient?

Sie führte mich in die Aula. Wir waren die ersten, wie es schien und eine zierliche Lehrerin fragte nach unseren Namen, begrüßte uns dann freudestrahlend. Sie brachte uns in den hinteren Teil der Bühne in der Aula, wo einige Requisiten rum standen, von denen ich keine Ahnung hatte. Langsam kamen immer mehr Schüler, die ebenfalls staunend die Gegenstände betrachteten. Ich kannte keinen von ihnen. Nur ein Mädchen kam mir bekannt vor und ich glaubte, sie im gestrigen Mathekurs gesehen zu haben. Mit einem freundlichen Lächeln sah sie zu mir herüber. Ich erwiderte es kurz, bevor Dacia mir etwas Neues zeigen wollte.

Irgendwann unterbrach die Lehrerin – Mrs Jekens – unser Geschnatter. Sie erklärte uns, dass sie das Stück Medea plante und fragte nach Freiwilligen für die Hauptrolle. Niemand meldete sich. Ich fragte mich gerade, wer oder was die Hauptrolle war, als sich zögernd die Hand des Mädchens hob, das mir bekannt vorkam. Mrs Jekens sah lächelnd zu ihr herüber, doch ihr Blick schweifte weiter. Geflissentlich mied ich ihn.

„Niemand sonst? Was ist mit Ihnen? Kyra, richtig? Kyra Downey?“, fragte sie. Ich zuckte zusammen und sah auf.

„Äh … Ja?“

Mrs Jekens kam auf mich zu. „Möchten Sie vielleicht Medea spielen?“

„Ich … Ich weiß nicht.“, brachte ich stotternd hervor. Wer zur Hölle war Medea? Dacia stieß mich mit dem Ellbogen an.

„Mach schon! Nimm an!“, raunte sie. „Glaub mir, die Rolle steht dir.“

Ich schluckte. Ich und Theater? Und dann auch noch die Hauptrolle?

„Kommen Sie, Kyra. Wir können es ja mal versuchen. Wir werden sehen, wie ihre Fähigkeiten aussehen. Wer würde dann für Kyra einspringen, wenn sie sich nicht wohlfühlt oder dergleichen?“, fragte sie und wandte sich ab, ließ mich atemlos stehen. Sie ging noch weitere Schüler und Figuren ab, verteilte weitere Rollen. Ein König, eine Königstochter, Medeas Vater … und und und. Gerade war sie in einem Gespräch mit einem der Jungen, als irgendwo im vorderen Teil der Bühne etwas krachend umfiel, auf den ein deftiger Schwall von Flüchen folgte.

Verärgert sah Mrs Jekens auf, als eine hochgewachsene Person um die Ecke kam. Deren Blick schweifte über uns, blieb an mir hängen. Ein wenig erschrocken versuchte ich mich klein zu machen, doch dann straffte ich die Schultern, erwiderte Daiths Blick. – Was hatte der eigentlich in einem Theaterkurs zu suchen? – Der ließ von mir ab, als Mrs Jekens wütend auf ihn losging. Was fiele ihm denn ein, einfach so teure Bühnenbilder umzuschmeißen. Und dann auch noch mit solch einem arroganten Gehabe zu spät hier aufzutauchen. Und überhaupt, all diese Flüche, die er von sich gegeben hatte gehörten verboten!

Und obwohl die Frau mindestens zwei Köpfe kleiner war als er wirkte er so dermaßen eingeschüchtert, dass sich jeder Umstehende ein Prusten nicht verkneifen konnte. Ich grinste gehässig.

„So, Mr Warden!“, sagte sie schließlich, als ihre Schimpftirade ein Ende gefunden hatte. Er straffte sich darauf ein wenig und wirkte dabei immens erleichtert. „Was glauben Sie, sollte ich Ihnen für eine Strafe erteilen?“

Er hatte die Lippen wie so oft zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Ihm war anzusehen, was er von dieser Lehrerin hielt, doch das schien diese nicht zu interessieren. Sie seufzte ergeben.

„Na egal. Was würden Sie gerne für eine Rolle spielen?“, fragte sie ihn schließlich, nachdem sein Versuch, sie in Grund und Boden zu starren, misslungen war. Er zuckte die Schultern, sah kurz zu mir herüber. „Die meisten sind schon vergeben, da Sie ja zu spät kamen.“ Der Tadel in ihren Worten war deutlich zu hören, doch es schien ihn nicht zu kümmern.  „Mr Warden?“

Er seufzte übertrieben. „Ist mir eigentlich egal. Hauptsache keine allzu wichtige Rolle.“, sagte er schließlich. Mrs Jekens lächelte.

„In Ordnung, dann spielen Sie Jason.“

Mir fiel fast die Kinnlade ab. Dacia hatte mir erzählt, dass Medea eine mythische Figur aus dem alten Griechenland war. Für ihren Geliebten Jason verriet sie ihre Familie und zog mit ihm nach Korinth, wo Jason sie mit der Tochter des Königs Kreon betrog, um das Leben ihrer beiden Söhne zu sichern. Dafür brachte sie die zwei Kinder um und floh. Und jetzt sollte Daith Warden, dieser Verdammte, meinen Geliebten und Ehemann spielen?!

Auch er schien zu realisieren, was er da aufgehalst bekommen hatte und starrte finster zu mir herüber. Ich schluckte trocken, sah zu Mrs Jekens hinüber. Sie lächelte uns an und erkundigte sich, ob wir noch irgendwelche Fragen hätten. Offensichtlich war die Rollenverteilung abgeschlossen.

Meine Hand schoss in die Höhe, noch ehe ich mir dessen selbst bewusst wurde.

„Ja, Kyra?“

„Haben Sie das mit Absicht gemacht?“, fragte ich und war selbst erstaunt, wie feindselig meine Stimme klang. Ich räusperte mich und schickte ein Lächeln hinterher. „Ich meine, wäre es nicht möglich, mir eine andere Rolle zu geben? Ich weiß nicht, ob ich mit Medea klarkomme.“ Oder mit Daith.

Mrs Jekens Lächeln nahm ab. „Aber ich finde, die Rolle würde Ihnen ausgezeichnet stehen. Aber wenn Sie nicht zufrieden sind, könnten Sie mit Valerie tauschen.“

Valerie, das Mädchen aus dem Mathekurs. Sie hatte die Rolle von Kreusa, der Königstochter. Ich verdrehte die Augen. Ich sollte Medea aufgeben, weil ich mit Daith nicht klarkam, nur um eine andere zu spielen, mit der Daith später rummachen würde? Da behielt ich doch Medea, um es schneller hinter mir zu haben. Wenn es sich denn schon nicht vermeiden ließ.

Nachdem ich ablehnte und meinte, ich wäre doch ganz zufrieden mit meiner Rolle meldete sich niemand mehr und Mrs Jekens verteilte die Texte an uns. Anschließend befahl sie uns, uns in einen Kreis zu setzen. Ich setzte mich so weit weg von Daith wie nur irgend möglich und lies eine Prozedur von einer Zusammenfassung des Stücks und einer Textbesprechung über mich ergehen, mied geflissentlich seinen Blick. Nachdem es auch dann keine weiteren Fragen mehr gab sollten wir uns in Gruppen einteilen, nämlich mit denen, deren Rolle mit unserer am nächsten verbunden war. Somit saß ich in einer Gruppe mit Daith und Valerie fest. Stöhnend barg ich mein Gesicht in meinen Händen. Himmel, erschieß mich.

„Kyra!“, rief Valerie, als ich immer noch auf meinem Stuhl saß und winkte mich zu sich herüber. Daith stand mit verschränkten Armen hinter ihr. Ich verzog das Gesicht.

„Na komm, Kyra!“, wiederholte sie, streckte die Hand nach mir aus, als erwarte sie tatsächlich, dass ich sie ergriff. Ihr Lächeln war breit und freundlich und ließ ihre blauen Augen fast schon ein wenig merkwürdig scheinen. Ihr glattes goldenes Haar umrahmte ihr offenes Gesicht, das mich aufforderte, ihrer Einladung zu folgen. Abermals verzog ich das Gesicht, hob eine Braue, doch dann schlich ich zu ihnen hinüber. Daith schnaubte abfällig. Ich ignorierte es, sah zusammen mit Valerie in unsere Texte. Sie war wirklich furchtbar nett und es machte sogar Spaß, unsere Rollen zu vergleichen.

Zum Schluss der Stunde warfen wir sogar immer wieder verstohlene Blicke zu Daith hinüber, der sich einige Meter abseits von uns auf den Boden gesetzt hatte und interessiert und versunken das gesamte Skript zu studieren schien. Seine Haare fielen ihm ins Gesicht, verbargen seine hellblauen Augen. Ich sah, wie seine Lippen sich unablässig bewegten, als würde er die Worte kosten wollen und sich jedes einzelnen Satz einprägen.

Valerie und ich kicherten, als wir uns darüber unterhielten, gewisse Szenen mit ihm spielen zu müssen. Doch allerdings schien sie im Gegensatz zu mir nichts dagegen zu haben.

Als Mrs Jekens dann das Ende des Tages verkündete und uns aufgab, unsere Texte so weit wie möglich zu lernen, atmete ich auf, ging zu meiner Tasche hinüber. Dacia erwartete mich dort schon grinsend.

„Und? Wie ist es als Medea?“, fragte sie. Ich verdrehte die Augen.

„Hast du eine Ahnung, wie viele verdammte Szenen ich mit Mr Arschloch hab? Ich hätte doch Kreusa nehmen sollen! Die stirbt wenigstens ziemlich früh und hat ihn nicht so lange am Hals wie ich.“, beschwerte ich mich. Meine Freundin lachte. „Jaja, lach du nur. Du hast ja nicht diesen ignoranten Scheißkerl da am Hals.“

Sie verstummte, doch das Grinsen blieb in ihren Mundwinkeln und Augen, verschwand kurz darauf aber doch. Ich ahnte es schon, bevor er meine Schulter berührte. Ich wirbelte zu ihm herum.

„Was denn, Warden? Reicht es dir nicht langsam? Wer denkst du, der du bist, dass du ständig…“

Mit einer abrupten Handbewegung unterbrach er mich. „Hör zu, Hexe. Ich weiß, du kannst mich nicht ausstehen. Und ich kann dich nicht ausstehen, das kannst du mir glauben. Und mir geht das alles auch auf die Nerven, aber meine Mutter zwingt mich diesen verdammten Kurs zu besuchen und deshalb müssen wir unsere Texte lernen. Zusammen.“

Ich kniff die Augen zusammen. „Ach? Machst du immer, was Mommy sagt?“, giftete ich.

Er presste die Kiefer zusammen, seine Oberlippe zuckte, als wolle er die Zähne gegen mich fletschen. Doch dann lachte er. Dunkel und ohne jeden Humor. „Das sagst du! Machst du immer, was deine Freundin sagt?“, gab er zurück. Ich war drauf und dran, ihm vor die Füße zu spucken.

„Arroganter Mistkerl!“, zischte ich.

„Penetrante Hexe!“, gab er zurück.

„Arschloch!“

Ich sah, dass er noch etwas erwidern wollte, doch er legte den Kopf in den Nacken, seufzte theatralisch. „Gut, dass wir das jetzt geklärt haben. Ich denke, morgen um drei Uhr bei mir ist in Ordnung, oder, Rotkäppchen?“

Bevor ich überhaupt etwas erwidern konnte machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand. Verärgert fluchte ich ihm hinterher. Was bildete der sich ein, dass er glaubte, ich würde nach seiner Pfeife tanzen und kommen?

Vermutlich bildete er sich nun so einiges ein, weil ich genau das tat.

Nachdem er gestern nach Theater verschwunden war hatte ich mich von einer perplexen Dacia verabschiedet und war müde nach Hause gefahren, wo ich mich so gleich ins Bett fallen gelassen hatte. Frustriert hatte ich mich darin vergraben und erst am nächsten Tag gegen Mittag wieder den Weg heraus gefunden.

Und nun stand ich hier, ohne dass mir irgendein ersichtlicher Grund einfiel, warum, und starrte an der hellen Fassade nach oben. Zum fünfunddreißigsten Stock. Fröstelnd schlang ich die Arme um mich, während mein Atem weiß davonflog. Passanten rempelten mich an, fluchten verärgert, sahen mich merkwürdig an, doch ich kümmerte mich nicht darum. Sollten sie denken, was sie wollten.

Hin- und hergerissen zwischen meinem Hyundai und dem riesigen Gebäude nagte ich auf meiner Unterlippe. Ich könnte nach Hause fahren und Daith tatsächlich sitzen lassen. Ich könnte aber auch dort hoch gehen und … ja, was tun? Den Text lernen? Wirklich?

Jemand trat aus dem Haupteingang nach draußen, musterte mich.

„Sie wollen da rein?“, sagte eine Fraustimme. „Nur Anwohner und deren Gäste haben Zutritt.“

Ich fuhr zusammen und sah zu ihr hin, bemerkte, dass sie tatsächlich mit mir gesprochen hatte. Die Frau war schlank, hochgewachsen und besaß die Maßen eines Models. Dunkles Haar wellte sich um ein spitzes Gesicht mit erstaunlichen hellbraunen, fast schon goldenen Augen. Ich verschluckte mich fast an meiner Spucke, als ich die Frau von den Bildern im Wohnzimmer von Daith erkannte.

„Entschuldigung, kennen wir uns?“, fragte die Frau nun neugierig, trat auf mich zu. „Du kommst mir seltsam bekannt vor“ Sie legte den Kopf schief.

„N-nicht dass ich wüsste.“, antwortete ich und ignorierte, dass meine Zähne ziemlich peinlich aufeinander klapperten. Ich hätte mir eine Jacke mitnehmen sollen. Allerdings hatte ich nicht wissen können, dass ich Ewigkeiten damit verbringen würde, mich zwischen einer Flucht und der Höhle des Löwen zu entscheiden.

„Nicht?“, sagte die Frau. Sie hatte eine angenehm weiche, freundliche Stimme. Lächelnd streckte sie mir ihre Hand entgegen. „Ich bin Louana Warden. Oder auch Lou, wenn du willst.“

Verwirrt blinzelnd nahm ich die Hand an. Sie war schlank und kühl. „Kyra. Kyra Downey.“

Wie auf ein Stichwort wechselte ihre Miene von Höflichkeit in Begreifen, weiter in Wohlwollen. Sie war tatsächlich mit Daith verwandt? Die zwei sahen sich wirklich nicht im Geringsten ähnlich. Und wieso schienen hier alle etwas zu verstehen, sobald sie meinen Namen hörten?

„Möchtest du mit rein kommen, Kyra?“, fragte Louana – Lou – und lächelte.

„Aber, du … Sie sind doch gerade raus gekommen, wollten Sie nicht irgendwo hin?“, fragte ich, als ich ihren Mantel, den Schal um ihren Hals und die Tasche sah. In der Gegenwart dieser Frau fühlte ich mich äußerst befangen. Als würde etwas über ihr schweben, etwas sie umhüllen, was sie unerreichbar und würdevoll erscheinen ließ.

Sie schüttelte den Kopf. „Das kann warten. Und bitte, ein Du reicht völlig. Aber du bist ja völlig durchgefroren, du solltest ins Warme.“

Als wäre es selbstverständlich kam sie weiter auf mich zu, legte einen Arm um meine Schultern, führte mich zu dem Haupteingang hin. Ihre Geste sagte deutlich aus, dass sie keinen Widerspruch dulden würde. Also würde ich wohl doch zu ihm hoch gehen.

In der Halle unten lächelte Sander, der Concierge, uns zu. Ich lächelte beklommen zurück und Louana grüßte ihn fröhlich, bevor wir dann im Fahrstuhl standen. Nervös trat ich von einem Bein auf das andere, kaute noch immer auf meiner Unterlippe.

Im Penthaus begrüßte uns lautes, munteres Gebell. Erschrocken zuckte ich zusammen, sah nur noch den riesigen schwarzen Hund auf uns zu rasen. Seine Ohren waren spitz, seine Zähne in einem scheinbaren Grinsen leicht gebleckt. Ich registrierte noch, dass die Augen braun und nicht eisblau waren, dennoch sah er meinem Albtraum so schrecklich ähnlich, dass ich glaubte, mein Herz bliebe stehen, als auch schon ein hoher, durchdringender Pfiff zu hören war. Das Wesen, das meinem Wolf so ähnlich sah, drehte ab, wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz.

Daith kam um die Ecke, tätschelte den riesigen Kopf des Tieres, ehe er zu mir hinüber sah und überrascht die Brauen hob. Er trug ein altes, ausgeleiertes T-Shirt und verwaschene Jeans. Sein Haar sah feucht aus und war ihm wie Wochen zuvor am Kino aus der Stirn geschoben. Barfuss kam er auf mich zu, blieb dicht neben mir stehen.

„Lou, ich dachte, du wärest weg?“

„War ich eigentlich auch schon, allerdings habe ich dieses Mädchen … Kyra völlig verfroren draußen gefunden und hab sie hochgebracht. Ich nehme an, sie wollte zu dir.“

Aus dem Augenwinkel sah Daith zu mir. Ich hatte mich nicht einen Millimeter gerührt.

„Richtig“, sagte er gedehnt. „Danke.“ Damit fasste er nach meinem Ellbogen, führte mich durch das Wohnzimmer, weiter nach links und steuerte scheinbar auf ein Schlafzimmer zu. Sein Schlafzimmer? Der Hund lief uns hinterher. Seine Krallen klackten auf den Fliesen.

Er stieß die Tür auf und offenbarte mir Chaos. Hemden lagen über Stühle und das breite Doppelbett verteilt, auf dem Boden lagen mehrere Jeans. Ich wollte gar nicht wissen, was da unter der einen hervorlugte. Nachdem er die Klamotten von den unmöglichsten Stellen aufgeklaubt hatte und sie in eine Ecke auf einen Haufen geschmissen hatte erkannte ich, dass das Zimmer einfach eingerichtet war. Zumindest hatte ich keine Ahnung, wie viel die Möbel gekostet hatten.

Das Bett stand an der Wand gegenüber der Tür. Rechts und links davon befanden sich große Fenster, die winterliches Licht rein ließen. Ein großer Schrank stand rechts an der Wand. Links war ein Schreibtisch, auf dem sich unter Bergen von Papieren, heften und Büchern ein Computer mit Tastatur zu verbergen. Dahinter ging links eine Tür ab. Vermutlich ins Bad. Als ich weiter eintrat schluckte ein großer weicher Teppich meine Schritte. Zur rechten der Eingangstür spannte sich ein vollgestopftes Bücherregal über die Wand. Alles war einfach, in hellen aber kühlen Tönen gehalten.

Japp, das sah sehr nach Daith aus, der in der Mitte des Raumes stand und mich beobachtete, wie ich mich neugierig in seinem Zimmer umsah. In seinen Augen lag ein Ausdruck, der sich nicht entscheiden konnte, ob er misstrauisch oder überheblich sein sollte.

Dass er schließlich so unvermittelt sprach ließ mich zu ihm herumfahren.

„Warum bist du hier?“

Ich runzelte die Stirn. Was sollte denn diese Frage jetzt bitte? „Du wolltest doch, dass ich komme.“

Er schürzte für einen Moment die Lippen, legte den Kopf schief. „Ich hatte allerdings nicht erwartet, dass du tatsächlich kommen würdest.“

Das würde vielleicht das Chaos und seinen nachlässigen Aufzug erklären.

„Soll ich dann wieder gehen?“, fragte ich eine Spur zu hoffnungsvoll. Eine dunkle Braue rutschte in die Höhe.

„Wenn du schon hier bist, können wir auch gleich wirklich mit dem Text anfangen. Also – hast du ihn dabei?“

Ich schnalzte mit der Zunge, warf ihm einen giftigen Blick zu. „Nein, Idiot, ich komme aus anderen Gründen außer Textlernen hierher, weil ich dich ja so unglaublich gern hab“, sagte ich sarkastisch und war kurz davor, ihm kindisch die Zunge raus zu strecken.

„Yay, sie mag mich!“, erwiderte er ohne jeglichen Enthusiasmus. Weder in seiner Stimme noch in seine Miene bewegte sich etwas. „Also, hol ihn raus!“, forderte er.

„Wen oder was?“, fragte ich ganz unschuldig, um ihn zu provozieren. Dieses emotionslose Gesicht ging mir auf die Nerven. Er verdrehte die Augen.

„Den Text, Rotkäppchen!“

Grummelnd griff ich nach meiner Tasche und wühlte zwischen den Büchern und Heften vom Vortag herum. Als ich den dicken Block in der Hand hielt drehte ich mich zu ihm herum. „Nenn mich nicht ständig so!“, sagte ich. Er hatte währenddessen seinen Text irgendwo unter den Papierhaufen auf seinem Schreibtisch ausgegraben und zuckte die Schultern.

„Ich finde es passend.“

Nun verdrehte ich die Augen, setzte mich zögernd auf das Bett, worauf sich der riesige Hund faul ausgebreitet hatte und mit treuen Augen zu mir hochsah. „Also schön, bringen wir es hinter uns. Fangen wir mit der ersten Szene an?“

Er neigte nur auf eine Art und Weise den Kopf, die mir sagte, dass er einverstanden war und warf mir einen undefinierbaren Blick zu, ehe er sich im Schneidersitz auf den Boden setzte.

In der ersten Szene stritten Medea und Jason – was uns in der Übersetzung nicht schwer fiel. Allerdings zeigte er auch genau so wie sonst nicht allzu viele Emotionen dabei.

Medea hatte ihren Vater bereits verraten und war längst mit Jason als ihrem Ehemann nach Iolkos geflohen, wo sie Pelias, Jasons Onkel, vergiftet hatte. Nun wollte sie abermals mit Jason und ihren Kindern fliehen, bevor die Leute es herausfanden. Jason allerdings wollte bleiben. Er wollte das Thronrecht, das einst seinem Vater von dessen Halbbruder gestohlen worden war, einfordern.

„Ich werde dich nicht begleiten können.“

„Aber hast du denn vergessen, was war? Was sein wird? Die Kinder brauchen einen Vater. Ihren Vater. Wir müssen fliehen!“

„Dann bleibe. Hier bei mir.“

„Versteh doch! Dich werden sie als Thronfolger akzeptieren. Aber mich werden sie jagen. Ich will nicht ohne dich fliehen. Oder liebst du mich denn nicht? Oder deine Söhne?“

Während ich meinen Text sprach, ohne fürs erste auf die Regieanweisungen zu achten, beobachtete ich Daith. Zu Anfang ratterte er den Text nur wenig begeistert runter. Doch immer häufiger fiel mir auf, dass er improvisierte, während er zu mir sah, oder Stellen abänderte. Auch wenn es eigentlich nicht erlaubt war, klang es so besser. Immer mehr steigerte er sich in die Rolle hinein. Seine Mimik veränderte sich von Satz zu Satz, passte sich den Worten an. Seine Stimme klang voll und dunkel wenn er sie verzweifelt hob. Oder leise wie ein Windhauch, wenn er flüsterte. Jasons Gefühle schienen auf einmal die seinen zu sein. Er schien Jason zu sein. Er sprang auf, als er in Rage geriet.

„Medea, wir können nicht gehen. Hier ist alles. Alles, was wir wünschten, alles wovon wir träumten.“

„Für dich. Für dich, Jason. Ich kann nicht bleiben. Aber du lässt mich nicht gehen.“

„Du bist mein!“

„Ich weiß, dass es schwer ist. Aber lass mich und die Kinder gehen, wenn du auf deinen Thron bestehst. Wir können hier nicht…“ Ich brach ab und sah auf meinen Text hinunter. Mein Satz wurde nicht zu Ende geführt. Sollte ich ihn selbst beenden?

Ich sah auf, als Daith einen langen Schritt auf mich zu tat. Ehe ich begriff spürte ich seine Hände, die mein Gesicht umfassten. Seine Lippen senkten sich auf meine. Nicht sanft und fragend wie beim letzten Mal. Der Kuss war tiefer und fordernder. Für einen Moment ertappte ich mich dabei, wie ich ihn erwiderte und es genoss, bevor mir klar wurde, was hier passierte.

Zögernd löste er sich von mir, nur wenige Millimeter.

„Ich liebe dich.“

Beinahe reflexartig hob ich die Hand und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige, die seinen Kopf herumriss. Auf dem Bett hob der Hund den Kopf, fletschte knurrend die Zähne, ohne sich jedoch von der Stelle zu rühren. Mein Herz raste hinter meinen Rippen.

Von einem Atemzug zum anderen hatte Daith vollständig von mir abgelassen, taumelte zwei Schritte zurück, ehe er sich fing. Bedächtig hob er seine Finger an seine Wange, die sich flammend rot färbte und bewegte vorsichtig den Kiefer, wie um zu prüfen, ob noch alles in Ordnung war.

„So stand das aber nicht im Text.“, murmelte er. Ich ignorierte es.

„Mistkerl! Verdammtes Arschloch! Was fällt dir ein!“, schrie ich, griff nach dem Kissen auf dem Bett, warf es nach ihm. Er duckte sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit, wich ihm aus. Verstört sah er zu mir hinüber, hob abwehrend die Hände. Mir war der fragende Ausdruck in seinem Gesicht egal. Er hatte mich geküsst. Schon wieder. Wieso?

„Kyra …“, setzte er an.

„Ich hab die Schnauze voll von dir!“, unterbrach ich ihn. Was fiel ihm ein? Wie konnte man so herrisch und selbstgefällig sein?

„Kyra, hör mir …“

„Ich will nicht!“ Wütend packte ich meinen Textblock und überlegte, ob ich den ebenfalls nach ihm werfen sollte. Aber vermutlich würde er ein weiteres Mal ausweichen. Also stopfte ich ihn in meine Tasche, warf mir diese über die Schulter und wollte aus dem Zimmer hinaus. Er packte mein Handgelenk, wirbelte mich zu sich herum.

„Verdammt, Kyra!“, brüllte er. Ich zuckte zusammen. „Hör mir doch zu! Es stand so im Skript. Okay?“ Demonstrativ hielt er mir seine Ausgabe vor die Nase, dass ich gerade noch die Regieanweisungen lesen konnte, die ich absichtlich übersehen hatte. „Ich hatte mich da hinein gesteigert. Tut mir leid!“

Ich holte zittrig Atem, wich einen Schritt zurück und sah zu ihm auf. In seinen Augen schien ein Eissturm zu toben. Kalt und schneidend. „Und … und vorgestern?“, wollte ich wissen.

„Ein … Ausrutscher. Tut mir auch leid. Wird nicht wieder vorkommen.“

Einige Augenblicke sahen wir uns schweigend an und ich fragte mich, was er dachte. Schließlich nickte ich nur und wusste, ich hätte erleichtert sein sollen. Doch so war es nicht. Merkwürdig benommen versuchte ich meine Hand aus seinem Griff zu winden, drehte mich um. „Ich sollte gehen. Es ist schon…“ Ich stockte. Wie viel Uhr war es eigentlich? „… dunkel.“

Draußen war es tatsächlich schon finster. Von hier aus konnte ich vor dem Fenster den nächtlichen Himmel sehen. Der Schnee auf den Dächern New Yorks hob sich scharf von der Dunkelheit ab

„Richtig.“, sagte er. Seine Stimme klang seltsam angespannt, als er mein Handgelenk losließ. Er öffnete mir stumm die Zimmertür. „Du weißt, wo der Ausgang ist.“ Mit einem Mal klang seine Stimme weniger überzeugend, stattdessen wurde sie kälter, teilnahmsloser.

Ich sagte kein Wort. Ich fürchtete mich aus einem unerklärlichen Grund vor der Stimmung, die dunkel und dicht über uns zu hängen schien. Die hochgewachsene Frau mit dem rabenschwarzen Haar und den aquamarinhellen Augen, die im Durchgang von Esszimmer zur Halle stand, sah ich erst, als die stählernen Türen des Aufzugs sich hinter mir schlossen.

Auf dem Weg nach Hause schneite es dicke, pappige Flocken vom verhangenen Himmel, sammelte sich auf der Frontscheibe. Genervt schaltete ich den Scheibenwischer ein.

Zu Hause schleppte ich mich die Treppen zu unserem Apartment hoch. Der Duft von gekochten Nudeln mit Basilikumsoße wehte mir entgegen, als ich die Wohnungstür aufschloss und sofort in einer warmen Umarmung gefangen wurde.

Kurz war ich überrascht und versteifte mich unwillkürlich, als ich den Geruch nach Rasierwasser vernahm und sie für einige Augenblicke erwiderte. Schließlich löste ich mich von ihm und sah zu meinem Vater auf. Moosgrüne Augen sahen auf mich hinab, musterten mich in einer Mischung aus Stolz und dann Sorge, als er mir in die ebenso grünen Augen sah. Ich lächelte, versuchte, die Sorge zu vertreiben. Nach längerer Zeit war Riley mal wieder zum Abendessen zu Hause. Das ließ ich mir nicht von irgendeinem dahergelaufenen Basketball-Captain vermiesen.

Dennoch saß ich zwei Stunden später auf meinem Bett und starrte aus dem Fenster, dachte nach.

Es hätte mich nicht kränken sollen, als er sagte, dass es ihm leidtat. Ich hätte zufrieden sein müssen. Wieso hatte es mir dann diesen tiefen Stich versetzt, als das Wort „Ausrutscher“ fiel? Wieso wollte ich, dass es doch noch „wieder vorkommen“ würde?

Die Antwort war einfach und simpel: Ich war verliebt. In Daith Warden. In einen arroganten Mistkerl. Ein kurzes, hartes Lachen entwich mir. Verliebt in ein Arschloch. Das klang wie ein Buchtitel. Seufzend barg ich mein Gesicht in meinen Händen, massierte mir die Schläfen. Er war ein eingebildeter, arroganter, herrischer, egoistischer, sturer, anmaßender, dreister Scheißkerl, der mir Kopfschmerzen bereitete. Er hatte es nicht verdient, gemocht zu werden. Von mir gemocht zu werden. Es hätte jeder sein können. Warum ausgerechnet er?

Ich schüttelte den Kopf. Der Kerl würde außerdem nicht einmal im Traum daran denken, mich … was? Vor mir auf die Knie zu fallen und mir bei allem, was ihm heilig war, ewige Liebe zu schwören? Ganz bestimmt nicht! Doch genau das war es, was mich am meisten störte.

Mit einem Fluch packte ich mein Kissen, wie zuvor bei Daith und warf es gegen die Wand. Bücher, Hefte, Ordner folgten darauf. Jedem von ihnen schickte ich eine persönliche Verwünschung an Daiths Adresse hinterher. Zornig strich ich mir Haare aus dem Gesicht und suchte in meinem Kleiderschrank nach bequemen Klamotten für die Nacht. Mit denen verschwand ich im Bad, wo ich mich unter eine warme Dusche stellte, die mich schläfrig machen sollte. Doch als ich im Bett lag wollte der Schlaf nicht kommen. Erst nach stundenlangem Hin- und Herwälzen dämmerte ich allmählich weg.

Im Traum besuchte mich, wie sooft in den letzten Wochen, der schwarze Wolf. Regungslos beobachtete er mich, schien mich eindringlich zu studieren. Sein kühler Blick folgte mir, egal wie ich mich bewegte. In einer Frage legte er den Kopf schief, als ich zu ihm hinsah. Vorsichtig streckte ich ihm meine Hand entgegen. Mit einem Knurren, tief hinten in der Kehle ging er ein weiteres Mal auf mich los.

Als ich schreiend und verschwitzt erwachte fand ich mich sitzend gegen das Kopfende meines Bettes gelehnt. Hilflos schlang ich meine Arme um die Knie, bettete mein Kinn darauf. Draußen war es noch dunkel. Ein Blick auf den Wecker sagte mir, dass es fünf Uhr morgens war.

Stöhnend verkroch ich mich wieder unter meiner Decke. Ich fühlte mich elendig. Mein Kopf dröhnte wieder vor Schmerz, in meinem Magen saß ein ständiges Zittern, in meiner Kehle ein würgender Knoten. Meine Augen fühlten sich geschwollen an.

Bis zum Mittag döste ich immer wieder ein, wachte mit rasendem Herzen wieder auf, ohne sagen zu können, warum.

 

 

 

Um ihn herum schwirrten Gestalten. Flimmernde Lichter von Reklametafeln und Straßenlaternen zeichneten harte Schatten auf die Gesichter. Bleich hoben sie sich in der Nacht hervor, verschwommen zu unwirklichen Lichtfäden. Ächzend legte er den Kopf in den Nacken. Schnee fing sich in seinen Haaren und Wimpern. Es war schon wieder passiert. Der Wahnsinn in ihm war unberechenbar. Er hatte geglaubt, sie würde ihn davor bewahren. Stattdessen wurde er immer stärker, nährte sich von seinem Verstand. Er konnte es spüren. Die bestialischen Instinkte, die mörderischen Empfindungen. Vielleicht hatte er sich geirrt. Vielleicht war sie nicht … Nein, er war sich sicher! Schließlich schlief das Monster nun in ihm. Er musste nur …

Ein Auto fuhr mit dröhnendem Motor an ihm vorbei, zwei Mädchen kreischten aufgeregt, als sie etwas auf der anderen Straßenseite entdeckten. Er hielt sich die empfindlichen Ohren zu. Die Reklametafel flackerte, wechselte in Sekundenschnelle das Bild. Seine Pupillen verengten sich zu Schlitzen, er schloss die tränenden Augen. Abgase füllten seine gereizte Nase.

Fluchend ließ er sich auf einer Bank nieder. Mit scharfen  Krallen grub das Monster ihm erneut die Klauen in die Eingeweiden. Er schnappte nach Luft. Seine Kehle war rau.

Einige Momente blieb er reglos, nach vorne gesunken sitzen. Passanten mochte denken, er wäre betrunken. Es kümmerte ihn nicht.

Erst eine Wahrnehmung, eine schwache Witterung einer längst vergessenen Präsenz ließ ihn aufsehen. In seinem Magen zitterte der Wahnsinn, als er sich umsah. Menschenmengen drängten sich durch die Straßen und das Nachtleben. Abermals schwirrte ihm der Kopf, als er aufsprang. Unbewusst traten ihm die Menschen aus dem Weg, machten ihm Platz, als er über ihre Köpfe hinweg sah. Er entdeckte niemanden. Aber wen hätte er auch suchen sollen?

Die Witterung war vergangen. Frustriert rammte er die Hände in die Taschen, sah für einen Augenblick seinem weißen Atem nach, ehe er kehrt machte und mit der Menge und der Nacht verschmolz.

Kuchen und Wein

Immer noch müde streckte ich die Hand aus, tastete nach meinem Handy auf meinem Nachttisch, das schon seit längerer Zeit summte wie besessen. Endlich bekam ich es zwischen die Finger, nahm den Anruf an.

„Ja?“, meldete ich mich verschlafen.

„Kyra? Sag mir bitte nicht, du liegst noch im Bett?! Hast du vergessen, was heute ist?“, rief Dacia durch den Hörer. Ich zuckte zusammen, schlug mir die Hand vor die Stirn. Richtig, verkaufsoffener Sonntag. Dacia wollte mich auf die 5th Avenue schleppen. Ich hatte ihr am Freitag zugesagt. Stöhnend fuhr ich mit der Hand zu meiner Stirn, erwartete, Fieber zu haben. Mein Gesicht war kühl. Trotzdem fühlte ich mich so elendig wie schon lange nicht mehr. Ein weiterer Grund, Daith Warden die Pest an den Hals zu wünschen. Allerdings wäre ich dann vermutlich neben ihm gesessen und hätte ihn gepflegt. Tatsächlich fiel es mir mittlerweile schwer, mir das Leben ohne diesen nervigen Mistkerl vorzustellen. Zum Glück gelang es mir aber noch.

„Dacia, hör zu. Ich fühl mich heute nicht…“, setzte ich an, doch sie fuhr mir dazwischen.

„Keine Ausreden! Heute hast du keine Chance, da raus zu kommen. Du hast es mir versprochen. Außerdem musst du mal raus. Also raus aus den Federn, unter die Dusche und zieh dich an! Aber pronto!“

Ich seufzte ergeben und quälte mich aus den Decken. Dem hatte ich in meiner gegenwärtigen Verfassung nichts entgegenzusetzen. Zudem könnte es mich von meinem schrecklichen Desaster ablenken, indem ich es durch etwas noch gruseligeres ersetzte. Also versprach ich Dacia, sie um dreizehn Uhr abzuholen und verschwand im Bad. Eine Stunde später waren wir auf dem Weg durch Manhattan. Meine Freundin saß neben mir auf dem Beifahrersitz und textete mich voll, was sie am Freitagabend gemacht hatte, wie sie mit dem Text in Theater weiterkam und anderes. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu und starrte auf die Straße. Es schneite immer noch und erinnerte mich zum größten Teil äußerst unangenehm an den letzten Abend, dennoch war dar der kleine Teil in mir, der das Gegenteil empfand. Zwanghaft versuchte ich ihn zum schweigen zu bringen. Als Dacia mich irgendwann fragte, was ich am Samstag gemacht habe, zuckte ich zusammen und spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss.

Dacia hob die Brauen, neigte den Kopf. „Also? Was ist passiert? Du wirst rot! Warst du wirklich bei Daith?“, wollte sie wissen. Ich sah, wie sie sich ein Lachen verkneifen musste. Kurz erwog ich, einfach nicht zu antworten, doch dann zuckte ich die Schultern als wäre es nichts Besonderes.

„Ja, ich war bei Warden. Wegen dem Text.“, sagte ich.

„Und warum wirst du dann rot?“ Sie klang so aufgeregt wie ein kleines Kind an Weihnachten und witterte vermutlich schon eine Story. Hätte ich zu ihr hingesehen, hätte sie vermutlich auch so ausgesehen. Ich verdrehte die Augen und verbannte jeden Gedanken an Daith aus meinem Kopf.

„Wie gesagt, ich fühle mich heute nicht gut. Wahrscheinlich Fieber.“

Besorgt legte Dacia die Hand an meine Stirn, teilte mir mit, was ich schon festgestellt hatte: kühl. Meine Krankheit ist aber auch nun mal von einer anderen Natur, dachte ich verbissen. Wie eine Seuche breitet sie sich in mir aus und lässt mich irgendwann nicht mehr rational denken.

Ich erschauderte, als ich daran dachte, was mir bevorstand. Zum Glück war es noch nicht so weit und ich besaß immerhin noch ein wenig Verstand, wenn auch der größte Teil davon schon dahingesiecht sein musste, wenn ich auf die Idee kam, mich in Warden zu verlieben. Kurz schloss ich die Augen, bevor ich sie schnell wieder öffnete. Wenn man am Steuer saß war es eine schlechte Idee, in Gedanken zu versinken.

Als Dacia sich schließlich nur noch die Nase am Fenster platt drückte, entschied ich, dass ich irgendwo parken konnte, damit meine Freundin mich in die Hölle auf Erden schleppen konnte. Kaum stoppte ich den Motor, riss sie auch schon dir Tür auf und sprang in den Schnee.

„Mach schon!“, forderte sie ungeduldig und wedelte beinahe schon hysterisch mit den Händen. Demonstrativ langsam und vorsichtig zog ich den Schlüssel aus dem Zündschloss, griff nach meiner Tasche, die auf der Rückbank lag. Ich hatte einfach keine Lust auf stundenlange Shoppingtouren. Das war nicht meine Sache. Ich drückte meine Tür auf und stieg aus, als sie auch schon auf meiner Seite vom Wagen stand und mich am Arm zog. Seufzend stolperte ich hinter ihr her.  

Der erste Laden zu dem sie gehen wollte war irgendein no-name-Laden, bei dem sie das letzte Mal angeblich ein „süßes Top“ gesehen hatte. Sie fand es schnell und ich war froh, zügig das enge Geschäft zu verlassen. Dann standen wir unschlüssig auf dem Bürgersteig. Ich sah zum Himmel hinauf, der heute frei und hellblau war. Dennoch herrschte eine Eiseskälte, die mir sogar unter meine gefütterte Jacke kroch. Ich mochte den Winter nicht.

Neben mir wühlte Dacia in ihrer Tasche herum und förderte schließlich einen Zettel zutage, den sie auseinander faltete. Neugierig sah ich über ihre Schulter und stöhnte. Eine Liste mit Läden, die sie besuchen wollte. Bei Hollister fing es an.

„Also!“, sagte sie und sah zu mir auf. „Wir müssen zwischendurch ein wenig mit deinem Auto fahren. Es seid denn du willst eine dreiviertel Stunde runter zu Macy’s laufen.“

Ich sah sie verdutzt an. „Was willst du denn bei Macy’s?“, fragte ich. Der Laden hatte nicht ihren Stil. Sie schien kurz zu überlegen, als hätte sie vergessen, weshalb sie diesen Laden aufgeschrieben hatte, dann breitete sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus.

„Na der Winterball! Kyra, willst du mir sagen, du hast all die Plakate in der Schule nicht gesehen? Macy’s hat einige wirklich schöne Kleider, die äußerst passend wären. Sogar für dich. Das ist extrem wichtig!“

Nein, die Plakate hatte ich nicht gesehen. Plakate übersah ich generell ständig. „Und … hat der Ball irgendein Motto?“, wollte ich vorsichtig wissen. Sie schüttelte zu meiner Erleichterung den Kopf.

„Trotzdem brauchen wir Kleider! Du hast ja wohl nicht ernsthaft vor, in Jeans dort aufzutauchen, oder?“

Um genau zu sein hatte ich nicht vorgehabt, überhaupt dort aufzutauchen. Aber das sprach ich nicht aus. Es hätte sie dann doch zu sehr entsetzt. Später würde ich einfach erklären, mir wäre kein Kleid ins Augen gefallen. Bis dahin folgten wir stetig ihrer Liste. Sie schleppte mich hierhin, schleppte mich dorthin, schwatzte mir Tops, Jeans, T-Shirts und anderes auf. Wir besuchten Hollister. Esprit, Pink, Zara. Alles, was sie sah wurde abgeklappert, während unsere Tüten voller, praller und immer mehr wurden. Sie zwang mich sogar in Victoria’s Secret rein. Irgendwann taten mit höllisch die Füße weh. Und das obwohl wir erst drei Stunden hinter uns hatten. Der Himmel über uns hatte sich bereits verdunkelt. Normal im Winter, trotzdem trug er dazu bei, dass ich mich fühlte, als hätten wir bereits Ewigkeiten hier verbracht. Auch wenn ich zugeben musste, dass es mir zum Teil tatsächlich viel Spaß gemacht hatte, mir mit meiner Freundin die verschiedensten Klamotten anzusehen und ein wenig herumzualbern, war das immer noch nichts für mich. Vielleicht weil ich nicht allzu trainiert darin war, Stunden umher zu laufen.

Schniefend sah ich zu meiner Freundin, die sich neben mich auf eine Bank fallen ließ. Meine Nase war rot, meine Wangen brannten. Und das obwohl die Luft eigentlich mild war.

„Und jetzt?“, fragte ich sie. Sie lächelte müde.

„Jetzt haben wir noch Macy’s vor uns.“, antwortete sie. Das hieß, wir brachten unsere Berge von Tüten zu meinem Wagen, verstauten sie allesamt im Kofferraum. Anschließend fuhren wir weiter Richtung Süden. Ich drehte die Klimaanlage auf, versuchte meine fast starren Glieder zu wärmen. Doch bis zu Macy’s vergingen lediglich ein paar Minuten, sodass meine Zehen noch immer eiskalt waren, als wir dort ankamen. Dacia und ich stapften durch den Schnee auf den Laden zu, flüchteten schnell ins Warme und seufzten erleichtert. Kurz wärmten wir uns noch ein wenig weiter, bevor Dacia zu einer Verkäuferin ging und nach der Abteilung für Abendkleider fragte. Steif folgte ich meiner Freundin und erwartete nicht allzu Berauschendes, doch als ich die Träume aus Chiffon, Seide und Satin sah stockte mir der Atem. Bewundernd ging ich zwischen den Kleidern umher, strich mit den Fingerspitzen über die Stoffe.

Immer wieder hörte ich Dacias Stimme, die kommentierte oder mich zu sich bat, damit sie mir etwas zeigen konnte. Doch die meiste Zeit verbrachte ich damit, die Designer für ihre Arbeit zu bewundern. Ich hatte nicht gewusst, dass kleinste Verzierungen einen schlichten Schnitt teuer wirken lassen konnten. Ich war begeistert von den verschiedenen Verarbeitungen, Dekorationen, Zierwerken. Jede Falte schien sorgfältig geplant zu sein.

„Oh mein Gott!“, hörte ich Dacia schließlich kreischen. Alarmiert sah ich auf. „Sieh dir das an, Kyra!“ Aufgeregt winkte sie mich zu sich hinüber. Ich folgte der Aufforderung und bekam sogleich etwas unter die Nase gehalten. Ich trat einen Schritt zurück, um besser zu sehen, was sie mir da hinhielt. „Das musst du nehmen!“

Ungläubig starrte ich das Kleid an, das Dacia mir zeigte. Grasgrüner Chiffon, in dem sich das Licht zu einem geheimnisvollen Flussgrün brach, floss seidig durch meine Finger wie ein Wasserstrom. Es war trägerlos und um den Oberkörper gestrafft, mit breiten goldenen Ausschmückungen verziert, und betonte die Figur. Ab der Taille fiel es in sanfte Falten, die wie Wellen auf einem samaragdfarbenen See wirkten. Es war lang und schmal und schlicht geschnitten, doch es war atemberaubend. Der Preis ebenso.

„Es ist unglaublich!“, brachte ich hervor. Dacia nickte bekräftigend.

„Du musst es kaufen! Es passt so wunderschön zu deinen Augen.“

Dieser Kommentar wiederum ließ mich die Brauen zusammenziehen. Ich wollte zu einer bissigen Entgegnung ansetzen, als es zwischen meinen Schulterblättern kribbelte. Wochen zuvor hatte ich diesen Blick schon zwei Mal gespürt. Scharf und eindringlich. Ich wirbelte herum. Außer behangene Kleiderstangen war nur ein Junge zu sehen, der mir den Rücken zu gewandt hatte. Als hätte er meinen Blick gespürt wandte er sich zu mir um, sah mich an.

Seine Haare schimmerten nussfarben-gold in der Ladenbeleuchtung und selbst auf diese Entfernung konnte ich erkennen, dass seine Augen von einem tiefen Grün waren. Kurz musterte er mich, ebenso wie ich ihn, ehe er lächelte. Gerade machte er einen Schritt auf mich zu und schien etwas sagen zu wollen, als sein Blick auf etwas hinter mir fiel und er den Kopf schüttelte, entschuldigend lächelte.

Verwirrt drehte ich mich um und sah mich einem bekannten Gesicht gegenüber. Louana kam mit einem fröhlichen „Hi!“ auf mich zu und umarmte mich wie selbstverständlich. Perplex ließ ich es geschehen, ehe sie sich zu Dacia umwandte, die noch dort mit dem Kleid in den Händen stand und uns irritiert beobachtete. Lou schenkte ihr ein freundliches Lächeln. „Und was macht ihr hier?“, wollte sie wissen und besah sich das Kleid. Mit fachkundigem Blick nahm sie es zwischen die Finger. Doch noch ehe auch nur einer von uns antworten konnte spürte ich eine gewaltige Präsenz in meinem Rücken, die es mir kalt und warm zugleich das Rückrad hinabrieseln ließ.

„Lou, langsam habe wirklich ich die Schnauze voll!“, knurrte dieser Jemand. Bei dem Klang der Stimme machte mein Herz einen ungewollten Hüpfer. Ich zuckte zusammen und betete, dass er es nicht war, auch wenn da dieser hoffnungsvolle Teil war, den ich zu ignorieren versuchte. Da die Stimme dann aber fluchte ließ mich stark annehmen, dass er es doch war und er mich gesehen hatte. Ich wandte mich um und sah zu ihm hoch. In seinen hellen, eisigen Augen lag Frustration, als er auf mich runter sah. Merkwürdig getroffen und verärgert darüber biss ich die Zähne aufeinander, sah wieder zu Lou, die die Hände in die Hüften gestemmt hatte und ihn erbost anstarrte.

„Daith! Was tust du hier?“, fragte sie. Er verdrehte die Augen.

„Das frage ich dich“, antwortete er und blies sich eine Strähne aus den Augen, wohl weil seine Hände voll mit Tüten waren.

„Ich unterhalte mich mit dei…“ Sie stockte und ich runzelte die Stirn, fragte mich, was sie hatte sagen wollen. „… mit Kyra. Du hattest allerdings die Tüten ins Auto bringen sollen,  Brüderchen“, sagte sie dann mit weicherer Miene. Abermals verdrehte er die Augen, schien dann aber äußerst begeistert von der Idee zu sein, von mir wegzukommen und verschwand. Verdattert sah ich ihm hinterher.

„Er trägt dir die Tüten hinterher?“, fragte ich Lou ungläubig. Sie grinste.

„Es hat zwar ein paar Jahre gedauert, um ihn so zu trainieren, aber mittlerweile funktioniert es ganz gut.“ Sie zog für einen Moment die Brauen zusammen. „Abgesehen von ein paar Aussetzern ist es gut, einen kleinen Halbbruder zu haben.“

Bei dem „Halbbruder“ sah ich sie überrascht an, doch sie lachte nur hell und wandte sich zu Dacia um. Sanft nahm sie ihr das Kleid aus den Händen, wirbelte zu mir herum.

„Es würde dir hervorragend passen.“, wechselte sie das Thema und fand sogleich Unterstützung in einem kräftigen Nicken von Dacia. „Los, los! Probier es mal an!“ Sie drückte es mir in die Arme und schob mich auf eine der Umkleiden zu. Ich hörte, wie sie etwas murmelte, was danach klang, dass sie Dacia ebenfalls etwas aussuchen wollte und wieder kehrt machte, ehe Dacia die Tür hinter mir schloss und leise kicherte.

„Sie ist die Halbschwester von Daith!“, lachte sie und ich vernahm, wie sie sich von außen gegen die Tür lehnte. „Das ist eigentlich unmöglich! Ich meine, verschiedener könnten sie nicht sein.“

Ich musste ebenfalls kurz lachen, da ich ihr recht gab.

Ein paar Minuten später, nachdem ich mich irgendwie in das Kleid hineinbekommen hatte – nicht dass es zu klein war, es passte wie angegossen, allerdings hatte ich keine Ahnung von Kleidern – trat ich nach draußen. Dacia hatte von Louana ein niedliches Kleid aus braun-grüner Seide, die im Licht rot schimmerte, aufgeschwatzt bekommen.

„Das musst du nehmen!“, wiederholte Dacia ihre Worte von vorhin. Ich runzelte die Stirn.

„Aber es ist so teuer!“, beschwerte ich mich, drehte mich einmal im Kreis. Hinter mir schleppte der Stoff ein wenig hinter mir her, wirbelte in den schillernden Farben eines Flusses auf. Ich musste sagen, das Kleid gefiel mir und ich würde es ganz sicher tragen. Aber der Preis ließ wirklich anmuten. Dacia schürzte die Lippen, Louana legte den Kopf schief, musterte mich.

„Wie viel davon könntest du bezahlen?“, fragte sie nach einer Weile. Ich sah noch einmal auf das Preisschild.

„Etwa die Hälfte. Vielleicht könnte ich noch ein wenig zusammenkratzen, aber das würde noch lange nicht reichen.“, sagte ich. Lou trat an mich heran, sah ebenfalls auf das Schild, verzog nachdenklich das Gesicht.

„Ich denke, das Restliche kann ich dir geben. So was darf nicht verschwendet werden.“ Sie ging um mich herum. „Es passt wirklich wie angegossen und es passt perfekt zu dir. Wofür soll es denn sein?“

„Den Winterball.“, kam Dacia mir zuvor. Louana sah mich überrascht an.

„Du gehst dort hin?“ Sie kicherte. „Das hätte ich nicht erwartet. Mit wem? Sicher hast du doch eine Begleitung, oder?“

Ich verschwieg ihr, dass ich tatsächlich nicht vorgehabt hätte, dorthin zu gehen, aber dieses Kleid war zu schön. Allerdings gab ich zu, dass ich keine Begleitung hatte. Dacia und Louana sogen die Luft ein.

„Dann müssen wir jemanden finden. Unbedingt!“, nickte sie, kramte in ihrer Tasche. „Also schön, ich gebe dir die Hälfte“, sagte sie lächelnd. „Allerdings müsst ihr dann mit mir und Daith noch etwas essen gehen.“

Ich stöhnte und ließ den Kopf in den Nacken fallen. Bloß nicht!

Louana lachte. „Ja, ich weiß, er kann manchmal ein wenig … anstrengend und … einschüchternd sein. Aber trotzdem weiß er sich zu benehmen. Und wenn nicht wird er es spätestens morgen früh bereuen.“

Ich verzog misstrauisch das Gesicht, doch ehe ich etwas sagen konnte stimmte Dacia schon begeistert zu. Ich schnalzte missbilligend mit der Zunge, doch das schien sie nicht zu interessieren. Seufzend folgte ich ihnen zur Kasse, wo ich mich noch einmal neugierig umdrehte und zu der Abteilung für Männerhemden hinüber sah. Der Junge war verschwunden.

Als Dacia und ich mit Lou nach draußen traten empfing uns kühler Wind und Dunkelheit. Der Winter kroch uns in Ärmel und Hosenbeine. Mittlerweile war es dunkel und die Stadtlichter wurden von den dichten Wolken, die noch immer schwer über New Yorks Dächern hingen, reflektiert. Schnee begrub grauen Asphalt unter einer weißen Decke, bestäubte die Autos.

Unsicher sah ich die Straße hinab, die in düstere Nacht gehüllt wurde. Nur weiter entfernt flackerte eine Straßenlaterne. Ein mulmiges Gefühl stieg in mir hoch, nistete sich in meinem Nacken fest. Plötzlich schienen in jeder Ecke, in jedem Schatten tausende glimmende Augenpaare zu lauern, uns zu beobachten. Ein erstickter Schrei entfloh mir, als sich eine hochgewachsene Gestalt aus den Schatten löste und auf uns zukam. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben blieb er vor uns stehen und ich senkte den Blick, als ich Daith erkannte. Schneeflocken hatten sich in seinem dunklen Haar, seinen Wimpern und Brauen verhangen und bildeten einen scharfen Kontrast. Ich biss mir auf die Unterlippe, sah zu Boden. Seine Stiefel versanken ebenso knöcheltief im Schnee wie meine.

„Daith!“, rief Louana erleichtert und ich spürte, wie sein kühler Blick von mir zu ihr huschte. „Wie kannst du es wagen, uns so zu erschrecken!“

Ich hörte, wie er abfällig schnaubte. „Wer würde sich denn an einer Hexe vergreifen wollen, die nicht die geringsten Skrupel hätte, mit Messern nach jemandem zu werfen?“, sagte er und ich biss abermals die Kiefer aufeinander. Es war ein Kissen! Ein harmloses Kissen!, wollte ich verärgert entgegnen. Und du hattest es verdient! Aber ich ließ es.

„Daith…“, raunte Lou beinahe schon drohend. „Ich habe den beiden versprochen, dass du dich benimmst. Also sei freundlicher.“ Sein bellendes Lachen hallte von den Hausmauern um uns wider. „Freundlich! Zu wem? Zu ihr?“ Sein Finger zeigte in meine Richtung. „Sie hat es wenig verdient. Zu ihr?“ Er sah zu Dacia. „Ich kenne sie nicht. Also kann ich es nicht beurteilen.“

Nun hob ich doch wieder den Kopf, funkelte gereizt zu ihm hinauf. Und begegnete seinem schmalen Blick. Er war wütend. Er war stinkwütend. Die Erkenntnis ließ mich einen Millimeter zurückweichen. Auf mich?

Neben mir schüttelte Louana seufzend den Kopf. Dacia legte den Kopf schief, musterte Daith, als wäre er ein interessantes Chemie-Experiment. Ich wollte ihr gerade sagen, sie solle es lieber lassen, als sein Kopf schon in ihre Richtung ruckte.

„Was ist? Irgendwann genug gegafft?“, zischte er. Doch anstatt dass es irgendeinen einschüchternden Einfluss auf Dacia hatte, lächelte sie, streckte ihm die Hand entgegen.

„Ich bin Dacia Summers. Nett, dass du mich auch einmal neben Kyra bemerkst.“, sagte sie freundlich. Ich starrte sie perplex an. Auch Daith schien für einen Moment verblüfft, ehe er sich brüsk abwandte. Dacias Hand sank wieder.

Louana lachte auf, legte einen Arm um Dacias schmale Schultern.

„Wir können doch ins Four Seansons gehen.“, schlug Dacia kurz darauf vor. Lou und ich sahen sie erstaunt an. Das Four Seasons? Das war ein edles Restaurant ,und vor allem das beliebteste New Yorks, auf der 99 East 52nd Street. Das Design in seinem Inneren änderte sich je nach Jahreszeit. Viele Berühmtheiten aßen dort. So wie John F. Kennedy, der dort einmal seinen Geburtstag gefeiert hatte.

Dacias Augen funkelten begeistert und ich schluckte trocken. Das war doch wirklich zu viel auf einmal. Das Kleid, jetzt dieses Restaurant. „Ich wollte schon immer mal dort hin.“, sagte sie. Lou lächelte.

„Was für ein Zufall, dass Daith und ich sowieso dorthin müssen. Sicher, lasst uns gehen. Daith, du bezahlst. Du weißt, es ist mein letzter Tag hier, bevor ich nach Moskau fliege, und ich will nicht für dich bezahlen. Da kann ich nämlich gleich eine ganze Armee füttern.“ Mit einem letzten neckischen Zwinkern über ihre Schulter hinweg ging sie mit Dacia die Straße runter, verschwand in einem dunklen BMW. Verdattert sah ich ihr hinterher. Was ist nur mit diesen Leuten?, dachte ich. Sie wohnten in der teuersten Wohnung New Yorks, konnten sich dieses schrecklich teure Restaurant leisten, bezahlten mir Kleider, flogen nach Moskau… Ich sinnierte für einen Moment weiter darüber nach, ehe ich mir bewusst wurde, dass ich schon wieder mit Daith in einem Wagen festsitzen würde, nun da Lou mit Dacia abgehauen war und der Mistkerl noch hinter mir stand. Will er ihnen nicht folgen? Unsicher wandte ich mich zu ihm um, prallte gegen seine Brust. Irritiert sah ich zu ihm hoch, versuchte, seinen warmen, herben Duft zu ignorieren und wollte gerade vor ihm zurückweichen, als er mich am Arm packte, mich hinter sich her, auf die andere Straßenseite zerrte. Der wievielte blaue Fleck an meinem Oberarm ist das jetzt? Seine Hand war so kräftig und groß.

„Bist du der Meinung, ich würde meinen Arm nicht mehr brauchen, oder warum zerrst du so?“, wollte ich trocken wissen. Er beachtete mich gar nicht, starrte stur in die Nacht. Ich fragte mich, ob er sich nicht vorstellen konnte, dass das wehtat oder ob er körperlich einfach nicht in der Lage war, nett zu sein. Vielleicht würde er eines Tages die Güte haben, mir meinen Arm zurückzugeben. „Was denn? Sind wir jetzt auch noch stumm?“, fragte ich gereizt. Er zerrte nur noch stärker, beugte sich ein paar wenige Zentimeter zu mir hinab.

„Sei einfach mal still, damit wir das hier schnellstmöglich hinter uns bringen können.“, raunte er.

Merkwürdig getroffen versuchte ich, ihm meinen Arm zu entwinden, doch er packte noch fester. Langsam spürte ich mein Blut nicht mehr. Allerdings hatte ich nicht vor, ihm die Genugtuung zu bereiten, in irgendeiner Weise um Gnade zu winseln.

„Wo steht dein Wagen?“, fragte er.

Ich hob meinen freien – noch lebendigen – Arm, in der ich meine Tüte und Handtasche trug, wies auf meinen silbernen Hyundai. Endlich kamen wir dort an und mein Herz machte einen kleinen, holprigen Satz, als er mich losließ. Ich wusste selbst nicht, ob vor Erleichterung, ihn endlich los zu sein, oder vor Unglück, die Nähe zu ihm verloren zu haben. Ich biss die Kiefer aufeinander, rieb mir den schmerzenden Oberarm, als ich seine ausgestreckte Hand bemerkte. Verwirrt sah ich ihn an.

„Die Schlüssel, Rotkäppchen.“, forderte er. Ich blinzelte immer noch intelligent verstört. Was wollte er mit meinen Schlüsseln?

„Nenn mich nicht so.“, sagte ich, doch ich bemerkte selbst, dass es nicht sehr dringend klang, während ich mich krampfhaft selbst davor zu bewahren versuchte, in seinen glimmenden eisblauen Augen zu ertrinken. Er legte den Kopf schief, verzog spöttisch den Mund. Eine Geste, die mich zurück in die Realität brachte.

„Schön, Hexe. Ich nenne dich nicht mehr so. Heute nicht mehr. Jetzt gib mir die Schlüssel, ich fahre.“

Wie bitte? Zornig funkelte ich ihn an. „Wieso glaubst, sollte ich dir die Schlüssel geben? Das ist mein Wagen!“ „Ja, aber dein Fahrstil ist scheußlich, also rück sie schon raus!“

„Oh, verzeih mir bitte, dass ich dich so schnell wie möglich nach Hause bringen wollte, nachdem du Mr Lorman auf die Schuhe gekotzt hast! Das nächste Mal lasse ich dich krepieren, ich werde dran denken. Versprochen.“, entgegnete ich bissig. Für einige Atemzüge sah er mich nur stumm an. Stumm und nichtssagend. Und trotzdem mit einer Intensität … die ich mir hoffentlich einbildete. Ich schüttelte den Kopf, blinzelte und sie war verschwunden. Als Daith wieder sprach klang seine Stimme versöhnlicher. Sie war zu dunklem, schmeichelndem Samt geworden, als er teils spöttisch, teil vertrauensvoll den Kopf senkte.

„Nun gib sie schon her, Hexe, und lass mich fahren. Sonst reiße ich noch die Tür auf und dann haben wir ein noch größeres Desaster. Wenn du brav bist darfst du auch alleine nach Hause fahren und länger aufbleiben.“

„Arschloch“, murmelte ich, ließ die Schlüssel aber in seine Hand fallen. Der Klügere gab bekanntlich nach und langsam wurde es mir zu blöd, mich hier draußen in der Kälte mit ihm zu streiten, während Lou und Dacia vermutlich schon auf uns warteten.

Daith warf mir einen verblüfften Blick zu, als ich auf die Beifahrerseite ging, nickte dann aber zufrieden.

Ich ließ mich auf meinen Sitz fallen, beobachtete, wie er den Fahrersitz um einiges zurücksetzte, damit seine langen Beine im Fußraum Platz fanden. Als hätte er nie etwas anderes getan justierten er den Rückspiegel, drehte den Schlüssel im Zündschloss und trat das Gaspedal durch – alles auf einmal. Erstaunt verfolgte ich, wie er gewandt aus der Parklücke aussetzte, den Wagen auf die immer noch dicht befahrene 5th Avenue lenkte. Noch nie hatte ich ein männliches Wesen gesehen, das multitasking-fähig gewesen war.

Doch meine Bewunderung wich schlagartig Übelkeit, als er auf die Hauptstraße bog, sich in den Verkehr einfädelte und dabei meinen armen Wagen zu Höchstleistungen trieb, dass er ächzte. Erst stellt er hier alles um und jetzt… Geschockt klammerte ich mich an meinen Sitz, als er eine Kurve in mörderischem Tempo nahm.

„Zur Hölle mit dir, Warden!“, rief ich. „Was soll das?“

Neben mir lachte er leise und spöttisch, doch er antwortete nicht, bog nur auf die 99 East 52nd Street ein, ein wenig langsamer vielleicht diesmal. Dennoch quietschten die Reifen, als er vor dem Eingang des Four Seasons hielt. Auf wackeligen Beinen zog ich mich auf die Füße, aus dem Auto und bemerkte den schwarzen BMW. Lou und Dacia waren also trotz unserem Affentempo vor uns hier gewesen. Kopfschüttelnd sah ich zu Daith, der mit seiner nachlässigen, geschmeidigen Eleganz ausstieg und sicheren Schrittes auf die zweiflüglige Glastür zuging, hinter der warmes Licht auf den Bürgersteig und die Straße fiel. Mir fiel das Schild am Eingang auf.

„Es ist sonntags geschlossen?“, fragte ich. Daith vor mir zuckte die Schultern.

„Der Geschäftsführer feiert seinen fünfzigsten Geburtstag.“, erklärte er.

„Und wir kommen da rein?“

Über die Schulter hinweg warf er mir einen Blick zu, musterte mich von oben bis unten. „Du wahrscheinlich nicht“, sagte er schließlich trocken, ehe er sich wieder umdrehte, die Stufen zum Eingang hoch ging und einen Flügel öffnete. Ich biss die Zähne zusammen. Auf einmal hatte ich große Lust, ihm wieder ein Kissen hinterher zu schmeißen. Oder tatsächlich ein Messer. Doch ich folgte ihm, betrat das Gebäude.

Drinnen empfing uns Wärme und das Lächeln eines Kellners.

„Mr Warden!“, rief er und warf mir einen kurzen Blick und ein beinahe schon mitleidiges Lächeln zu, legte den Kopf schief. „Wie schön, sie wieder zu sehen. Ein Tisch für zwei?“

„Nein, danke …“

Den Rest von Daiths Antwort bekam ich nicht mehr mit. Ich war zu sehr damit beschäftigt, die riesige elegante Eingangshalle zu bewundern, bis mir meine Jacke abgenommen wurde. Ich war froh, heute eine einfache grüne Bluse über einem weißem T-Shirt und weiße Jeans angezogen zu haben, sodass ich mir nicht allzu sehr fehl am Platz vorkam, da es hier einen Dress Code gab, der Frauen und Männern formelle Kleidung vorschrieb. Daith hatte an der Garderobe ein Jackett bekommen, das er offen über seinem schwarzen T-Shirt trug, als man uns nach links in der Pool Room führte und ich blieb auf der obersten der Stufen stehen, die in den Raum hinunter führten, sah mich um. Wie der Name Pool Room sagte, war in der Mitte des Raumes ein riesiges quadratisches Wasserbecken. An jeder der vier Ecken standen Tannen in runden, weiten Töpfen. Der gesamte Raum war in feierliches warmes Licht getaucht. Von einer weiten Panaromafensterfront hangen leichte Vorhänge. Die Wände waren dunkel vertäfelt, die hohe Decke reflektierte die Lichter. Überall im Raum standen Vierertische verteilt, gedeckt mit hellen Tischdecken und Silberbesteck, an denen gegessen wurde.

Wenn Mom das sehen könnte…, dachte ich, als ich Dacia und Lou an einem entdeckte. Doch zu meiner Überraschung führte Daith mich nicht zu ihnen, als er mich am Arm fasste, sondern wandte sich nach links, hielt auf das andere Ende des Raumes zu. Abermals stieg ein mulmiges Gefühl in mir auf, doch das verblasste, als ich bemerkte, dass er es auf einen Tisch, an dem eine Frau mit schwarzem Haar saß, abgesehen hatte. Ihre Haare schimmerten in dem sanften Licht wie Rabenflügel in allen Regenbogenfarben und waren in einer komplizierten Frisur aufgesteckt, jedoch so dass noch einige Strähnen ihr schmales, blasses Gesicht umrahmten. Mit auquamarinhellen großen Augen sah sie uns entgegen und ich erkannte die Frau aus dem Apartment im Fifteen, auf die ich einen kurzen Blick hatte erhaschen können. Vielleicht war sie Daiths Mutter? Es würde Sinn machen.

Neben ihr saß ein großgewachsener, dunkelhaariger Mann, in dessen markanten Zügen und den tiefschwarzen Augen, die die exotisch schmale Form von Katzenaugen hatten, etwas Vertrautes lag. Sein Vater?

Neugierig musterte ich die beiden. Mir fiel auf, wie jung sie waren. Nicht älter als vierzig.

Daith blieb an ihrem Tisch stehen, legte den Kopf schief. Ich blieb hinter ihm.

„Hier bin ich“, sagte er nur, breitete kurz die Arme aus, ließ sie wieder fallen. „Wie ihr es wolltet.“

Der Mann hob eine Braue, sein Blick huschte für einige Atemzüge zwischen Daith und mir hin und her, ehe sein Besteck zur Seite legte und sich über den Tisch beugte, mich musterte. In seinen dunklen Augen lag etwas raubtierartiges, das mich einen Schritt zurückweichen ließ.

„Das ist Kyra Downey“, erklärte Daith mit gelangweilter Nachlässigkeit. „Sie ist … spielt Medea. Lou hat sie mitgeschleppt.“

Nun rutschten die Brauen der Frau in die Höhe, sie lächelte. „Kyra! Ich hab von dir gehört.“ Ihr Blick huschte zu Daith und ich konnte mir schon denken, was sie gehört hatte. Ich biss mir auf die Unterlippe, nickte vage, als sie mir ihre schlanke Hand entgegenhielt. „Ich bin Audra, Daiths Mutter. Und das ist“ Sie wies zu dem dunklen Mann. „Dimitrij, mein Mann.“

Ich nickte steif, nahm die Hand an und warf ihrem Mann einen kurzen Blick zu. Er musterte mich mit seinen unlesbar dunklen Augen und machte keine Anstalten, mich zu begrüßen. Zum einen war es mir recht, zum anderen unangenehm. Diese Eigenschaft, mich so widersprüchlich fühlen zu lassen hatte Daith dann wohl von seinem Vater geerbt.

Er wandte sich an Daith.

„Warum bist du mit ihr hier? Und nicht mit deiner Freundin? Wie hieß sie? Amelia?“ In seiner spöttischen, tiefen Stimme war ein feiner russischer Akzent zu hören.

Daiths Brauen zogen sich unwillig zusammen. „Sie ist nicht…“

„Hat sie oder hast du Schluss gemacht?“, wollte Dimitrij mit einem maliziösen Lächeln wissen. Ich sah die Röte in Daiths Gesicht steigen und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, selbst wenn sich bei dem Gedanken an Amelia, wie sie sich an Daith schmiegte, etwas stichartig zwischen meine Rippen bohrte.

„Nein, Dad. Ich meine, ich bin nicht mit ihr…“ Daith stockte. Sein Blick huschte durch den Saal, er schien um Fassung bemüht.

„Du bist nicht…?“, hakte Audra nach und ich sah das vergnügte Glimmen sowohl in ihren als auch in Dimitrijs Augen. Es machte ihnen Spaß, ihren Sohn derart zu reizen. Ein Kichern entwich mir und handelte mir einen genervten Blick von Daith ein. Er ballte sein Fäuste, spannte die Schultern.

„Ich bin mit überhaupt niemandem zusammen. War es auch nie.“, sagte er schließlich durch zusammengebissene Zähne. Ich spürte, wie das Lächeln auf meinem Gesicht schwand und etwas, dem Erleichterung wohl am nächsten kam, wich. Allerdings quietschte ich erschrocken auf, als sich Daiths Hand ein weiteres Mal um meinen Oberarm schloss.

„Daith…“, sagte Audra warnend. Er ignorierte sie, winkte nur über die Schulter, als er mich wieder hinter sich her zerrte.

„Wir wollen Lou und … wie auch immer das andere Mädchen heißt, nicht länger warten lassen.“ Ein Ruck zog mich näher an ihn heran. Ich strauchelte. „Nicht wahr, Schatz.“

Mein Herz machte einen stolpernden Satz, als ich merkwürdig benommen zu ihm hochsah und das spöttische Lächeln sah. Abermals von seiner Gleichgültigkeit getroffen biss ich mir auf die Unterlippe. Welcher Gott hat mich dazu verflucht, mich in ihn zu verlieben?, dachte ich verzweifelt, während ich versuchte, meinen Arm aus Daiths Griff zu winden. Auf einmal wollte ich nur noch weg von ihm.

Er schenkte mir keine Beachtung, führte  mich nur stumm um das riesige Becken herum, auf die andere Seite des Saals, zu dem Tisch, an dem Lou und Dacia saßen und uns halb stirnrunzelnd, halb lächelnd entgegensahen.

„Lass los, du Mistkerl! Ich kann alleine laufen.“, zischte ich. Aus seinem Augenwinkel traf mich ein kühler Blick, ehe er tatsächlich so abrupt von mir abließ, als hätte er sich verbrannt. Verärgert funkelte ich zu ihm hinauf, doch er starrte nur stur geradeaus, seine Kiefer mahlten.

Am Tisch schnalzte Lou missbilligend mit der Zunge und sah ihren Bruder tadelnd an. „Hast du eigentlich schon einmal etwas davon gehört, wie man eine Frau behandelt, du Grobian?“, rief sie empört. Ich war ihr dankbar für den kleinen Beistand, doch Daith schien auch der Ärger seiner Schwester nicht zu interessieren. Er wandte sich mit einem gemurmeltem „Was auch immer“ ab und winkte einen Kellner heran.

„Ja?“ Sein freundlich lächelnder Blick glitt über uns, blieb an Lou hängen. „Die Damen zuerst?“

Ich vernahm, wie Daith leise schnaubte, doch Lou lächelte zu ihm auf.

„Ich nehme die Gänseleberpastete als Vorspeise. Dacia“ Sie wies auf meine kleine Freundin, die glücklich grinste wie ein Honigkuchenpferd. Vermutlich war sie ganz hingerissen von Tatsache, dass ein gutaussehender, junger Kellner sie in einem verdammt teuren, angesagten und edlen Restaurant bediente. Ich dagegen empfand es als unangenehm, ja beinahe schon erdrückend. „Ist Vegetarierin. Sie nimmt einen Spinatsalat.“, beendete Lou ihren Satz und ich sah sie erstaunt an. Eine Stunde und sie wusste von Dacia, dass sie Vegetarierin war. Hatte Dacia auch über mich …? Nein, Schwachsinn. Und selbst wenn, es gab nichts, von dem Dacia, dass Lou nicht schon wusste oder nicht wissen sollte.

„Und Sie?“ Ich schrak aus meinen Gedanken auf, mein Blick fand den des Kellners. Er hob fragend die Brauen. „Was wollen sie bestellen? Oder wollen Sie die Vorspeise auslassen?“

Hastig schüttelte ich den Kopf und schnappte mir die Menükarte, versuchte, mich darin zu Recht zu finden.

„Ich …“, setzte ich an, runzelte dann aber irritiert die Stirn. Von all dem, was hier stand, klang nichts essbar.

„Einen Caesar Salad“, unterbrach Daith mich und kam mir so zur Hilfe. – Dachte ich, bis ich seine spöttisch gehobene Braue sah. „Sie nimmt einen Caesar Salad“, wiederholte er, ohne den hellblauen Blick von mir zu lösen.

„Wie bitte?“, fragte ich verärgert und legte den Kopf schief. Unsere Blicke trafen sich und ein Teil des Ärgers verrauchte, als ich sah, wie sein Blick nach außen gekehrt war. Das war nichts Egoistisches. Leider gab ihm das nicht Recht, für mich Entscheidungen zu treffen.

Er antwortete nicht, musterte mich nur forschend, während er ruhig, an den Kellner gewandt, weiter sprach: „Für mich eine Hühnersuppe. Und beeilen Sie sich.“, sagte er. Als der Kellner nicht schnell genug reagiert schickte er tatsächlich ein „Bitte“ hinterher.

Ich schluckte, zwang mich, meine Augen aus den so merkwürdig exotischen und doch stillen von ihm zu lösen und versuchte die Erinnerung an den Vormittag im Fifteen zu verdrängen.

Der Kellner notierte noch immer, fragte uns höflich nach Hauptspeisen und Getränke, bevor er endlich verschwand.

Angespanntes Schweigen hing schließlich zwischen uns, in dem Louana neugierig zwischen Daith und mir hin und her sah, während ich es mied, ihn anzusehen. Dacia schien auf einmal fasziniert von der Speisekarte, die sie eingehend studierte. Gelegentlich spürte ich Daiths kühlen Blick auf mir, als ich mich in dem riesigen Saal ein weiteres Mal umsah, während ich versuchte, sowohl ihn als auch mein pochendes Herz zu ignorieren.

Irgendwann ließ Dacia ihre Karte unvermittelt fallen. Die lederumspannte Kladde landete mit einem lauten Klatschen auf dem Tisch. Überrascht wandte ich mich zu ihr um. Sie strahlte in die Runde und sah zu Daith, der in milder Verachtung eine Braue hob. Ich warf ihm einen gereizten Blick zu. Auch wenn es normal und natürlich für ihn war, störte es mich.

„Daith! Mir ist gerade eingefallen, Kyra und ich wissen gar nichts über dich. Ich meine, du bist der Basketball-Captain, jeder an der Schule kennt dich, aber keiner weiß etwas über dich. Lieblingsfarbe. Musik. Wo kommst du noch mal her?“, fragte sie, wohl in dem kläglichen Versuch, eine Unterhaltung herzustellen.

Ich schüttelte seufzend den Kopf und fragte mich, wie man einfach so mit der Tür ins Haus fallen konnte, während ein Teil von mir dennoch darauf brannte, mehr über den unnahbaren Mistkerl zu erfahren.

Doch Daith hob nur beide Brauen, betrachtete Dacia für einen Moment erstaunt, ehe er sich – wie ich es hätte erwarten sollen – mit einem beinahe unmenschlichen Knurren abwandte. Enttäuscht entwich mir die Luft, die ich unbemerkt angehalten hatte.

„Nenne mir zwanzig Gründe, wieso ich dir oder irgendjemandem all so was über mich erzählen sollte.“, sagte er. Seine Stimme klang müde und gelangweilt, fast schon ein wenig monoton, als würde er einen auswendig gelernten Satz vortragen. Verwirrt und perplex sah Dacia von ihm zu Lou, die abermals tadelnd mit der Zunge schnalzte.

„Daith, ich hab den beiden versprochen, dass du dich benimmst. Du bist so unmöglich unhöflich!“, rief sie empört. Als Antwort huschte sein Blick zur für einen Atemzug zu ihr. Er stützte in einer gleichgültigen Geste das Kinn in seiner Hand. Um seinen Mund zuckte wieder einmal jenes zynische Lächeln.

Noch für einige weitere Augenblicke hangen Dacias Versuch einer Konversation und Daiths Erfolg, sie abzuwürgen, in der Luft, ehe sie durch unser Schweigen erstickt wurden und das Essen kam. Stumm stocherte ich in meinem Salat herum und verfolgte hinter einem Vorhang von roten Locken um mein Gesicht, wie Daith ausnahmsweise still und friedlich seine Hühnersuppe löffelte. Dacia aß glücklich ihren Salat, ebenso wie Lou ihre Pastete. Seufzend pickte ich einen Hühnerbruststreifen auf, führte ihn zum Mund. Doch kurz, bevor ich abbeißen konnte, ließ ich es auf den Teller zurückfallen. Ich hatte weder Appetit noch besonderen Hunger. Ich hob nur wieder und wieder ein Salatblatt hoch, beobachtete, wie es sich wieder zu den anderen gesellte, hob es wieder hoch. Wieder und wieder.

Ich spürte Lous Blick, doch nur einmal fragte sie mich, ob alles in Ordnung sei. Ich winkte ab und legte meine Gabel beiseite.

Der Rest des Essens verlief still und unangenehm. Nicht nur Dacia und ich rutschten nervös auf unseren Stühlen herum, als der Hauptgang kam. Aber worüber hatten wir auch reden sollen?

Nur Daith schien unbeeindruckt von der Stimmung und lehnte sich nach seinem Steak zufrieden in seinem Stuhl zurück. Ich hatte das Gefühl, dass er die Stille genoss, als wäre sie Musik oder dergleichen, und geradezu aufsog. Verständnislos sah ich ihn an, meinen Crabmeatcake, den ich aus Neugier bestellt hatte, noch weitestgehend unberührt.

Belustigt sah er zurück, deutete auf meinem Teller. Kurz presste ich die Lippen aufeinander, dann schob ich ihn ihm mit spitzen Fingern zu, etwa so vorsichtig, als würde man einem Raubtier ein Stück Fleisch zuschieben. Anscheinend immer noch hungrig nahm er ihn mir ebenso vorsichtig ab, zog ihn zu sich heran und machte sich mit einem letzten Blick auf mich auch darüber her. Lou, die missbilligend von ihren Schweinemedaillons aufsah, ignorierte er.

Ich musste schmunzeln, als ich an Louanas Worte denken musste. „Da kann ich gleich eine ganze Armee füttern“. Ein Glück für sie, dass Daith bezahlte.

„Also, wie kommt ihr mit eurem Text voran?“, fragte Dacia irgendwann. Ich zuckte zusammen und erinnerte mich daran, dass der Vorfall erst einen Tag her war.

Daith sah mit unlesbarem Blick auf, ohne sein Kauen zu unterbrechen. „Wenn sie mich nicht geschlagen hätte, wären wir vielleicht schon weiter“, sagte er zwischen zwei Bissen und lachte.

Verdutzt sahen Lou, Dacia und ich ihn an, ehe Lou besorgt die Hand an seine Stirn legte. „Geht es dir gut?“

Sein Lachen verstummte, seine Miene wurde starr und stur wie eh und je. „Natürlich“, sagte er schroff und schlug ihre Hand beiseite. Auf seiner Stirn erschien eine steile, unwillige Falte. Ich verdrehte die Augen. Lou seufzte und schüttelte den Kopf.

„Ist schon gut, Kyra. Ich bin es ja gewohnt.“

Mit einem Mal wirkte sie müde und traurig. Aus ihren goldenen Augen streifte sie ihren Bruder mit einem fast mitleidigen Blick und ich hätte schwören können, dass sie unter dem Tisch kurz seine Hand drückte. Er schüttelte sie ab, schnaubte genervt.

Ich presste abermals die Lippen aufeinander, musterte die beiden. Was war es, das sie teilten? Etwas, das niemand wusste. Etwas, das niemand wissen sollte. Was?

Neben mir zuckte Dacia abrupt zusammen, quietschte erschrocken auf.

„Alles in Ordnung?“, fragte ich. Für einen Wimpernschlag antwortete sie nicht, ehe Röte ihren schlanken Hals hinauf kroch und sie beschämt in die Runde sah.

„Mein Handy. Entschuldigt“, piepste sie und stand auf. Ihr Stuhl schabte über die Fliesen, als sie kurz zwischen den Tischen auf die Toiletten zuging, das Handy bereits am Ohr. Kurz sah ich ihr hinterher und wünschte mir, ebenso fliehen zu können, bevor ich mich wieder Daith, den mittlerweile zwei leeren Tellern und Lou zuwandte. Diese beugte sich nun quer über den Tisch.

„Also, was ist das noch mal für ein Stück, das ihr probt?“, wollte sie neugierig wissen und ignorierte Daiths warnenden Blick, der sowohl ihr als auch mir galt. Ich nahm an, dass er niemandem erzählt hatte, was gestern passiert war. Und dass niemand wusste, worum es ging.

„Medea“, antwortete ich mit einem süßlichen Lächeln an Daith. Seine Augen weiteten sich für einen Moment ungläubig. Was? Hatte er gedacht, ich tanze tatsächlich nach seiner Pfeife? Er hätte mich inzwischen besser kennen müssen.

„Medea?“, fragte Lou nachdenklich nach. „Das kommt mir bekannt vor – worum ging es noch mal?“

„Um die bekannteste Kindesmörderin der Antike“, erklärte ich mit sachlichem Tonfall und beobachtete amüsiert, wie Daith tiefer in seinen Stuhl rutschte. „Sie wird von ihrem Ehemann Jason betrogen, woraufhin sie aus Rache seine neue Frau und ihre eigenen Kinder, die sie mit Jason hat, umbringt.“

Sie nickte. „Richtig! Ich glaube, ich habe schon einmal ein Theaterstück über sie gesehen“, sagte sie. In ihren Augen trat ein verschwörerisches Funkeln. „Und welche wichtige Rolle spielt mein kleines Brüderchen?“

Mir entschlüpfte ein gehässiges Kichern, ich beugte mich ebenfalls vor. „Jason“, flüsterte ich, als wäre es ein vertrauliches Geheimnis, doch so laut, dass Daith es mitbekam. Er stöhnte gequält auf. Lou sah mich nur kurz ungläubig an, dann brach sie in schallendes Lachen aus, das ihren Kopf nach hinten warf. Ihr dunkelblondes Haar fiel ihr den Rücken hinunter. Einige Gäste sahen sich nach uns um.

„Ich bezweifle, dass er sich die Rolle freiwillig ausgesucht hat, oder?“

„Nein, Mrs Jekens hat ihm die Rolle verpasst, weil er zu spät war, Kulissenbilder umgeschmissen hat und dann noch eine unwichtige Rolle verlangt hatte“, schilderte ich den Hergang vom vorgestrigen Tag.

„Och, Daith!“, sagte sie, doch es klang nicht vorwurfsvoll. „Und? Und was ist mit dir?“

Ich seufzte und biss mir mal wieder auf die Unterlippe. Eine weitere Marotte von mir, die ich ablegen sollte. „Medea“, murmelte ich.“

„Oh“, entwich es ihr. „Das heißt … das ihr beide … Auf der der Bühne …“ Sie verzog ihr Gesicht, als ihr Blick unsicher zwischen Daith und mir hin und her huschte. „Ihr spielt ein Liebespaar?“, prustete sie los.

„Natürlich!“, sagte ich mit einem gehässigen Grinsen in Daiths Richtung und sah, wie seine Brauen sich unheilvoll zusammenzogen. Doch das war mir egal. Ich war viel zu sehr von der Aussicht begeistert, ihn zu provozieren, dass ich weder aufhören konnte noch wollte. „Und es macht sogar Spaß“, fuhr ich im Plauderton fort und handelte mir einen verwirrt-zornigen Blick von Daith ein. Ich erwiderte ihn, hielt ihn fest, während ich mich um ein liebevolles Lächeln bemühte und gleichzeitig versuchte, mich nicht in seinen Augen zu verlieren, die so viel zu verbergen schienen. Wie zufällig streckte ich meine Hände aus, seinen gefährlich nahe. „Vor allem unsere Proben …“, hörte ich mich sagen und verstummte. Kopfschüttelnd strahlte ich Lou an und erhob mich. „Entschuldigt mich kurz.“ Eilig lief ich auf die Toiletten zu, in dem Versuch, weg von ihm zu kommen. Es gab Momente, in denen wollte ich mir nur noch seinen Geruch, sein Wesen, seine Blicke von der Haut waschen. Doch auf halbem Weg stieß ich mit Dacia zusammen, die vom Telefonieren zurückkehrte.

„Kyra!“, rief sie und schlang die Arme um mich. Sie sah mitgenommen aus. Ihre dunklen Augen war gerötet und feucht, ihr Make-up ein wenig verschmiert. Sie schniefte.

„Was ist passiert?“, fragte ich, sah mich um und schob sie dann in die Damentoilette zurück. Dort reichte ich ihr Klopapier, denn die teuren, weichen Frotteehandtücher wären wenig dafür geeignet gewesen, sich die Nase zu putzen.

„J-Jayden … Er … Er hat …“, schluchzte sie, schnäuzte in ihr Klopapier und brach in erneute Tränen aus.

„Was hat er?“, fragte ich sanft, nahm sie in den Arm. Dacia schniefte in meine Bluse und schluchzte herzzerreißend  und ich konnte mir schon denken, was er getan hat. „Schscht, ist doch gut“, flüsterte ich und strich ihr unbeholfen und hoffentlich beruhigend über den Rücken. Doch es half nichts.

„Dacia, hör zu. Bleib kurz hier. Ich hole unsere Sachen und dann fahren wir zu mir, okay?“, sagte ich. Sie löste sich von mir und nickte stumm, barg das Gesicht in ihren Händen. Seufzend ließ ich sie allein und verließ den Raum. Draußen brandeten mir die Stimmen der Gäste entgegen, übertönten Dacias Schluchzen und ich bemühte mich, mein schlechtes Gewissen niederzukämpfen, weil ich ihr die Fahrt nach Hause nicht nur aus uneigennützigen Gründen angeboten hatte. Ich holte tief Luft. Ich werde jetzt an den Tisch gehen, die Sache holen und wieder verschwinden, versprach ich mir. Und dann bring ich Jayden um.

Ich trat hinter der Wand, die die Türen der Toiletten vor den Gästen im Saal verbarg, hervor, als mich ein Arm um die Mitte packte, mich an eine harte Brust zerrte und gleich darauf gegen die Wand drückte. Vor Schreck schloss ich die Augen, zog den Kopf ein und versuchte irgendwie mich zu wehren. Doch ich konnte weder meine Arme noch meine Beine bewegen, als sich ein großer Körper an meinen presste, mich hielt, wo ich war.

„Halt still, Hexe!“, zischte eine allzu bekannte Stimme an meinem Ohr. Ich riss die Augen auf, starrte direkt auf Daiths Lippen, die sich zu einem herablassenden Lächeln verzogen. „Siehst du, geht doch. Wieso nicht immer so? Und nun lass uns unser dringendes Gespräch führen“, schnurrte er.

„Gespräch?“, brachte ich hervor. „Was soll das?!“ „Das frage ich dich.“ Seine Stimme war noch immer dunkel und schmeichelnd. Und doch irgendwie gefährlich und tödlich. Ein Schauder rann mir den Rücken hinunter. „Du solltest dich entscheiden – ob du mich willst oder nicht?“ Seine Lippen bewegten sich an meiner Schläfe, als er sich vorbeugte und sprach. Mir stockte der Atem.

„Wie bitte?!“, fiepte ich erschrocken.

„Dieses Spiel können auch zwei spielen. Ich höre dein Herz, Rotkäppchen. Bestimmt findest du es ganz toll, wenn ich dir so nah bin, nicht wahr?“ Er strich mir eine Strähne hinters Ohr, während sein Atem mich am Hals kitzelte. Hinter meinen Rippen raste mein Herz, ich starrte über seine Schulter hinweg. Daith lachte leise und der Laut vibrierte in seinem Brustkorb, ehe er von mir wegtrat. „Ganz genauso wie alle anderen.“

Meine Füße setzten wieder auf dem Boden auf, doch meine Knie waren weich und ich brauchte einige Augenblicke, um den Sinn seiner Worte zu verstehen.

„Alle anderen?!“, echote ich schließlich gereizt. „Wer denkst du, wer du bist? All die anderen?! Du bist … Du bist so ein Arschloch!“, schleuderte ich ihm wütend entgegen und merkte, wie ich bebte.

Er hob nur eine Braue, trat einen weiteren Schritt von mir weg. Ich schloss die Hände zu Fäusten und biss die Kiefer aufeinander, bis mir auffiel, dass ich nicht direkt auf ihn wütend war. Ich war auf mich wütend, dass ich ständig so auf ihn reagierte. Ich war auf mich wütend, dass ich dachte, er könnte mich für etwas Besonderes halten. Ich war wütend auf mich, dass ich nichts dagegen tun konnte. Abrupt wandte ich mich von ihm ab.

„Wir gehen“, teilte ich ihm mit. „Dacia und ich fahren nach Hause. Danke für den netten Abend.“

Er antwortete nicht und ich ging, versuchte die Stimme in mir zu ignorieren, die mich anschrie, zu ihm zurück zu rennen. Und insgeheim hoffte ich, er würde mich zurückrufen. Doch er tat es nicht – natürlich nicht. Er war Daith Warden.

Ein weiteres Mal atmete ich tief durch, strich mir meine Haare aus dem Gesicht und hätte mir am liebsten die Strähne ausgerissen, die er berührt hatte. Wie macht er das nur? Wie lässt er mich so … fühlen?

Ich schüttelte den Gedanken ab, trat zu Lou an den Tisch. Sie sah neugierig und auch irgendwie einsam zu mir auf und mir fiel ein, dass es ihr letzter Abend hier in New York war, bevor sie nach Moskau flog. Plötzlich hatte ich ein schlechtes Gewissen.

„Dacias Freund hat mit ihr Schluss gemacht“, erklärte ich ihr auf die Frage, was los sei. „Sie ist aufgewühlt und … Naja, ich wollte sie jetzt nach Hause fahren.“

Lou nickte verständnisvoll. „Natürlich. Ich verstehe. Geh mit ihr. Immerhin bist du ihre beste Freundin. Und sag ihr, es tut mir leid für sie“, sagte sie und lächelte. Ich presste die Lippen aufeinander, griff nach Dacias und meiner Tasche.

„Danke. Werde ich. Und danke für das wunderschöne Kleid. Tut mir leid, dass dein letzter Abend hier so merkwürdig verlief.“

Sie winkte ab. „Macht nichts. Ich werde ja wieder kommen und außerdem bin ich es von Daith gewöhnt, dass er sich so verhält. Dich trifft keine Schuld“, lachte sie. Ich versuchte mich in einem Lächeln, bedankte mich noch einmal und ging schließlich zu Dacia zurück. Ihr Gesicht war noch immer verschmiert, ebenso wie sie immer noch verzweifelt schluchzte. Ich legte den Arm um sie, führte sie hinaus, wo Daith immer noch stand und uns stumm hinterher sah. Ich ignorierte ihn. Versuchte es zumindest.

Dass ich dich besser riechen kann

In letzter Zeit träumte er schlecht.

Seltsam, dass er überhaupt träumte. Doch er erwachte immer wieder zu unmöglichen Stunden schwitzend und schreiend aus Erinnerungen, die er schon vor Jahren zu vergraben geglaubt hatte. Die Vollmondnächte waren die unerträglichsten.

Tagsüber war sein Verstand schwer, seine Sinne überspannt.

Schuldig!

Meine Schuld! – Wenn nicht meine, wessen dann?

Mommy …

Die Bilder waren da. Sie waren einfach da. Immer wieder. Drehten sich im Kreis, jagten ihn.

Er hielt sich den Kopf, sank zusammen, glitt an der Wand hinab.

Er wagte es nicht, einen weiteren Blick in Richtung seines Bettes zu werfen. Die Albträume …  sie würden zurückkehren.

Angst … Meine Schuld!

Was habe ich getan?!

Mondlicht fiel durch die Fenster. Hell und warm. Er verlor sich in dem sanften Silber.

Ihre Augen waren von der gleichen Farbe gewesen. Glitzernd und glimmend. Zuletzt nur noch stumpf und blind. Voller Anklage.

Er wusste nicht, wie lange er dort saß, zusammengekauert und regungslos. Seine Zehen waren kalt. Irgendwann sank sein Kopf auf seine Knie, seine Lider wurden schwer. Er meinte durch seine Wimpern sehen zu können, wie das Mondlicht sich veränderte. Formte sich, wurde dunkler. Die Sänfte und Wärme verschwand, hinterließ dunkles Grün. Intelligent, kalkulierend.

Unwillkürlich musste er lächeln, während sein Geist ihm immer mehr entglitt und er in einen unruhigen, aber traumlosen Schlaf fiel.

 

 

 

Der Wind peitschte Regen in Böen gegen das Fenster. Draußen tobte ein Sturm, heulte und pfiff und ließ das graue Manhattan noch stumpfer wirken.

Seufzend ließ ich meinen Kopf auf die Tischplatte sinken. Ich war todmüde. Dacia hatte mich gestern noch ein paar Stunden auf Trab gehalten, ehe sie fähig gewesen war, nach Hause zu fahren. Was Daith dazu beigetragen hatte, mich wach zu halten – davon wollte ich lieber erst nicht anfangen. Ich spürte noch immer seinen Atem an meinem Hals, roch seinen herben Duft …

Ich presste die Handflächen an meine Schläfen. Hinter meiner Stirn schwirrte und wirbelte alles. Erst das schrille Klingeln riss mich aus meiner Position. Erleichtert packte ich meine Sachen zusammen und verließ den Klassenraum. Auf dem Gang brandeten mir die Schülermengen der EARWSH entgegen. Das Stimmengewirr machte mich noch benommener.

Seufzend bahnte ich mir den Weg zu meinem Spind, als ich eine hochgewachsene Person durch das Menschenmeer in meine Richtung kommen sah. Er stach mit seiner Größe zwischen all den anderen hervor und jeder Schüler wich ihm aus, ob bewusst und oder unbewusst, sodass sich vor ihm eine Gasse öffnete, die sich hinter ihm wieder schloss. Er schien es nicht zu bemerken. Sein Kopf war gesenkt, sodass seine dunklen Haare ihm ins Gesicht fielen. Seine Schultern wirkten merkwürdig gespannt.

Als hätte er meinen Blick gespürt, hob er den Kopf, sah mich über all die Köpfe hinweg an. Ich spürte, wie mir vor Schreck das Blut in die Wangen schoss. Mein Gesicht brannte, als er einen weiteren Schritt auf mich zu tat, den Mund öffnete, um etwas zu sagen.

Beinahe reflexartig duckte ich mich hinter einen vorbeigehenden Jungen, bog um eine Ecke und stand in einem ruhigeren Seitengang. Mein Herz galoppierte erschrocken.

Was hatte Daith von mir gewollt?

In meinen wirren Gedanken war es der lauteste Gedanke. Er hatte mit mir reden wollen, hatte sogar die Hand gehoben. Hatte er mich schon wieder so demütigen wollen wie am letzten Abend? Vermutlich. Er schien ja offensichtlich nicht in der Lage zu sein, in irgendeiner Weise, freundlich zu sein.

Ärger gewann die Oberhand in mir. Ich würde ihn jetzt zur Rede stellen. Ich würde ihn fragen, was sein Problem mit mir war und wieso er mich so offensichtlich hasste. Und wieso er ständig überall dort auftauchte, wo auch ich war. Und wenn es das letzte war, was ich tun würde – was sehr wahrscheinlich war.

Vorsichtig sah ich um die Ecke, hielt nach ihm Ausschau, doch der Gang hatte sich weitestgehend geleert. Von Daith keine Spur.

„Vor wem verstecken wir uns?“

Mit einem spitzen Schrei fuhr ich herum und erwartete schon, ihn hinter mir stehen zu haben, dass er sich wieder angeschlichen hatte. Doch statt den wölfischen blauen Augen blickte ich in ein seegrünes Augenpaar, das mich belustigt musterte. Kurzes nussbraunes Haar schmiegte sich um ausgeprägte Wangenknochen. Auf seinem markanten Gesicht lag ein spitzbübisches Lächeln, als er sich vorbeugte und an mir vorbei auf den Gang sah.

„Stalkt dich jemand?“, fragte er, während er sich etwas in den Mund schob. Ich zwang mein Herz zur Ruhe und räusperte mich.

„Nein, mich stalkt niemand. Aber darf ich fragen, wer du bist? Du kommst mir bekannt vor.“ Ich meinte es. Wo hatte ich sein Gesicht schon mal gesehen?

Der Junge wandte sich wieder mir zu, noch immer das Grinsen auf den Lippen. Er streckte mir die Hand hin. „Jayden DeLorraine. Wir haben uns gestern in Macy’s gesehen. Du warst dort mit dieser hübschen kleinen Brünette, der Blondine und D … diesem Kerl“, erklärte er und ich erinnerte mich. Der Junge mit den grünen Augen.

„Richtig“, lächelte ich und nahm seine Hand an. „Kyra Downey. Bist du neu hier?“

Er neigte den Kopf auf eine Art und Weise, die mich unangenehm an Daith erinnerte und steckte sich wie zuvor wieder etwas in den Mund. Ich schüttelte den Kopf, um das Bild loszuwerden, als es mir dämmerte. „Du hast nicht zufällig vor kurzem mit einer gewissen Dacia Summers Schluss gemacht?“, fragte ich ihn und hob eine Braue. Er sah mich erstaunt an, verlor für einen Moment das Lächeln aus den Mundwinkeln.

„Dacia Summers?“ Er schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, nein. – Also, tut mir nicht leid, Schluss gemacht zu haben, weil ich es ja nicht …“ Er brach ab, sah mich verwirrt an, bevor sein Grinsen zurückkehrte und er sich zu mir hinabbeugte, sodass unsere Augen auf einer Höhe waren. Mit halb gesenkten Lidern hauchte er: „Willst du auch eine Erdbeere?“

Perplex sah ich die Frucht an, die er mir genau vor die Nase hielt, als wolle er, dass ich daran roch. „Wie bitte?“

Er zog sich wieder von mir zurück und schob sich die Beere mit einem Schulterzucken selbst in den Mund. „Erdbeeren. Sehr gesund. Schwer zu kriegen im Winter. Aber New York ist ja bekanntlich die Stadt, in der nichts unmöglich ist.“

Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte, also nahm ich einfach die nächste, die er mir anbot und steckte sie in den Mund. Süße füllte meinen Mund und ich musste unwillkürlich lächeln. "Also … Kyra, wieso und vor wem verstecken wir uns nun?", wollte er wissen. Abermals legte er den Kopf schief, musterte mich.

"Wir verstecken uns vor einem Mistkerl, über den es sich nicht lohnt zu sprechen“, antwortete ich trocken. Er hob eine Braue.

„Verrätst du mir auch wieso?“

Ich runzelte die Stirn. Dieser Jayden war wirklich neugierig. Was ging ihn das an? „Ich denke nicht. – Ich kenne dich ja überhaupt nicht. Ich plaudere doch nicht einfach meine Geheimnisse aus“, sagte ich.

„Oooh, Geheimnisse“, hauchte er, beugte sich wieder zu mir vor. Sein raubtierartiges Grinsen zeigte seine Zähne. Ebenmäßig und scharf. „Ich liebe Geheimnisse. Ich schlage vor, wir lernen uns besser kennen.“ Verwirrt sah ich ihn an. „Hä?“, brachte ich äußerst eloquent hervor. Flirtete er mit mir? "Freitag Abend um 6 Uhr vor dem Regal Union Square Stadium. Das Kino soll ziemlich gut sein. Und da ist dieser neue Film, den ich sehen will. Aber allein zu gehen wäre echt peinlich. Und dann kann ich mich dafür revanchieren, dass ich dich so erschreckt habe. – Ich lade dich ein.“ Sein Geplapper ließ meinen Kopf noch mehr schwirren. Er bot Dacia wirklich Konkurrenz. "Ähm, also das …", setzte ich an und wollte schon ablehnen, als ich an Dacias Worte dachte. Es ist doch so, dass du meistens nur zu Hause hockst und weiß der Himmel was machst. Seufzend gab ich nach. „In Ordnung.“ Würde mir schon nicht schaden, mit jemandem ins Kino zu gehen – und nicht Titanic zu sehen. Vielleicht würde mich das auch auf irgendeine Weise von Daith ablenken. Nur für ein paar Stunden.

Jayden grinste wieder zufrieden von einem Ohr zum anderen. „Perfekt! Oh – warte.“ Er nahm meine Hand und kritzelte etwas mit schwarzem Filzstift hinein. „Schick mir eine SMS mit deiner Adresse, damit ich dich abholen kann.“ Mit einem Zwinkern drehte er sich um und verschwand gemütlich den Gang hinunter. Kurz bevor er um eine Ecke bog, hob er eine Hand über die Schulter und rief: „Das ist ein Date!“

Verblüfft sah ich ihm hinterher, starrte auch noch dann den Gang hinunter, als er schon längst außer Sicht war, bis mich jemand in die Seite kniff.

„Hier bist du! Ich hab dich schon überall gesucht. Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch zu Mathe wollen.“

Ich wirbelte zu Dacia herum. „Wo warst du denn?!“, fuhr ich sie an. „Zwei Stunden hast du gefehlt!“

Sie winkte ab. „Hab verschlafen. Aber, sag mir, wieso du da so entgeistert den Gang runter gestarrt hast.“

Ich schüttelte den Kopf, sah mich noch mal nach allen Seiten um, um sicher zu gehen, dass Mr Arschloch nicht mehr hier war und ging zu meinem Spind.

 

Frierend trat ich von einem Fuß auf den anderen. Mein Atem schwebte in weißen Wölkchen davon, verblasste in der frühere Dämmerung. Im Hintergrund hörte ich Manhattans Verkehr, alter Zigarettenrauch hing in der Luft.

Vor fünfzehn Minuten hatte ich Jayden eine SMS geschrieben, mit der Nachricht, er solle direkt zum Kino kommen. Ihm meine Adresse zu geben erschien mir unüberlegt – die Idee verursachte mir ein mulmiges Gefühl. Vor allem nach dieser Woche.

Ich hatte ihn niemals erwischen können. Weder in irgendwelchen Kursen noch auf den Korridoren. Und wenn ich ihn gesehen hatte, war er in der Nähe von Daith, Valerie und einem weiteren Pärchen gewesen, das ich nicht kannte. Zudem schien es, als würden Daith und Jayden sich kennen. Wirklich kennen. In den kurzen Momenten, in denen ich sie zusammen gesehen hatte, hatte ich Daith ungewöhnlich oft lachen gesehen. Ein echtes Lachen.

Ich fuhr erschrocken zusammen, als mein Handy in meiner Jackentasche summte. Eine SMS von Jayden. Ich seufzte frustriert. Endlich …

Bin in fünf Minuten da

Geh schon mal rein

Ungeduldig rammte ich mein Handy zurück in die Tasche und marschierte ins Gebäude. Dort empfing mich wie immer Wärme, Popcorn-Geruch und das Gewirr hunderter Stimmen. Freitagabend. Vermutlich war so ziemlich halb New York heute im Kino.

Ich bahnte mir einen Weg zu den Sofas im Aufenthaltsbereich. Doch kaum wollte ich mich in einen der roten Ledersessel fallen lassen, spürte ich zwei Hände an meiner Taille. Unwillkürlich zuckte ich zusammen.

„Hoppla, nicht erschrecken“, lachte Jayden an meinem Ohr. „Du hast mich doch nicht vergessen, Hexchen?“

Ich wand mich aus seinem Griff und drehte mich um und verschränkte die Arme. Konnte es denn niemand lassen, mir irgendwelche Spitznamen zu geben?

„Ich dachte, du brauchst noch fünf Minuten“, sagte ich und bemerkte selbst, wie zickig ich klang. Ich räusperte mich.

Jayden zuckte die Schulter. „Ich bin Batman“, raunte er in heiserer Stimme und legte einen Finger an die Lippen. „Aber verrate das bloß niemandem!“

Ich hob nur eine Braue, drehte mich um und stapfte zur Kasse hinüber. Jayden folgte mir lachend, die Kopf schief gelegt, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Ich konnte seinen Blick in meinem Rücken spüren.

„Du bist nicht mein größter Fan, nicht wahr?“, fragte er, während er aufholte. „Vielleicht solltest du etwas lockerer sein. Das ist immerhin ein Date. Und so schlecht bin ich doch als Begleitung nicht?“ Er hob beide Brauen wie um zu sagen „Oder doch?“. Ich verdrehte die Augen, fuhr aber abermals zusammen, als er nach meiner Hand griff. Ich schoss ihm einen verärgerten Blick zu. Ich hatte gerade kaum das Bedürfnis nach Körpernähe.

„Ich schreie“, zischte ich.

„Für was …? Was soll ich …? Denkst du wirklich, ich …? Ich meine, ich …?“ „Ja“, unterbrach ich ihn brüsk, bevor er noch mehr unbeendete Fragen vor sich hinstammeln konnte. Er stolperte in gespieltem Schmerz zurück, presste sich theatralisch eine Hand über sein Herz und ließ meine dafür los. Abermals verdrehte ich die Augen.

„Also schön.“ Er legte einen Arm um mich, zupfte mir eine Strähne aus dem Gesicht und grinste wieder. „Ich werde dir beweisen, dass ich durch und durch ein Gentleman bin. Wähl einen Film.“

Kurz musterte ich ihn noch, dann sah ich mir die Filmtafel an. Nach kurzem Zögern entschloss ich mich für eine Horror-Komödie. Immerhin konnte ich mir da sicher sein, dass es keine schnulzigen Dialoge nach Titanic-Art geben würde. Jayden nickte nur flüchtig und trat zur Kasse vor, an der eine äußerst genervt und gestresst drein blickende Kassiererin nach unsere Ausweisen fragte.

„Kino 12“, sagte sie schließlich und wies zu unserer Linken, schob uns die Karten über den Tresen.

„Weißt du, eigentlich bist du echt niedlich, wenn du einen nicht gerade anfauchst“, sagte Jayden in die Stille zwischen uns. Ich sah ihn verblüfft an und erwartete schon, dass er in Lachen ausbrach, doch er grinste nur wieder.

„Du aber nicht“, brachte ich schließlich hervor, weicher als ich eigentlich wollte und zerrte ihn zum Popcorn-Stand. Auch dort bezahlte er mein Popcorn. Für einen Moment freute ich mich schon auf den süßen Geschmack, dann drang mir der scharfe Geruch seiner Nachos in die Nase. Stirnrunzelnd sah ich zu ihm hoch, doch er schob mich nur sanft weiter.

Wenigstens ist er so freundlich und lässt meinen Arm in Ruhe, dachte ich kurz, schüttelte dann aber den Kopf. Ich war hier, um mich von Daith abzulenken, nicht um ihn mit Jayden zu vergleichen.

Im Kinosaal 12 war es bereits dunkel, Musik schallte uns entgegen, als wir die Tür öffneten. Jayden bahnte uns einen Weg zu unseren Sitzen, zwischen den Beinen anderer hindurch, als wäre es nicht beinah stockdunkel. Nur das bleiche, flackernde Licht, das von der Leinwand reflektiert wurde, erhellte die Gesichter der Zuschauer, warf unruhige Schatten an die Wände.

Unwillkürlich griff ich nach dem Saum von Jaydens T-Shirt und tastete mich mit den Füßen langsam vorwärts. Unter meinen Schuhsohlen spürte ich irgendetwas Klebriges und war froh, nichts allzu Genaues sehen zu können.

Vor mir wandte Jayden sich mit dem Grinsen um, das anscheinend niemals sein Gesicht verlassen wollte. „Hast du schon Angst, Hexchen?“, fragte er und hob eine Braue. Das empörte Gemurmel der Frau, die wir gerade passierten, ignorierte er. „Der Film hat noch nicht einmal angefangen.“ Er wies zu Kinoleinwand, an der das Logo der Produktion eingeblendet wurde.

Ich warf ihm einen ärgerlichen Blick zu und ließ abrupt von ihm ab, sodass er sich auf seinen Sitz fallen lassen konnte. Kaum saß ich ebenfalls, begann der Hauptfilm.

Eine vermeintlich gruselige Szene nach der anderen wurde eingeblendet. Schreiende Frauen, die ins Dunkle gezerrt wurden, Jungs die gehetzt durch dreckige Gassen rannte, Blut an Wänden, verstümmelte Leichen. Neben mir hörte ich Jayden während der ruhigeren Phasen, in denen die Protagonisten panisch kreischend Dummheiten von sich gaben und versuchten, sich wieder zu beruhigen, lachen. Von Zeit zu Zeit spürte ich seinen Blick auf mir, als erwarte er eine Reaktion von mir. Ich wusste nicht recht, welche das sein sollte. Sollte ich mich heulend vor Schreck und Angst in seinen Armen verkriechen, so wie das Mädchen bei dem Paar hinter uns?

Nein, ich zuckte erst zusammen, als ein riesiges Biest mit gebleckten, mörderischen Zähnen aus den Schatten sprang. Die Augen glimmten in dem dämmrigen, allgegenwärtigen Halbdunkel, die Lefzen waren weit zurück gezogen, offenbarten einen roten Schlund.

Auch wenn der Werwolf meinem Traum viel zu unähnlich sah, fühlte ich mich mehr als unangenehm erinnert und spürte schon den erstickten Schrei in meinem Hals, als Jayden seinen Arm um mich legte und gelassen grinste. Ich sah zu ihm auf. In dem flackernden Licht waren seine Augen ein dunkles, stetiges Grün.

Ich konnte mir vorstellen, wie ich aussehen musste. Aschfahl, weit aufgerissene Augen. Die Handvoll Popcorn, die ich gerade hatte essen wollen, über meine Bluse und den Sitz verteilt. Endlich eine Reaktion, die er erwartet hatte.

Doch darum kümmerte ich mich nicht. Der Schreck saß in Form eines Zitterns in meinen Händen. In dem Versuch, es vor Jayden zu verbergen, ballte ich sie zu Fäusten, klemmte sie zwischen meine Knie und ließ seinen Arm, wo er war.

Neunzig schier endlose Minuten später lief schließlich der Abspann, das Licht ging wieder an. Fast augenblicklich löste ich mich von Jaydens Arm. Das Zittern war verschwunden, der Gedanke an meinen Albtraum nur noch eine Erinnerung. Ich seufzte, als ich auf wackeligen Beinen den Saal verließ. Jayden folgte mir stumm.

„So…“, setzte er dann aber nach einigen Minuten des Schweigens zwischen uns an. Wir standen draußen vor dem Regal Union Square Stadium. Unser Atem flog in weißen Wolken davon, der verschneite Asphalt wurde nur noch durch Straßenlaternen erhellt. Unruhig ließ ich meinen Blick umherhuschen, suchte die Schatten ab – ich wusste nicht, wonach.

„Ähm…“ Jayden legte eine Hand in seinen Nacken und sah mich von der Seite her an. Ich warf einen kurzen Blick zu ihm auf und musste feststellen, dass er fast so groß wie Daith war. Selbst seine Augen schienen in dem spärlichen Licht die gleiche merkwürdige Form wie seine zu haben.

Ich schüttelte den Kopf, versuchte mein rasendes Herz zu beruhigen, das mir das Blut in meine Wangen trieb. Ein … Ausrutscher. Tut mir auch leid. Wird nicht wieder vorkommen. Aus dem Nirgendwo waren seine Worte in meinem Kopf und trieben mir Tränen in die Augen. Ich wandte das Gesicht in den Schatten. Was zum Teufel war los mit mir? Er war ein Arschloch und alles, was wir taten, war streiten. Warum sollte ich mich also nach seinem spöttischen „Rotkäppchen“ sehnen? Das war Schwachsinn.

„… mir zu? Hallo? Kyra? Noch da?“ Jayden trat vor mich und beugte sich mit einem besorgten Stirnrunzeln zu mir hinab. Hastig wischte ich mir die Tränen ab, die noch immer vor meinen Augen schwammen und zwang mir ein schmales Lächeln auf.

„Natürlich. Was hast du gesagt?“ Ich musste mich zweimal räuspern, um meine Stimme einigermaßen fest klingen zu lassen.

„Ich hoffe, dass der Nachmittag mit mir erträglich gewesen war“, grinste er und wollte schon eine Hand nach einer Strähne von mir ausstrecken. Ich trat einen Schritt zurück, die Hand sank, ohne dass das Lächeln verschwand. – Wie so oft.

„Ja. Ja, danke, er war … angenehm“, log ich höflich. Das Lächeln nahm ein wenig ab, eine Braue hob sich.

„Und darf ich auf mehr hoffen?“, fragte er. Unwillkürlich trat ich einen weiteren Schritt zurück und versuchte die Tatsache zu ignorieren, dass wir ziemlich allein im Dunkeln standen. Es gelang mir nur mäßig.

„Was meinst du mit mehr?“ Meine Stimme klang fester als sie sich anfühlte und ich verbarg meine Hände in meinen Jackentaschen, grub mir die Fingernägel in die Handflächen. Irgendwas war hier falsch …

Jayden warf seinen Kopf zurück und lachte. „Ein weiteres Date, Hexchen“, erklärte er und ich kam mir dumm vor. „Was denkst du denn. Ich sagte doch bereits, ich bin ein Gentleman durch und durch. Ich glaube, der Film hat dir doch mehr zugesetzt, als du zugibst. Du siehst ziemlich blass aus.“ Das Lächeln verwandelte sich in ein raubtierartiges, herablassendes Grinsen, das zu sagen schien Naives, kleines Menschlein.

Ich senkte den Kopf, zog ihn ein wenig zwischen meine Schulter und schlang fröstelnd meine Arme um mich, als ein Luftstoß unter meine Jacke fuhr. Meine Wangen brannten abermals, dennoch musste ich mich davon abhalten, ihm einen schnippischen Kommentar an den Kopf zu werfen, der vermutlich beinhaltet hätte, dass ein Gentleman eine Frau nicht in der Kälte stehen ließ.

Als hätte er meine Gedanken gelesen trat er auf mich zu und fasste nach meiner Hand. Ich wusste nicht recht, was ich von der Geste halten sollte und ließ ihn gewähren.

„Kann ich dich noch nach Hause bringen, da unser Date nun anscheinend gelaufen ist?“, wollte er wissen. Mit einem Ruck erwachte ich aus meiner Starre. Hastig schüttelte ich den Kopf.

„Ich bin mit meinem Wagen hier.“ Ich wies in die Richtung, in der mein Hyundai stand. Er nickte brüsk.

„Verstehe. Also …“

„… also gute Nacht“, beendete ich für ihn und versuchte, nicht allzu schroff zu klingen. Es misslang mir kläglich. Jayden stieß zischend die Luft zwischen den Zähnen hervor und ließ meine Hand los. Mit nur einem Nicken drehte er sich auf dem Absatz um und ging in die entgegen gesetzte Richtung. Ich sah ihm einige Momente lang nach, beobachtete, wie er Schneeschlammhaufen oder vereisten Pfützen auswich und versuchte, mein schlechtes Gewissen niederzukämpfen, versuchte mir einzureden, dass alles nur Daiths Schuld wäre. Auch das schien mir nicht gelingen zu wollen.

Seufzend wandte ich mich ebenfalls um und ging zu dem Parkplatz hinüber, auf dem mein silberner Wagen mit einer warmen Klimaanlage auf mich wartete. Ich war mit einem Mal furchtbar müde. Frierend schlug ich den Kragen meiner Jacke hoch und stapfte durch die schmalen, dunklen Gassen, die Blocks hinüber, wo ich Stunden einen freien Platz gefunden hatte. Links und rechts ragten dunkle, fensterlose Lagerhallen zum dunklen New Yorker Himmel empor und sperrten das Mondlicht aus. Teilweise waren ihre Tore halb verrostet, andere waren nur noch gähnende schwarze Löcher. Ich schauderte bei dem Gedanken, was sich in ihnen herum treiben konnte und hielt den Blick nach unten gerichtet, darauf bedacht, nicht in eine Schneewehe zu treten oder auf vereistem Boden auszurutschen. Als ich den Blick endlich wieder heben konnte, war ich fast am Ende der Gasse angelangt und musste blinzeln. In dem gelben Schein einer Straßenlaterne stand ein Mann, die Schultern gebeugt, die Hände in den Jackentaschen vergraben. Ich hatte ihn nicht bemerkt.

Es dauerte einige Augenblicke, bis ich registrierte, dass er zu mir hinüber sah. Augenblicklich fing mein Herz hinter meinen Rippen an zu hämmern und ich war mir mit einem Mal der Schatten, die die Mauern um mich herum entlang zu kriechen schienen, wieder nur allzu bewusst. Ein erschrockener Laut entfuhr mir, als er in meine Richtung kam.

Ich wich unwillkürlich zurück und versuchte, durchzuatmen. Ganz ruhig, es ist nur ein Passant, sagte ich mir und musste fest stellen, dass meine Stimme selbst in meinen Gedanken zittrig klang. Ich sog tief die eisige Luft ein. Der Mann kam näher. Er wird an dir vorbei gehen. Mach dir keine Gedanken.

„Hallo.“ Die Stimme war leise und heiser.

Ich brauchte einen Wimpernschlag, um zu begreifen, dass er zu mir gesprochen hatte. Mein Herz schlug noch höher. Er war noch näher gekommen, hielt direkt auf mich zu. Ich konnte den Gestank von Zigaretten und Alkohol in der Luft wahr nehmen. Es war zu viel für meine Nerven. Unbekannten Männern abends in einer dunklen Gasse zu begegnen, die einen dann auch noch ansprachen und nach Drogen stanken, war einfach … zu viel.

Ich warf mich herum und wollte rennen. Der Schnee und alles, was darunter lag, war mir egal. Hauptsache, ich komme zum Kino. Dort musste doch noch Betrieb sein und ich konnte warten, bis der Mann aus dieser Gasse verschwunden war. Doch ich kam nicht weit. Ich wurde an den Haaren gepackt und rückwärts gezerrt. Ich zischte vor Schmerz und griff nach hinten, wollte nach ihm schlagen, kratzen, was auch immer. Doch ich kam nicht heran.

„Nanu, haben wir hier eine kleine Wildkatze?“, lachte er. Ich wollte schreien, doch nur ein abgehacktes Pfeifen drang aus meiner Kehle, als er meinen Kopf nach hinten durchbog und nach meinem Handgelenk fasste. Ein Dolch schien sich in meine Schulter zu bohren, als er meinen Arm nach hinten verdrehte. Ich stieß ein Wimmern aus, immer noch nicht laut genug, um gehört zu werden und versuchte verzweifelt, mit der freien Hand nach ihm zu kratzen, strampelte, trat um mich. Doch er lachte nur wieder. In meiner Kehle setzte sich ein würgender Knoten fest.

„Weißt du, ich mag feurige Mädchen wie dich“, zischte er rau in meine Ohr. Dieses Mal schrie ich, wand mich in seinem Griff, ohne auf die Schmerzen zu achte und grub ihm meine Fingernägel ins Gesicht. Mit einem Aufschrei ließ er abrupt von mir ab. Ich stolperte, landete fast mit meinen Knien im Schnee. Doch ich fing mich und rannte. Ich wusste nicht, wohin oder wo lang. Nur weg. Ich musste mich nicht umsehen, um zu wissen, dass er mich verfolgte. Seine schweren Schritte knirschten auf dem Weiß in der Gasse. Irgendwann brach ich auf den Parkplatz hinaus. Fast stiegen mir Tränen der Erleichterung in die Augen, als ich meinen Wagen im Mondlicht schimmern sah. Dann bemerkte ich das fehlende Gewicht an meinem Arm. Ich hatte meine Tasche fallen gelassen. Und mit ihr den Schlüssel. Ein Schluchzen entrang sich meiner Kehle, ich rannte zwischen den Autoreihen hindurch, lief nach rechts, nach links, immer im Zickzack, bis ich mich hinter einem wahllosen Auto zusammen kauerte und schwer atmend in die Nacht lauschte. Irgendwo knirschte der Schnee. Ich glaubte, schwere Atemzüge zu hören. Dann war es wieder totenstill. Hatte ich ihn abgehängt?

Nein, wieder war dort ein Geräusch. Mein Kopf flog in die Richtung, aus der es kam. Er stand keine zwei Autoreihen von mir entfernt und sah sich um.

„Mädchen, wo bist du? Ich hab keine Lust auf Versteckspielchen“, schnurrte er, gerade in dem Moment, in dem er mich entdeckte. Den Bruchteil einer Sekunde saß ich wie versteinert und starrte erschrocken zurück, bevor ich mich aufrappelte und weiter rannte. Ständig kam ich schlitternd zum Stehen, wenn ich ihn in meiner Nähe sah und wählte eine andere Autoreihe. Meine Hände wurden blau vor Kälte, als ich auf dem Boden kroch, unter den Wägen hastig nach seinen Füßen Ausschau hielt. Meine Jeans waren durchnässt, Schweiß rann meinen Rücken hinunter. Meine Knie zitterten, bei jedem Atemzug bohrten sich Dolche in meine Seiten. Ich konnte nicht mehr. Schließlich stand ich zwischen ihm und einem dunkelblauen Mercedes. Ich kam mir vor wie ein Kaninchen vor einer Schlange, während er auf mich zutrat und ich ihm einfach nur entgegensah, meinen ganzen Körper gegen den Wagen presste und keine Kraft mehr hatte, zu entkommen. Dennoch wagte ich noch einen Ausbruch zur Seite, er vertrat mir den Weg.

„Du hast genug gespielt“, sagte er und mir lief ein Schauder den Rücken hinunter. Galle drohte mir die Speiseröhre hinaufzukriechen. „Jetzt bin ich dran.“ Er trat zu mir ran, so nah, dass ich die Wärme seines Körpers spürte und wieder den Gestank nach Alkohol und Zigaretten wahrnahm. Mein Magen drehte sich. Ich schloss die Augen, rutschte ein Stück an dem Auto nach unten – ich hatte keine Kraft mehr, irgendetwas zu unternehmen – und wartete.

Doch er kam nicht näher. Von irgendwoher erklang ein wütendes Knurren, gefolgt von einem Laut, der zwischen einem Fauchen und einem Knurren schwankte. Ich ließ die Augen geschlossen, als etwas den Kerl von den Füßen zu reißen schien, ihn von mir entfernte, versuchte, die Übelkeit niederzukämpfen.. Wieder ein Knurren, der Schnee knirschte. Ich hörte mehrfaches Grunzen, ein Zischen wie von einer Schlange. Ein Schrei, ein Heulen. Ein dumpfer Aufprall. Dann war es still.

Ich erlaubte meinen Beinen, unter mir nachzugeben, als der Schnee erneut unter Schritten leise knackte. Mir war so entsetzlich kalt.

„Kyra?“ Zwei große warme Hände umfassten mein Gesicht, strichen mir Haare aus der Stirn. Die Stimme kam mir bekannt vor. Vorsichtig versuchte ich die Lider zu heben und sah in Daiths Augen, die im Mondlicht in einem merkwürdigen Saphirblau glitzerten. Sein schwarzes Haar fiel ihm zerzaust ins Gesicht. Schnee hatte sich darin verfangen. „Es ist gut“, hörte ich ihn sagen. Immer wieder strichen seine Finger über meine Wangen und ich bemerkte die Nässe auf ihnen. „Es ist gut.“

Ich wusste nicht, wie lange ich dort in dem kalten Schnee saß und ihn benommen anstarrte, doch irgendwann brach es in mir und ich schmiss mich schluchzend gegen ihn, schlang Halt suchend meine Arm um seinen Hals und barg mein Gesicht an seiner Schulter. Er schloss seine Arme ebenfalls um mich, strich mir beruhigend durch meine Haare und murmelte irgendwelche sanften Worte vor sich hin, die wie eine fremde Sprache klangen. Russisch? Polnisch? Egal, sie wirkten nicht. Ein unkontrolliertes Zittern breitete sich von meinem Magen über meine Hände und Arme über meinen ganzen Körper aus. Immer noch schluchzte ich haltlos vor mich hin, meine Tränen nässten den Kragen von Daiths Hemd, das er unter seiner Jacke trug.

Ich versuchte, ruhiger zu atmen, konzentrierte mich auf Daiths Duft nach Minze und etwas moschusartigem wie warmer, feuchter Erde. Schließlich verebbte all das und zurück blieb ein betäubtes Gefühl. Ich zitterte noch immer, doch mein Atem war ruhig. Ich spürte, wie mir mein Bewusstsein vor Erschöpfung entglitt.

„Nicht einschlafen, Rotkäppchen.“

Ich seufzte, als Daith einen Arm unter meine Beine schob und sich mit mir erhob. Ich ließ seinen Hals nicht los.

„Wo ist dein Schlüssel?“, fragte er. Ich lächelte gegen seine Haut. Mir war bisher nie aufgefallen, dass er einen weichen Südstaaten-Akzent hatte. „Die Schlüssel!“ „Hmm …“, machte ich und überlegte. Meine Schlüssel … Die waren in meiner Tasche. Und die war natürlich …

Mit einem Schlag war ich wieder wach, mein Kopf ruckte nach oben. Mit einem Zischen riss Daith seinen zur Seite, konnte jedoch nicht verhindern, dass mein Scheitel seinen Kieferknochen streifte. Er stand mit mir auf den Armen vor meinem silbernen Hyundai, der mir nach der entsetzlichen Hetzjagd merkwürdig fremd vorkam. Unwillkürlich krallte ich meine Finger in seine Schultern, sah zu seinem Gesicht auf. Er musterte mich mit dunklen Augen, in denen ein merkwürdiges Glimmen lag.

„Meine Schlüssel …“, stammelte ich. „Meine Tasche… Ich hab sie fallengelassen.“ Schon wieder mussten meine Augen vor Schreck und Angst weit aufgerissen sein. Mein Herz pochte noch immer in meinem Hals.

Daiths Atem hang ihm weiß vor dem Mund und Nase, als er ein Schnauben ausstieß und brüsk nickte. Er stellte mich auf meine Füße, sodass ich an der Beifahrertür meines Wagens lehnte. Das Metall war eiskalt in meinem Rücken, meine Handflächen brannten, als ich sie flach dagegen presste, um sie am Zittern zu hindern.

Dennoch bebte ich am ganzen Körper, ich hörte meine Zähne aufeinander klappern. Der plötzliche Verlust von Daiths Körperwärme ließ die Nacht noch kälter wirken.

„Kannst du hier warten?“, fragte er und hob eine Braue. Ich erkannte die eigentliche Frage dahinter: „Kannst du stehen bleiben?“. Doch ich konnte seinen Blick und den fremden Unterton in seiner Stimme nicht deuten und nickte nur. Er wandte sich nach einem kurzen prüfenden Blick um und ging mit den ruhigen, langen Schritten, die ihm wohl schon immer zu Eigen gewesen waren, über den Parkplatz. Elegant und tödlich wie ein Panther Ich sah ihm nach, bis er in den Schatten verschwand und ich allein auf dem spärlich beleuchteten Parkplatz stand. Mit dem Alleinsein kam alles zurück. Ich schlang die Arme um mich und sah mich panisch um. Irgendwo musste der Kerl, der mich verfolgt hatte, doch sein. War er abgehauen? Was war vorhin geschehen, als Daith aufgetaucht war?

Mein Blick fiel auf eine dunkle Spur im Schnee und ich schloss schnell wieder die Augen. Vermutlich wollte ich die Antwort auf meine Frage gar nicht wissen.

Ich spürte Daith schließlich wieder vor mir, bevor er mir meine Tasche in die Hand drückte. „Danke“, brachte ich hervor und sah zu ihm auf. Für einen Moment sah er mich nur verdutzt an.

„Wie bitte?“, fragte er dann und legte den Kopf schief.

„Danke“, wiederholte ich nur eine Spur lauter. Meine Stimme gab nicht mehr her. Daith sah mich immer noch mit einer Mischung aus Verwirrung und Neugier an. „Was hast du gesagt?“ „Ich sagte, danke, dass du mich gerettet hast“, krächzte ich heiser, als ich den Ausdruck in seinen Augen bemerkte. Ich funkelte ihn verärgert an und fauchte. „Du hattest mich schon verstanden.“ So etwas wie ein Grinsen huschte über sein Gesicht und verschwand wieder. „Natürlich. Schon beim ersten Mal, aber ich wollte es noch mal aus deinem Mund hören. Kommt ja schließlich nicht allzu so häufig vor“, sagte er und wandte sich ab, ging um die Schnauze meines Wagens rum. Ich hörte ihn noch etwas murmeln, das nach „undankbares Weib“ klang, beschloss aber es für unser beider Wohl zu ignorieren. Daith schloss das Auto auf.

„Weißt du“, sagte ich über das Dach hinweg. „Ich wäre dir dankbar, wenn du heute weniger halsbrecherisch fahren könntest.“

Als Antwort warf er mir einen sarkastischen Blick zu, ehe er ins Auto tauchte und – schon wieder – alles für sich zu Recht schob. Ich seufzte und setzte mich ohne Protest auf den Beifahrersitz. Ich wäre bestimmt nicht fähig gewesen ordentlich zu fahren. Meine Hände zitterten nach wie vor unkontrolliert. Ich klemmte sie zwischen Sitz und Oberschenkeln fest und atmete tief durch.

„Was hattest du eigentlich hier zu suchen?“, fragte ich, um mich abzulenken. Ich glaubte, die Hände des Kerls wieder auf meiner Haut zu spüren. Ich rieb mir hastig über den Nacken.

„Ich war im Kino. Stell dir vor“, antwortete Daith trocken und fuhr endlich vom Parkplatz. Tatsächlich behielt er das behutsame Tempo, in dem er angefahren war, bei.

„Welcher Film?“

Troja“, sagte er knapp. Ich blinzelte überrascht.

Troja?“

Er verdrehte die Augen.

„Ja Troja. Die Verfilmung der Ilias mit Eric Bana, Brad Pitt, Orlando Bloom, Diane Kruger, Garrett Hedlund, Peter O’Toole…“

„Ja, ja, ich kenne den Film“, unterbrach ich ihn, ehe er noch die gesamte Besetzungsliste runter leiern konnte. „Ich wusste nur nicht… Mit wem warst du da?“

Er zuckte die Schultern. „Mit ein paar Freunden.“

Seine abweisende Miene erklärte mir, dass er keine Lust auf weiteren Smalltalk hatte. Er schaute stur durch die Frontscheibe nach vorne. Also klappte ich meinen Mund zu, schluckte weitere Fragen hinunter und beobachtete Manhattan, das an meinem Fenster vorbeizog. Wir waren bereits in der Nähe meines Blocks, als er das Schweigen brach.

„Wieso warst du mit Jayden im Kino?“, fragte er. Ich zuckte erschrocken zusammen.

„Was?!“ Hatte er mich mit ihm gesehen?

„Ich habe gefragt, mit wem du im Kino warst.“ Ich hob eine Braue und musterte ihn mit verengten Augen. Entweder ich hatte mich verhört und er wollte tatsächlich wissen, mit wem ich ausging, oder er hatte mich mit Jayden gesehen.

Er wartete schweigend auf eine Antwort. „Wieso willst du das wissen?“, fragte ich. Er presste die Lippen aufeinander und hob gleichgültig die Schultern. „Nur so“, antwortete er, doch ich sah den verkniffenen Zug um seinen Mund. War er etwa eifersüchtig? Mein Herz schlug ein paar Takte höher, doch ich musste schnaubend kichern. Klar! Daith Warden eifersüchtig? Ich schüttelte den Kopf. Auf jemanden, der mit mir – einer rothaarigen „Hexe“ – im Kino gewesen war? Eher friert die Hölle zu... Für einen Moment krampfte sich mein Herz zusammen und ich verkroch mich tiefer in meinen Sitz, um es zu beruhigen. Er ist ein Arschloch. Ein Mistkerl. Er ist es nicht wert, sagte ich mir immer wieder in Gedanken, doch es half nicht. Ich blieb, wo ich war, bis Daith plötzlich hielt und auf meiner Seite des Wagens auftauchte, mir die Tür öffnete. Verwirrt sah ich mich um. Links baute sich mein Wohnhaus auf, oben auf meiner Etage brannte Licht. In meinem Sichtfeld erschien eine Hand. Ich nahm sie an, ließ mir von Daith aus dem Auto helfen. Er nahm mir meine Tasche ab, schlug die Tür zu und schob mich auf den Eingang zu. Wortlos. „Hey!“ Ich sträubte mich gegen ihn, doch er beachtete mich nicht. Seine Hand lag nur flach zwischen meinen Schulterblättern, doch egal, wie ich mich wand, ich konnte sie nicht abschütteln. „Was soll das werden?“  Ein Blick aus dem Augenwinkel. „Ich traue dir nicht zu, dass du es bis nach oben schaffst.“ Wie bitte? Ich war doch keine drei Jahre mehr! „Was soll das heißen?“, wollte ich wissen. „Und woher weißt du eigentlich, wo ich wohne?“ Mir fiel erst jetzt auf, dass er den ganzen Weg keine Beschreibung von mir verlangt hatte – und ich hatte ihm auch keine gegeben. Er blieb abrupt stehen und seufzte. Langsam, als würde es ihn alle Mühe kosten, drehte er sich zu mir um und sah mir einen langen Moment nur in die Augen. Ich erwiderte seinen Blick standhaft, und versuchte nicht allzu sehr auf mein lautstark pochendes Herz zu achten. Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe. Ob er es wohl hören konnte? „Ich stalke dich. Wusstest du das etwa nicht?“ Perplex starrte ich ihn an. Was tat er? Seine Miene gab wie sooft nichts preis. Was sollte das heißen? Meine Frage stand mir offensichtlich mitten ins Gesicht geschrieben, denn er fuhr in nüchternem Ton fort. „Ständig. Von der Schule nach Hause, von hier zur Schule. Und außerdem kletterte ich wie Spiderman an der Hausfassade hoch, nur um dir beim Umziehen zuzusehen, weil ich ja auch sonst nichts Besseres zu tun habe. – Jetzt komm schon, es ist scheißkalt.“ Er fasste nach meiner Hand, zog mich weiter. Am verwirrten Concierge vorbei in den Fahrstuhl. Ich hielt meinen Blick auf den Boden gerichtet und versuchte, nicht allzu sehr gegen seine Handfläche zu schwitzen. Meine Wangen brannten. Mir beim Umziehen zusehen?, dachte ich. Und Hat er gerade einen Witz gemacht?!

Irgendwann fiel mir auf, dass er mich erwartungsvoll ansah. „Was?“ „Welcher Stock?“ Er hob eine dunkle Braue. „Fünfzehnter“, antwortete ich. Er drückte den Knopf, der Aufzug setzte sich leise surrend in Bewegung. Zwischen uns breitete sich Schweigen aus, das bis in die letzte Ecke des kleinen Raumes zu dringen schien. Die ersten zwei Stockwerke hielten wir aus, dann schlug Daith den Stopp-Hebel um. Ich schrak aus meinen Gedanken. Das Licht ging aus, nur noch eine kleine Energiesparlampe über der Tür leuchtete, verbreitete spärliches Licht.

„Was zum …?!“

„Ich weiß, dass du mit ihm da warst!“

Verwirrt sah ich ihn an. „Mit wem?“ Meine Stimme war noch immer kratzig.

„Tu keinen auf dumm!“, fuhr er mich an. Ich schnaubte verärgert durch die Nase. Was dachte er sich eigentlich?

„Weißt du, nur weil du gewisse Vorzüge bei dir zu Hause genießen kannst, heißt das nicht, dass du sonst machen kannst, was du willst!“, krächtze ich zurück und langte nach dem Hebel, doch er vertrat mir den Weg. „Mach das Ding wieder an!“ „Nein! Das werde ich erst tun wenn du mir verrätst, was du da mit ihm wolltest. Dieser Gestank an dir macht mich noch wahnsinnig!“

Gestank? Ich musste doch sehr bitten!

„Ich stinke nicht!“, fuhr ich ihn an. Was bitte war denn los mit ihm? Hatte er irgendwas genommen?

Aus irgendeiner Ecke im Fahrstuhl drang ein Knurren. Ich kniff die Augen zusammen und erkannte seine dunkle Sillhouette, die sich halb an der Fahrstuhlwand zusammen gekauert hatte.

„Beantworte einfach meine Frage“, zischelte er durch zusammengebissene Zähne und setzte tatsächlich ein „Bitte“ hinterher.    „Sag mal, geht es dir gut?“, fragte ich und beugte mich vor. Sofort fuhr er zusammen, stand wieder gerade. Etwas umklammerte meine Handgelenk, ich wurde unsanft gegen die andere Wand gedrückt.

„Hör zu, Hexe…“ „Wie hör zu?!“, keifte ich und unterbrach ihn. Langsam wurde ich hysterisch. „Ich will nicht zuhören, ich will nach Hause. Weißt du, mein Abend war ziemlich beschissen. Nachdem ich nämlich von irgendeinem wahnsinnigen – ich will gar nicht wissen, was er vorhatte – quer über einen beschissenen Parkplatz gejagt worden bin, tauchtest du da auf und willst jetzt etwas von mir wissen, von dem ich nicht verst-…“ Der Rest des Satzes ging unter, als er mir eine Hand auf den Mund presste. Ich atmete heftig, versuchte sein Gesicht auszumachen, doch ich sah nur Schatten. "Hör mir zu", zischte Daith leise und es klang fast wie eine Drohung. „Ich weiß, dass du mit Jayden DeLorraine dort warst. Und ich weiß, dass du das nie wieder tun solltest. Verstanden?“

Was zum Teufel meinte er denn nun damit? Mir wurde langsam schwindelig. In meinem Magen nistete noch immer eine unterschwellige Übelkeit. Und zu allem Überfluss drückte er mich in einer Umarmung fest an sich und ich konnte vollends nicht mehr geradeaus denken. Mein Herz raste, pochte in meiner Kehle und schnürte mir die Luft ab.

Oh Gott, lass das einen Traum sein. Einen ganz furchtbaren Albtraum!, betete ich.

„Triff dich nicht mehr mit ihm“, hörte ich ihn an meinem Ohr hauchen. Es klang beinahe schon wie ein Flehen. „Versprich es mir.“

Ich konnte nicht denken. Er war mir so nah. Was soll ich? Ich nickte nur benommen, als sich seine Lippen sacht über meine legten. Weich und warm. Für einige Moment nahm ich nur ihn wahr. Wie von selbst fanden meine Finger ihren Weg in seine Haare. Sie waren dicht und weich. Ich seufzte, dann schob ich ihn von mir. Er grunzte leise, als ich ihm dabei meinen Ellbogen in die Rippen drückte. Ich hätte mich selbst ohrfeigen können! Was tat ich da?

Hastig legte ich den Hebel wieder um. Das Licht ging an. Daith stand vor mir, groß und beeindruckend wie eh und je, doch in seinen Augen lag ein fiebriger Glanz, seine Wangen waren gerötet. Ob ich so ähnlich aussah? Ich wandte mich von ihm ab. Das konnte mir doch egal sein. Was fiel ihm denn ein, mich ständig aus heiterem Himmel zu küssen, obwohl er mich doch so offensichtlich nicht ausstehen konnte. Und ich ihn ebenfalls nicht. Und hatte er nicht eine Freundin?

Ich verzog das Gesicht. „Dir ist bewusst, dass du dich äußerst … apart benimmst. Und das ist nicht im positiven Sinne gemeint. Ich meine, du ignorierst mich durchgehend … Gut, vielleicht findest du ab und zu mal Zeit, mir irgendeine Beleidigung an den Kopf zu werfen. Aber dann hältst du dich für irgend so einen Ritter, rettest mich und – als Sahnehäuptchen oben drauf – küsst du mich, einfach, weil dir gerade danach ist? Und dann willst du mir auch noch vorschreiben, mit wem ich mich treffen darf?“ Ich funkelte ihn wütend an. „Ist das ein Spiel für dich?“

Er antwortete nicht. Natürlich nicht. Ich verdrehte die Augen. Was hatte ich erwartet?

„Vielleicht, weil ich einfach nicht von der Theorie loskommen, dass du mich doch magst?“, sagte er dann aber doch und legte den Kopf schief. In seinen Augen lag wieder einmal jener raubtierhafte Ausdruck. Ich schluckte.

„Das ist nicht dein Ernst?“, brachte ich hervor, als der Fahrstuhl zum Stehen kam und die Türen sich mit einem leisen Bimm öffneten.

„Kyra…“, setzte er an, doch ich schüttelte den Kopf.

„Du bist ein eingebildeter Mistkerl“, beschied ich ihm und war selbst erstaunt, wie ruhig meine Stimme klang. „Danke aber, dass du mich nach Hause gebracht hast. Ich denke, dafür sind wir quitt für meinen Fahrdienst letztens. Kein Grund also, weiterhin meinen Helden zu spielen.“ Ich drehte mich um und wollte auf den Gang hinaus treten, doch er zog mich ein weiteres Mal zu sich heran, behielt dieses Mal jedoch – zum Glück – ein wenig Abstand zwischen uns. „Was?“, zischte ich.

„Mit wem gehst du eigentlich zum Frühlingsball?“, wollte er leise wissen. Ich verschluckte mich an meiner Spucke. Wie bitte?!

„Wie bitte?“

„Du hast mich verstanden.“

Ich schluckte und atmete tief durch. Er musterte mich. In dem Licht in dem kahlen Hausflur schimmerten seine Haare wie Rabenflügel. Ich fragte mich, wieso er so was wissen wollte. Er. Und wieso erst gerade jetzt auf die Idee kam, nach so etwas zu fragen. Hatte er vor… Was hatte er vor? Wie würde er reagieren, wenn er wüsste, dass ich kein Date hatte? Aber eigentlich wollte ich ja gar nicht hingehen…

„Ich…“, setzte ich an, doch dann fielen mir seine Worte ein Triff dich nicht mit ihm. Ich schnaubte, reckte das Kinn. „Ich gehe mir Jayden.“

Er ließ von mir ab, als hätte er sich verbrannt, nickte kurz. Ein Schritt zurück und er stand im Fahrstuhl. „Gut zu wissen… Gute Nacht.“

Die Türen schlossen sich zwischen uns und das letzte was ich sah waren sein frustrierter Gesichtsausdruck und sein angespannter Kiefer.

Verdammter Mist.

Unter Wölfen

Es war einfach. Sich in ihrem Funkenlicht zu verlieren, sich in ihren Schatten zu wärmen.

Die Bestie liebte es. Es stimmte sie ruhig. Zufrieden – zumindest für den Moment. Und auch ihm viel es immer schwerer, zu widerstehen. Er müsse sich nur eine Winzigkeit vorlehnen, die Hand ausstrecken, sich anbieten. Es wäre so einfach. Es war so einfach.

Doch er konnte nicht.

 

 

 

„Verfluchtes Wetter!“, schimpfte ich zum Himmel hoch, der sich hinter einer Decke von grauen Wolken versteckte. Es regnete schon seit Tagen. Gleichzeitig waberte dichter Nebel um die kaum sichtbaren Häuser, türmte sich um mich zu einer einzigen trüben Brühe. Hier und da sah ich den geisterhaften fahlen Schein einer Laterne oder die Scheinwerfer eines Autos durch das gespenstische Weiß blitzen. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen, ignorierte die anderen frühmorgendlichen Passanten, die an mir vorbeischwebten. – Moment. Schwebten? Ich sah dem letzten hinterher, doch er war in der Nebelwand verschwunden.

Ich war bis auf die Knochen durchnässt und meine Jacke wärmte mich nicht annähernd so sehr, wie ich es mir gerade wünschte. Da mein Wagen heute einfach nicht hatte anspringen wollen, musste ich nun zu Fuß laufen, sodass ich zu spät und begossen wie ein Pudel in der Schule ankommen würde.

Wieso läuft in letzter Zeit alles schief?

Ich schlug den Kragen meiner Jacke höher, zog mir die Kapuze tiefer ins Gesicht, stopfte die Hände in die Taschen und seufzte abgrundtief. Irgendwie schien es alles die Schuld von diesem verdammten Daith Warden zu sein. Seit wir zusammen gestoßen waren war kein normaler Tag verlaufen. War es denn zu viel verlangt, dass er mich in Ruhe ließ? – Offenbar ja, denn er musste mich ja küssen, er musste mich ja retten, er musste mich nach dem Ball fragen.

Das ganze Wochenende hatte ich ein schlechtes Gewissen gehabt, dass ich ihn angelogen hatte, ohne etwas dagegen tun zu können. Gut, vielleicht war es mehr Angst als schlechtes Gewissen gewesen. Immerhin kannten sich Daith und Jayden. – Und wie würde Daith reagieren, wenn er erfahren würde, dass ich ihn angelogen hatte und gar nicht mit Jayden zum Ball ging? Ich wusste es nicht.

Wie von selbst stahl sich meine Hand zu meinem Hals. Mein Rachen fühlte sich noch immer wund an und unter dem dicken Schal, den ich heute trug, konnte man noch immer violette Male – Abdrücke von Fingern – erkennen. Ich erschauderte bei der Erinnerung an den Freitagabend. Wenigstens hatten mich die Albträume in Ruhe gelassen.

Ein Fußgänger, den ich unbeabsichtigt angerempelt hatte, fuhr mich scharf an. Ich sah ihm nur kurz hinterher, bevor auch er in den weißen Abgründen verschwand, schüttelte den Kopf. Heute war echt nicht mein Tag.

 

 

„Ja.“

„Was?“ Ich blickte zu Jayden hoch. Ich hatte es zu meiner Überraschung noch rechtzeitig geschafft, wenn auch von oben bis unten durchnässt. Jayden hatte mich noch der ersten Stunde auf dem Parkplatz abgefangen. – Obwohl ich eigentlich vorgehabt hatte, den Tag ohne einen Zusammenstoß mit Daith oder ihm zu überstehen. – Zumindest hatte ich das versuchen wollen. Doch offensichtlich konnte man ihnen nicht entkommen, wenn sie es nicht zuließen und gleichzeitig konnte man sie nicht finden, wollten sie nicht gefunden werden. Frustrierend.

„Das ist die Antwort auf all deine Fragen, Honey.“ Jayden grinste wie immer, während um uns die Schüler in die Gebäude der EARHS strömten. Es hatte aufgehört zu regnen.

Noch verwirrter als zuvor, starrte ich ihn an. „Was genau willst du, Jayden?“

"Der Ball. - Du hast doch vorgehabt, mit mir hinzugehen. Schade, dass ich das allerdings aus zweiter Hand erfahren musste."

„Daith hat wirklich mit dir gesprochen.“ Eine Feststellung, keine Frage. Er warf mir ein schiefes Lächeln zu. In seinen Augen lag wieder jener Ausdruck, den ich am Freitag gesehen hatte. Naives Menschlein.

„Was dachtest du denn?“ In seiner Stimme lag ein amüsiertes Lachen. Ich seufzte. 

„Ich hatte gehofft, er sagt gar nichts. Er ist ja sonst so verschwiegen“, murmelte ich und sah ungeduldig zum Hauptgebäude hin. Ich hatte noch zwei Minuten um in meinem Literaturkurs aufzutauchen.

"Verschwiegen? Daith?" Jayden lachte. „So gut kennst du ihn also doch nicht. Er kann reden wie ein Wasserfall. – Aber direkt hat er es mir auch nicht erzählt. Er wirkte nur das ganze Wochenende äußerst frustriert, das heißt hauptsächlich. Zwischendurch sah er aus, als wolle er mich erwürgen, was ich ihm zutrauen würde, wenn ich ehrlich bin.“ Ein Schatten huschte über sein Gesicht.

Ich runzelte die Stirn. Hatte Daith mich wirklich fragen wollen, ob ich mit ihm zum Ball ginge? Hatte er wirklich vorgehabt, dorthin zu gehen – mit mir? Wieso?

„Na, wenn das jetzt geklärt wäre hol ich dich am Freitag um acht ab?“ Jayden hatte sein Grinsen wieder gefunden.

„Acht?“ Er hielt mir einen Zettel unter die Nase. Ungläubig nahm ich ihn entgegen. Eine Eintrittskarte. Er war sich seiner wohl sehr sicher. Moment. „…Freitag?“ Der Ball war schon diesen Freitag?

„Da steht das Datum, Honey.“ Er tippte auf die Fußzeile der Karte.

„Ich…“ Ich räusperte mich. Ich wollte nicht mit Jayden auf den Ball. – Ich wollte gar nicht auf den Ball. "Ich weiß nicht ... Weißt du, ich muss jetzt wirklich zu Literatur." Ich deutete mit dem Daumen auf das Gebäude hinter mir. Ich war wirklich - mal wieder - schon viel zu spät. Das Lächeln auf seinem Gesicht nahm ab, ohne aber wirklich zu verschwinden. Es verließ wohl wirklich nie sein Gesicht.

„Du weißt es nicht?“

Es klang als könne er nicht glauben, dass ich ihn zurückwies. Ich schluckte einmal kurz trocken, suchte nach Worten.

„Nein, ich … Ich sag dir bescheid, wenn ich es weiß.“ Ich versuchte mich in einem kurzen Lächeln, bevor ich mich schnell umdrehte und in den Unterricht eilte. In meinem Rücken spürte ich Jaydens Blick.

Im Literaturkurs bekam ich zu meinem Glück nur einen äußerst tadelnden Blick von Mrs Bennett anstatt noch zusätzliches Nachsitzen. Dacia neben mir schwieg eisern, selbst in der Pause, wofür ich ihr dankbar war. In meinem Kopf pochte es mal wieder, sodass ich erleichtert aufatmete, als die letzte Stunde nach gefühlten Ewigkeiten an mir vorbeigezogen war. Seufzend machte ich mich auf den Weg zum Parkplatz, als mich jemand am Ellbogen fasste und in die entgegengesetzte Richtung zerrte.

„Verdammt, Warden! Was soll das denn jetzt werden? Kidnapping?!“, schnappte ich nach Daith, der mich durch die Schulkorridore zog. Er wandte sich nicht mal zu mir um.

„Ich verhindere, dass du Theater ausfallen lässt, nur um mir aus dem Weg zu gehen“, erklärte er und ich stöhnte.

Wieso?!

„Zu spät, Mr Warden!“, donnerte Mrs Jekens Stimme, als wir die Aula betraten.

„Tut uns wirklich furchtbar leid.“ Seine Stimme troff vor Hohn. „Aber ich musste jemanden daran hindern, zu schwänzen.“ Er schob mich vorwärts. Ich verschränkte verärgert die Arme vor der Brust.

„Ich wollte nicht schwänzen, Idiot! Ich hatte es einfach vergessen!“

Der Zug um seinen Mund verriet mir, dass er mir nicht glaubte. Ich seufzte ergeben. Der Theaterkurs stand gerade in einem – peinlichen – Kreis, in dem improvisierte Übungen vor den eigentlichen Proben gemacht wurden. Dacia stand mit einem anderen Mädchen in der Mitte und stellte eine gestörte Mutter-Tochter-Beziehung vor.

Ich spürte Daiths Anwesenheit warm und stark neben mir, während ich versuchte, zuzusehen. Immer wieder stahl sich meine Hand zu dem Schal um meinen Hals und zuckte zusammen, als eine größere sie [auf einmal] auf halbem Weg abfing. Erschrocken sah ich zu Mr Arschloch hoch. In seinen Augen stand ein dunkler Ausdruck, den ich nicht deuten konnte.

„Wir sind dran“, raunte er und schob mich abermals vor sich her, diesmal in die Mitte des Kreises.

„Kyra und Valerie“, begann Mrs Jekens mit einem breiten Lächeln, „Ich möchte, dass euch vorstellt, euch um diesen“ Sie deutete mit einem ironischen Lächeln auf Daith, „bezaubernden, freundlichen Mann hier zu streiten. Ihr habt hoffentlich genug Fantasie. Dir wird sicherlich auch etwas dazu einfallen, Daith.“ Damit ließ sie uns inmitten der anderen Schüler stehen.

„Verschwinde, sagte ich! Kapierst du nicht, dass er mir gehört! Er will dich nicht! Keiner will dich!“, rief Valerie. Ich sah sie erstaunt und perplex an, als sie mich anfunkelte. Was?! „Er liebt mich, nicht wahr?“ Mit einem zuckersüßen Lächeln auf den Lippen klammerte sie sich an Daith, sah zu ihm auf als erwarte sie eine Antwort. Er schien genauso verwirrt wie ich.

„Ja, klar“, erwiderte ich sarkastisch. Ich hatte einige Sekunden gebraucht. „Ich weiß nicht, wie du auf die Idee kommst, dich zwischen uns zu drängen, aber er war schon immer mein.“ Ich schnappte mir Daiths anderen Ärmel. Valerie warf mir einen weiteren giftigen Blick zu, presste sich enger an ihn.

„Du solltest dich doch verziehen, Miststück“, fauchte sie. „Du bist nicht mal gut genug für ihn!“ Ich war mir nicht sicher, ob sie spielte.

Daiths Kopf fuhr von ihr zu mir herum, wieder zu ihr. Er schien noch immer nicht verstanden zu haben. Ich lächelte nur kühl, nutzte den Vorteil, dass ich größer war als Valerie und lehnte meinen Kopf gegen seine Schulter. Unter mir versteifte er sich, schien den Atem anzuhalten und es war schwer, nicht entweder schreiend davon zu rennen oder mein Gesicht an der Stelle zu vergraben, wo sein Hals in Schulter und Arm überging. Schließlich schlang sich sein Arm von hinten um meine Taille und ich konnte einen kleinen spitzen Überraschungsschrei nicht unterdrücken. Valeries Blick nahm an Tödlichkeit zu.

„Du gehst doch längst mit einem anderen zum Ball, also brauchst du ihn nicht und er dich nicht. Er braucht mich.“

Ich war mir nun sicher, dass sie nicht spielte. Also ging Daith mit Valerie zum Ball? Ich sah zu ihm auf und entdeckte den angespannten, frustrierten Blick in seinen Augen, den ich am Freitag für einen Moment gesehen hatte, kurz bevor sich die Aufzugstüren geschlossen hatten. Ihm war nun wohl auch klar, dass nicht mehr gespielt wurde.

„Aber du musst mit mir hingehen.“ Ich war selbst erstaunt, wie weinerlich und flehend ich klang. Irgendwie musste ich die Schauspielerei ja retten. „Ich gehe sonst mit niemandem hin.“

Daith sah zu mir, scheinbar nicht sicher, ob er mir glauben sollte. Er wollte den Mund öffnen, sein Gesicht war meinem auf einmal unendlich nah.

„Lügnerin!“ Valerie zog einmal kräftig an Daiths Arm, riss ihn aus der Balance und von mir fort. Mit einem selbstsicheren Lächeln schlang sie ihre Finger um seine. „Ich habe dich Freitagabend noch mit einem anderen gesehen. Und außerdem“ Sie drehte eine lange blonde Strähne um ihren Finger, „hat er schon mich gefragt.“

Sprachlos sah ich nun von ihr zu Daith, der aussah, als würde er jeden Moment explodieren. Ich beobachtete, wie er einmal tief einatmete, sich aufbaute und aus Valeries Klammergriff trat ohne sich dabei groß zu bemühen. Er hatte offensichtlich genug.

„Ihr bereitet mir Kopfschmerzen. Ich gehe mit niemandem zum Ball. Ich gehöre weder dir noch dir.“ Er zeigte auf Valerie, dann auf mich. Ich versuchte, den Stich, den es mir gab, zu ignorieren. Für einige Momente sah er zu mir, als wolle er mir irgendwas mitteilen, von dem er selbst nicht zu wissen schien, was es war. Ich starrte zurück, ohne die Botschaft zu verstehen und wandte mich schließlich mit einem Kloß im Hals ab. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Daith elegant und selbstsicher wie eh und je mit langen Schritten in den Kreis der Schüler zurückging. Valerie verbeugte sich und ich tat es ihr gleich. Immerhin hatte das hier ein Schauspiel sein sollen.

Klatschen und Pfeifen bedeuteten mir, dass ich mich nun ebenfalls in den Kreis zurückziehen konnte und ich suchte mir einen Platz, möglichst weit weg von Daith.

„Eine tolle Improvisation!“, lobte Mrs Jekens. “Sowas aus dem Stehgreif ist wirklich schwierig.“

Wenn die wüsste, dachte ich.

„Dann lasst uns arbeiten“, rief Mrs Jekens und klatschte einmal freudig in die Hände. Ich seufzte abgrundtief, als sie Daith und mich hinter die Bühne schickte, um eine Medea-Jason-Szene zu üben. – Die letzte Szene in diesem Fall. Offensichtlich war es mir nicht vergönnt, auch nur einmal davonzukommen.

Ich spürte Daiths Blick auf mir, als er mir folgte. Ich spürte jeden Blick auf mir, als wir hinter den Bühnenbildern verschwanden.  

„Jason! Du weißt, wem du den Tod deiner Glauke zu verdanken hast!“ Ich gab mir Mühe, nicht zittrig zu klingen und versuchte, zu ihm aufzusehen, doch ich scheiterte. Ich konnte jetzt nicht … Wann nur war diese verfluchte Stunde um?!

Daith kam ein paar Schritte auf mich zu. Leichtfüßig und trotzdem sicher. Seine Miene war ernst und in ihr flackerte etwas, das ich nicht kannte. Er war nicht Daith. Er war Jason.

„Medea. Medea, du weißt, wie sehr ich dich liebte. Liebte dich körperlos, dein Lachen, dein Haar. Grundlos und immerdar. Deine Eifersucht …“ Er stand vor mir, nahm meine Hand in seine, vorsichtig, als könne sie zerbrechen. „ … sie ist giftig und gefährlich. Doch dein Stolz“ Ein leises, sanftes Lachen vibrierte in der wenigen Luft, die noch zwischen uns blieb. „Dein Stolz macht dich schön, deine Liebe …“ Er holte tief Luft und ich hielt den Atem an, als er mir in die Augen sah. Seine Iris war ein träumerisches blau. Blau wie das Meer, blau wie ein Saphir. „Deine Liebe und dein Hass lassen mich mein eigenes Ich verlieren. Ich kann mich nicht erinnern, wer ich vor dir war. Wer ich bin. Dir habe ich alles zu verdanken. Alles Gute und alles Schlechte. Und ich weiß nicht, wie ich mit all dem leben soll. Ich weiß nicht, wie ich ohne all dem leben soll.“ Mein Gesicht war auf einmal zwischen seinen großen warmen Händen gefangen, seine Finger verirrten sich in meinen Haaren. Mein Herz raste gegen meine Rippen. So sehr, dass es wehtat und ich blinzelte. Wie machte er das?

„Jason … Ich … ohne mich würdest du … Ich … Ich würde …“

Seine Lippen waren meinen plötzlich so nah. Der Ausdruck in seinen Augen war abwesend und gleichzeitig bei mir. Da war kein Zögern, als sein Mund meinen so zart streifte wie eine Feder. Er küsste mich als wäre er mein und ich sein und ich wusste nicht, wo Daith nun wirklich endete und wo Jason aufhörte. Ich wusste nicht, ob Medea unglücklich war oder ich frustriert, ob Medea vor Freude weinen wollte oder ich.

„Was tust du, Jason? Ich tötete deine Frau und … unsere Kinder. Unsere Kinder, Jason. Ich will dich töten.“ Tränen brannten auf meinen Wangen, verschleierten meine Sicht. Ich spürte Daiths – nein, Jasons – Arme um mich und wollte dort bleiben. Vielleicht nur für ein paar Minuten, aber ich wollte bleiben. – Oder war es Medea? Ich war so verwirrt.

Ein leises Lächeln spielte auf Jasons Lippen. „Es ging immer nur um mich. Du sollst an dich denken. Denk an dich und flieh, damit ich weiß, dass all dieser unbiegsame Stolz und all die warme Liebe und all der kalte Hass dort draußen noch existieren. Ich liebe dich.“

Und mit einem Mal waren Jasons Arme verschwunden, Daith trat einen Schritt von mir weg und ich wurde in die Realität zurückgeworfen. Erschrocken sah ich auf, wischte mir die Tränen von den Wimpern.

„Nun … das war bühnenreif.“ Meine Stimme klang verschnupft und ich hasste mich dafür.

„Kyra …“, setzte er an, hob die Hand und ließ sie auf halbem Weg wieder fallen. Ich wandte mich ab und wollte gehen, denn die Stunde war um, doch seine langen, schlanken Finger um mein Handgelenk hielten mich zurück. „Warte.“

„Was?“, zischte ich und fuhr selbst bei meinem feindseligen Ton zusammen, doch er ließ nicht los. Seine Fingerspitzen pressten auf meinen Puls und ich betete, dass er nicht auf meinen flatternden, rasenden Herzschlag achtete.

„Geh nicht mit Jayden. Er … Ich …“ Sein Blick bohrte sich in meinen, schien nach etwas zu suchen. Ich wagte es nicht, zu atmen. „Geh mit mir!“

Der Griff um mein Gelenk wurde fester; nicht genug um scherzhaft zu sein und trotzdem bestimmt und fordernd. Die Luft entwich mir zischend durch die Zähne.

Ich trat einen Schritt auf ihn zu, riss mich zusammen. Dieser Mistkerl. „Daith …“, begann ich. Ein freudloses Lächeln schlich sich in meine Mundwinkel. Es fühlte sich an wie eine Grimasse. „Wenn du mit jemandem spielen willst, such dir doch bitte eine andere.“

Verwirrung zeichnete sich in seinen hellen Augen ab.

„Du gehst mit Valeri. Du hast sie doch schon längst gefragt, das ist in Ordnung.“ Ist es nicht. „Du brauchst mich doch gar nicht. Du kannst mich ja nicht mal leiden. Wir können uns nicht leiden. Also ist es doch Schwachsinn.“ Ist es nicht. „Außerdem weißt du doch, dass ich mit Jayden gehe, also ist doch alles schon erledigt.“ Ist es nicht. Ist es nicht. Ist es nicht! Ich versuchte, den Knoten, der auf einmal in meiner Kehle saß, runterzuschlucken. Meine Nase prickelte und hinter meinen Augen brannte es verräterisch. Dummkopf, schalt ich mich. Wieso weinst du wegen ihm?!

„Valerie ist nicht …“ Ärger klang in seiner Stimme, doch ich wandte mich brüsk ab und verschwand über die leere Bühne und verließ die Aula.

Ich fragte mich, wieso und wir ich überhaupt in ihn verliebt sein konnte. Er war so … Was? Arrogant? Egoistisch? Herrisch? … Anders?

Ich seufzte, als ich auf den Parkplatz trat. Im Gegensatz zu heute Morgen schien die Sonne und ich fischte in der Tasche, auf der Suche nach meinem Handy. Ich musste nun wohl oder übel zum Ball gehen – mit Jayden.

Ich Großmaul.

Jayden

Hol mich am Freitag um 20 Uhr ab, wenn dein Angebot noch steht.

-K

 

Ich rannte. Mein Atem kam in heftigen Stößen, weiß und fahl in der Luft. In meinen Lungen und Seiten saß stechender Schmerz, Schweiß rann mir den Rücken hinunter. Meine bloßen Füße machten kein Geräusch auf dem froststarren Boden. Es war totenstill. Ich hörte meinen Atem nicht, das Flattern meiner Haare nicht. Nicht ein einziger Vogel sang in den Baumkronen des Central Parks, der unter nebelhaften Schleiern in der bleichen Morgendämmerung merkwürdig verzerrt wirkte. Die Stille schien zu laut in meinen Ohren.

Ich wusste nicht, wohin ich wollte oder was ich früh morgens barfuß im Central Park zu suchen hatte, aber ich wusste, es war dringend. Ich musste so schnell wie möglich etwas erreichen. Doch so schnell ich auch rannte, so sehr meine Beine auch von der Anstrengung brannten, ich kam nicht voran. Dabei wusste ich, ich hatte es fast erreicht – was auch immer es war. Ich konnte spüren, es war nah. Es lag in der Luft. Eine feine Note von Minze und warmer Erde, die mich lockte.

Die eisige Luft brannte in meinen Lungen, während sich etwas in mir zusammenzog. Tränen rannen mir über die Wangen, schienen noch auf ihnen zu gefrieren. Ich würde es niemals rechtzeitig erreichen.

Die Nebelschwaben schienen sich um mich zu verdichten, mich zu würgen, schnürten mir die Luft ab. Tief in ihnen glaubte ich Schatten tanzen zu sehen.

Komm.

Von nirgendwo kam eine Stimme, lockte mich dunkel und samtig schnurrend. Ein Heulen durchschnitt die Dämmerung und die taube Stille. Langsam und träge lichtete sich der Nebel gerade so weit, dass ich die zwei Gestalten erkennen konnte. Wölfe.

Mir gefror der Schrei in der Kehle. Der eine war schmal und braun, der andere mächtig und dunkel. Beiden tropfte das Blut des jeweils anderen von den Fängen, tiefe Wunden zogen sich durch Fleisch und Fell des Schwarzen. Ein blaues Augenpaar fand mich, ehe der Braune mit einem wilden Knurren nach dessen Kehle schnappte.

Nein!

Ich schoss in die Senkrechte, sah mich hektisch um. Mein Zimmer. Kein Blut. Kein Nebel. Keine erdrückende Stille. Mein Zimmer. Ein Traum. Ein merkwürdiger Traum.

Ich atmete tief durch, strich mir über das Haar, das mir mal wieder wild vom Kopf abstand. Da bis jetzt noch immer niemand mit einem Baseball-Schläger bewaffnet in mein Zimmer gestürmt war, nahm ich an, dass meine Eltern bereits arbeiten waren.

Hinter den Vorhängen vor meinem Fenster war es noch stockdunkel. Allerdings bezweifelte ich, dass ich nun wieder einschlafen konnte. Seufzend schwang ich meine Beine aus dem Bett, klaubte mir Klamotten aus dem Schrank und tappte ins Badezimmer, um mich unter die Dusche zu stellen.

Dieser merkwürdige Traum hatte mir nun schon seit dem Wochenende verfolgt. Und immer war ich schreiend aufgewacht, wenn der kleinere Braune auf den Dunklen losging. Dabei war ich mir sicher, dass es der gleiche schwarze Wolf war, der mich sonst in meinen Albträumen quälte. Zu sagen, ich war  verwirrt, untertrieb es noch.

Seufzend starrte ich die Kacheln an der Wand an, während das Wasser auf mich herab prasselte und meine Gedanken wie so oft in den letzten Tagen zu Daith Warden wanderte. Wieso sollte er mich bitte, mit ihm zum Ball zu gehen? Er konnte mich nicht ausstehen. Richtig? Und ich konnte ihn nicht ausstehen. Richtig?

Nein, nicht richtig. Auf eine verdrehte Art und Weise mochte ich die Art, wie sich seine Mundwinkel von Zeit zu Zeit hoben, wie er das R leise rollte und manchmal in seinem Südstaaten-Akzent nuschelte. Ich mochte selbst seinen arroganten Blick und seine stolze Haltung.

Stöhnend ließ ich meinen Kopf in den Nacken fallen und schaltete das Wasser ab. Schnell trocknete ich mich ab, zog mich an und fuhr mir mit den Fingern durch meine feuchten roten Locken, um sie dann zu einem nachlässigen Seitenzopf zu flechten. Ich kaute auf meiner Lippe, während ich mich und meine müden grünen Augen im Spiegel betrachtete.

An der Schule war der Parkplatz noch verlassen, doch ich musste nicht lange warten, bis er sich füllte und ich von den Schülermengen ins Hauptgebäude getrieben wurde.

Ich hielt Ausschau nach zwei hochgewachsenen Jungs, doch weder Jayden noch Daith ließen sich blicken und sie blieben den Rest der Woche verschwunden.

 

 

 

Sein Seufzen fühlte sich an, als würde es aus seinem tiefsten Inneren, den verworrenen Abgründen seiner vermutlich nicht mehr vorhandenen Seele kommen.

Es war nicht einfach. Es war kompliziert und schwachsinnig, doch er konnte nicht anders, könnte nicht anders, selbst wenn er wollte.

Um ihn herum türmten sich Schatten, über ihm ließ der silberne Mond die Blätter in einem eigenartigen Grün leuchten. Die Luft brannte in seinen Lungen, verhing sich kalt in seinem Fell, so schwarz wie Teer. Er hob den Kopf, der Wind trug sein Heulen über die Stadt hinweg. Er war frustriert und trotzdem so friedlich wie lange nicht mehr.

Trug und Schein

Noch vor zwei Stunden war ich entschlossen gewesen, Jayden doch noch eine Absage zukommen zu lassen und nicht auf diesen Ball zu gehen. Ich hatte das Handy schon in der Hand gehabt, als mein Blick auf die Hülle gefallen war, die auf meinem Bett lag. Ich hatte nicht widerstehen können, einen Blick hinein zu werfen. Nun glitten meine Hände einmal mehr über den grünen Stoff. Schlicht und gleichzeitig elegant, lang und schmal. Und mit einem atemberaubend tiefen Rückenausschnitt, der mir erst jetzt auffiel, als ich mich vor dem Spiegel drehte und versuchte, mich so gut wie möglich von allen Seiten betrachten zu können. Der Chiffon schimmerte und glitzerte geheimnisvoll und umschmeichelte mich geschickt drapiert von Brust bis Fuß und schleppte noch eine Winzigkeit hinter mir her, obwohl ich halsbrecherisch hohe goldene Sandalen trug. Und es war mir egal, ob ich Jayden nicht leiden konnte, ob ich dort Daith mit Valerie antreffen würde oder ob ich solche Veranstaltungen nicht ausstehen konnte; ich wollte dieses Kleid tragen und vielleicht würde es ja auch gar nicht so fürchterlich unausstehlich werden. Und vielleicht war Jayden auch gar nicht so eine schlechte Wahl – nicht dass ich jetzt noch eine hätte.

Ich betrachtete mich noch einmal im Spiegel. Meine Haare hatte ich nur zum Teil locker hochgesteckt, sodass der größte Teil lang, schwer und glänzend bis zu meinem Kreuz floss und einen herrlichen Kontrast zu dem Grün des Kleides und meiner Augen bildeten, die heute ausnahmsweise mit Wimperntusche, Kajal und schimmerndem Lidschatten umrandet waren. Ich verzog meine roten Lippen zu einem kurzen zufriedenen Lächeln, bevor ich mir meine Handtasche schnappte und aus meinem Zimmer trat, gerade als es klingelte.

Ich seufzte und warf einen Blick auf meinen Mantel – denn obwohl draußen eisige Temperaturen herrschten, wollte ich ihn nicht über dieses wundervolle Kleid anziehen. Mit der Absicht, schnell ins Auto und dann in den Ballsaal, den die Schule gemietet hatte, zu huschen, ließ ich ihn hängen.

Draußen waren es gefühlte tausend Grad unter dem Nullpunkt und die Kälte biss mir in die Haut. Jayden wartete schon vor der Tür und ich beobachtete, wie seine Augen groß wurden und das ständige Lächeln einmal kurz von seinem Gesicht wich, als er mich entdeckte. „Wow“, entfloh es ihm und ich konnte ein selbstgefälliges Grinsen nicht unterdrücken. Ich machte einen kleinen Knicks und musste kichern.

„Danke“, sagte ich. „Du siehst aber auch nicht … schlecht aus.“

Und das tat er in dem dunklen Anzug und dem Seidenhemd mit der grünen Krawatte wirklich nicht. Ich sah zu seinen grünen Augen auf, die in der Nacht merkwürdig zu glimmen schienen und mir fiel auf, dass er dezent, aber dennoch merklich auf mich abgestimmt war – er erinnerte sich wohl noch ans Macy’s.

Mit einem Schmunzeln in den Mundwinkel bot er mir seinen Arm und schien wohl nicht mitzubekommen, dass ich erbärmlich fror. Er führte mich zu seinem Auto und öffnete die Tür. Ich schnaubte und mein „Danke“ klang bissiger als gewollt. Er lächelte nur stur.

Als ich es geschafft hatte, den langen Rock im Fußraum zu drapieren, ging er um die Motorhaube herum zur Fahrertür.

„Tust du mir einen Gefallen?“, fragte er schließlich. Ich zuckte die Schultern.

„Das kommt darauf an.“

Er ignorierte mich. „Würdest du bitte nicht so gucken, als würden wir auf eine Beerdigung fahren? Ich verspreche, es wird einzigartig.“ Er grinste zu mir herüber, während er den Wagen anspringen ließ.

Ich schwieg. Einzigartig würde es ganz sicher werden; der erste und letzte Ball, den ich besuchen würde.

Die Fahrt zum Roseland Ballroom verlief schweigend – zumindest in meinem Part. Jayden versuchte immer wieder Konversationen zu starten – scheiterte jedoch immer wieder. Irgendwo tat es mir leid, ihn so abzuwürgen, dann aber auch wieder nicht.

Der Roseland Ballroom befand sich auf der 239 W 52nd Street und sah von außen heruntergekommen und unscheinbar aus. Irgendwann in den Zwanzigern hatte man eine alte Eislaufbahn in eine große Halle umgewandelt, in der heute Bands wie Metallica, Snow Patrol oder Green Day Konzerte gaben. Irgendjemand musste unserer Stufe einiges gespendet haben, dass man das hier hatte mieten können.

Jayden fand einen Parkplatz erst zwei Blocks weiter und mir grauste er vor dem Fußmarsch in diesen Absätzen und dieser Kälte.

Ich stolperte mehr durch den Schnee zum Eingang hinüber als dass ich lief. Nur Jaydens Hand an meinem Ellbogen hielt mich grade, dennoch ich hatte nicht schlecht Lust, die Zähne gegen ihn zu fletschen. Immerhin war er an all dem hier Schuld. – Na gut, vielleicht war auch Daith es Schuld, womöglich auch ich. Ich seufzte.

„Alles in Ordnung?“, fragte Jayden. Ich verzog das Gesicht.

„Klar – alles bestens.“ Ich spürte seinen Blick prüfend auf mir, ignorierte es aber. „Lass uns das hier einfach hinter uns bringen.“

Neben mir lachte er leise.

Am Eingang zum Roseland stand ein Paar aus unserer Stufe, die nach den Eintrittskarten sahen. Beim Näherkommen erkannte ich Amelia in einem goldenen hautengen Kleid, das wenig der Vorstellung überließ. Den Typ neben ihr erkannte ich nicht. Er wirkte schlaksig, wenn auch mit breiten Schultern, was wohl vor allem an dem Anzug lag, der ihm mindestens zwei Nummern zu groß war. Ich nahm an, es war einer aus dem Football-Team.

Amelias blaue Augen funkelten mich giftig an, als Jayden ihnen unsere Karte hinhielt. Ich grinste sie an und ihr Blick wurde noch schmaler.

„Scheint wohl so, als wärest du doch schneller über Daith hinweg gekommen, als ich gedacht hatte“, zischte sie und Genugtuung zeichnete sich in ihren Zügen ab, als Jayden versteifte. Doch er fing sich schnell wieder und lächelte sie gewinnend an.

„Was mein Glück ist, nicht wahr?“ Bestimmt legte er mir eine Hand an den Rücken und schob mich ins Gebäude hinein. Seine Haut auf meiner zu spüren ließ mir einen unangenehmen Schauder den Rücken hinab rieseln. Bestimmt, wenn auch nicht grob, schob er mich durch den Eingang.

„Daith?“, lachte er, während wir durch einen langen, dunklen schmalen Gang gingen, an dessen Ende blitzende blaue Lichter und pulsierende Bässe warteten. Ich antwortete ihm nicht. Mein Atem war mir irgendwo im Hals stecken geblieben, mein Puls klopfte in meiner Kehle. Daith. Ich hatte ihn vergessen – oder zumindest die Tatsache, dass er da sein würde.

Abrupt blieb ich stehen. Wir hatten das Ende des Ganges erreicht, an dem eine doppelflügelige Metalltür komplett aufgesperrt war und den Blick hinunter in einen atemberaubenden Saal freigab. Ein paar Stufen führten hinunter in eine Traumwelt aus allen Schattierungen von Blau, Weiß und Grün. Die Wände waren mit schwarzen Tüchern bedeckt, sodass die weißen Tischdecken der vielen Tische im Raum noch heller hervorstachen. Ein riesiger Buffet-Tisch stand an einer der Längsseiten, auf dem Punschschalen, silberne Kelche und Kannen, Tabletts mit Essen und mehr standen. Bäume bedeckt mit künstlichem Schnee und hellen Lichtern säumten die Saalränder, blau und grün fluoreszierende Lichter zeichneten hypnotisierende Muster auf den Parkettboden, wo man Platz für die Tanzfläche gelassen hatte. Doch was meinen Blick vor allem anzog war der gigantische, leuchtenden Leuchter über der Mitte des Raumes, dessen Arme wie Äste tief hangen und an der hohen Decke entlang zu wachsen schienen.

„Nicht schlecht“, hörte ich Jayden sagen. Sein Arm streifte meinen, als er mir die Hand hinhielt, um mir die Stufen hinab zu helfen. Ich wurde zurück in die Realität gerissen, in der der Saal mit Schülern der Senior- und Junior-Stufen gefüllt war, deren Stimmen zusammen mit der Live-Musik zu einer fast unerträglichen Lautstärke anschwollen.

„Wollen wir?“, fragte Jayden und ich ergriff seine Hand, raffte meinen Rock und stolperte die Stufen hinab. „Hoppla“, lachte er, während er einen Arm um meine Taille schlang, um mich auf den Füßen zu halten. Ich funkelte ihn wütend an.

„Danke“, zischte ich und wand mich aus seinem Griff. Ich wusste nicht wieso, aber irgendetwas störte mich daran, ihm irgendwie nah zu sein.

„Fahr die Krallen ein, Hexchen“, bemerkte er trocken und sein Grinsen verschwand für zwei Atemzüge, gab Sicht auf dunkle grüne Augen und einen missbilligenden Zug um die Mundwinkel. Dann war es wieder und er deutete mit einer großzügigen Geste in den Raum. „Möchtest du tanzen? Etwas trinken? Essen?“, fragte er freundlich.

Ich wollte den Mund öffnen, um zu antworten, stockte dann aber, als mein Blick für einen Moment an ihm vorbei ging. Blaue eisige Augen brannten ihren Blick in meinen. Ich holte Luft.

Er trug einen dunklen Anzug. Schwarz wie seine Haare, die heute einmal nicht ungekämmt waren und ihm trotzdem in die Stirn fielen. Das blaue Licht zeichnete leichte Schatten unter seine Wangenknochen. Er hatte die Hände in den Hosentaschen und wirkte hier noch größer als es eh schon tat. Seine Schultern waren gestrafft, das Kinn gehoben. Ich musste zugeben, in diesem Licht wirkte er mysteriös, ungreifbar und gleichzeitig mächtig präsent. Und wo Jayden nur aufsehenerregend war, war er umwerfend. In seinen Augen war kühle Arroganz. Doch dahinter glaubte ich etwas … etwas zu sehen – ich konnte es nicht benennen.

Während ich zu ihm hinstarrte schmolz die Arroganz und wurde für einige wenige Augenblicke fast warm, einer seiner Mundwinkel zuckte in einem halbherzigen, fast schon bitteren Lächeln nach oben.

„Tanzen“, sagte ich schließlich mit rauer Stimme. Ich schaffte es, mich von Daiths bloßem Anblick los zu reißen und mich wieder an Jayden zu wenden. „Lass und tanzen gehen.“

Ich spürte Daiths Blick in meinen Rücken, als ich Jayden am Arm griff und ihn mit mir zog. Ich hasste tanzen – doch ich wollte, nein musste, soweit weg wie möglich von ihm. Es gefiel mir nicht, dass er irgendeine Macht über mich hatte, ohne überhaupt etwas zu sagen.

Der Song, zu dem ich Jayden gezwungenermaßen auf die Tanzfläche zog, war nicht langsam, dennoch legte er eine Hand auf meine Hüfte, zog mich auf halbe Armeslänge an sich. Ich berührte nur mit Fingerspitzen seine Schulter. Er war ein halbwegs guter Tänzer, befand ich nach einer Weile, die wir schweigend verbracht hatten. Des Öfteren schien er außer Takt zu geraten, doch das störte mich wenig. Ich war zu sehr damit beschäftigt, nach blauen Augen Ausschau zu halten. Einmal glaubte ich, ein Paar gefunden zu haben, das zu mir herüber starrte, doch nach einer schnellen Umdrehung waren sie verschwunden.

„Kyra?“ Jaydens Stimme riss mich irgendwann aus meinen Gedanken. „Hallo?“ Seine Hand tauchte in meinem Blickfeld auf. Irritiert sah ich ihn an und bemerkte, dass wir wohl schon seit einiger Zeit am Rande der Tanzfläche standen.

„Geht es dir gut?“, fragte er. In seinen Augen schimmerte etwas, dem Sorge vielleicht am nächsten kam. „Brauchst du etwas zu trinken?“

Ich schluckte trocken und nickte benommen. Ein Glas Punsch klang gerade gut – selbst wenn der vermutlich bereits mit Alkohol gefüllt war.

„In Ordnung…“ Er schien zu zögern, ob er mich allein lassen konnte, machte sich dann aber doch auf den Weg zum Buffet-Tisch hinüber. Erleichtert atmete ich ein.

„Darf ich um nur diesen Tanz bitten?“

Mein gerade wieder gewonnener Atem blieb mir wieder im Hals stecken. Erschrocken wirbelte ich herum. In Daiths Augen glitzerte Belustigung und ich spürte das Blut in meinem Gesicht brennen.

„Nun?“ Er hielt mir seine Hand hin. Seine Finger waren lang und schlank und entspannt. Ich starrte auf sie, als hätten sie die Antwort auf seine Frage. „Es ist zwar nicht so, dass du am Ende eine Wahl hättest, Rotkäppchen, aber man kann ja den Anschein bewahren.“

Ich funkelte verärgert zu ihm hinauf, allerdings erstarb mein sarkastischer Kommentar auf meiner Zunge, als er nach meiner Hand griff, mich an sich zog und seine andere Hand auf meiner Taille platzierte. Ich glaubte, seine Haut durch den Stoff meines Kleides brennen zu spüren.

Er sagte nichts, während er uns zu der Melodie führte, die nun langsam und zäher wurde. Die Band spielte ein bittersüßes Stück über gefundene und verlorene Liebe. Oder verlorene und wieder gefundene Liebe. Ich hatte keine Zeit, richtig zuzuhören. Ich starrte in Daiths Augen, die in diesem Licht so anders, fast außerirdisch aussahen. Er sah zurück und ich konnte nicht wegsehen. Mein Herz klopfte hinter meinen Rippen und ich war erstaunt und verwundert, dass er mich so … sanft halten konnte. Ich war mir sicher, es lag an meinem Kleid oder vielleicht an der Musik, aber der Tanz mit ihm war … anders. Er war faszinierend. Die Art wie das Licht in seinen Mitternachtshaaren reflektierte, die Art wie er sicher und geübt seine Füße setzte. Fast kam es mir vor, als tanzten wir nicht nur, ich glaubte für einige Augenblicke zu schweben und gleichzeitig fühlte ich mich schwer.

Dann zog Daith mich weiter an sich und ich stolperte. Doch er fing mich und bewegte sie weiter, als wäre nichts passiert. Meine Wange brannte an seine Schulter.

„Daran könnte ich mich gewöhnen“, hörte ich ihn murmeln. Ein wenig benommen hob ich den Kopf.

„Wie bitte?“

Er grinste und zeigte scharfe Eck- und Schneidezähne, die ihm Licht gefährlich blitzten. „Diese Stille ist man von dir nicht gewöhnt, Kätzchen.“

Und da ging der magische Moment dahin. „Man muss nicht immer sprechen, um Leute zu verfluchen“, fauchte ich und spürte sein Lachen mehr als dass ich es hörte. Dann folgte abermals Schweigen.

„Ich wollte mit dir reden“, sagte er schließlich. Mir fiel auf, dass wir bereits zu einem anderen Song tanzten und fragte mich, wie viele wohl schon vergangen waren, seit wir die Tanzfläche betreten hatten. Ich wunderte mich, dass mir meine Beine noch nicht weh taten – vor allem in diesen mörderischen Schuhen.

„Du willst doch immer reden“, murmelte ich. Er legte den Kopf schief.

„Was hast du gesagt?“

„Ich sagte, dass es eine brillante Idee war, hier reden zu wollen.“ Ich hoffte, er bemerkte den Sarkasmus. „Willst du mich wieder zwingen, dir zuzuhören?“

Ein Mundwinkel zuckte. Er lächelte an diesem Abend merkwürdig oft. „Nein, ich hatte gehofft, dieses Mal würde es dir in den Sinn kommen, das freiwillig zu tun.“

Ich schnaubte.

„Du siehst … wunderschön aus heute. Nicht dass du das nicht auch sonst tun würdest“, sagte er und die Spucke blieb mir im Hals stecken. Ich blickte zu ihm auf und musterte ihn. Mir fielen seine Pupillen auf, die ein wenig geweitet zu mir hinunter sahen. Seine Wangen schienen rot gefärbt, seine Nasenflügel gebläht. Augenblicklich wollte ich einen Schritt zurück treten, doch das ging schlecht, während wir nach wie vor tanzten. Langsam wurde mir schwindelig.

„Bist du high?“, platzte es aus mir raus. Für einen Moment schien er zu überrascht um Antworten zu können, bevor sich die Farbe auf seinen Wangenknochen zu vertiefen schien. „Nein, ich bin nicht high. Wie kommst du darauf?“ Aus seinem Ton sprach Verwunderung.

Ich sah ihn skeptisch an. „Ist es dir nicht aufgefallen? Du hast mir gerade ein Kompliment gemacht. Ein nicht besonders kleines noch dazu“, sagte ich. Vielleicht hatte er ja von dem Punsch getrunken. Er sah mich kurz an, bevor ein tiefes Lachen aus ihm raus brach.

„Ich kann dir versichern, dass ich vollkommen bei Sinnen bin, Kätzchen.“

Ich hob eine Braue, doch er grinste nur leise.

„Irgendwie glaube ich dir das ni…“ Ich stockte, als er mir eine Strähne hinters Ohr strich, die mir in die Stirn gefallen war. Sprachlos starrte ich ihn an. „Was ist los mit dir?“, fragte ich.

„Los mit mir? Ich bin nett – darf ich das nicht?“

 Ich suchte vergeblich nach Sarkasmus in seinem Blick. Er lockerte seinen Griff für eine Drehung, um mich kurz darauf wieder an sich zu ziehen. Verwirrt blickte ich ihn an.

„Nein. Ich meine … Du kannst mich nicht leiden und … Du bist nicht …“

„Verstehe. Dir passt es nicht, wenn ich unfreundlich bin und dir passt es nicht, wenn ich freundlich bin.“ Seine dunklen Brauen zogen sich zusammen und er rümpfte die Nase auf eine Weise, die fast niedlich aussah. Ein schwerer Seufzer entfloh ihm. „Ich werde nicht schlau aus dir.“

„Ich meine … du verhältst dich nicht … also, nicht wie du selbst“, versuchte ich zu erklären. Sein Gesicht glättete sich.

„Aber mich selbst scheinst du ja nicht zu mögen“, antwortete er. Sein Gesicht war meinem auf einmal näher. Ich atmete seinen Duft nach warmer Erde und Minze ein.

„Das … das, also …“, stotterte ich. Er würde doch jetzt wohl nicht…

„Kyra?“ Daith zog mich fester an sich. Oh na toll, dachte ich. Das machte es jetzt nicht wirklich besser. „Alles in Ordnung?“ Er blieb am Rande des Saals stehen. Ich versuchte nach Luft zu schnappen.

„Kannst du … loslassen?“, keuchte ich. Er blickte mich verwirrt an, ehe er begriff und einen Schritt von mir weg tat. Ich hatte auf einmal das dringende Bedürfnis, von ihm weg zu kommen. Sonst würde er mir noch mehr den Atem nehmen als er es eh schon getan hatte. Ich wirbelte auf meinem spitzen Absatz herum und wollte mich mit der Entschuldigung, mir etwas zu trinken zu holen von dannen machen, doch er packte mich nur ums Handgelenk und zog. Überrascht taumelte ich nach hinten gegen seine Brust.

„Warte!“, brachte er hervor, bevor ich gegen ihn stieß und er ebenso still stand wie ich. Wir hielten beide unseren Atem an. Ich spürte seine Wärme in meinem Rücken und ein Schauder rann mir den Rücken runter, in meiner Kehle formte sich ein merkwürdiger Kloß.

Irgendwann, als mein Nacken schon steif wurde, hörte ich ihn zischend ausatmen. Die Luft strich warm über meinen Nacken.

„Ich wollte wirklich nur mit dir reden, Kätzchen“, flüsterte er. Seine Stimme war auf einmal heiser und klang belegt. Ich schluckte, bevor ich den Mut fand, mich zu ihm umzudrehen. Seine Lider hangen tief, als wäre er müde, und um seinen Mund lag ein unsicherer Zug. Kurz glaubte ich, ich hätte Jason und nicht Daith vor mir. Doch das war schwachsinnig.

Ich spürte wie sich seine Finger sich von meinem Gelenk lösten, meine Handfläche streiften. Ich ließ es beinahe benommen geschehen, als er mich sanft näher zog. Mein Herz klopfte und flatterte in meinem Hals.

„Es tut mir leid.“ Seine Stimme war nur noch ein Wispern auf meiner Haut. „Ich wollte wirklich nur mit dir reden.“

Ich fühlte mich wie im Traum und wie von selbst schlangen sich meine Arme um seinen Hals. Ich spürte sein Herz flattern wie meins.

„Das mit dem Reden kriegen wir doch eh nie hin“, hörte ich mich sagen. Meine Stimme klang dunkel und für einen Moment weiteten sich seine Augen, er sah mich überrascht an. Die Lichter reflektierten in seiner saphirfarbenen Iris und für zwei Herzschläge war das meine komplette Welt, ehe er sich hinab beugte.

Diesmal stieß ich ihn nicht weg. Ich hätte es vermutlich sowieso nicht gekonnt, selbst wenn ich gewollt hätte. Diesmal war ich mir sicher, dass ich Daith vor mir hatte.

Daith, der sich nicht eben zusammen gebrochen war und schwach auf dem Sofa lag.

Daith, der nicht in der Rolle von Jason steckte.

Daith, der nicht arrogant war und kriegen wollte was er sich wünschte.

Daith, der ernst war und dessen Lippen sich dennoch an meinen zu einem Lächeln verzogen.

Ich wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, als wir uns voneinander lösten, ohne uns ganz los zu lassen. Ich spürte seine Arme warm und stark um meine Taille.

„Du bist die launischste Hexe, die mir je untergekommen ist“, sagte er leise. Ich musste kichern – das war wohl der Endorphin-Regen schuld. Ich wollte gerade antworten, als unter den Schülern, die an den Tischen standen, die Hölle los brach.

 

 

 

Der Wahnsinn hob den Kopf, reckte neugierig witternd die Nase.

Er roch Wut, Enttäuschung und langersehnte Rache. Mit einem erwartenden Schaudern erkannte er die Präsenz, die sich um ihn herum ausbreitete und nach seinem Blut verlangte.

Er leckte sich die Lefzen. Dieses Mal. Heute Nacht würde er frei sein.

Impressum

Texte: Victoria Marck
Bildmaterialien: Cover made by Seliiia
Tag der Veröffentlichung: 11.04.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /