Der Ballsaal lag vor ihr. Überfüllt mit tanzenden, lachenden, sprechenden Paaren und Gruppen von Menschen. Zigarrenrauch hang wie dichter Nebel über den Köpfen der hunderten, edlen Gäste, verstopfte ihre Sinne.
Sehnsüchtig blickte sie zu dem Buffet mit den Punschgläsern hin. Seit Stunden saß ihr nun ein unerträgliches Brennen in der Kehle, doch sie behielt ihre Haltung. Ihr Rücken war gerade, die Schultern gestrafft, die behandschuhten Hände brav im Schoß gefaltet. Ihr langer, weißer Hals war edel gebogen wie der Nacken einer Balletttänzerin. Der Ausdruck auf ihrem sanften, anmutigen Gesicht mit den großen dunklen Augen war kühl und sonst nichts. Ein paar glatte, weinrote Strähnen hatten sich aus ihrer Frisur gelöst und fielen ihr nun weich auf die fein gemeißelten Wangenknochen.
„Lady Febray.“, hörte sie eine tiefe Stimme wie durch einen Tunnel. Jemand tippte ihr auf die Schulter.
Dawn zuckte zusammen und sah auf. Lady Anne Violet Virosa Febray, ihre Mutter, sah sie tadelnd über ihren Fächer hinweg an, dann deutete sie auf einen Mann mittleren Alters, der sich gerade tief vor ihr verbeugte, sodass Dawn einen guten Blick auf den dunklen, schütteren Haaransatz hatte. Als er sich wieder aufrichtete sah sie in das, nach ihrem Geschmack, wohl hässlichste Gesicht. Grotesk vernarbt, große Nase, kleine Augen.
„Das ist Lord Freeman. Ziemlich vermögend. Nicht meine erste Wahl, aber da du dich ja überhaupt nicht bemühst, kann ich ja wohl nicht mehr erwarten.“, raunte Lady Anne ihr zu. Dawn verzog kaum sichtbar das Gesicht. Es ekelte sie an, dass ihre Mutter sie trotz der gesellschaftlichen Regeln der neuen Zeit auf irgendwelchen Bällen, die sie veranstaltete, reich verheiraten wollte.
„Lady Febray, würden Sie mir die Ehre eines Tanzes mit Ihnen erweisen?“ Die hochgradig verschnupfte Stimme des Mannes vor ihr holte sie zurück in die Gegenwart.
Sie war mehr als nur geneigt, abzulehnen, doch sie spürte den bohrenden Blick ihrer Mutter auf sich und erhob sich anmutig, legte ihre schmale Hand in die Pranke des Mannes, ohne sie wirklich zu berühren und versank in einen kurzen graziösen Knicks, wie ihn nur Tänzerinnen beherrschten.
„Mit Vergnügen, Lord Freeman.“
Ihre Stimme war rau. Vor Durst. Und weil sie nicht oft sprach. Nun sah sie die unwillige, steile Falte zwischen den Brauen von Lady Anne, während Lord Freeman sie auf die Tanzfläche führte.
Es dauerte nicht lange und Dawn taten die Füße weh. Dieser arrogante Kerl war der schlechteste Tänzer, der ihr je untergekommen war, dazu wusste er nur von sich selbst zu sprechen. Ständig trat er ihr auf die Zehen, ohne sich zu entschuldigen, seine Bewegungen passten nicht in den Rhythmus und das einzige, was er ansprach waren Briefmarkensammlungen.
Abrupt blieb sie stehen. Hinter sich hörte sie ein Paar, das gegen sie taumelte, empört schimpfen, doch sie kümmerte sich nicht darum. Lord Freeman blickte sie mit seinen kleinen Augen verwirrt an und Dawn musste all ihre Willenskraft aufbringen, um ihn nicht wütend zu Boden zu starren. Stattdessen sah sie mit einem wahren Unschuldsblick zu ihm auf.
„Entschuldigen Sie, Lord Freeman. Ich bin ein wenig … erhitzt. Würden Sie mir eine Erfrischung bringen?“
Sofort erhellte sich die Miene des Mannes, er verbeugte sich tief.
„Natürlich, natürlich, Mylady. Einen Moment, bitte.“ Damit eilte er schleunigst davon.
Erleichtert seufzte sie, blies sich eine aufmüpfige Strähne aus den Augen, drehte sich um und bahnte sich einen Weg durch die tanzende Menge, hielt auf die großen Balkontüren zu, die zu dieser Jahreszeit geschlossen waren.
Unbemerkt öffnete sie einen Flügel einen Spalt und schlüpfte auf die Terrasse, in den späten Abend hinaus.
Der Himmel wölbte sich über ihr in einem eigenartigen Violett und ein paar Sterne glänzten silbern am Firmament, während sie and die Balustrade trat. Vor ihr, am Fuße des Hügels, auf dem die Villa der Febrays stand, leuchtete die Stadt Skyth. Dawn erkannte den schön angelegten Park und die große Bibliothek, wo sie sich tagsüber gerne aufhielt und sie entdeckte die verkommen Seitengassen, in denen sie sich nachts aufhielt. Nur in letzter Zeit wurde es durch die schrecklichen Bälle immer schwieriger, sich davon zu stehlen. Auf den breiten Straßen fuhren Autos, hielten an roten Ampeln, während zwischen ihnen Menschen geschäftig umher liefen.
Fröstelnd schlang sie die Arme um sich, als eine Böe winterlicher Kälte unter den Saum ihres burgunderroten Kleids kroch und den samtigen Rock flattern ließ, ihr lose Haarsträhnen ins Gesicht blies.
„Ist es für eine Lady wie dich zu dieser Jahreszeit nicht ein wenig zu kühl, um ohne anständige Klamotten draußen zu sein?“
Im ersten Moment glaubte sie, dieser Lord Freeman hätte sie gefunden, als sich eine Hand in ihr Blickfeld schob und ihr ein Punschglas hinhielt. Sie hatte ich nicht kommen hören. Doch dann fiel ihr der amüsierte, lockere Tonfall auf und die Tatsache, dass er tatsächlich „Klamotten“ gesagt hatte.
Sie wirbelte herum, das Geländer nun im Rücken, und sah in ein belustigt blitzendes Augenpaar.
„Du hast sicher Durst.“, sagte der Fremde und bot ihr das Glas erneut an. Mit einem knappen Nicken nahm sie es an. Einen Moment musterte er sie noch, um seinen Mund lag ein sarkastischer Zug, dann trat er ebenfalls an die steinerne Balustrade, sah zum Himmel hinauf.
Dawn betrachtete ihn. Er war schlank, relativ hochgewachsen und etwa in ihrem Alter, vielleicht ein paar Jahre älter als sie. Sein Haar war dunkel, glänzte in der Nacht wie Teer, und kurz, jedoch nicht kurz genug, als dass es ihm nicht in Nacken und Stirn fiel. Seine Augen waren hell, doch in der Dunkelheit konnte sie deren genaue Farbe nicht erkennen. Die Gesichtszüge waren nur leicht markant und schienen wie aus Stein gemeißelt. Seine Haut war gebräunt und wies ihn somit als Bürger aus. Nur der Adel hatte blasse, weiche Haut.
Vorsichtig trank Dawn ein paar Schlucke von dem Punsch, als sie befand, dass an ihm nichts Verdächtiges war. Es tat gut, wie die Flüssigkeit ihr den Rachen hinunter rann.
„Also, was hat eine Lady wie du hier draußen in der Kälte zu suchen? In der dunklen Nacht. Allein.“, fragte er. Dawn schnaubte, woraufhin er überrascht eine Braue hob.
„Was hat ein Bürger wie du auf diesem Ball zu suchen?“, entgegnete sie und sah wie sich seine Lippen darauf zu einem eigenartig trägen Lächeln verzogen. Ihre Stimme war noch immer rau wie die einer Ente.
„Touché, Lady Febray.“
Dawn runzelte die Stirn, legte ihre Hände um das Glas und sah zu ihm auf. „Du kennst mich also.“
Er wandte sich um, das Lächeln nach wie vor auf seinen Zügen. „Natürlich.“
„Nun, da weißt du mehr über mich als ich über dich.“, bemerkte sie.
„Ist das verwunderlich?“, fragte er. Dawn legte den Kopf schief, worauf sich eine rote Haarkaskade über ihre Schulter ergoss. Ihre Frisur hatte sich endgültig aufgelöst.
„Verrate mir deinen Namen!“, verlangte sie.
Er hob beide Brauen, dann verbeugte er sich spöttisch. „Mordan Stewart. Stets zu Diensten, Mylady.“
Dawn sah wieder auf die Stadt hinunter, trank erneut aus dem Glas. Die Flüssigkeit beruhigte ihre Kehle und der Alkohol wärmte sie ein wenig von innen heraus, sodass es ihr einfacher fiel, die eindringliche Kälte um sich zu ignorieren. „Mordan … Was für ein ungewöhnlicher Name… In Ordnung, Mordan Stewart, jetzt verrate mir, was du hier tust.“
Neben sich hörte sie ein leises Lachen. „Du bist anders als die dort drinnen.“ Sein Daumen deutete über seine Schulter zu den Glastüren. Die runzelte verärgert die Stirn.
„Danke, dass du das erwähnst, aber das ist keine Antwort auf meine Frage!“
Er sah wieder zum Himmel hinauf, verengte die Augen und betrachtete die Wolken, die sich vor die bleiche Mondsichel schoben. Scheinbare Ewigkeiten vergingen und Dawn dachte schon, er würde nie antworten, bis er sprach: „Ich habe meine Gründe… Du hast mir ja auch nicht verraten, was solch eine Lady wie du hier draußen macht, wenn sie doch drinnen bereits panisch gesucht wird und der arme Lord Freeman nach wie vor nicht weiß, was er mit dem Glas anfangen soll, das er in der Hand hält.“ Er grinste sie siegessicher an und offenbarte eine Reihe weißer Zähne, bei der die zwei spitzen Eckzähne hervorragten. Eine neuerliche Böe trug seinen Geruch zu ihr und unwillkürlich trat Dawn ein paar Schritte zurück.
„Du bist betrunken!“, fauchte sie empört. Es ärgerte sie, dass ihr das erst jetzt auffiel. Sie war der Meinung, betrunkene Männer waren zu dieser Tageszeit, mit einer Frau im Dunkeln, ziemlich gefährlich. Doch er sah einfach nur wieder zu den dunklen Wolken hinauf. Sie glaubte, ein leises Seufzen zu hören.
„Betrunken … würde ich es nicht nennen. Höchsten berauscht von dieser sternenklaren Nacht und deiner Anwesenheit.“, murmelte er. Sie trat noch ein paar Schritte von ihm weg. Was wollte dieser Kerl von ihr?
„Ersten ist diese Nacht nicht mehr sternenklar, es wird bald anfangen zu regnen. Und zweitens will ich wissen, warum du mir gefolgt bist.“
Er hob nur nachlässig die Schultern. „Ich habe dich beobachtet… Ich wollte nur ein kleines Gespräch mit dir führen. Abseits von all diesem … von diesem ganzen ach so adligen, ach so edlen Menschenhaufen.“ Er schnaubte. „Du bist anders als die.“
Dawn atmete tief durch. Beobachtet … Er hatte sie beobachtet. Die ganze Zeit. Er war betrunken. Sie war allein mit ihm auf dieser Terrasse. Im Dunkeln. Unsicher spähte sie in den Ballsaal hinein und bemerkte erst jetzt den ganzen Tumult, der dort ausgebrochen war. Und Lord Freeman, der vollkommen verwirrt mittendrin stand. Sie sah zu Mordan zurück, der das Gesicht nach wie vor dem nächtlichen Firmament zu gewandt hatte. Er schien eigentlich harmlos zu sein und bis jetzt hatte er nicht einmal ansatzweise versucht, sich ihr zu nähern.
Sie zuckte die Schultern. Dieser betrunkene, stille Fremde war gewiss eine bessere Gesellschaft als der pikfeine Trubel dort drin. Also strich sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr und trat wieder neben ihn. Stumm standen sie eine Weile einfach nur dort und beobachteten das Treiben in der Stadt. Der Anblick beruhigte Dawn und es fiel ihr leicht, alles andere auszublenden. Erst als sie das Gewicht einer Jacke auf ihren Schultern spürte bemerkte sie, dass sie angefangen hatte zu zittern.
„D-danke …“, murmelte sie an Mordan gewandt. Der warf ihr nur einen Seitenblick zu und nickte.
Das Schweigen kehrte zurück und Skyth, das zu ihren Füßen lag wurde immer schläfriger. Die Lichter erloschen langsam, eins nach dem anderen. Selbst hinter ihnen verabschiedeten sich die Gäste nun. In der Stille hörte man nur noch das ferne Kreischen von Möwen über dem Rauschen der Brandung.
„Du hast mir immer noch nicht verraten, was du hier auf dem Ball zu suchen hattest.“, flüsterte Dawn schließlich, als ihr das Schweigen des Fremden an ihrer Seite immer merkwürdiger vorkam.
„Und du hast mir immer noch nicht verraten, was du hier draußen zu suchen hast. Ich denke, wir sind quitt.“, kam die Antwort. Seine Stimme klang wesentlich nüchterner, als er vor einigen Minuten noch gewesen war.
Einen Moment musterte sie noch sein Profil, das keine Regung preis gab. Dann wandte sie sich wieder ab und entschloss sich, ihn nicht mehr zu beachten. Trotzdem konnte sie nicht anders, als sich tiefer in die Wärme seiner Jacke zu hüllen.
Ein Wassertropfen auf ihrer Nase ließ sie zum Himmel hinauf schauen. Der Himmel war nun dicht mit Wolken verhangen und einzelne Tropfen fielen wie silberne Fäden von der dunklen Decke hinab. Auch Mordan hatte das Gesicht gehoben und schloss die Augen. Aus dem leichten Nieseln wurde irgendwann Regen, der die Fliesen unter ihren Füßen schnell zu einer gefährlich rutschigen Fläche werden ließ. Vorsichtig wandte Dawn sich um und spähte wieder in den Ballsaal. Er lag endlich verlassen da.
„Die Gäste sind schon längst gegangen, was machst du noch hier?“, fragte sie. Mordan wandte sich ebenfalls um. Kurz schien er verwirrt, dann zuckte er die Schultern.
„Ich sollte vermutlich auch gehen.“, meinte er und ging auf die Balkontüren zu. Sie wollte ihm folgen, doch dann knickten ihre Füße unvermittelt unter ihr weg.
„Huch!“, brachte sie nur hervor und machte sich bereits auf den Aufprall gefasst, als sich ein starker Arm um ihre Mitte schlang, sie hielt. Überrascht sah zu ihm hoch und lächelte dankbar. „Gut reagiert. Danke.“, sagte sie, befreite sich aus seinem Halt. Zumindest wollte sie, doch er ließ sie nicht los. „Du darfst loslassen.“, bemerkte sie, kurz bevor der Schwindel einsetzte. Offenbar stieg ihr nun der Alkohol des Punschglases zu Kopf. Keuchend klammerte sie sich an seinen Arm, krallte ihre Finger in sein Hemd. Sie fühlte sich mit einem Mal unglaublich schwach. „Doch nicht … Ich glaube …“
„… Ich sollte dir nach drinnen helfen. Pass auf, der Boden ist glatt. Rutsch nicht aus.“, sagte er und führte sie zu den hohen Glastüren. Leise öffnete er eine, trat mit ihr nach drinnen. Dort ließ er sie los.
„Alles in Ordnung?“, fragte er, als sie leicht schwankte. Seine Stimme hallte in dem leeren Saal fast schon gespenstisch nach. Dawn rang sich ein Lächeln ab.
„Bestens. Danke.“, gab sie zurück und wollte selbst weiter gehen, torkelte jedoch mehr als dass sie lief und knickte schließlich erneut um. Ihre Knie zitterten wie Wackelpudding. Wieder war er zur Stelle, um sie aufzufangen. „Ach, diese verfluchten Absätze! Eines Tages werde ich das Mutter alles heimzahlen!“, zischte sie vor sich hin. „Überhaupt: Wie viel Prozent waren in diesem verdammten Punsch drin? Das ist ja nicht zu fassen!“
Sie hörte sein leises Lachen nur wie aus weiter Ferne. In ihren Kopf drehte sich alles ganz furchtbar. Sie spürte noch, wie der Boden unter ihren Füßen schwand. Mordans Brustkorb vibrierte sanft, als er sprach. „Schlaf, Kleines.“
Dann betäubte Dunkelheit ihre Sinne.
Sie blinzelte. Ihr Verstand fühlte sich seltsam taub und schwer an. Sie glaubte, ein dumpfes Pochen in ihrem Hinterkopf zu spüren. Doch dafür interessierte sie sich nicht. Sie war zu sehr damit beschäftigt, den zähen Nebel aus ihrem Geist zu vertreiben. Irgendwann schien es ihr zu gelingen, sie nahm ihre Umgebung schärfer wahr. Hinter den weißen Schlieren vor ihren Augen erkannte sie ein relativ kleines Zimmer, eingerichtet in weiß, schwarz und grau.
Stöhnend wandte sie den Kopf, versuchte sich aufzusetzen. Irgendwas an diesem Bild war falsch. Sie gehörte nicht hierher… Aber wohin sonst? Sie spürte, da war etwas, an das sie sich erinnern sollte, aber durch die klebrige Watte um ihren Verstand konnte sie es nicht richtig fassen. Sie sah sich genauer um.
Sie lag in einem Bett, das ihr irgendwie klein erschien. Neben dem Bett stand ein kleiner Tisch, auf dem nur eine Lampe stand, die spärliches Licht im Raum verteilte. Neben einer schlichten Tür stand eine Kommode.
Sie runzelte die Stirn. Das alles kam ihr sonderbar vor. Sie hatte all das noch nie gesehen. Wo war sie? Wer war sie? Sie spürte, sie musste sich erinnern, aber sie konnte nicht. Da war nur Leere. Und wenn sie versuchte, dahinter zu greifen spürte sie einen stechenden Schmerz in ihrer Schläfe, der ihr fast den Atem raubte.
Fast schon verzweifelt schlug sie die Bettdecke zurück, schwang die nackten Beine aus dem Bett. Der Holzfußboden unter ihren Füßen war kalt. Kurz sah sie an sich runter. Sie trug nur ein fremdes Männerhemd, das ihr bis zu Mitte der Oberschenkel reichte. Die Ärmel reichten ihr weit über die Fingerspitzen. Energisch krempelte sie sie um, dann trat sie ans Fenster. Sie befand sich in einem Hochhaus. Zumindest glaubte sie das, denn mindestens hundert Meter unter ihr fuhren Autos. Menschen wirkten fast schon wie kleine Pünktchen in der Landschaft. Der Himmel, auch wenn er ihr merkwürdig hell erschien, über der Stadt sagte ihr, dass es Nacht war.
Wer bin ich?
Die Frage hallte in ihrem Kopf wider. Sie wirbelte herum, trat an den Spiegel, der über der Kommode hang. Vielleicht würde sie sich erinnern, wenn sie ihr Spiegelbild erkannte. Mit verengten Augen betrachtete sie sich. Ihre Haare waren lang und offen und fielen ihr glatt über die Schultern. Sie hatten eine merkwürdige Farbe. Wie Rotwein. Doch als sie genauer hinsah sah sie den dunklen Haaransatz. Sie konnte sich nicht erinnern, sich die Haare gefärbt zu haben. Ihre Augen waren groß und so dunkel, dass es sie selbst erstaunte. Lange Wimpern zeichneten Schatten auf ihre weißen Wangen. Ihr gesamtes Gesicht wirkte jung und verletzlich. Der verwirrte Ausdruck darin verstärkte dies noch.
Vorsichtig, als erwarte sie, dass das Spiegelbild verschwinden könnte, berührte sie ihre Wange. Glatt. Weich. Dünn. Ihre Haut fühlte sich an wie Seide.
Wie alt bin ich?
„Gute Morgen, Kleines. Oder besser guten Abend.“, ertönte eine Stimme. Erschrocken wirbelte sie herum. In der Tür stand ein hochgewachsener junger Mann. Er war nicht viel älter als sie. Sein dunkles Haar fiel ihm noch feucht von der Dusche ins Gesicht. Er sah sie mit stahlgrauen Augen an. Als sie genauer hinsah entdeckte sie goldene Sprengsel in ihnen. In seinen Händen hielt er ein Tablett, beladen mit Essen. Sie hatte ihn nicht komme hören.
„Kleines …“, flüsterte sie. Mit einem Schlag kam alles zurück. Die Schwäche, der Schwindel, wie er sagte „Schlaf, Kleines“. Dunkelheit, die darauf folgte. Sie hörte vage Stimmen, die sie nicht zuordnen konnte. Es war kalt. Und laut. Dann war es mit einem Mal still und warm. Ihr Geist entglitt ihr. Dawn Febray! Ich bin Lady Dawn Milena Ilona Febray!
„Du!“, keuchte sie und stolperte rückwärts gegen die Kommode. Halt suchend krallte sie ihre Finger um die Kante. Ihr Blick schoss durchs Zimmer, auf der Suche nach Fluchtmöglichkeiten. „Wo bin ich? Warum hast du mich hierher gebracht?“
Mordan legte den Kopf schief, musterte sie neugierig. Dann wandte er sich ab, ging ruhigen Schrittes durch das Zimmer und stellte das Tablett auf den kleinen Beistelltisch neben dem Bett. Als er sich wieder zu ihr umdrehte war sein Blick dunkel. Er trat auf sie zu. Sie wich zurück.
„Interessant.“, murmelte er, als er die Hand nach ihr ausstreckte. Dawn presste sich fester gegen das Holz in ihrem Rücken. Doch sie konnte ihm nicht ausweichen, als er dicht vor ihr stehen blieb, die Finger um ihr Kinn legte und bedächtig ihren Kopf wandte. Sie funkelte ihn erbost an. „Das ist wirklich merkwürdig.“
„Lass mich los, Dreckskerl!“, zischte sie ihn an. Eine seiner Mundwinkel zuckte spöttisch, doch er ließ von ihr ab, trat einen Schritt zurück.
„Du kannst dich erinnern?“, fragte er, musterte sie wieder. Dawn zog die Nase kraus. Wie hatte sie auf diesen Mistkerl reinfallen können? Er war ein Bürger auf einem Fest von Adligen. Sie hätte niemals mit ihm sprechen dürfen, geschweige denn ein Getränk von ihm annehmen dürfen.
„Natürlich! Was mache ich hier? Wo sind wir?“ Sie schlang die Arme um sich, als sie sich daran erinnerte, dass sie nur ein Hemd trug. „Und wo sind meine Klamotten?“
Er schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Sei doch nicht so unhöflich, Kleines. Alles zu seiner Zeit. Hast du Hunger?“ Er deutete auf das Tablett. Energisch schüttelte sie den Kopf.
„Eher steche ich mir die Augen aus, als dass ich etwas esse, das du mir anbietest!“, fauchte sie. „Und nenn mich nicht Kleines!“
„Aber, aber, Lady Febray. Gehört es sich, so rumzuschreien? Sei still, sonst hören dich noch die Nachbarn und was sollen die denn von mir denken? Es hat nicht jeder solch ein schönes großes Haus, abgeschottet von allen anderen, wie ihr Adligen. Nicht wahr … Kleines?“ Wieder streckte er seine Hand nach ihr aus. Sie schlug sie fort.
„Fass mich nicht an! Du hast mich entführt!“, rief sie. Mordan schürzte die Lippen, scheinbar nachdenklich.
„Ja, so könnte man es nennen, Kleines. Aber ich brauche das Lösegeld, weißt du.“ Damit wandte er sich um, ging auf die Tür zu. „Wenn du nichts essen willst, möchtest du vielleicht ein Bad oder eine Dusche nehmen? Das Leitungswasser ist sicher nicht vergiftet. Darauf hast du mein Ehrenwort.“
„Als ob ich darauf zählen könnte! Du hast nicht einmal Ehre!“, schrie sie ihm aufgebracht hinterher. Sie hörte sein leises Lachen, als er aus dem Zimmer verschwand.
Entführt! Sie ist entführt worden! Damit ihre Familie Lösegeld zahlte! Sie schüttelte den Kopf. Was für ein abgefahrener Traum. Sicher müsste sie bald aufwachen. Sie zwickte sich in den Arm.
„Au!“, zischte sie und rieb sich die schmerzende Stelle. Also war es kein Traum. Zitternd holte Dawn Luft und taumelte auf das Bett zu und setzte sie sich bebend auf die Bettkante, schlang die Arme um sich. Es war kalt in dem Zimmer, ganz anders als bei ihr zu Hause. Dort war alles geheizt. Vor allem jetzt zu Winteranfang.
Eine Zeit lang saß sie nur da, starrte die weiße Wand an. „Was soll ich machen? Was soll ich machen?“, flüsterte sie vor sich her. Ihr war eiskalt. Zu gern würde sie jetzt in einer dampfendheißen Badewanne liegen. Aber sie ist entführt worden!
„Raus!“, schoss es ihr schließlich durch den Kopf. „Ich muss hier raus!“ Entschlossen stand sie auf, zog sich das Hemd weiter runter und schlich lautlos zur Tür. Vorsichtig spähte sie hinaus.
Vor ihr erstreckte sich eine schmale kleine Diele, sanft beleuchtet. Ein paar Jacken hingen an einem Hacken und Schuhe lagen kreuz und quer über dem Boden verteilt. Von Mordan keine Spur. Also öffnete sie die Schlafzimmertür weiter, setzte einen Fuß nach draußen. Sie ging weiter, bis sie Stimmen hörte. An einer Tür, die angelehnt stand, blieb sie stehen, sah hinein. Offenbar war das eine Küche.
Zuerst entdeckte sie nur Mordan, der auf einem Stuhl saß, die Beine entspannt von sich gestreckt. Er sprach mit jemandem, den Dawn nicht sehen konnte. Sie hörte nur dessen Stimme.
„… es sicher, dass du diesem Mädchen das Zeug unterschieben konntest. Sie ist ein einfältiges kleines Ding. Und mit deinem Aussehen und diesem … ‚Charme’ konnte dir noch nie ein weibliches Wesen widerstehen, nicht wahr?“ Die Stimme klang eiskalt und spöttisch. Das Zeug? Mordan hat einen Komplizen?
„Ich glaube, sie ist schlauer, als wir denken. Vor allem, weil sie sich an alles erinnern kann.“ Mordan sprach gelangweilt und erwähnte es wie beiläufig, doch sofort spürte sie, wie sich die Atmosphäre in der Küche anspannte.
„Sie tut was?!“, donnerte der andere. Dawn hörte, wie er sich bewegte.
„Du hast schon richtig verstanden. Sie erinnert sich. Anscheinend ist alles zurückgekommen, sobald sie mich gesehen hatte.“
„Das ist … ungewöhnlich. Das dürfte nicht sein! Verdammt! Das macht doch alles viel komplizierter!“ Der Fremde gab ein frustriertes Stöhnen von sich und Dawn sah, wie sich ein zufriedenes Grinsen auf Mordans Gesicht ausbreitete.
Kopfschüttelnd stieß sie sich vom Türrahmen ab. Sie hatte genug gehört. Sie musste schleunigst hier raus. Sie sah sich um und entdeckte die Wohnungstür. Leise und schnell tappte sie darauf zu.
Bitte sei nicht abgeschlossen. Bitte sie nicht abgeschlossen.
Sie hatte Glück. Die Klinke ließ sich stumm und einfach herunterdrücken, die Tür schwang lautlos auf. Erleichtert seufzte sie. Dann sah sie noch einmal zurück, um sich zu vergewissern, dass niemand sie bemerkt hatte. Die Stimmen drangen noch immer aus der Küche.
Eiligst drehte sie sich um, floh auf nackten Sohlen den Flur hinab. Schnell hatte sie das Treppenhaus erreicht, sie stürmte die Stufen hinab. Eisige Kälte empfing sie, als sie die Haustür aufstieß. Wind peitschte ihr Schnee vor die Zehen. Unwillkürlich blieb sie stehen, sah zum Himmel hinauf, der durch die Stadtlichter heller aussah als er war. Passanten drehten sich im Vorübergehen nach ihr um. Dawn kümmerte sich nicht darum, setzte einen Fuß auf die eisigen Steinplatten des Bürgersteigs. Die Kälte brannte sich erbarmungslos in ihre Haut und für einen Moment war sie versucht, das Angebot der heißen Badewanne von Mordan anzunehmen, doch dann fiel ihr ein, was er getan hatte. Sie musste nach Hause. Gott allein wusste, was ihre Mutter bereits alles in die Wege geleitet hatte, um sie zu finden.
Dawn blieb mitten zwischen den Fußgängern stehen, schlang die Arme um sich. Vielleicht hatte ihre Mutter aber noch längst nicht bemerkt, dass sie verschwunden war. Was viel wahrscheinlicher wahr. Alles, was ihr wichtig war, war Geld.
Trotzdem konnte sie doch schlecht bei einem Kriminellen bleiben. Nein, da waren ihr die arroganten Adligen doch tatsächlich lieber.
Schnell ging sie weiter, drängelte sich zwischen den Arbeitern, die nun nach Hause gingen, hindurch. Sie hatte Glück. In der Menge konnte Mordan sie schwer finden, wenn er sie bereits verfolgte, was sie durchaus annahm. Er war ja nicht blöd.
Schneeflocken wirbelten über ihr durch die Luft, durch den nächtlichen Himmel, verfingen sich in ihren Haaren und Wimpern. Energisch wischte sie sie weg, bevor sie schmolzen und ihr in die Augen rannen. Dawn beeilte sich, rannte durch die Menschenmengen. Sie fror und zitterte erbärmlich, ihr Atem flog in weißen Wolken davon, ihre Zähne klapperten. Sie war so damit beschäftigt, sich darauf zu konzentrieren, immer weiter zu laufen und nicht einfach stehen zu bleiben und sich auf dem Boden zusammen zu kauern, dass sie die dunkle Gestalt, die aus den Schatten einer Seitengasse trat, nicht bemerkte.
„Kleines, du holst dir hier draußen noch den Tod.“, flüsterte eine tiefe Stimme rau an ihrem Ohr. Dawn zuckte zusammen, blieb abrupt stehen. Schauer rannen ihr über den Rücken. Sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken, sein Arm legte sich um ihre Taille. „Komm, wir wollen doch nicht, dass du dich erkältest.“ Er sprach zu ihr wie zu einer armen Verrückten, drehte sie sanft aber bestimmt um, führte sie in die entgegen gesetzte Richtung, in die sie geflohen war. Wie betäubt folgte sie ihm. Das Gefühl in ihren Füßen war endgültig verschwunden und sie konnte nicht anders als sich von ihm mitziehen zu lassen. Zudem zog er sie fest an sich. Sie spürte seinen harten Körper durch seine Jacke und ihr Hemd. Schwach drang seine Wärme zu ihr durch, sie fühlte sich benommen. Nur am Rande nahm sie war, dass sie noch immer am ganzen Leib wie Espenlaub zitterte.
Mordan bahnte ihnen einen Weg durch den Feierabendverkehr, winkte manchen Menschen zu, lächelte entschuldigend und erklärte irgendwelche fadenscheinigen Gründe, weshalb er ein zierliches, halb verfrorenes Mädchen unterm Arm hatte. An Dawn zogen diese Menschen wie rasende Lichtflecken vorbei, Zeit verlor an Bedeutung, in ihrem Kopf drehte sich wieder alles.
„Hör auf damit.“, brachte sie hervor. Ihre Stimme war heiser und so leise, dass sie Angst hatte, er hätte sie nicht gehört, doch er neigte den Kopf in ihre Richtung und runzelte verwirrt die Stirn.
„Wie bitte?“, fragte er. Sie holte tief Luft.
„Du sollst damit aufhören. Du schaffst es irgendwie, dass sich alles in meinem Kopf dreht und ich nichts mehr allein auf die Reihe bekomme. So wie gestern. Hör auf damit!“
Er lachte hart und spöttisch. „Kleines, du bist verwirrt. Sehe ich so aus, als könnte ich dein Bewusstsein kontrollieren? Ich bin doch kein Zauberer!“
„Verwirrt …?“, wiederholte sie schwach.
„Jetzt komm, ich bring dich ins Warme.“
Warum ist er so verdammt freundlich? Was will er von mir?
Sie sah zu ihm auf. Sein Blick war stur geradeaus gerichtet, auf die Haustür des Hauses zu, in dem er wohnte. Sofort war Dawn wach. Sie durfte nicht noch einmal dort rein! Es würde vermutlich keine zweite Fluchtchance geben. Sie wand sich in seinem Arm, versuchte sich loszureißen und schlug fehl. Er verstärkte den Griff nur noch, seine Lippen verzogen sich zu einem missbilligenden Strich.
„Sei still, ich habe keine Lust, dich noch einmal durch diese Eiseskälte zu jagen. Ich werde dich nicht gehen lassen, dafür bist du zu kostbar.“, zischte er. Dawn schnaubte verächtlich.
„Kostbar!“, stieß sie hervor. „Du hast keine Ahnung, was kostbar ist! Elender Bürger! Langsam verstehe ich, was die anderen immer gegen euch haben!“
Abrupt blieb Mordan stehen. In seiner Miene lag schiere Wut und Dawn hatte schon Angst, er würde sie schlagen. Doch er wandte sich nur langsam, als koste es ihn alle Willenskraft, sie anzusehen, zu ihr um.
„Du verstehst? Du verstehst?! Du verstehst gar nichts! Du hast keine Ahnung, Prinzessin! Du hast keine Ahnung, wie das Leben ist, du wirst es auch nie erfahren. Ein Vogel in einem goldenen Käfig bist du und merkst es nicht einmal.“, fuhr er sie an.
„Wie bitte?“, fragte sie. Sie wusste nicht, was er meinte. Natürlich kannte sie das Leben! Immerhin lebte sie ja! Vielleicht war sie in einem goldenen Käfig gefangen, aber dafür war es bequemer. Sie wusste nicht, warum sie das aufgeben sollte. Auch wenn sie sich des Nachts gerne hinaus schlich, um zwischen den Häusern herum zu streunen, denn hier erkannte sie selten jemand und sie konnte nachdenken. Aber sie ließ sich nicht erzählen, sie wisse nicht, was das Leben ist.
„Komm!“, blaffte er, wandte sich brüsk um und zog sie hinter sich her.
„Hey! Au! Du tust mir weh! Mordan, lass mich los. Wo willst du hin?“
Er antwortete nicht, zerrte sie vor sich, stieß sie die Straße entlang. Mehrmals stolperte sie, schürfte sich Handflächen und Knie auf. Sie spürte es nicht. Sie hatte einfach kein Gefühl mehr in den Füßen, kein Gefühl mehr in den Händen, die bereits blau angelaufen waren. Doch er zog sie grob wieder auf die Füße.
Erst als er inmitten einer unbeleuchteten Gasse stehen blieb bemerkte Dawn die heißen Tränen, die ihre Wangen hinunter rannen.
In der Gasse stank es widerlich. Sie glaubte, winzige Pfoten über den Boden scharren zu hören. In dem Dämmerlicht erkannte sie Mülltonnen.
„W-wo sind wir?“, schluchzte sie. Wieder blieb er stumm, zog sie vorwärts, weiter hinein.
„Hier“, flüsterte er schließlich. „Ich will dir jemanden vorstellen.“
Er bog hinter einer der Mülltonnen ab und blieb stehen.
„W-was ist?“
„Sieh hin. Das ist Jane und ihr kleines Kind Nathan.“, zischte er. „Menschen. Wie du und ich. Wo ist also der Unterschied zwischen ihr und dir? Warum musste diese Frau hier ihr Ende finden?“
Wütend schubste er sie auf ein Knäuel aus dreckigen Decken zu. Schwach landete Dawn auf allen Vieren. Durch ihre Tränen hindurch sah sie einen knochigen Fuß zwischen den Decken hervorlugen. Erschrocken zuckte sie zurück, presste sich die Hand vor den Mund, als sie die magere Figur einer jungen Frau unter den schmutzigen Laken ausmachte. Sie lag zusammengekauert da und umklammerte selbst im Tod noch ein kleines Bündel. Ihre Haut war aschfahl und wächsern, ihre Wangen eingefallen.
„Was…?!“, kam es aus ihr heraus.
„Sie ist tot. Verhungert. Erfroren. Was auch immer.“ Mordan hinter ihr klang merkwürdig teilnahmslos.
„Aber warum …? Wenn du sie … kanntest, warum hast du ihr nicht geholfen?“, fragte sie hilflos und blickte zu ihm auf. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen schien er sich nicht entscheiden zu können, ob er wütend oder verächtlich schauen sollte.
„Denkst du wirklich, das ist so einfach? Ich habe versucht, ihr zu helfen. Ich habe getan, was ich konnte, dass sie und das Baby überleben. Doch selbst mir reicht mein Geld manchmal nicht. Ich habe nur geringe Möglichkeiten. Warum hast du ihr nicht geholfen? Du mit deinen unbegrenzten Mengen an Geld!“
„Ich … Ich …“, stammelte sie, schlang die Arme fester um sich.
„Da hast du’s! Du verstehst gar nichts. Du weißt gar nichts. Kein Einziger von euch Adligen weiß etwas. Und jetzt komm!“ Wieder packte er sie am Arm, zog sie aus der Gasse raus, fort von dem Gestank des Todes.
„Du hättest sie in deiner Wohnung aufnehmen können…“, versuchte Dawn es.
„Ach, wie du das so sagst klingt es so simpel und einfach. Wieso bin ich nicht drauf gekommen?“, antwortete er in gedehntem Sarkasmus. Dann legte sich ein Schatten über sein Gesicht. „Ich hätte ihr gerne geholfen. Aber ich konnte nicht.“
„Aber … warum … geht es dir so nah? Sie ist … auch nur eine von vielen. So dringend wäre es doch auch nicht gewes…“
„Nur eine von vielen? Eine von vielen?!“, brüllte er, zog sie wieder brüsk an sich, so nah, dass seine Wärme durch ihr Hemd drang. Nur wenige winzige Millimeter waren zwischen ihren Körpern. „Sie war auch ein Mensch. Ein Mensch wie du und ich. Bitte, erkläre mir den Unterschied! Warum musste sie in Kälte und Hunger sterben, während du es warm hast und dir den Bauch vollschlagen kannst und ein langes, glückliches Leben hast? Warum hatte sie nichts zum Anziehen, während du jeden Tag in ein neues Kleid schlüpfen kannst? Warum war ihr Menschenleben weniger wert als deins?“ Seine Stimme war zu einem dunklen, heiseren Flüstern herabgesunken. Dawns Atem ging schneller, als er sich bedrohlich vorbeugte, ihr in die Augen sah. Benommen starrte sie in das kalte Grau seiner Augen, gefangen genommen von den goldenen Flecken, die dort flackerten.
„Ich … Du … Ich bin … Ich bin dir doch auch nichts wert. Mein Menschenleben ist dir doch auch egal.“, stammelte sie hilflos. Er lachte spöttisch auf, trat einen Schritt zurück, zog sie wieder hinter sich her. Ein hartes, freudloses Grinsen lag auf seinem Gesicht, offenbarte seine spitzen Eckzähne.
„Ja, das ist eigentlich wahr. Währest du nicht so unendlich wichtig. Wie gesagt, ich brauche das Geld.“
Darauf wusste Dawn nichts zu antworten. Sie ließ sich von ihm hinterher zerren. Ihre Glieder und Gelenke waren inzwischen steif. Auch er sagte kein Wort mehr. Irgendwann, Dawn kam es wie Ewigkeiten vor, erreichten sie wieder das Hochhaus. Mordan griff nach der Klinke, öffnete ihr die Tür, ließ sie zuerst rein. Er drängte sie die Treppen hoch, er war so nah hinter ihr, dass sie seine Brust in ihrem Rücken spürte, sein Atem kitzelte ihren Nacken und wärmte sie zugleich.
„Meine Güte, das hat ja Jahre gedauert!“, beschwerte er sich als sie endlich vor der Wohnung angekommen waren. Entspannt öffnete er ihr auch diese Tür. Als Dawn sich nicht bewegte, schob er sie einfach hinein.
„M-mir ist so k-ka-kalt.“, brachte sie hervor. Sie zitterte nach wie vor, ihre Zähne klapperten aufeinander. Ihre Hände und Zehen brannten von der plötzlichen Wärme.
„Das kommt davon, wenn man im Winter ohne anständige Kleidung fliehen will. Aber wir wissen ja beide, dass du nichts von warmer Kleidung hältst, nicht wahr, Kleines?“, sagte er und warf ihr einen belustigten Blick zu. Sie erwiderte ihn verärgert, während er die Tür abschloss. Der Schlüssel verschwand in seiner Hosentasche.
„Dann hättest du mir vorher anständige Kleidung geben sollen.“, antwortete sie. Er lachte leise, ging in die Küche.
„Hast du jetzt Hunger?“
„Wie gesagt, ich …“
„In Ordnung, in Ordnung. Wie steht es mit der Dusche oder ein Bad?“ Seine Stimme klang gedämpft, unwillkürlich folgte Dawn ihr. Dieses Angebot konnte sie unmöglich abschlagen. Sie brauchte dringend Wärme.
„W-wo ist …?“
„Das Bad ist dort. Handtücher findest du da auch, keine Sorge. Nur leider nicht vorgewärmt, tut mir leid, Kleines.“ Er erschien kurz wieder und deutete kurz die enge Diele hinunter auf eine schmale weiße Tür. Misstrauisch tappte sie darauf zu, öffnete sie und schaute hinein. Das Bad war einfach und sonst nichts. Eine schlichte Toilette, ein Waschbecken und eine Badewanne, die durch eine durchsichtige Trennwand zum Rest des Raumes abgetrennt wurde. Über dem Wasserkran der Wanne hing ein Duschkopf. Die Fugen zwischen den grauweißen Fliesen waren geschwärzt.
„Das ist ein Bad?!“, flüsterte Dawn, trat aber einen mutigen Schritt hinein. Vorsichtig schielte in sie in die Badewanne/Dusche, was auch immer.
„Was denn? Hat Mylady keinen Sinn für Abenteuer?“, erklang Mordans Stimme spöttisch hinter ihr. Erschrocken wirbelte sie herum.
„Wie machst du das?“, wollte sie wissen. Wie schaffte er es, sich immer vollkommen lautlos an sie heran zu schleichen?
Er zuckte nachlässig die Schultern, hob eine Braue und sah sie herausfordernd an. „Willst du nun baden?“, fragte er und deutete mit dem Kinn auf Wanne. Sein einseitiges Grinsen zeigte wieder einen seiner spitzen Eckzähne, der im kalten Licht des Bades unheilvoll schimmerte. „Du wirst dir schon keine Pilze oder Krankheiten holen, da kannst du sicher sein, Kleines. Und es ist ja jetzt auch nicht so, dass hier alles im Dreck nur schwimmt.“
Dawn legte den Kopf schief, hob ebenfalls eine Braue. „Ich habe jetzt nicht von dir erwartet, dass du dein Bad verteidigst und dich mir gegenüber rechtfertigst.“
Sie sah, wie sich seine Brauen verärgert zusammenzogen. Eine steile Falte erschien zwischen ihnen, ließ ihn älter wirken, als er war. Seine Kiefer pressten sich aufeinander, sie sah die Muskeln an seine Wangen arbeiten.
„Du bist wirklich merkwürdig.“, stieß er schließlich in einem harten Lachen hervor, wirbelte auf dem Absatz herum und ließ sie immer noch frierend zurück.
Dawn seufzte, zuckte die Schultern und schloss die Tür. Es wird mich schon nicht töten … hoffentlich, dachte sie und drehte den Hahn für heißes Wasser auf. Als fahle Dampfschwaden wie Geister aus der Wanne stiegen konnte sie es kaum noch erwarten, Gänsehaut überzog noch immer ihre Glieder. Hastig zog sie sich das Hemd über den Kopf und stieg hinein. Wohlig seufzend legte sie den Kopf zurück, schloss die Augen, ließ sich ihr langes Haar um den Kopf spülen und genoss die Wärme, die in sie drang.
Als sie die Augen wieder öffnete hatte sich das Wasser um sie in ein dunkles Rot verfärbt. Erschrocken zuckte sie zusammen, starrte fassungslos auf weinfarbenen Wellen, die sie erzeugte. Etwas wie ein greller, heißer Blitz durchzuckte sie, schoss mit einem Schmerz durch sie hindurch, dass ihr der Atem wegblieb, vor ihren Augen wurde es blendend weiß. Keuchend presste sie sich ihre Fäuste an die Schläfen, biss die Zähne aufeinander und unterdrückte ein Stöhnen. Sie zog die Knie an, barg ihren Kopf zwischen ihnen. Der Schmerz wollte einfach nicht verschwinden.
Rot … Brennendes Rot … Loderndes Rot … Blutiges Rot … Blut …
„Kleines? Alles in Ordnung? Wehe, du ertränkst dich!“, drang eine Stimme schwach durch ihre wirren Gedanken und die Schmerzen. Ein dumpfes Pochen folgte darauf. Dawn konnte es nicht zu ordnen, doch es war da. Immer wieder. Wie ein schlagendes Herz. Ein wenig unstetig vielleicht. „Dawn Febray!“ Die Stimme klang nun deutlicher und panischer. Sie spürte, wie eine Hand nach ihr fasste, fühlte, wie sie sich auf ihre Schulter legte. Stark, warm und beruhigend. „Antworte mir doch, verdammt!“
Antworten … Sie würde gerne, doch alles, was zwischen ihren Lippen hervorkam war ein undeutliches Murmeln. Unter ihren Lidern war es immer noch blendend. „Es … tut so weh …“, brachte sie hervor. Ihre Stimme klang hoch und erstickt, als hätte jemand ein schweres Gewicht auf ihre Brust gelegt. Sie spürte, wie etwas um sie gelegt wurde, dann wurde sie irgendwo herausgezogen. Jemand hielt sie. Verzweifelt klammerte sie sich an ihm fest. „Ich hab Angst.“
„Schsch, Kleines, es ist gut.“ Die fremde Stimme vibrierte an ihrer Wange und klang, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie verärgert oder beruhigend klingen sollte. Trotzdem reichte ihr die Anwesenheit und die Wärme desjenigen, sodass sie sich beruhigte. Langsam schwand der stechenden Schmerz unter ihrer Schädeldecke, das Weiß verflüchtigte sich, machte einem Dämmerlicht Platz.
„Geht es?“
War das echte Sorge oder nur vorgegaukelte? Dawn konnte sich nicht entscheiden, als sie auf etwas Weiches gelegt wurde. Sie war unendlich müde.
„Geht es, habe ich dich gefragt?“
Ungeduld. Die Stimme war ungeduldig, durchsetzt mit feiner, fast überhörbaren Sorge. Als Dawn schläfrig nickte breitete sich etwas über sie aus, hüllte sie zusätzlich in Wärme.
„Danke …“, wisperte sie und ließ sich in Dunkelheit fallen.
Ein Gewicht um ihre Mitte weckte sie. Verwirrt öffnete Dawn die Augen, sah sich um. Ein kleines Zimmer, das in graues Licht getaucht war. Ein paar Möbel, kahle Wände. Sie brauchte einige Momente, um sich an das Zimmer zu erinnern. Das Zimmer von Mordan Stewart. Ihrem verfluchten Entführer.
Sie richtete sich halb auf, bemerkte erneut das Gewicht und sah an sich runter. Ein Arm hatte sich quer über ihren Bauch gelegt, sie an eine nackte, harte Brust gezogen. Verstört betrachtete sie Mordans ruhende Züge. Das Licht, das von draußen hereindrang zeichnete harte Schatten auf sie. Er schlief traumlos und friedlich. Sein Atem ging gleichmäßig. Stetig und tief hob und senkte sich seine Brust. Sein Gesicht war zur Hälfte im Kissen vergraben.
„Oh mein Gott …“, hauchte sie und atmete heftiger. Sie merkte, wie sie langsam einen Panikanfall bekam, bis ihr auffiel, dass es die perfekte Gelegenheit war.
Mordan hatte ihr vorhin einen Bademantel übergezogen, der eine definitiv bessere Variante zu dem einfachen Hemd war. In ihm würde sie es weiter schaffen. Außerdem schlief er tief und fest und würde ihr Verschwinden erst bemerken, wenn es zu spät war.
Entschlossen nickte sie, schob seinen Arm von sich runter - und erstarrte, als er sich regte. Doch kurz darauf lag er wieder still und sie stieg leise aus dem Bett, schlich zur Zimmertür hinüber. Der Boden unter ihren nackten Zehen war nach wie vor kühl und ungewohnt rau. Auf halbem Weg blieb sie wieder stehen, hielt den Atem an, lauschte und sah verdutzt zur Kommode hinüber. Zum einen Teil, weil sie sich vergewissern wollte, ob er tatsächlich noch immer schlief oder nur so tat und zum größten Teil, weil sie ihr Spiegelbild entdeckte.
Kein Blut … Das war kein Blut in dem Wasser gewesen. Das war ihre rote Haarfarbe gewesen, die nun komplett ausgewaschen war. Stattdessen glänzte ihr langes Haar jetzt in seinem ursprünglichen Dunkelbraun, das viel besser zu ihren Augen passte, wie sie selbst zugeben musste. Trotzdem war es merkwürdig…
Eine neuerliche Regung von ihrem Entführer erinnerte sie an ihr Vorhaben und sie schlüpfte auf die Diele hinaus, wo sie wieder stehen blieb. Schuhe. Sie würde sich ein Paar von ihm klauen. Allzu viel konnte ihm das wohl nicht ausmachen. Außerdem hatte er sie entführt!
Sie streifte sich ein bequemes, wenn auch zu großes, Paar Sneakers über und war keinen Atemzug später an der Wohnungstür. Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter. Doch die Tür blieb geschlossen. Zu spät fiel ihr wieder ein, wie er sich den Schlüssel Stunden zuvor in die Hosentasche gesteckt hatte.
„Nicht doch …“, flüsterte sie, lehnte die Stirn gegen das kühle Holz der Tür und seufzte lautlos. Wie sollte sie an die herankommen? Er trug seine Jeans! Bestimmt würde er aufwachen, würde sie versuchen, ihm die Schlüssel anzunehmen. Aber was blieb ihr anderes übrig, außer hier eingesperrt zu bleiben?
Gerade wollte sie ins Schlafzimmer zurück, als es unter ihren Fingerspitzen heftig zu vibrieren begann. Erschrocken stolperte sie zurück, hörte, wie jemand gegen die Tür schlug, dass sich das Holz bog. Stimmen waren draußen auf dem Flur zu hören.
„Mordan Stewart! Machen Sie sofort die Tür auf und lassen Sie Lady Febray frei!“, donnerte jemand. Verdutzt starrte Dawn die Planken an, die sich unter den Schlägen bogen. Frei! Sie würde … frei sein! Sie war ihrer Mutter doch nicht egal.
Dawn hätte vor Freude schreien können, als sich eine warme Hand, gezeichnet von rauen Schwielen, von hinten über ihren Mund legte.
„Scht! Kein Wort, Kleines!“, zischte Mordan, drückte sie fest an sich. „Hier, zieh das über. Beeil dich!“ Er reichte ihr eine Jeans, ein T-Shirt und eine Jacke, ohne die Hand von ihrem Gesicht zu nehmen. Sie weigerte sich, sie anzunehmen und schüttelte den Kopf, so gut es ihr möglich war in seinem Griff, wurde allerdings nur mit einem Stich in die Seite belohnt. Mit aufgerissenen Augen sah sie an sich runter. Mordan hielt ihr die tödliche Spitze eines Messers an die Niere. In seinem Gürtel sah sie eine Pistole hängen.
„Los!“, fauchte er wieder und hielt ihr die Kleider nachdrücklich entgegen.
Mit bebenden Händen nahm sie sie und zog sich an, wobei ihr Entführer noch sie viel Anstand besaß und zur Seite blickte. Es dauerte, sich in seinem engen Griff anzuziehen.
Vor der Tür war es still geworden, als sie fertig war. Grob packte er sie fester, quetschte ihr fast die Luft aus den Lungen, das Messer nach wie vor gegen sie gerichtet, und zerrte sie neben die Tür, drückte sich mit ihr an die Wand und hielt den Atem an.
Angst stieg nun in ihr auf. Panische Angst, die sie bisher noch nicht gespürt hatte, trieb ihr Schweiß aus den Poren. In ihren Ohren rauschte das Blut, pochte in ihren Schläfen. In ihrer Kehle saß ein brennender Kloß, der sie nicht atmen ließ. Ihr wurde schwindelig.
Vor der Tür war es noch immer still, doch sie glaubte zu spüren, wie sich etwas anbahnte. Eine Spannung lag in der Luft. Vielleicht war es aber auch nur die Spannung in Mordans Körper hinter ihr. Durch den Nebel ihrer Angst konnte sie es nicht genau zuordnen. Vergeblich versuchte sie sich aus seinem Arm herauszuwinden. Nur ein leichter Druck, eine Erinnerung an den Dolch in ihrer Seite, ließ sie still stehen. Sie wagte sich nicht mehr zu rühren, hätte sich nicht einmal mehr zu atmen oder schlucken getraut, wenn sie es denn gekonnt hätte.
Und doch zuckte sie erschrocken zusammen, als die Tür mit einem Krachen und Poltern, das in der angespannten Stille ohrenbetäubend klang, nach nur einem kurzen „Wir treten die Tür jetzt ein!“ als Warnung fast aus den Angeln brach und aufflog.
Mordan zog sie tiefer in die Schatten, als zwei Polizisten in die Wohnung stürmten, an ihnen vorbei. Verzweifelte Tränen schossen in ihre Augen, doch wie schon zuvor hinderte Mordan sie einzig durch einen leichten Druck in der Seite, sich gegen ihn zu wehren und packte ihren Oberarm. Leise, fast lautlos drängte er sich auf den Hausflur hinaus, den Blick über die Schulter, während die Beamten in der Küche und im Schlafzimmer rumorten.
„Nein! Nicht! Lass mich los!“, wollte sie schreien, doch hinter seiner Hand war nur ein gedämpftes Nuscheln zu verstehen. Trotzdem schien es genug gewesen zu sein, um die Polizisten aufmerksam zu machen. Die Geräusche verstummten, sie hörte das Klicken einer entsicherten Pistole.
Fluchend ließ Mordan von ihrem Mund ab, steckte sich das Messer in den Gürtel und packte ihr Handgelenk so fest, dass sie dachte, er quetsche ihr das Blut ab. Zu überrascht, um zu reagieren, ließ sie es stumm geschehen, dass er sie hinter sich her riss, die Treppen hinab.
„Stehen bleiben!“, brüllte hinter ihnen jemand, als sie noch nicht weit waren. Gefährlich nah. Hoffnungsvoll wandte Dawn den Kopf nach hinten, wollte sehen, wo die Beamten waren, doch ihr wehendes Haar versperrte ihr die Sicht. Kurz darauf wurde sie um die Taille gepackt, ihr Handgelenk war frei. Mordan zog sie wieder an sich. Sie sah, wie seine Finger geübt das Geländer griffen, er schwang sich mit ihr zusammen hinüber, schaffte es, dass sie nirgendwo mit ihren Füßen hängen blieb. Vor Schreck schrie sie auf, doch er ignorierte sie. Sein Blick war konzentriert nach vorne gerichtet. Mehrere Treppen übersprang er auf diese Weise. Die Polizisten blieben ein wenig hinter ihnen zurück.
Schließlich erreichten sie die Haustür, seine Hand lag wieder um ihren Unterarm. Kraftvoll stieß ihr Entführer sie auf, zerrte sie ins Freie und wandte sich sofort nach rechts. Ihre Schuhe versanken in Schnee.
Allmählich begriff Dawn. Ihr Verstand klärte sich wieder, sie schüttelte ihre überraschte Benommenheit ab. Entschlossen stemmte sie ihre Füße gegen den Bürgersteig und stolperte, als er ihre Gegenwehr in seinem Lauf nicht zu bemerken schien. Und wenn ließ er sich nichts anmerken, denn er rannte weiter, den Blick die Straße lang gerichtet.
„Lass mich los, Mordan Stewart! Sofort!“, rief sie, versuchte erneut, sich gegen seine Kraft zu stemmen und ihr Handgelenk aus seinem Griff zu befreien. Sie glaubte, die Beamten aufholen zu hören, als er sie nicht mehr ignorieren konnte und ihr einen mörderischen Blick zuwarf.
Kurzerhand riss er sie rum, drängte sie in eine dunkle Gasse. Nur der Schnee reflektierte schwach das Licht.
Irritiert blickte sie an seinem dunklen T-Shirt, das sich über seiner durchtrainierten Brust spannte, seinem Hals entlang, hoch zu seinem Gesicht, das vor Ärger und Wut verzerrt war. Seine Oberlippe zitterte, als würde er jeden Moment die Zähne fletschen. In seinem Brustkorb glaubte sie ein animalisches Knurren zu hören. Er war so nah. Zu nah …
Ängstlich versuchte sie zurückzuweichen, doch sein Griff ließ dies nicht zu. Ihr Atem flatterte schnell, ihr Herz raste panisch hinter ihren Rippenbögen, während sie von seinen Augen gefangen war. Die goldenen Punkte in dem kalten Grau schienen in seiner Wut zu flammen, brannten ihr das Fleisch von den Knochen.
„Mordan, bitte…“, setzte sie an, als sie im Laternenlicht die Figuren der Polizisten an ihrer Gassen entlanglaufen sah. Sie stockten in ihren Bewegungen, blinzelte in die Dunkelheit, in der Dawn und ihr Entführer standen. Sie sah sie über seine Schulter hinweg, sah sie auf sie zukommen. Zögernd.
„Bitte … Bitte, hör mir zu…“, setzte sie ein weiteres Mal an. Diesmal drang das Knurren aus seiner Brust nach außen, rollte rau und hart in seiner Kehle.
„Sei still!“, zischte er. Diesmal wurde ihr mittlerweile geschundenes Handgelenk verschont, dafür packte er sie grob an den Schultern, seine Finger gruben sich tief in ihr Fleisch. Er schubst sie herum, drängte sie tiefer und tiefer in die Gasse, bis sie vor einer Steinwand standen. Sackgasse. Hinter ihnen hallten die Schritte der Polizisten.
„Rauf!“, knurrte er hinter ihr. Sie schüttelte den Kopf. Nur noch ein paar Meter. Ihre Rettung hatte nur noch ein paar Meter hinter ihnen zum Aufschließen. „Rauf!“, wiederholte er. Noch gereizter, falls das möglich war.
Tief holte Dawn Luft und schloss die Augen. Jetzt musste sie entschlossen sein. Entschlossen. Ruckartig warf sie ihren Kopf nach hinten, traf wie beabsichtigt Mordans Kinn. Überrascht stolperte er einen Schritt zurück und noch ehe er sich fangen konnte gelang es ihr, sich ihm zu entreißen. Ein erleichterter Schluchzer entkam ihr, als sie die Gasse entlang zurück lief. Doch ehe sie auch nur die Hälfte des Weges zwischen Mordan und den Polizisten hinter sich bringen konnte, wurde sie wieder an Mordans Brust gepresst. Kühle streifte ihre Schläfe. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie den Griff der Pistole, deren Lauf auf ihren Kopf gerichtet war, an.
„Keine weitere Bewegung, Kleines.“, sagte er mit schmeichelnd weicher Stimme. „Es wäre doch eine Schande, wenn dein Hübsches Köpfchen für die Welt verloren gehen würde.“
„D-das wagst du nicht!“, brachte sie hervor. In ihrem Rücken lachte er leise.
„Nein? Lass es drauf ankommen, wenn du willst.“ Die Ruhe und Gleichgültigkeit in seiner Stimme klang gefährlich, bedrohlicher als die Wut Momente zuvor.
„Man wird es hören und…“ „Du unterschätzt die moderne Technik, Kleines. Schon einmal etwas von Schalldämpf – Stehen bleiben!“, bellte er die Polizisten an.
Augenblicklich gefroren sie in ihrer Haltung, als sie sahen, in welcher Position sich Dawn befand.
Mordan lächelte träge und zufrieden. „Also, ich würde vorschlagen, ihr lasst uns gehen und ich lasse euer Täubchen am Leben. Kein schlechter Deal, oder?“, fragte er. Sein Ton war so beiläufig und unbekümmert, als rede er über das Wetter.
„Das kannst du nicht machen!“ Einer der Polizisten trat einen Schritt auf ihn und Dawn zu. Mit nur einer Bewegung hatte Mordan die Pistole entsichert. Das Klacken hallte gespenstisch und endgültig von den Wänden wider. Kalter Schweiß rann Dawn den Nacken hinunter, während der Beamte erstarrte. In der Dunkelheit schien er kreidebleich zu werden.
Langsam, bedächtig setzte er einen Fuß vor den anderen, zog sie mit sich, rückwärts, entfernte sich von den Polizisten. Das kühle Metall verließ niemals ihre Schläfe.
„S-stehen bleiben! Ich schieße.“
Mit zitternder Hand hob der bleiche Polizist seine Waffe, zielte. Dawns Herz blieb stehen. Sie deckte Mordan mit ihrem Körper fast vollständig.
„N-nein … Bitte nicht.“ Was ein Ruf hätte sein sollen kam nur als heiseres Flüstern über ihre Lippen.
„Keine Angst, Kleines. Das ist nicht weiter als ein Bluff. Die Feiglinge würden es niemals riskieren, den Tod einer Lady wie dich zu verantworten.“, sagte Mordan scheinbar freundlich mit einem Lächeln in der Stimme, während er weiter ging, doch sie glaubte in ihr Eis klirren zu hören. Bald hatten sie wieder die Mauer in ihrem Rücken.
Sie wagte es, ihren Kopf leicht zu heben, sah an den schmutzigen Wänden entlang zum dunkelgrauen Himmel hinauf. Keine Fluchtmöglichkeit. Sie entkam ihm nicht.
„Tu jetzt, was ich dir sage, Kleines.“, raunte Mordan an ihrem Ohr. „Wenn ich sage spring, dann springst du, verstanden?“
Sie schluckte und nickte vage.
„Bestens.“, sagte er, warf einen Blick zu ihren Verfolgern, die noch immer still standen und beugte sich kurz nach unten, packte ihr Schienbein. „Stütz dich auf mich ab und spring da hoch. Jetzt.“
Ohne einen weiteren Gedanken fasste Dawn nach seiner Schulter und sprang mit Hilfe eines Schubs von ihm an ihrem Unterbein an der Mauer hoch und bekam die Kante zu fassen. Keine paar Sekunden hockte er über ihr, die Pistole hing wieder in seinem Gürtel, fasste ihre Unterarme und zog sie hoch. Im selben Moment, in dem sie mit ihm auf der anderen Seite runter sprang hallte ein Pfeifen durch die Gasse. Eine Kugel schlug knapp neben Mordans Schulter in eines der Gebäude, zwischen denen sie waren, ein. Sie spürte, wie ihr alles Blut aus dem Gesicht wich.
Mordan stieß ein Zischen aus, schob sie vorwärts. Noch einige solcher Hindernisse wie die Mauer brachte sie auf die gleiche Weise hinter sich. Doch kein Schuss und keine Schritte verfolgten sie mehr. Sie standen allein zwischen den Häusern. In der Dunkelheit raschelte etwas.
Mit laut pochendem Herzen starrte Dawn Mordans Rücken an, der im Moment von ihr abgelassen hatte und ruhigen Schrittes vor ihr herging. Brennende Kälte hatte sich in ihr breit gemacht. Verzweifelt versucht sie, sich zu wärmen, schlang die Arme um ihren Oberkörper, hauchte sich auf die Finger. Ihr Magen schien zu zittern.
„M-mordan…“ Sie wollte ihn fragen, wohin er wollte, doch als er abrupt zu ihr herumwirbelte vergaß sie.
Mit raubtierartigen, beinahe aggressiven Bewegungen kam er auf sie zu. Unwillkürlich wich sie vor ihm zurück, doch er war schneller. Wieder war sie so von seinem Blick fixiert, dass sie die Hand nicht sah, die sich hob. Von den geschwärzten Wänden hallte der Schlag wider. Sie strauchelte, rutschte auf einer Schneewehe aus. Fassungslos hob sie die Hand, berührte ihre brennende, vor Schmerz pochende Wange. Tränen schwammen vor ihren Augen, als sie zu ihm aufblickte. Drohend hatte er sich vor ihr aufgebaut. Sein Blick war kalt und sonst nichts.
„Ab jetzt, Febray, gehorchst du mir! Ich schwöre dir, solltest du noch einmal einen solchen Versuch, mir zu entwischen, wie du ihn vorhin gelandet hast, auch nur in Erwägung ziehen, lasse ich dich bereuen, in einer Adelsfamilie oder überhaupt geboren worden zu sein.“ Seine Stimme war ein raues, kehliges Fauchen.
Keine Sorge, das tue ich bereits!, wollte sie ihm entgegenschleudern, doch sie bekam keinen Ton über die Lippen. Sie wollte um sich schlagen, schreien, toben, nach ihm kratzen, doch sein Blick machte sie bewegungsunfähig. Nur ihre Tränen flossen heiß und wenig tröstend.
„Hast du mich verstanden, Febray?“, zischte ihr Entführer, packte sie grob an den Haaren. Wimmernd kratzte sie mit schwacher Kraft an seiner Hand, kniff vor Schmerz die Augen zu.
„Verstanden, Febray?“, wiederholte er, gedehnter jetzt, als wäre sie begriffsstutzig.
Hastig nickte sie, stieß erneut ein Winseln aus, als sich der Griff in ihren Haaren für einen Moment verstärkte, bevor er sie losließ.
Keuchend fiel sie zu Boden, erlaubte sich, ein paar Augenblicke liegen zu bleiben. Der kalte, reine, weiße Schnee kühlte ihre Handgelenke, betäubte langsam ihren Körper. Sie schloss die Augen, bevor sie sich langsam wieder aufrichtete, sich die Tränen aus den Augen und von Wimpern und Wangen wischte. Mordan hatte sich wieder von ihr abgewandt und stand bereits am Ende der Gasse und schien nach etwas Ausschau zu halten. Befürchtete er, die Polizisten könnten um die Blocks gelaufen sein, um ihnen den Weg abzuschneiden? Zwischen seinen Schultern glaubte sie eine unangenehme Anspannung zu sehen, während er die Hände in die Taschen seiner Jeans gerammt hatte. Sein Atem hing weiß vor seinen Lippen, er sah die Straße hinab.
Dawn schob die Stirn in Falten und fragte sich, was sie von diesem Bild halten sollte. Er wirkte einsam in dem gelben Licht einer Laterne. Vom Himmel fiel wieder weiße Flocken, fingen sich in seinem dunklen Haar, blieben auf seinem T-Shirt auf seinen Schultern liegen. Sie biss sich auf die Lippe, ihr Blick verfinsterte sich. Dieser Mistkerl hatte sie entführt, immer wieder grob behandelt und sie schließlich sogar geschlagen! Er hatte jedes Recht, einsam zu sein! Da würde sie kein Mitleid mit ihm haben. Immer noch brannte sein Schlag mit der flachen Hand auf ihrer Wange, ihre Rippen taten weh. Da half auch die kalte Luft nichts. Schmor in der Hölle, Stewart!, dachte sie bitterböse. Sie werden dich kriegen, egal, was noch passiert. Ich werde dafür sorgen.
Am Gassenende schien sich Mordan nun zu entspannen, er drehte sich zu ihr um. Halb erwartete sie, sein schiefes Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen, dass er wieder tun würde, als wäre nie etwas geschehen, doch noch immer lag in seinen Augen dunkle Wut. Unwillkürlich tat sie einen Schritt zurück, weigerte sich, ihren Blick von ihm zu lösen, weigerte sich, sich ihm noch eingeschüchterter und ängstlicher zu zeigen. Doch, verdammt, sie war eingeschüchtert, als er wieder auf sie zukam, ihren Oberarm packte.
„Schatz, unsere Mitfahrgelegenheit ist da.“, schnurrte er dunkel an ihrem Ohr. Kalte Schauer rannen ihr das Rückrad hinunter. Sie sträubte sich stolpernd gegen seine Kraft, während er sie zur Straße hin zog.
Texte: (c)opyright by Victoria Marck & Natalie Angelina
Bildmaterialien: Cover by summerspring :)
Tag der Veröffentlichung: 11.04.2012
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