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Kapitel 1: Schwarze Augen

 

 

Und da stand es vor mir: das Mystic-Art-Internat an der Pazifikküste der USA. Nach 13 Stunden Flug und einer Stunde Fahrt war ich endlich, endlich da. Wie lange und wie oft hatte ich meine Eltern angefleht, auf diese Privat-Elite-Schule gehen zu dürfen, wo ich Theater lernen wollte. Es hatte sich gelohnt. Denn jetzt stand ich da, mit zwei Koffern in den Händen und starrte das mächtige Gebäude vor mir an. Es glich einem alten Schloss, das mich mit seinen kleinen Türmen, dem geziegelten Dach und den vielen großen Fenstern an einen alten englischen Fernsehroman erinnerte. Ich wollte gar nicht erst wissen, wie viele Stöcke das waren. Dahinter konnte man ein wenig in der Ferne die Sierra Nevada erkennen. Eine verschneite Gebirgskette zwischen Kalifornien und den Rocky Mountains, die vorher noch von Tannenwäldern gesäumt wurden.

Langsam, um das Trugbild, falls es eins war, nicht auszulöschen ging ich jetzt auf die große Ebenholztür zu. Der kühle Wind blies mir unter den schwarzen Parka und durch die Haare. Die feuchte Luft ließ meine Jeans und meinen Pulli langsam klamm werden und vollbrachte das Kunststück, meine sonst so glatten dunkelbraunen Haare zu einem Heuhaufen werden zu lassen. Trotzdem ging ich vorwärts, meinem Traum entgegen. Unter meinen hochhackigen, kniehohen Stiefel knirschte hier und dort ein Steinchen. Das stete, im Sekundentakt folgende Klacken meiner Absätze durchbrach die Stille und hallte von den Wäldern ringsum wider. Schließlich kam ich an dem großen, schweren Eingangstor an. Etwas zittrig holte ich Luft und strich mir die Haare aus dem Gesicht.

Man erzählte sich Legenden über dieses Gebäude. Kobolde und Vampire spuken darin, lauern und berauben die Menschen. Die einen stehlen das Gold, die anderen das Blut. Feen und Elfen schwirren hinter den dicken Mauern herum und auch Werwölfe sollen dort Unterschlupf gefunden haben.

Doch es waren nicht die Märchen, die mich nervös machten, denn zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, was das Schicksal hinter diesen Türen für mich bereithielt. Jeder wusste, es gab keine Vampire, Feen oder dergleichen. Vielmehr war es das Ungewisse. Würde ich mich hier zurechtfinden, in dem großen Haus? Würden die anderen mich akzeptieren? In wenigen Tagen begann das neue Schuljahr.

Ich seufzte. Diese Fragen halfen mir nicht weiter. Noch einmal strich ich mir die Haare hinter die Ohren, dann klopfte ich zögernd an. Ich bezweifelte, dass man das in diesem großen Haus hörte, doch als ich das zweite Mal die Hand hob, schwang eine Seite der Tür auf und eine hochgewachsene Frau trat mir entgegen. Ihr dunkelblondes Haar war hochgesteckt und sie musterte mich aus haselnussbraunen Augen. Das freundliche Lächeln, das ihre Lippen umspielte wollte nicht ganz zu ihrem strengen Rock und dem formellen Blazer passen, aber was noch unerwarteter war, war ihre nette Stimme, als sie mich begrüßte. "Alice, wie schön Sie zu sehen. Wir haben Sie schon erwartet. Kommen Sie mit rein. Sicher möchten sie etwas Warmes trinken oder essen?" Sie machte mir Platz, damit ich eintreten konnte.

"Ein Tee wäre sicher ganz nett, Mrs ..." Natürlich sprach ich fließend englisch, aber man hörte bei mir noch den italienischen Akzent durch.

"Oh, entschuldigen Sie. Ich bin Ms. Roberts. Sie können ihr Gepäck dort abstellen, es wird in Ihr Zimmer gebracht, und schon mal in die Lobby gehen. Der Tee wird Ihnen gebracht und Sie bekommen dann auch gleich Ihre Zimmerschlüssel."

"Danke." Ich seufzte erleichtert, als ich die schweren Taschen los war. "Äh, wo ist die Lobby?"

"Ah, natürlich. Gleich dort drüben. Die Jacke können Sie an einem der Hacken aufhängen."

"Oh, gut." Ich lächelte dankend. Sie nickte und lächelte ebenfalls, dann verschwand sie. Irgendwas an ihrer Art und ihrem Gang erinnerte mich an ein Wiesel. Aber ich ließ jetzt Wiesel Wiesel und Ms. Roberts Ms. Roberts sein und sah mich um. Ich staunte nicht schlecht, als ich meinen Blick durch die Einganshalle schweifen ließ. Es war wirklich riesig! Hoch oben, in der Mitte der Halle hing ein mächtiger Kronleuchter, der es höchstwahrscheinlich darauf angelegt hatte, die kleinen Lampen, die an der Wand hingen, einzuschüchtern. Ein großer roter Teppich lag vor dem Fußende einer breiten dunklen Holztreppe. Insgesamt wirkte alles schlicht und alt, aber dann doch irgendwie edel und modern. Den Blick noch immer schweifend ging ich auf die Lobby zu. Den Parka über den Arm gelegt betrat ich jetzt ein anderes Reich. Ein grünes. Die Wände waren braun vertäfelt, aber auf dem Boden lag ein einziger grüner Teppich, der fast das gesamte Parkett im Raum bedeckte. Auf jedem der Fensterbretter der vielen großen Fenster standen Blumen und auch in den Ecken standen grüne Pflanzen. Eine Bar war darin und viele kleine Tische mit niedrigen Sofas standen im Raum verteilt. Auch hier hing in der Mitte ein riesiger Kronleuchter.

Das sah alles noch besser aus, als auf den Bildern im Internet, was meistens nicht so war. Meistens sah dank der Lichteinstellungen auf den Bildern alles verführerisch aus und dann stellte sich heraus, dass das alles nur fake war und in Wirklichkeit überall Kakerlaken rumkrabbelten. Ich schüttelte mich unwillkürlich und ging zu einem der Tische, die größtenteils unbesetzt waren. Erschöpft vom langen Flug ließ ich mich in den grünen Satinbezug fallen. Mein Blick schweifte schon wieder umher und dann sah ich ihn zum ersten Mal.

Er saß alleine an einem der Tische, weit weg von mir. Und doch glaubte ich die feine Struktur seiner dichten Haare erkennen zu können, seinen Duft nach Erde und Regen riechen zu können. Seine Haut war blass, ein wenig durchscheinend und obwohl er den Kopf gesenkt hatte, sodass ihm ein paar schwarze Strähnen ins Gesicht hingen, wusste ich, dass keine Unreinheit sie verunzierte. Er trug eine ausgewaschene, modern geschnittene Jeans und ein schwarzes schlichtes T-Shirt, worunter sich eine muskulöse Brust abzeichnete. So saß er da, nach hinten gelehnt und die Beine lässig überschlagen, und tippte etwas auf einem iPhone rum. Ich wollte gerade den Blick wieder abwenden, als er abrupt den Kopf hob und mich ansah. Ich erstarrte. Seine Augen waren schwarz. Rabenschwarz. Kohlrabenschwarz. Ein Nachthimmel ohne Sterne und Mond. Und der verborgene Ausdruck darin ließ mich erschaudern. Als ob er nach etwas hungerte, nach etwas dürstete und es unbedingt wollte. Doch was mir noch mehr Angst einjagte, war die Tatsache, dass ich meinen Blick nicht abwenden konnte. Wie ein schwarzes Loch zogen mich diese Augen in ihren Bann und hielten mich gefangen. Mit dem Unterbewusstsein registrierte ich ein spöttisches und freudloses Zucken um seine Mundwinkel. Ich nahm auch den Geruch von Regen und Erde wieder wahr, diesmal bestimmter. Mein Blick war nach wie vor starr auf sein Gesicht gerichtet, als sich seine Lippen öffneten. Hinter ihnen glänzte kurz etwas auf. Und dann war er verschwunden.

Ich blinzelte verwirrt. Wo war er hin? So schnell konnte er doch nicht weg sein. Oder hatte ich ihn mir eingebildet? Nein, unmöglich! Wie konnte ich mir so was ausdenken? Auf diesen Ausdruck in diesen schwarzen Augen wäre ich nie gekommen. Und auch dieser herbe Duft, der jetzt verschwunden war ... Nein, ich hatte ihn mir nicht eingebildet. Aber wie war er verschwunden? So schnell? Ich seufzte. Schon wieder Fragen über Fragen, die mich nicht weiterbrachten. Ich lehnte mich wieder zurück in das Polster. Ich hatte es gar nicht bemerkt, aber während er mich angesehen hatte, hatte ich kerzengerade und steif dagesessen. Jetzt erinnerte ich mich auch wieder an die elektrischen Impulse in mir, die mir in dem Gefühlschaos zwischen Aufregung, Angst und einfach gar keinem Gefühl, nicht aufgefallen waren. Ich schüttelte den Kopf.

"Hey!", hörte ich plötzlich eine weibliche Stimme durch den Raum rufen. Ich sah auf. War ich gemeint? Ich sah an einem anderen Tisch eine Gruppe von drei Mädchen. Sie winkten mich zu sich ran. Ich sah mich noch einmal um und richtete mich auf. Ich zeigte auf mich.

"Ich?", formte ich mit den Lippen, denn sie sahen mich noch immer an. Sie nickten. Also stand ich auf, nahm meinen Parka, den ich aus irgendeinem Grund lieber bei mir, als an irgendeinem Hacken hatte und näherte mich ihnen. Ich sah sie mir an. Das Mädchen, das mir am nächsten war hatte schulterlange blonde Haare. Sie sah mich mit ihren hellblauen Augen, die mich an einen Welpen erinnerten, lustig an. Hinter ihr saß ein größeres Mädchen. Ihre langen, glatten kastanienbraunen Haare umrahmten ein schmales olivfarbenes Gesicht, aus welchem mich zwei grüne Augen aufmerksam musterten. Auf dem anderen Sofa saß die dritte, die ihre ... indigofarbenen Haare hochgesteckt hatte. Sie betrachtete ich am längsten. Indigofarbene Haare? Ich trat näher heran. Die Blonde sprang sofort auf.

"Hallo. Ich bin Amalia.", zwitscherte sie aufgeregt mit heller Stimme. Ich konnte nur kurz perplex nicken. "Das sind Antonina und Vanessa." Vanessa. Die mit den auffallenden Haaren war Vanessa. "Setz dich doch.", forderte Amalia mich auf. Ich tat es und taute langsam auf, während Amalia mich erwartungsvoll anlächelte.

"Hi. Ich bin Alice.", brachte ich schließlich hervor. Die Blonde kicherte.

"Du hast einen lustigen Akzent."

"Ja. Ich komme aus Italien. Ich konnte ihn nie wirklich ablegen."

Vanessa neben mir legte den Kopf schief. "Du kommst aus Italien, hast aber blaue Augen und heißt Alice?"

"Meine Mutter kommt ursprünglich aus England. Aber ich glaube, das ist weniger verwunderlich als deine Haarfarbe ..." Ich legte ebenfalls den Kopf schief. Sie nahm eine nicht hochgesteckte Locke zwischen die Finger.

"Komisch, nicht? Die sind von Natur aus so."

Ich hob die Brauen. "Ja, das ist komisch."

"Welches Zimmer hast du?", kam Amalia wieder dazwischen.

"Oh, das weiß ich noch gar nicht ... Ms ... Roberts sagte, ich bekomme meinen Tee und die Schlüssel gleich ..."

"Achso." Sie setzte sich wieder tiefer ins Kissen. Da kam mir eine Idee, was ich sie fragen konnte.

"Ähm, Amalia?" Sie fragte ich lieber, denn Antonina schien nicht unbedingt mit mir befreundet sein zu wollen und Vanessa ... sie hatte noch nicht viel gesagt.

"Ja?" Sofort war sie wieder hellwach.

"Dort saß doch vorhin ein Junge, wer ..."

"Ach, du meinst Lucien." Ihre Augen fingen an zu glitzern. "Ja, er ist ein schwieriger Fall. Die einzigen, die das Glück haben, in seiner Nähe sein zu dürfen sind Ray und Liam. Aber er scheint sie nicht so wirklich zu mögen. Nicht, dass er überhaupt jemanden mögen würde."

Ich hörte ihrer Stimme an, wie sie von ihm schwärmte. Aber das war mir egal. Ich wollte ja nicht sofort mit ihm zusammen sein, oder so. Er war interessant, das stand außer Frage, nachdem, was gerade passiert war. Aber mehr? Ich bezweifelte es. Lucien ... Er hieß Lucien ... Ein mittelalterlicher Name. Ähnlich zu Luzifer, dem gefallen Engel, wenn ich mich recht erinnerte.

"Alice? Alice!" Vanessas Stimme riss mich aus meiner Grübelei. Ich sah auf.

"Hm? Ja?"

"Dein Schlüssel und dein Tee."

"Oh." Ich sah zu Ms. Roberts auf, die mich wieder freundlich anlächelte.

"Den Tee habe ich dir schon dort hingestellt. Deine Zimmernummer ist III516. Du teilst es dir mit Antonina. Sie hat sich schon bereiterklärt, dich in allem einzuweisen und dir alles zu zeigen. Sie kommt ebenfalls aus Italien."

Ich lächelte verklemmt. Das konnte ja heiter werden. Ich sah zu meiner neuen Zimmernachbarin, doch zu meiner Überraschung lächelte sie und nickte mir zu. Mein Lächeln wurde echter. "Okay. Danke schön."

"Kein Problem. Wir hoffen, Sie leben sich schnell ein."

Wir hoffen. Nicht sie hofft. Also war die Freundlichkeit doch nur gespielt. Wie in einem Hotel. Ich verdrehte die Augen, als das Wiesel wieder von dannen zog. Antonina grinste, stand auf und quetschte sich zwischen mich und Vanessa. Amalia, die auf dem anderen Sofa jetzt allein saß sah ein wenig beleidigt aus.

"Sie ist schrecklich.", kam es von neben mir. Ich drehte den Kopf. Antonina hatte eine angenehme, ruhige Stimme, ohne jeglichen Akzent.

"Wer? Amalia?"

Amalia sah aus, als würde sie gleich losheulen. War sie wirklich so empfindlich? Meine Zimmernachbarin lachte.

"Oh nein! Amalia ist überhaupt nicht schrecklich. Sie kann manchmal nur etwas nerven, aber es ist erträglich. Ich spreche von Ms. Roberts. Sie ist überall, wo du sie nicht gebrauchen kannst. Außerdem hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, alle Mädchen von Lucian und seinen Schatten fernzuhalten. Sie kann da echt zu einem Biest werden." Sie streckte angewidert die Zunge raus und verzog das Gesicht. Wir mussten lachen. Ich hatte mich geirrt. Das konnte wirklich noch lustig werden. Unser Lachen verstummte jedoch, als wir ein dunkles Räuspern vernahmen. Wir sahen auf, um zwei großgewachsenen Typen ins Gesicht zu sehen. Der eine, mit den härteren Gesichtszügen hatte olivfarbene Haut und kalte berechnende graue Augen. Seine glatten Haare waren dunkelbraun. Der andere, ein wenig kleiner, hatte blonde verwuschelte Haare und lächelnde grüne Augen. Ein richtiger Sunnyboy. Beide waren so blass wie dieser Lucien, trotzdem der eine olivfarbene Haut hatte, war sie doch ein wenig durchscheinend.

"Entschuldigung, habt ihr Lucien gesehen?", fragte der größere mit dunkler kühler Stimme. Und er schien so zu sprechen, als wolle er nicht, dass man seine Zähne sah. Allerdings fiel mir das nicht weiter auf.

"Er saß vorhin dort. Dann war er verschwunden.", antwortete ich, da die anderen, außer Antonina nicht zurechnungsfähig aussahen. Vor allem Amalia nicht, der fast der Sabber aus dem Mund lief. Ich verdrehte wieder die Augen. Der Dunklere nickte und schon verließen die beiden uns wieder.

"Wie kannst du so normal mit denen reden?", platzte Amalia raus und hüpfte dabei auf und ab. "Das waren zwei der drei heißesten männlichen Wesen dieser Schule!"

"Ach ja? Und wer waren die?"

"Die Schatten von Lucien, Ray und Liam.", kam meine Zimmernachbarin der Blonden zuvor. Ich schlug mir gegen die Stirn.

"Ah! Da hätte ich auch selbst drauf kommen können!"

Dann kehrte Schweigen ein. Nur mein Schlürfen an der Teetasse störte es. Die Lobby war inzwischen leer. Das Ticken einer Uhr war von irgendwoher zu hören und erinnerte mich stark an das Krokodil von Peter Pan, vor dem ich mit drei immer Angst gehabt hatte. Okay, vielleicht würde es doch nicht so lustig werden...

Irgendwann fragte ich in den Raum: "Wer von den beiden war Ray und wer Liam?"

Vanessa antwortete: "Der dunkelhaarige, größere war Ray."

"Ich kombiniere: der andere war Liam und Ray ist dein Schwarm."

Sie machte ein Gesicht, das mich an einen Stummfilm erinnerte. "Woher weißt du das?"

Ich zuckte die Schultern. "Du hast ihn vorhin so angehimmelt. Amalia dagegen steht auf Lucien und Antonina würde sie am liebsten alle drei auf den Mond befördern."

Jetzt sahen mich alle drei verdutzt an. Ich hob die Hände.

"Kommt, Leute. So schwer ist das nicht zu erraten. Ihr solltet eure Gesichter mehr unter Kontrolle haben. Sie verraten euch."

"Du willst Theater lernen?", fragte Vanessa wieder. Ich nickte.

"Ja."

"Man merkt es."

Jetzt war ich an der Reihe mit dem Stummfilmgesicht. Plötzlich schoss mir ein Bild von zwei hungrigen schwarzen Augen durch den Kopf. Ich erschauderte. Die Erinnerung an die Gier in ihnen jagte mir noch immer Angst ein. Aber da war noch was anderes gewesen. Zorn, Frustration und ... schwer kontrollierte Selbstbeherrschung. Abermals erschauderte ich. Aus irgendeinem Grund spielte sich die ganze Szene von meinem inneren Auge erneut ab. Wie er den Kopf hob, sein natürlicher Duft mir in die Nase strömte. Ich wollte weg, doch mein Körper bewegte sich keinen Millimeter von der Stelle. Etwas hielt mich fest. Elektrische Wellen schlugen durch meinen gesamten Körper. Er öffnete seine vollen Lippen und ... war weg.

"Alice! Alice! Sag doch was! Alice! Hallo?" Wie durch Watte drang eine panische Stimme zu meinem Gehirn. Ich wurde geschüttelt. Langsam klärte sich mein Blick und ich sah in ein kindliches Gesicht mit einer Stupsnase. Amalia. "Alice, geht’s dir gut?"

Ich blinzelte verwirrt. "J-Ja ... Denke schon."

"Es geht ihr gut.", seufzte sie. Jetzt wachte ich endgültig auf.

"Was ist passier?"

"Dein Blick war auf einmal ganz starr. Du hast nicht mehr geantwortet und warst ganz regungslos. Wie eine Maus vor der Schlange.", teilte Antonina mir sachlich mit. Ich nickte steif. Ja, so hatte ich mich auch gefühlt. Wie eine kleine Maus, erstarrt, fixiert vom Blick der großen gefährlichen Schlange. "Vielleicht sollte ich mit dir aufs Zimmer gehen. Du bist wahrscheinlich von der Reise erschöpft."

Ich seufzte. "Ja, eine Dusche und ein Bett wären himmlisch."

"Gut. Leute, ich geh mit ihr ins Zimmer."

"Ja, ja. Wir bleiben hier, müssen noch was besprechen. Wegen dem Stundenplan, den Büchern und so.", fügte Amalia hinzu, als Antonina misstrauisch die Brauen hob.

"Na gut. Bis heute Abend."

"Heute Abend? Was ist heute Abend?", fragte ich, als wie wieder die große Eingangshalle betraten.

"Ach ja. Heute Abend findet eine Willkommensparty für diejenigen, die jetzt schon hier sind, statt. Lucien wird auch da sein." Sie beobachtete mich. Ich zuckte zusammen. Bitte nicht. Nicht Lucien.

"Ja und?" Ich versuchte, gelassen zu klingen. "Lucien interessiert mich nicht wirklich ..." Hoffentlich lernte ich im Theater-Kurs auch, besser zu lügen.

"Ach ja? Und was war vorhin? Ihn schienst du auch nicht kalt gelassen zu haben."

Wieder zuckte ich zusammen. "Du hast das gesehen?"

"Ja." Sie nickte, dann runzelte sie die Stirn. "Was war da vorhin passiert?"

Ich schüttelte den Kopf. "Ich weiß es nicht. Er hat mich angesehen ... mit diesen ... schwarzen Augen ... Sie waren so schwarz ... Ich weiß nicht ... Es hat mich elektrisiert und ..." Fröstelnd schlang ich die Arme um mich und bemerkte, dass wir auf offenem Gelände waren. "Oh. Ich hab meinen Parka vergessen. Ich hol ihn kurz, ja?"

"Beeil dich."

Ich drehte mich um und rannte zurück zum großen Gebäude. Warum hatte ich Antonina davon erzählt? Wahrscheinlich, weil sie meine Zimmernachbarin war. Außerdem hatte sie eine kühle, beruhigende Art. Eigentlich überhaupt nicht italienisch, aber das fand ich auch gut so. Aber warum und wie war das mit Lucien passiert? Wie und warum hatte er mich fühlen lassen? Und warum nahm es mich noch so mit? Noch immer stand ich unter Strom, wenn ich mich daran erinnerte. Es waren mindestens ... eine dreiviertel Stunde vergangen seitdem. Oder so ähnlich. Reichte das nicht aus, um es als kleinen Zwischenfall aus meinem Gedächtnis zu streichen? Offensichtlich nicht. Ich sollte aufhören daran zu denken. Genau. Nicht mehr daran denken. Er war auch nur ein Junge mit blasser Haut, die ich aus Italien nicht gewohnt war. Deshalb hat er sich wahrscheinlich auch in mein Gehirn gebrannt. Er ist der erste Mensch, den ich gesehen hab, der so blass war. Wenn ich mich jetzt daran erinnerte kam es mich nur noch dämlich und lächerlich vor, dass ich mich von ihm so hab gefangen nehmen lassen. Und das war es auch. Ach, was tat ich hier? Nicht daran denken, Alice, schalt ich mich. Endlich herrschte in meinem Kopf Ruhe. Gut so. Ohne es zu merken, hatte ich meinen Schritt verlangsamt und war wieder in der Eingangshalle gelandet. Unwillkürlich wandte ich mich zu dem Platz, wo ich meine Taschen abgestellt hatte. Sie waren weg. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Ich zuckte die Schultern, drehte mich um und lief prompt in jemanden rein, der eindeutig größer war als ich.

"Sorry.", murmelte ich und senkte den Kopf.

"Pass doch auf.", zischte eine mir unbekannte raue, tiefe Stimme. Der Geruch von Regen und Erde füllte wieder meine Nase. Erschrocken sah ich hoch. Ein dunkles berechnendes Augenpaar sah mich von oben herab an. Er war so nah, dass ich glaubte, seine Pupillen erahnen zu können. Doch diesmal blieb ich wie durch ein Wunder ruhig. Ich blieb ruhig stehen und sah ihm in die Augen. In die tiefen Abgründe ohne Boden, in die ich immer weiter fiel. Auch er rührte sich nicht. Aber da war kein Kribbeln, da waren keine Funken, keine Spannungen, Bindungen oder von was auch immer andere Leute von solchen schicksalhaften Momenten zu berichten hatten. Da war einfach nichts. Eine wohltuenden leere Stille, die sich um uns legte, uns einhüllte, als müsse sie uns vor der Außenwelt beschützen. Die Zeit war eingefroren. Und wir mit ihr.

Irgendwann trat er dann einen Schritt zurück, doch die tiefe innere Ruhe bei mir blieb. Ich fühlte mich mächtig, als er sich kurz nervös durch die tiefschwarzen Haare fuhr und die Unterlippe zwischen die Zähne zog. Aber dann fasste er sich, seine Augen wurden kühl, seine Miene komplett ausdruckslos. Doch das schreckte mich nicht ab. Ich betrachtete ihn, wie wohl ein Falke eine Maus betrachtete, bevor er sich im Sturzflug auf sie stürzte. Lucien sah wirklich unwiderstehlich aus in seiner rauen, distanzierten Männlichkeit. Ich hatte noch nie zuvor mit einem solchen Phänomen zu tun gehabt, aber ich glaubte, dass er unter anderem jähzornig und aggressiv war. Süß. Irgendwo in meinen kranken Phantasien, in denen ich ihn verspeiste bekam ich dann mit, dass er mir etwas Schwarzes hinhielt. Ich blinzelte. Mein Parka. Stumm nahm ich ihn entgegen und wollte schon verwirrt davon torkeln, doch er packte mich fest am Arm und drehte mich wieder zu sich rum. Ich schrie kurz auf, dann musste ich wieder in seine Augen sehen. Die Gier darin war verschwunden, nur noch der Zorn und die Kälte waren da.

"Wie wäre es mit einem Dankeschön? Es war kein Leichtes, wieder von dieser Blonden loszukommen.", knurrte er.

"Wie? Oh, ähm ... sicher doch ... äh ..."

"Danke?"

"Ja, genau! Danke."

Sein Griff lockerte sich, er ließ mich frei. Ich straffte die Schultern, hob den Kopf an und versuchte stolz an ihm vorbei zu marschieren, doch er pfiff mich zurück. Dumm und verwirrt wie ich war, hörte ich auch noch. "Wo willst du hin?"

"Ich wollte ... Oh, falsche Richtung." Ich machte kehrt und stolzierte in die andere, kam mir dabei allerdings dämlich und lächerlich vor. Er runzelte kurz die Stirn, als ich an ihm vorbei rauschte. Kurz darauf drehte ich mich wieder zu ihm um, verengte die Augen und legte den Kopf schief. "Wieso hast du meinen Parka eigentlich geholt? Wolltest du ihn mir aufs Zimmer bringen, oder was?"

Er zuckte die Schultern und für zwei Sekunden verschwand der harte Ausdruck, wurde herblassend, nachlässig. "Frag mich was Leichteres. Bis heute Abend." Er winkte noch einmal knapp über die Schulter, während er verschwand. Okay, irgendwas an dem Typen war komisch. Definitiv. Ich schüttelte den Kopf, dann kehrte ich zu meiner Zimmernachbarin zurück, die noch immer dort wartete, wo ich sie hatte stehen lassen und von einem Fuß auf den anderen trat. Als sie mich sah kam sie mir entgegen gerannt.

"Alice! Was hat da so lange gedauert? Ich frier mir hier alle Glieder ab."

"Warum ist es hier eigentlich so kalt? Ich dachte, Kalifornien ist sonnig und warm."

"Tja, heute eben nicht. Es ist immerhin Mitte Oktober. Aber jetzt sag mir, was du da noch gemacht hast." So leicht ließ sie sich wohl nicht abwimmeln.

"Nichts. Amalia und Vanessa wollten mich nur noch nicht gehen lassen." Sie musste ja nicht unbedingt von meiner kleinen Kurz-vor-fast-Romanze mit dem offensichtlich begehrtesten Jungen der Schule beziehungsweise des Internats wissen. Ich wusste noch nicht, ob ich ihr tatsächlich vertrauen konnte. Deswegen wusste ich auch nicht, warum ich ihr das vorhin erzählt hatte. Wusste ich überhaupt was?

"Haben sie dich ausgefragt?"

"Und wie!", log ich.

"Und was?"

Mist! Warum musste sie mich das fragen? Gab sie sich niemals zufrieden? Ich dachte krampfhaft nach, sodass ich von dem freien Gelände nicht wirklich viel mitbekam, außer, dass es grün war. Nicht sonderlich verwunderlich.

"Alice?"

Zeit schinden! "Hm? Oh, ja?"

"Was haben sie dich gefragt?"

Endlich fiel mir etwas ein. "Sie haben mich über Italien ausgefragt und so."

"Ah ja ... Italien ... Von wo kommst du da? Toskana? Kalabrien?"

Ich nickte. "Kalabrien. Wir wohnen direkt an der Küste. Zu dieser Zeit ist es da am schönsten."

Antonina nickte. "Kalabrien ist schön. Ich hatte in Rom gelebt."

"Hatte?"

"Ja, meine Eltern wollten nach Deutschland. Ich habe keine Ahnung wieso. Deutschland ist kalt und langweilig."

Ich nickte wieder. Schweigend gingen wir dann weiter, auf eins von zwei Häusern zu. "In diesem Haus ist unser Zimmer?"

"Ja. Hübsch, nicht?"

"Ein wenig untertrieben vielleicht." Das Haus war von außen quasi ein Abbild von Hauptgebäude. Nur ohne die Türmchen und es hatte nur zwei Stockwerke. "Was ist das andere Haus?"

"Ah ja! Da darfst du auf keinen Fall rein. Es ist Teufelsküche. Totale Jungszone!"

"Der Jungentrakt.", schloss ich total geistreich.

"Richtig. Ich bin am Anfang mal ausversehens darin gelandet. Ich hab eine stinkende Socke an den Kopf bekommen! Wirklich! Das war widerlich!" Sie schüttelte sich und ich musste lachen.

"Aber wenn in diesen zwei Stockwerken nur die Mädchen sind und in den anderen nur die Jungs ... Wie viele Schüler sind dann an dieser Schule?"

"Uh, ein paar."

"Was heißt 'ein paar'?" Ich hob eine Braue.

"So ... ungefähr 3600 ...?"

"Ja, das sind tatsächlich ein paar. Privatschule also ... Na, ich weiß nicht."

Wir betraten jetzt den Mädchentrakt. Wärme umfing uns. Seufzend zogen wir unsere Jacken aus.

"Das ist schon besser."

"Ja! Gleich kann ich duschen!" Ich klatschte, stoppte jedoch, als ich Antoninas Blick bemerkte. "Hab ich das gerade laut gesagt?"

Sie nickte, ich lachte auf.

"Sorry."

Sie zuckte die Schultern. "Wenn du nicht im Schlaf redest stört es nicht weiter."

"Nein, das tue ich nicht. Bestimmt nicht."

"Gut. Aber ich lasse dich nur duschen, wenn du mir was versprichst."

"Und was?" Ich hoffte, dass ich das nicht bereuen würde.

"Ich darf deine Taschen ausräumen."

Ich war ein wenig verblüfft. Das hatte ich nicht erwartet. "Öh ... okay ... Und warum?"

"Ich hatte lange keine italienische Mode mehr in den Fingern."

"Oh, das muss hart gewesen sein. Ich lasse dich meine Taschen ausräumen."

"Cool!"

"Oh, und ... ach ja! Was ist das für eine Party heute Abend?"

"Du meinst, was du anziehen sollst?"

"Genau."

"Hast du ein Kleid, was du normalerweise für einen Club anziehen würdest?"

"Ein Cocktailkleid?"

"Perfekt."

"Ja, hab ich. Zwei sogar. Mit passenden Schuhe. Ich weiß nicht wieso."

"Zwei? Mit passenden Schuhen?" Ihre Augen wurden groß und ich musste grinsen.

"Original aus Italien Ich kann dir eins ausleihen."

"Sie kreischte. "Wirklich? Oh mein Gott! Danke! Danke! Danke!" Sie umarmte mich fest.

"Gut. Das war jetzt gerade sehr italienisch."

"Danke. Durch dich kommt es ein wenig wieder. Ah! Hast du das gehört? Da war kurz ein italienischer Akzent! Ich liebe dich! Das heißt ... Nicht im Sinne von ... Ich liebe dich, sondern ... Du weißt, was ich meine?"

Ich grinste wieder und nickte. Dann gingen wir schweigend weiter einen langen Gang entlang, der von Lampen in Öllampenform erhellt wurde. Hier und dort hing auch ein Bild. Antonina war echt okay, mit ihr konnte eich sicher befreundet sein. Irgendwann kamen wir dann an Türen vorbei, die in relativ großen Abständen zueinander waren, was schließen ließ, dass die Zimmer dahinter groß waren. Schließlich blieben wir vor einer Tür stehen, auf welcher stand: III516.

"Unser Zimmer.", verkündete Antonina stolz. "Du kannst jetzt duschen, ich räum deine Klamotten aus und such schon mal die Kleider raus. Dein Stundenplan ist derselbe wie meiner, also zeig ich dir das Gelände, während wir die Räume wechseln und so.", erzählte sie, während sie aufschloss und wir eintraten. Ich konnte nur nicken, denn beim Anblick dessen, wo ich für die nächsten zwei Jahre wohnen würde, blieb mir die Luft zum Sprechen weg. Es war alles unglaublich modern eingerichtet. Mit Sofas, Sesseln, Plasmafernseher, einem Computer und was man sich sonst noch für das eigene Zimmer wünschte.. Aber dann fiel mir auf, dass das noch gar nicht unser Zimmer war.

"Wie ... Ist das ... ´ne Wohnung? Was ... Wie viele Zimmer sind hier?" Ich sah noch drei andere Türen. Eine links, zwei rechts.

"Wir haben hier logischerweise noch ein Bad, ein Schlafzimmer und eine Küche."

"Eine Küche? Das heißt, wir müssen uns selber kochen? Oh mein Gott" Wie geil!", kreischte ich. Ich war nicht gerade ein Mensch großer Worte, doch wenn ich sprach, konnte ich auch leicht hysterisch werden.

"Ja. Der Kühlschrank ist immer vollgefüllt.", hörte ich sie aus dem Wohnzimmer sagen. Ich war schon längst ins Schlafzimmer gehüpft. Dort standen zwei Betten. Die Bezüge waren rot, so wie der Teppich in der Mitte des Raumes und sahen unglaublich weich und einladend aus. Zwei Schränke aus dunklem Kirschholz, so wie die Schreibtische. Die Wände waren mit brauner Tapete verkleidet. Meine Koffer standen auch dort.

"Hast du dir schon eine Seite ausgesucht?", rief ich.

"Ja. Ich nehm die Linke."

"Gut, ich nehm die andere." Viel mehr Auswahl blieb mir ja nicht. Ich stürmte durchs Hauptzimmer, an der Brünetten vorbei, durch eine andere Tür. Ich landete in der Küche. Hier waren Boden und Wände schwarz-weiß verkachelt. Eine Küchenzeile aus silbernem Chrom stand dort, mit Herd, Arbeitsplatten, Ofen, Mikrowelle, Kaffeemaschine und so weiter. Ein Kühlschrank stand daneben. Auf dem Tisch, in der Mitte des Raumes stand eine Obstschale. Schlicht und doch edel, wie ich wieder fand. Grinsend vor Glück schlenderte ich ins Bad. Hier wirkte alles naturell. Boden und Wände waren mit beigen Fliesen bedeckt. Zwei Waschbecken waren in weißen Marmor eingelassen, darüber hing ein Wandschränkchen. Dann waren das natürlich eine Toilette, eine Badewanne und eine Dusche. "Das ist ja unglaublich!"

"Ja, finde ich auch. Als ich es das erste Mal gesehen hab, bin ich umgefallen." Die Antwort kam aus dem Schlafzimmer. Also war sie schon dabei, meine Taschen zu plündern.

"Ich bin dann unter der Dusche." Ich schloss die Tür des Bades, öffnete sie aber gleich wieder. Davor stand Antonina mit meinem Kulturbeutel in der Hand. "Ja, sorry, den hatte ich vergessen." Ich nahm ihn entgegen.

"Du hast die Dusche dringend nötig.", sprachs und verschwand wieder. Ich schloss abermals die Tür, entkleidete mich und schlüpfte in die Dusche. Das heiße Wasser, das auf meine Haut prasselte entkrampfte mich, befreite mich ein wenig von meinem Jet-Leg und ließ mich den Zeitverschiebung vergessen. Ich seufzte wohlig. Doch irgendwann musste auch der schönste Moment zu Ende gehen. Also stellte ich das Wasser ab und trat aus der Kabine. Dampfschwaden waberte durch den Raum und ließen den Spiegel beschlagen. Ich schlang ein weißes Handtuch um mich und wischte ihn sichtfrei. Ich betrachtete mich darin. Meine dunklen Haare hingen mir nass über die Schulterblätter. Mein sonst sonnengebräuntes Gesicht wirkte ein wenig fahl und blass, sodass das tiefe Blau meiner von tiefschwarzen Wimpern umrahmten Augen herausstach. Seufzend griff ich zu meinem Kamm, befreite mein Haar von Knoten. Dann föhnte ich es glatt. Schließlich wollte ich später noch etwas daraus machen können. Anschließend ging ich mit dem Handtuch um mich ins Schlafzimmer, wo meine Zimmernachbarin mit großen grünen Augen zwischen meinen Klamotten saß. Ich musste lachen.

"Macht’s Spaß?"

Sie nickte so heftig, dass ihr Haar nach hinten und wieder nach vorne flog.

"Und wann räumst du die Sachen in meinen Schrank?"

"Öh ... später?"

Ich hob eine Braue. "Ich brauche etwas Bequemes."

Sie nickte geschäftlich und wühlte in meinen Kleidern rum. Schließlich hielt sie eine schwarze Jogginghose und ein weißes T-Shirt hoch. Ich lächelte, bedankte mich und verschwand wieder im Bad, wo ich mich umzog. Kurz darauf warf ich mich in mein weiches Bett. Antonina sah beleidigt zu mir hoch.

"Was?"

"Du siehst sogar in einfachen Sachen gut aus."

"Äh?"

"Als du vorhin in die Lobby spaziert kamst, war Amalia sofort neidisch. Auch ich und die anderen Mädchen, die dort waren waren es auch, nur wir haben es nicht ausgesprochen. Jeder Junge hat sofort aufgesehen. Sogar Lucien hatte kurz den Kopf gehoben."

Ich drehte mich auf den Rück, stieß einen Seufzer aus und starrte die Decke an. "Lucien, Lucien ... Irgendwie hab ich diesen Namen in nur ungefähr zwei Stunden ziemlich oft gehört ...  Dreht sich alles an dieser Schule nur um ihn?"

Kurze Stille. "... Nein ..."

"Hm?"

"Es dreht sich nicht nur alles um ihn. Er ist ... nur so eine Art ... Orientierungspunkt ... Oder so ähnlich. Außerdem sind dann da noch seine Schatten. Wobei Ray nur sein eigenes Leben zu leben scheint, trotzdem aber immer in der Nähe von Lucien. Er interessiert wirklich für niemanden. Er wird wohl auf ewig Single bleiben. Oder er hat eine Freundin, von der niemand weiß. Liam dagegen ist, glaub ich, schwul. Zumindest hab ich ihn noch nie in der Nähe einer Frau gesehen. Irgendwas scheint die drei aneinander zu binden, obwohl sie sich offensichtlich nicht mögen. Das heißt, Lucien kommt ganz allein auch zurecht. Nur die beiden anderen wirken ohne ihn verloren."

Ich schwieg. Was sollte ich auch antworten? Lucien war also nur ein Orientierungspunkt. Aber wofür? Und Ray also für immer an sei Single-Leben vergeben und Liam war vielleicht schwul. So interessant waren die doch gar nicht. Ein Grinsen huschte über mein Gesicht, als ich mir unwillkürlich ein Bild durch den Kopf ging. Ihr vorheriger Ton, als sie über ihn gesprochen hatte, hatte mich nämlich aufhorchen lassen. Ray und Antonina Hand-in-Hand. Gar keine so schlechte Szene. "Anto?" Ich wusste nicht, wie ich jetzt auf diese Namenskürzung kam. Sie sah überrascht auf.

"Ja?"

"Weißt du was?"

"Was denn?"

"Mir ist gerade etwas eingefallen."

"Hast du was vergessen?"

"Nein."

"Was dann?"

"Mir ist etwas eingefallen.", wiederholte ich. Ich wusste, wie man mit dämlich, kurzen Sätzen Menschen an den Rand des Wahnsinns trieb.

"Ja, und was?" Sie hob misstrauisch eine Braue.

"Ray ..."

Sie seufzte genervt. "Was ist mit Ray?" Schon wieder dieser Tonfall.

"Weißt du ..." Ich beschloss, mein Spiel zu beenden. "Ich kann mir gut vorstellen, wie ihr ... händchenhaltend durch die Schule spaziert und alle euch hinterher sehen.“ Ich kicherte, als ich ihren entrückten Gesichtsausdruck sah. "Ich mein ja nur. Ich weiß, ich bin erst zwei Stunden hier und hab ihn erst einmal gesehen, aber ich glaube, das eine mal reichte aus, um zu sehen, dass er ganz attraktiv ist."

"Ganz attraktiv?", wiederholte sie.

"Joa."

"Ganz attraktiv?", wiederholte sie abermals und verengte ihre grünen Augen zu Schlitzen, sodass sie aussahen, wie die einer Katze. "Er ist ..."

"Ja?"

"Er ist ..."

"Er ist ...?"

"Nichts."

"Oh ...", gab ich enttäuscht von mir. Sie funkelte mich an.

"Was hältst du denn von Lucien? Vom Aussehen her?"

Ich überlegte. "Ja ... Ganz passabel." Ich musste ja nicht unbedingt in die Welt rausposaunen, wie unwiderstehlich er vorhin auf mich gewirkt hatte.

"So,so. Und das soll ich dir abkaufen?"

"Solltest du."

Sie nickte langsam. "Aha."

"Räumst du jetzt meine Sachen in den Schrank?"

Sie murrte kurz, machte sich dann aber daran, meine Oberteile und Hose zu falten und in die Schubladen zu legen beziehungsweise in den Schrank zu hängen.

"Wann müssen wir dort sein, wo auch immer die Party ist?"

"Sie beginnt um 20 Uhr im Ballsaal. Ich zeig dir den Weg dorthin."

"Ihr habt einen eigenen Ballsaal? Das wird ja immer besser! Ich sah auf meinen Wecker, den Antonina bereits ausgepackt hatte. 16 Uhr. Also blieben mir nur noch vier Stunden. In zwei Stunden sollte ich anfangen, mich fertig zu machen. Ja, ganz recht, zwei Stunden! Bei mir dauerte so was schon mal! Dann erinnerte ich mich daran, dass Lucien auch da sein würde. Ich erschauderte schon wieder. Der Kerl war definitiv angsteinflößend und er hinterließ bleibende Schäden bei mir.

"Alles okay?", fragte meine Zimmernachbarin besorgt. Bekam sie denn alles mit?

"Ja, ja, alles gut. Ich würde nur gerne etwas schlafen, bevor ich mich fertig mache."

Sie erhob sich, klopfte sich die Hände an der Hose ab. "Gut. Ich bin fertig. Die zwei Kleider sind ... "Sie drehte sich zur Tür um, an der sie die besagten Stücke aufgehangen hatte." Sie sind unglaublich! Wirklich, ich ... Na, egal, ich bin nebenan." Sie huschte aus dem Raum. Kurz darauf hörte ich aus dem Wohnzimmer die Simpsons. Ich warf mich auf die Seite, um die Wand anstarren zu können. Kurz darauf lag auf der anderen Seite. So ging das dann ein halbe Stunde lang. Mal lag ich auf dem Rücken, auf dem Bauch, ein anderes Mal auf der Seite. Verzweifelt versteckte ich meinen Kopf unter dem Kissen. Aber auch das half nichts. Ich konnte nicht einschlafen. Egal, wie ich mich drehte oder wendete. Denn wenn ich die Augen schloss hatte ich das Gefühl, zu fallen. Ich fiel, ohne dass es etwas gab, an dem ich mich halten konnte, in bodenlose schwarze Augen. Sie waren kühl und abweisend, doch etwas tief in ihnen loderte. Sie verschreckten mich, jagten mir Angst ein, mit dem Hunger, der Wut, die darin lagen. Und trotzdem war dort etwas, was auch Trost spenden konnte, etwas Beständiges und doch wildes, das mich anzog.

Seufzend gab ich auf. Manchmal verfolgten mich diese Augen, dann hatte ich meine Ruhe, nur um dann wieder kräftig von ihnen elektrisiert zu werden. Das konnte doch nicht sein. Knurrend schlug ich die Bettdecke zurück, schwang die Beine aus dem bett und trat ans Fenster. Ich lehnte meine Stirn gegen die kühle Scheibe, schloss die Augen und atmete tief durch. Dämlicher Lucien! Er versaute mir die Jahre, die eigentlich die schönsten meine Lebens hätten sein sollen. Und das nur mit einem einzigen Blick, den er mir vor mittlerweile drei Stunden geschenkt hatte. "Dämlicher Lucien", flüsterte ich gegen das Glas, doch irgendwie klang das nicht sehr ernst gemeint. Ich wusste nicht wieso. Dummes Mädchen, kam er aus einer Ecke meines Gehirns. Du wolltest nicht mehr an ihn denken und was tust du? Du schwärmst ja fast von ihm! Was hat er, was andere nicht auch haben? Er ist groß, dunkelhaarig und hat Augen, die einen fesseln. Ja, und?

"Dämlicher Lucien.", flüsterte ich wieder und diesmal klang es fast ehrlich. Stimmte doch! Was gab es an ihm? Mit einem 'Nichts' als Antwort stieg ich wieder ins Bett und zog mir die Decke bis über die Ohren. Dann versuchte ich mich zu entspannen. Ich dachte an eine große weißte Wiese mit vielen flauschigen, grasenden Schäfchen. Und ich begann sie zu zählen. Kitschig, aber mir half es immer. Als ich bei 96 war schaltete sich mein Körper endlich ab und dich sank tiefer ins Kissen. Doch kurz darauf wurde ich wieder geschüttelt. Aus meinem entspannenden Halbschlaf hochgeschreckt sah ich auf. Antonina stand über mir.

"Aufwachen!"

"Was? Warum?"

"warum wohl? Lucien will dir einen Heiratsantrag machen, weißt du?"

"Was?" Sofort saß ich kerzengerade und unter Strom da, als ich seinen Namen hörte.

"Wusst ich’s doch.", murmelte sie. "Nein, er will dir natürlich keinen Heiratsantrag machen. Noch nicht. Wir müssen jetzt daran arbeiten. Komm."

"Wie?"

Sie verdrehte die Augen. "Mir ist vorhin eine Idee gekommen. Lucien muss auf den Grund der Tatsachen zurückkehren. Und er sagt, dass er dir nicht widerstehen können wird. Wir zwei arbeiten jetzt daran, dass er dir verfällt und so weiter."

Schön und gut, dachte ich. Nur zu dumm, dass ich ihm nicht widerstehen konnte. Ängstlich sah ich zu der Braunhaarigen auf. Diese seufzte.

"In zwei Stunden beginnt die Party. Wie du schon weißt, ist Lucien auch da. Wir machen dich jetzt zur Schönheit des Abends, damit er dich beachten muss. Verstanden soweit?"

"Schönheit des Abends? Wo?"

"Du bist wohl noch verwirrt. Komm einfach mit. Oh, warte. Welches dieser göttlichen Kleider willst du anziehen?" Sie deutete zu der Tür. Das eine war tiefblau und würde mir bis zu den Knien gehen. Der Rock war in weiche Falten gelegt. Um die Taille wurde es von einem breiten schwarzen Gürtel gestrafft. Es hatte nur einen breiten Träger über die rechte Schulter und ich wusste, dass es einen Ausschnitt bis zur Mitte des Rückens hatte. Das andere war schwarz und figurbetonend. Es war ein wenig länger, der Saum des Rocks war schräg geschnitten und ein wenig ausgefranst. Es hatte zwei Träger. Unter dem blauen Kleid stand ein Paar schwarzer Riemchen-High-Heels, unter dem anderen ein Paar silberne Pumpen. Ich überlegte nicht lange.

"Ich nehme das Blaue."

Antonina nickte. "Perfekt. Jetzt komm mit. Ich muss dich fertig machen."

"Fertig machen?"

Sie sah mich kurz verständnislos an, dann lachte sie. "Ja, ich mach dich jetzt fertig. Kommst du nun?" Sie packte meine Hand und zog mich hinter sich her, ins Bad. Dort befahl sie mir auf einem Stuhl vor einem Spiegel Platz zu nehmen. Ich gehorchte und schon stand sie hinter mir, um mir energisch durch die Haare zu kämmen Hier und da jaulte ich auf. Dann griff sie zu einem Lockenstab. Während sie an meinem Haar rumfummelte betrachtete ich mich im Spiegel und sah zu, wie meine sonst so glatten Haare sich in weiche Locken verwandelten. Als sie damit fertig war griff sie zu Mascara, Eyeliner und Lidschatten. Kurz darauf konnte ich kurz in den Spiegel sehen. Mein immer noch leicht blasses Gesicht wurde von dunkelbraunen Locken umrahmt. Meine blauen Augen hatte meine Zimmernachbarin kräftig mit schwarzem Eyeliner und Mascara umrandet, dazu wurden sie von schwarz-blauem Lidschatten betont, der sie sexy und ein wenig verrucht wirken ließ. Nur der Ausdruck in ihnen wollte nicht ganz in das Bild passen. Ich musste blinzeln. Das war neu. "Augen sind die Fenster zur Seele.", erklärte sie, als sie meinen zweifelnden Blick bemerkte. Ich konnte wieder nur perplex nicken, bevor es zum Umkleiden ging, bei dem sie mich sowohl vorsichtig, als auch energisch in das schöne blaue Kleid und in die dazugehörigen Schuhe steckte. Zum Abschluss stellte sie mich wieder vor den Spiegel. Der weiche seidene Stoff floss an meiner schmalen Figur hinunter, die von dem Gürtel um meine Taille noch extra betont wurde. Antonina nickte ein wenig selbstgefällig. "Das hab ich gut hinbekommen. Er wird dich nicht ignorieren können, oder was auch immer."

Ich betrachtete mich skeptisch. Als sie den Grund für diese Auftakelei erwähnte rann es mir wieder kalt den Rücken runter und ich musste einen erneuten Schauder unterdrücken. Ich fasste mich.

"Okay. Aber jetzt bin ich dran." Ich schleppte sie ebenfalls ins Bad. Dort wurden ihre Spitzen leicht gelockt, sodass sie sich über ihren Rücken kringelten, ihre Augen wurden schwarz geschminkt. Anschließend standen wir beide fertig im Wohnzimmer. Von unseren Kleidern sah man allerdings nicht viel, denn unsere schwarzen Parkas umhüllten uns. Ich musste kurz tief Luft holen.

"Alles okay?"

"Ja."

"Gut, lassen wir dich auf den größten Mädchenschwarm los!"

Ich musste grinsen, dann traten wir nach draußen.

Kapitel 2: Lucien

Der Ballsaal war riesig, so wie alles hier. Nur spärliches Licht beleuchtete ihn. Es waren schon viele Leute hier, die meisten davon auf der Tanzfläche. Laute Musik drang aus Lautsprechern. Alles wirkte wie in einer Bar. An der Tür stand ein Junge, der uns unsere Jacken abnahm und uns mit anerkennenden Blicken überhäufte. Ich lächelte ihn an, musste danach aber sofort wieder Antonina folgen, die schon Vanessa und Amalia entdeckt hatte und nun auf sie zusteuerte. Die beiden steckten in echt süßen Kleidern. Amalias war weiß, Vanessas lila. Ich lächelte ihnen zu.

"Hi.", begrüßten wir sie. Sie wirbelten sofort zu uns herum.

"A ... lice!" Ihre Augen wurden groß. "Wow, du siehst ... du siehst ... Wow! Unglaublich!", stotterte Amalia.

"Danke. Das ist Antonina Werk. Das Lob gebührt ihr." Ich sah zu meiner Zimmernachbarin, die ich, glaube ich, schon Freundin nennen durfte. Diese grinste. "Ihr seht aber auch nicht schlecht aus."

"Danke."

"Antonina, du siehst auch gut aus.", lobte Vanessa.

"Äh, ja ... Sorry, Leute, wir müssen weiter. Haben noch was vor." Meine Freundin zog mich weiter.

"Was?", fragte ich verwirrt.

"Sag nicht, du hast wieder vergessen, war unser Plan war."

"Aber ..."

"Nichts 'aber'! Diesen Plan können wir unmöglich in der Nähe von Amalia ausführen."

"Du nimmst das aber ernst."

"Es ist auch eine ernste Sache, meine Liebe." Sie blieb so urplötzlich stehen, dass ich in sie hineinlief. "Da vorne ist er."

"Da vorne ist wer?" Ich folgte ihrem Blick und entdeckte ihn. Er stand an einem Stehtisch, mit einem Bierglas in der Hand, das allerdings noch vollkommen unberührt aussah, flankiert von Ray und Liam. Mein Atem stockte. Wie er dort so stand, das Gesicht von mir abgewandt. Er trug ganz schlicht ein weißes Hemd, dessen obere Knöpfe geöffnet waren, sodass man Sicht auf ein Stück von seiner blassen, durchtrainierten Brust hatte. Um den Kragen hing ganz locke ein schwarzer Schlips. Dazu trug er eine dunkelblaue Jeans.

"Herrgott, er sieht umwerfend aus in rot!", kam es von neben mir. Ich war verwirrt. Rot? Lucien trug weiß. Ich sah zu ihr und bemerkte, dass ihr Blick auf jemand anderem haftete. Ich sah noch mal zu den Jungs rüber und bemerkte, dass Ray ein rotes Hemd trug.

"Also doch!", rief ich aus. "Ich dachte, er ist nichts."

"Er ist ja auch ..."

"Ja?"

"... Nichts."

"Wenn er nichts ist, warum siehst du ihn dann so unverwandt an?"

"Warum siehst du Lucien so unverwandt an?"

"Ich hab nie behauptet, er ist nichts."

Wir schwiegen und betrachteten die drei. Kein anderer schien sie zu bemerken und sie schienen keinen anderen zu bemerken.

"Geh doch zu ihm.", sagte Antonina.

"Wie bitte? Was soll ich denn sagen? Hey, Lucien. Ich bin’s, kannst du dich noch erinnern. Du hast mich heute so hungrig angesehen. Oder was?"

"Zum Beispiel."

"Nie im Leben. Nur wenn du zu Ray gehst."

"Nein."

"Eben."

Plötzlich kreischte sie auf. Ich konnte den Blick nicht von Lucien nehmen.

"Was ist?"

"Er kommt hierhin."

"Wer?"

"Ray! Ray kommt hierhin."

Endlich riss ich meinen Blick von dem Kerl mit den schwarzen Augen los und sah, wie ein anderer mit durchdringenden grauen Augen auf uns zukam.

"Hallo.", sagte er mit dunkler, rauer Stimme.

"Hallo?", erwiderte ich. Antonina blieb stumm. Vermutlich war sie gerade auf Wolke sieben.

"Darf ich die Ladies zu einem unbezahlten Drink einladen?" Da erschien doch tatsächlich ein einladendes Lächeln auf seinem harten Gesicht. Und es blieb.

"Nein, darfst du nicht. Das übernehme ich."

Ich erschrak, als wieder der Duft von Erde und Regen in meiner Nase wohlig kribbelte. Lucien war urplötzlich und lautlos hinter mir aufgetaucht, doch ich drehte mich nicht um. Ich wollte nicht wieder so absolut dämlich in seinen Bann geraten.

"Och, Leute! Lasst mich das doch einmal machen!", sprach eine dritte, ein wenig hellere Stimme. Ich sah auf. Liam war jetzt auch dazugekommen. Jetzt war ich völlig perplex. Was war das hier? Stritten sich gerade etwa die drei begehrtesten Jungs darum, wer uns einen Drink spendierte? Meine Knie fingen an zu zittern, als ich eine bestimmt Präsenz noch deutlicher hinter mir spürte. Erschrocken sah ich zu Antonina, die mich ebenfalls mit großen ängstlichen Augen ansah.

"Hast du Angst vor mir?", wisperte eine dunkle ruhige Stimme an meinem Ohr. Ich erstarrte wieder vollkommen. Ray war hinter meine Freundin getreten und senkte den Kopf zu ihr. Lucien und ich sahen wohl so ähnlich aus. Gefährlich, gefährlich, gefährlich!, schoss es mir durch den Kopf. Die Typen waren gefährlich! Durch den Nebel über meinem Verstand registrierte ich, wie Liam beleidigt davonging. "Hey ...!", wisperte es wieder hinter mir. eine Locke wurde mir hinters Ohr gestrichen. "Nicht Angst haben, Süße."

Mein Atem ging schneller, als ich seine Nase an meinem Hals spürte. Dann lachte er schallend auf. Auch Ray lachte. "Entschuldigt. Wir dachten nicht, dass wir euch so erschrecken können."

Ich sah, wie Antonina erleichtert aufatmete und mitlachte. Ich dagegen stand noch immer steif. Natürlich wussten sie das! Lucien und Ray stellten sich nebeneinander. Ich musste mich zwingen, nicht in die dunklen Augen zu sehen.

"Dürfen wir euch jetzt auf einen unbezahlten Drink einladen?"

"Gerne doch." Meine Freundin warf mir einen verheißungsvollen Blick zu, sodass ich mich wieder an unserer Vorhaben erinnerte. Korrigiere: ihr Vorhaben. Ich war mir nicht mehr so sicher, ob ich ihn tatsächlich erobern wollte. Zweifelnd warf ich einen Blick zu seinem blassen und doch attraktiven Gesicht hoch. Ein Fehler. Wieder fiel ich. Doch diesmal war der Abgrund nicht bodenlos. Belustigung war in seinem Blick. Und wieder so ein Feuer, tief in ihm. Ich konnte ihn nur noch befangen anstarren, mit geöffneten Lippen. Er sah mich auch an und verzog qualvoll das Gesicht. Er beugte den Kopf den Kopf hinab. Mein Herz schlug schneller.

"Alice, hör auf, mich so anzusehen. Bitte!", flüsterte er mit rauer Stimme. Trotzdem konnte ich meinen Blick nicht von ihm abwenden. "Alice!", knurrte er. Ich blinzelte.

"Woher weißt du meine Namen?", bekam ich schwach und leise heraus. Er stöhnte gequält auf.

"Das interessiert nicht!"

"Kommt ihr?" Antonina grinste mich sowohl glücklich, als auch wieder verheißungsvoll an. Ich bemerkte Rays Arm, der um ihre Mitte lag.

"Ja, sind schon da." Lucien legte mir eine Hand an den Rücken, ohne dass sie mich berührte. Und während wir zu einem Tisch gingen hatte ich ein wenig Schuldgefühle. Ich tauschte verzauberte Blicke mit Amalias Schwarm und Antonina schmiegte sich lachend an Vanessas. Zudem fühlte ich mich wie eine Gefangene. Irgendwann, nachdem die Jungs uns den Weg durch die Menge freigeschlagen hatten, kamen wir an einem Tisch an, wo bereits Gläser mit verschiedenen Drinks standen. Lucien hielt mir eins dieser Gläser hin. Stumm nahm ich es entgegen, denn meine Stimme versagte mir nach wie vor ihren Dienst. Taxiert  von den Blicken der anderen drei verbarg ich mein Gesicht hinter dem Glasrand. Dann wandte ich mich von ihnen ab und betrachtete die tanzende, flirtende und lachende Menge, Mir war irgendwie zum Heule zumute. Das gefiel mir hier nicht. Lucien gefiel mir nicht. Er jagte mir wirklich Angst ein. So sehr, dass ich hier am liebsten schreiend rausgerannt wäre, doch ich konnte mich nicht von ihm entfernen. Etwas kettete mich hier fest. Und ich war mir sicher, dass es an ihm lag. Wäre er nicht hier, würde ich ganz bestimmt Spaß haben.

"Was hat sie?", hörte ich sie hinter mir flüstern.

"Ich weiß es nicht."

"Wahrscheinlich ist sie nur schüchtern."

"Nein, Alice ist nicht schüchtern."

"Vielleicht liegt es an dir."

"An mir? Wieso?"

Ich holte zitternd tief Luft. Lucien wusste genau wieso. Ich sah es seinem Blick an. Er wusste, wie er auf mich wirkte. Aber egal, egal, egal, schalt ich mich. War doch alles egal. Das hier war ´ne Party, richtig? Und auf Parties hatte man Spaß und litt keine Todesängste, richtig? So, dann würde ich auch Spaß haben! Ich trank meinen Cocktail aus, der ein wenig bitter schmeckte, straffte die Schultern und zwang mir ein Lächeln auf. Dann drehte ich mich wieder um, ohne auch nur einem direkt ins Gesicht zu sehen. Sie beobachteten mich argwöhnisch, während ich ein weiteres Glas leerte.

"Alice, alles okay?", fragte Antonina besorgt. Ich lächelte sie an.

"Ja, alles bestens!", log ich. Mit Erflog. Sie schien zufrieden. Und ich konnte in Ruhe nach einem neuen Drink greifen, wobei ich Luciens merkwürdigen lodernden Blick ignorierte. Nach fünf weiteren schwankte die Welt schon ein wenig um mich herum, doch das war mir egal. "Wer hat Lust, zu tanzen?", rief ich und streckte die Arme nach oben. Alle meldeten sich. Ray führte meine Freundin zur Tanzfläche und Lucien fasste mich am Ellbogen. Ich lächelte zu ihm hoch, doch sein Gesicht war kühl.

"Du bist betrunken.", bemerkte er. Ein ganz schlaues Kerlchen, schoss es mir durch den Kopf.

"Ja und?" Ich schmiegte mich an ihn, aber er hielt mich wieder von sich. Ich schob die Unterlippe vor. "Dann nicht!" Und schon taumelte ich allein zur Tanzfläche. Doch seine Berührung hinterließ ihre Spuren. Meine Knie waren weich und zittrig wie Wackelpudding und der Boden unter mir drohte nachzugeben. Nach drei Schritten tat er das dann auch, aber ich wurde von zwei starken Armen gehalten, die sofort zur Stelle waren.

"Hoppla", flüsterte ich, er seufzte.

"Was ist los?"

"Nichts!" Ich versuchte mich aus seinem Griff zu befreien, doch er drückte mich noch fester an sich. "Lass mich los, Lucien!"

"Nein. Sonst fällst du irgendwo wieder hin und so weiter. So ist das am sichersten für dich." Seine Stimme war weich und sanft.

"Du weißt doch gar nicht, was sicher für mich ist."

"Stimmt. Du solltest gehen." Von einem Moment auf den anderen war sein Tonfall wieder kühl und abweisend. Er ließ mich los. Schon wieder verwirrt drehte ich mich zu ihm um.

"Hä? Was denn jetzt?"

"Du sollst gehen."

"Ganz sicher?"

"Ja. Geh."

"Und wohin?"

"Was weiß ich!" Aufgebracht wandte er mir den Rücken zu.

"Schön! Wie du willst!" Beleidigt torkelte ich nicht ganz so anmutig, wie ich wollte davon. Irgendwann kam ich dann am anderen Ende des Saals an. Ich seufzte auf. Endlich war diese bedrohliche Aura, oder wie ihr wollt, verschwunden. Und dann vermisste ich etwas. Ich schüttelte den Kopf. Quatsch! So war alles okay. Jetzt konnte ich Spaß haben. Ohne Lucien, Ray und Antonina!

"Hallo?"

Ich sah auf. Ein blonder Junge stand vor mir. Liam? Jepp. Der Blonde und nettere der drei – zumindest wirkte nett. "Hi." Ich lächelte.

"Du bist Alice, stimmt’s?"

"Sogar höchstpersönlich."

Er lachte leise. "Hat Lucien dich gelangweilt?"

"So in der Art."

"Er ist kein ... Gentleman. Zumindest hat er darin keine Übung."

Ich schnaubte. "So sieht’s aus! Er hat darin gar keine Übung."

"Darf ich dann als Entschädigung für das Verhalten meines ... Freundes um einen Tanz bitten?"

"Bist du in der Lage, Spaß zu haben?"

"Oh ja!"

"Dann darfst du."

"Nein, darfst du nicht!" Lucien tauchte wieder hinter mir auf. Er schien nicht wirklich in guter Stimmung zu sein. "Ich muss mit dir sprechen, Liam."

"Aber ..."

"Egal!" Und schon zog er den beleidigt und entschuldigend dreinblickenden Blonden von mir weg. Langsam aber sicher wurde ich sauer auf diesen Typen, mit den ach so tollen dunklen Augen! Was bildete der sich? Jetzt kam es mir erst recht dämlich und lächerlich vor, ihm so verfallen zu sein. Schnaubend verlagerte ich das Gewicht auf mein rechtes Bein und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann beobachtete ich die zwei. Liam sah aus, als würde er nur gelangweilt und genervt zuhören, während Lucien wütend mit den Armen in der Luft rumfuchtelte und ihn anschrie. Ich konnte durch die laute Musik allerdings nichts verstehen. Irgendwann verdrehte Liam die Augen und verschwand. Der andere presste sich kurz Mittelfinger und Daumen gegen den Nasenrücken und atmete tief durch. Dann drehte er sich zu mir um und kam mit langen Schritten auf mich zu. Ich reckte das Kinn vor.

"Darf ich jetzt mit dem einzigen freundlichen Menschen hier tanzen?"

"Nein, das übernehme ich."

"Ach, auf einmal?" Ich hob eine Braue, er verzog das Gesicht.

"Ja, auf einmal."

"Schön. Jetzt hab ich aber keine Lust mehr!" Ich wandte mich ab und wollte gehen, doch er hielt mich zurück.

"Lass uns ein wenig nach draußen gehen."

"Nach draußen? Wozu?"

Er legte einen Arm um meine Mitte und zog mich mit sich. "Du brauchst ein wenig frische Luft."

"Aber draußen ist es dunkel und sonst ist keiner da." Wieder ängstlich sah ich zu seinem harten Gesicht hoch. Herrgott, langsam nervte mich diese Hin-und-her! Mal machte er mich wütend, dann jagte er mir wieder Angst ein. Jetzt war ich sauer. Aber aus irgendeinem Grund nur innerlich.

"Na und? Denkst du, ich will dich verführen oder entführen, oder was?" Seine Zähne blitzten weiß und unheimlich auf. Ich wurde ein wenig rot. Das Verführen hatte er schon fast hinter sich. Er öffnete mir die Tür nach draußen. Kalte Luft kam mir entgegen und strich über meine erhitzten Wangen. Ich seufzte dankend und setzte mich auf eine Bank, die dort in der Nähe stand. Lucien stellte sich mit verschränkten Armen hinter mich, sah mit angestrengtem Blick in den Wald. Schließlich seufzte er und setzte mich neben mich.

"Du siehst gut aus.", flüsterte er und gegen meinen Willen wurde ich schon wieder rot

"Danke.", flüsterte ich zurück. Er quittierte es mit einem Nicken, das ich fast nicht gesehen hätte. Dann saßen wir einfach nur da und starrte in die nächtliche Dunkelheit, wobei es mir vorkam, als würde er viel mehr sehen, als ich. "Du bist komisch.", brach ich schließlich das Schweigen.

"Danke, gleichfalls."

"Hmm ..." Die Stille kehrte wieder. Und langsam wurde mir kalt. Fröstelnd schlang ich die Arme um mich. Kurz darauf spürte ich auch noch zwei weitere Arme. Überrascht sah ich auf.

"Ich sagte dir, du sollst mich nicht so ansehen, Alice."

"Warum nicht?" Es musste wohl der Alkohol gewesen sein, der mich dazu brachte, mich an ihn zu schmiegen. Wider Erwarten war er warm. Ich spürte, wie sein Atem über mein Haar strich.

"Weil es mir schon so schwer genug fällt, dir zu widerstehen.", hauchte er und drückte mich wieder an sich. Ich hob den Kopf zu ihm und schon lagen unseren Lippen aufeinander. Erst schien er schockiert, dann vertiefte er den Kuss. Sein Mund war rau, aber auf eine seltsame Weise sanft. Anschließend konnte ich mich nur noch schemenhaft an den Rest erinnern. Wir sind wieder rein gegangen. Dort schien die Menge schon total betrunken. Wir schlossen uns ihnen an und lachten. Irgendwann später schafften Antonina und ich es, Ray und Lucien dazu zu überreden, ein wenig Striptease zu machen und sich ihre Oberteile auszuziehen. Ich konnte mich nicht mehr genau daran erinnern, aber ich wusste noch, dass beide Oberkörper durchtrainiert waren - und blass. Dann trat ich schließlich komplett weg.

 

Ich stöhnte und setzte mich auf. Augenblicklich setzte heftiger Schmerz unter meiner Schädeldecke ein.

"Auch Kopfschmerzen?"

Gegen das grelle Sonnenlicht anblinzelnd sah ich zur anderen Seite des Zimmers. Antonina saß dort in ihrem Bett und lächelte gequält.

"Oh ja ... Wie sind wir hierher gekommen?"

Sie hob die Schultern. "Keine Ahnung. Ist ja auch egal. Komm, wir machen uns Frühstück."

"Krieg ich auch Kaffee und eine Aspirin?"

"Ja, klar. Du musst nur mitkommen."

"Gut." Langsam und schwerfällig erhob ich mich und folgte ihr durchs Wohnzimmer. "Was genau ist gestern passiert?", fragte ich in der Küche angekommen. Sie zuckte die Schultern.

"Ich weiß es nicht. Nur dass Ray ... mich im Arm gehalten hat. Dieser Mann ist göttlich!"

"Hm ..." Ich nickte und machte mich daran, ein Toast zu beschmieren.

"Was denn?"

"Nichts, nichts."

"Doch, sag’s mir."

"Nein, es ist nichts."

"Nur nicht. Komm schon!"

"Aber ..."

"Kein Aber! Raus damit!"

"Lucien hat mich geküsst."

Ihre Augen wurden riesig. "Was?"

"Nein, nicht ganz richtig; Ich hab ihn geküsst."

"Oh mein Gott! Das kann nicht dein Ernst sein! Und? Und? Wie war’s? Kann er gut küssen? Wie hat er geschmeckt?"

"Es war nur kurz."

"Na und?"

"Seine Lippen waren hart und weich zugleich. Aber was war noch mit dir und Ray?" Ich biss in mein Toast mit Erdbeermarmelade und hörte mir ihren lückenhaften Bericht von gestern Nacht an. Sie und Ray hatten getanzt und gelacht. An viel mehr konnte sie sich nicht mehr erinnern.

"Aber ist das nicht absolut geil? Die drei beliebtesten und heißesten Jungs haben sich darum gestritten, wer uns einen Drink spendiert! Und, und ... Hallo? Ich wette, wir waren die glücklichsten Mädchen des Abends."

Ich nickte abwesen und sah zur Seite. Antonina bemerkte es nicht, sondern schwärmte weiter. Tja, der erste Eindruck täuscht. Wahrscheinlich war sie gestern das glücklichste Mädchen in den Armen des Grauäugigen gewesen. Lucien aber ... Irgendwas war anders, bedrohlich, er schien hier nicht reinzugehören, nicht reinzupassen. Ich seufzte. Über den Jungen mit den Schwarzen Augen nachzudenken versetzte mich jetzt in einen merkwürdigen leeren Zustand. Herrgott, das regte mich jetzt aber auf. Der Typ regte mich auf. Noch einmal seufzte ich hart, um den merkwürdigen Knoten in meiner Brust loszuwerden.

"... du mir zu? Alice, ich wette ..." Die leicht raue und sanfte Stimme meiner Zimmernachbarin ging in meinen Gedanken wieder unter. Ich erhob mich.

"Tut mir leid ... Ich muss ein wenig an die frische Luft. Ich meinem Kopf dreht sich noch alles." Oh, und wie sich alles drehte, das wusste sie gar nicht. Sie lächelte verständnisvoll.

"Sicher, soll ich dich begleiten?"

"Nein, nein. Ich brauch einen Spaziergang für mich allein."

Antonina nickte. "Ist gut. Zieh dir aber vorher noch was an." Sie wies auf meinen Schlafanzug, der aus einem mir viel zu großen T-Shirt und Pants bestand. Ich wandte mich ab und musste lächeln. Sie hatte verschiedene Charaktere. Am liebsten mochte ich ihren kühlen, beherrschten, aber das Fürsorgliche war auch lustig. Ich schlich ins Schlafzimmer, zu meinem Schrank aus Kirschholz und entschied mich für eine schwarze Leggins, darüber ein weißes Longshirt mit blassgrauen Streifen und eine kurze Jeansweste. Dazu zog ich mir die Overknees vom Tag davor an. Ich putzte mir noch die Zähne und kämmte meine langen Haare glatt. Dann verließ ich mit meinem geliebten schwarzen Parka den Mädchentrakt. Tief durchatmend blickte ich unwillkürlich zum Jungstrakt rüber und schüttelte den Kopf. Auch wenn ich ihn jetzt erst ungefähr 20 Stunden kannte, sollte er doch verrecken! Leise Flüche vor mich hinmurmelnd ging ich über den grünen Rasen. Die Kieswege zu nehmen war zu langweilig. Ich steckte die Hände in die Manteltaschen und sah zum grau-blauen Himmel hoch. Jetzt ehrlich! Kalifornien hatte ich mir anders vorgestellt! Zum Teufel, warum hatte mir mein vermeidlicher Traum bis jetzt nur Albträume beschert? Erneut seufzte ich, um den hässlichen Klumpen, der sich in meiner Brust und meiner Kehle ausbreitete und mir beinahe Tränen in die Augen treib, loszuwerden. Gut, ich war schon immer ein wenig empfindlich gewesen, aber das übertrieb es doch jetzt. Verzweifelt fuchtelte ich mit den Armen in der klaren Luft herum, raufte mir die Haare, stampfte auf wie ein toll gewordenes Pferd und tat alles, was den Knoten lösen konnte. Ich schrie. Dabei kam ich mir zwar ein wenig dämlich und beobachtete vor, aber es half ein wenig. Irgendwann stemmte ich schwer atmend die Hände in die Hüften und sah über die Nebel verhangenen Nadelwälder rüber zu den Sierra Nevada. Die Luft, die meinen Körper verließ, hing mir in kleinen weißen Dunstwolken vor dem Mund. Ein wenig erschöpft fuhr ich mir durch die Haare, dann setzte ich mich auf eine Steinbank unter einem Baum.

"Ich werde dich wohl nicht mehr los, wie?", erklang eine kühle Stimme. Überrascht sah ich um mich. "Hier oben, Prinzessin."

Mein Blick hob sich und ich entdeckte auf einem breiten Ast eine dunkelhaarige Gestalt, die aus ebenso dunklen Augen spöttisch auf mich runter sah. Er saß dort, die Rücken gegen den Baumstamm gelehnt, das eine Bein angewinkelt, das andere von sich gestreckt. Zwischen seinen Fingern sah ich etwas Silbernes, Metallisches aufglänzen. Ich verengte die Augen. "Was soll das heißen?"

"Nichts. Nur, dass ich im Moment gerne allein wäre. Im Klartext: Es wäre freundlich, wenn du verschwinden würdest. Ich war zuerst hier." Sein Ton war kalt und arrogant. Trotzdem kroch Hitze über meinen Hals.

"Und wie lange bist du schon hier?"

Er verengte die Augen und sah zum Himmel hoch. "Seit dem Morgengrauen. - Keine Sorge, deine kleine ... Aufführung gerade habe ich höflich übersehen.  Wenn du dann jetzt gehen würdest." Er sah wieder zu mir runter, die Augen nach wie vor nur dunkle Schlitze. Ein spöttisches, herblassendes Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. Schnaubend verschränkte ich die Arme.

"Wenn ich aber nicht gehen will?"

Seine Lippen kräuselten sich und das spöttische Zucken verwandelte sich in ein Zähnefletschen. Erschrocken wich ich ein Stück zurück und sah die Genugtuung in seinen schmalen Augen, als er es merkte. Ein Knurren entwich seiner Kehle. "Dann sei wenigstens leise!"

"Darf ich fragen, warum du so zu mir bist?"

"Nein, darfst du nicht. Ich will meine Ruhe."

"Du hast mich gestern geküsst."

Er sah überrascht von dem Gegenstand zwischen seinen Fingern auf. Dann schien er sich zu erinnern, sein Gesicht wurde wieder kalt. "Ich hab deinen Kuss erwidert, und das nur, weil ich betrunken war."

"Ja, so hast du auch ausgesehen. Du warst total beherrscht."

Ich glaubte ihn so etwas wie "Sei froh darüber" murmeln zu hören und ich wusste nicht, wie ich das deuten sollte. Unwillkürlich sah ich zu ihm auf, als Wind meine Haare aufwehte und die Blätter rascheln ließ. Er ließ Luciens dunkles Haar erzittern und mir fiel auf, wie lang es war. Es hing ihm hinten über den Nacken, die vorderen Strähnen gingen ihm bis zu dem Kieferknochen und sein Pony hing ihm ein Stück über die dichten, aber schmalen schwarzen Brauen. Er hätte aus ihnen locker einen kleinen Zopf im Nacken binden können. Vielleicht tat er das auch manchmal. Als er meinen Blick bemerkte sah er kurz ausdruckslos zu mir runter, dann schweifte sein Blick wieder in die Ferne und wurde leer. Nur einmal glaubte ich Sehnsucht darin zu erkennen. Es war für drei Sekunden. Ich atmete tief ein. Gut, es ließ sich nicht leugnen; er sah gut aus - und wie. Aber verdammt noch mal, sein Charakter ließ wirklich noch zu wünschen übrig! Ich atmete aus. Über mir hörte ich ein merkwürdiges Geräusch, als ob jemand eine Axt oder was auch immer in Holz reinschlug. Ein weiteres Mal sah ich auf und sah tatsächlich, wie Lucien mit gelangweilter Miene ein Messer, oder besser einen Dolch, aus dem Ast rausholte und wieder reinstach. Ich runzelte die Stirn.

"Willst du dir das Genick brechen?"

Ein spöttischer Blick traf mich. Aber er schwieg.

"Wenn du so weitermachst, bricht der Ast noch ab."

Er schwieg weiter, der Spott blieb.

"Hallo? Erde an Lucien da oben!"

"Machst du dir etwa Sorgen?" Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, um ein gehässiges Grinsen zu verbergen.

"Ja, ich mache mir Sorgen, dass ich auch noch im Krankenhaus landen könnte, vielleicht sogar im Grab, obwohl das Schuljahr noch nicht angefangen hat. Und stell dir vor, ich könnte dann neben dir liegen, was das alles nicht unbedingt schöner macht."

"Dann geh doch."

Ich funkelte ihn an. "Um dir einen Gefallen zu tun? Vergiss es!"

"Dann sei still!" Er lehnte sich wieder zurück und wandte sich wieder dem Dolch zu.

"Woher und wozu hast du den?" Ich hob eine Braue, er funkelte mich genervt an. Aber es jagte mir keine Angst ein. Hier draußen an der klaren Luft schien er keine Wirkung auf mich zu haben.

"Um kleine schwache Mädchen aus Italien damit abzustechen, weil sie ihre Klappe nicht halten können, auch wenn man sie darum bittet, weißt du." Seine Stimme troff vor Hohn.

"Ja, das ärgert meine Eltern auch immer ... - Woher weißt du, dass ich aus Italien komme?" Ich erinnerte mich nicht daran, es ihm gesagt zu haben. Er schwieg wieder, beachtete mich gar nicht mehr. Am liebsten wäre ich zu ihm hochgeklettert und hätte ihm eine geklebt. Nur zu dumm, dass meine Absätze zu hoch waren und mir die Stiefel bis über die Knie gingen, was das Klettern noch zusätzlich erschwerte. Also musste ich stattdessen wieder leise fluchen, die Arme verschränken und die Augen verdrehen. Ich lehnte mich zurück und sah in die Fichtenwälder, die das Gelände wie eine Wall einkreisten und es zu einem ruhigen Ort machten. Zusätzlich standen um diese grüne Wiese mit nur dem einen Baum die Schlaftrakte und das Hauptgebäude. Ich fragte mich, wo die ganzen anderen Schüler waren, die gestern noch im Ballsaal gewesen sind. Wahrscheinlich schliefen die alle noch oder versuchten irgendwie, ihren Kater loszuwerden. Über mir hörte ich wieder, wie Lucien den Dolch in das Holz schlug. Ich ignorierte ihn. Zumindest versuchte ich es. Es war nicht leicht, während sich so eine vertraute Atmosphäre über uns legte. Ich sah mich um. Wo kam die auf einmal her? Kalter Wind fuhr mir wieder durch die Haare und ließ mich frösteln. Als mich dann ein paar Tropfen auf Stirn und Nase trafen sah ich zum jetzt völlig grauen Himmel auf. Immer mehr Wasser fiel aus den Wolken. Ärgerlich seufzend stand ich auf. Neben mir landete etwas sanft und leise im Gras. Überrascht sprang ich mit einem kleinen Schrei zur Seite, dann bemerkte ich, dass nur Lucien von seinem Ast gesprungen war. Ich konnte nicht anders, als ihn zu betrachten. Zuerst fiel mir sein Hemd auf. Es war weiß. Aber es sah nicht aus, wie normale Hemden. Es hatte einen V-Ausschnitt und weit fallende Ärmel, die an den Außenseiten ein wenig aufgeschlitzt waren und sich im Wind leicht blähten. Es war aus einem Stoff, der bei modernen Kleidern nicht üblich war. Zuerst dachte ich, es sei Baumwolle, doch dann sah ich, dass es so etwas wie Leinen sein musste. Dann war da seine Hose. Schwarz und eng anliegend, aus Leder. Dazu hohe Stiefel ebenfalls schwarz und aus Leder. Ich sog zischend die Luft durch die Zähne ein. Es sah aus, wie die Kleidung ein mittelalterlichen Kriegers, die er in seiner Freizeit, im heimatlichen Dorf trug. Und es sah an ihm so unverschämt richtig und gut aus. Dazu sein fast schulterlanges, glattes, tiefschwarzes Haar, das in einer kalten Böe wieder erzitterte. Ja, er war ein mittelalterlicher Krieger. Aber das konnte doch nicht sein, oder? Er sah so echt aus. Ein Schnauben und ein darauf folgender spöttischer, kalter Blick brachten mich zurück in die Gegenwart. Ich blinzelte verwirrt, als er sich vor mir verbeugte. "Es war mir eine Ehre, Eure Gesellschaft genossen zu haben, wenn auch zum größten Teil schweigend. Aber jetzt muss ich gehen, was ich Euch auch raten würde. Ihr seid schon ganz nass." Mit einem hämischen Grinsen wandte er sich um und war wieder verschwunden. Was war das gerade eben? Mit einem Schulterzucken ging ich zum Mädchentrakt zurück.

 

                                                                      

~ * ~

 

 

Leise seufzend schob er sich durch die Tür. Das Mädchen, Alice, hatte er schon wieder vergessen. Zumindest bemühte er sich, sie zu vergessen. Aber aus einem ihm unbekannten Grund ließ sich das nicht bewerkstelligen. Er dachte an ihre großen tiefblauen Augen, die ihn so herausfordern angesehen hatte. Groß und blau, wie die eines Welpen. Er schüttelte den Kopf. Er brauchte sie nicht. Sicher, sie war schön und anmutig und darauf konnte sie sich gerne etwas einbilden, aber interessiert war er an ihr nicht. Dumm nur, dass er ahnte, dass sie ihn jetzt nicht mehr in Ruhe lassen würde. Er wollte einfach hier Leben, weg von seinem eigentlichen Alltag. Natürlich waren sie dank Liam aufgenommen worden. Bei dem Gedanken an den 16-Jährigen blonden Wuschelkopf stahl sich ein kleines Lächeln für zwei Sekunden auf über sein Gesicht. Der Kleine wollte doch tatsächlich werden wie er, war es auch schon fast. Doch mit Frauen sollte er noch nichts am Hut haben, es stand ihm noch nicht zu. Aber trotzdem ihm das offensichtlich gegen den Strich ging ließ er die ganzen Predigten immer und immer wieder über sich ergehen, ohne zu Murren und folgte seinen Befehlen. Überhaupt begehrte er kein einziges Mal auf, so wie er selbst es immer getan hatte. Mit einem erneuten Seufzen fuhr er sich durch die Haare und öffnete die Augen. Der Raum war dunkel. Ray und Liam schliefen wohl noch. Mit leisen Schritten ging er weiter hinein, stockte in der Bewegung. War da nicht etwas? Vorsichtig lauschte er, dann ging urplötzlich das Licht an. Reflexartig hob er den Arm, um seine Augen vor dem grellen Licht zu schützen und blinzelte.

"Aber, aber, Lucien. So schreckhaft?", erklang eine spöttische Stimme durch den Raum. Der Schwarzhaarige sah auf und begegnete einem blau-violettem Augenpaar, das ihn musterte. Mehr aus Gewohnheit als aus Respekt neigte er den Kopf zum Gruß.

"Meister Arkan. Was für eine unerwartete Überraschung."

"Ja, nicht. Aber es scheint, als hätte es auf Euch nicht die Wirkung, wie auf Eure Schützlinge." Er deutete in eine Ecke, wo Ray und Liam gefesselt mit Knebel im Mund saßen. Lucien schüttelte den Kopf.

"Meint Ihr nicht, dass das unnötig ist?"

"Ich wollte doch nicht, dass sie mich verraten. Sonst wäre es ja keine Überraschung, oder doch? Ich bin nicht geübt darin."

"Also gut, Schluss. Was wollt Ihr hier? Wohl nicht nur einen Kaffee-Schwatz halten?"

"Wie immer bemerkt Ihr schnell, Offizier. Ich habe einen Befehl für Euch." Arkan öffnete sein Wams und holte einen versiegelten Brief aus Pergament hervor. Zögernd nahm Lucien ihn entgegen, öffnete ihn und las schnell.

"Wisst Ihr, warum ich das tun soll?"

Der Blonde hob die Schultern. "Wer versteht schon die Gründe des Lords."

Er nickte. "Ein recht einfacher Befehl. Aber jetzt verschwindet von hier und macht meine Freunde los!"

Schweigend nickte der Meister und befreite die Gefesselten. Sofort spukten Ray und Liam, angewidert von den Lappen, die zwischen ihren Zähnen geklemmt hatten, aus. "Soll ich Eurem Vater einen schönen Gruß bestellen?" Er stellte sich gerade hin, legte die Stirn in Falten.

"Nein, bloß nicht. Sagt ihm, er soll beim Teufel schmoren."

"Und Eurer Mutter?"

Lucien schnaubte verächtlich. "Dieses Miststück kann man nicht 'Mutter' nennen!"

"Wie Ihr wollt." Arkan verbeugte sich und war verschwunden, doch dem Schwarzhaarigen war die unwillige steile Falte zwischen seinen Brauen nicht entgangen.

Kapitel 3: Schatten

Es klopfte jetzt zum Wiederholten Male an der Tür.

"Ja, warte doch!", rief ich, stand auf und trottete durchs Wohnzimmer zur Tür. Antonina sah mir hinterher, während ich zur Klinke griff. Die Tür sprang auf und zwei Mädchen standen mir gegenüber. "Amalia! Vanessa!"

Sie funkelte mich an. "Was war das gestern?", fuhr Amalia mich an. Ich sah sie verständnislos an.

"Eh? Was meinst du?"

"Gestern Abend beziehungsweise Nacht! Ich dachte, du würdest dich nicht für Lucien interessieren und Antonina nicht für Ray!"

"Hey, hey! Kommt rein und schreit bitte nicht so rum."

Sie folgten mir. Antonina stand auf und lächelte freundlich. "Nessie! Mali!"

"Oh ja, tu so, als wäre nichts passiert!", giftete die Indigohaarfarbene.

"Es ist ja auch nichts passiert."

"Meinst du? Weißt du, wie ihr den Saal verlassen habt?"

"Nein, wissen wir nicht mehr. Wir haben gerade darüber geredet. Wir haben echt einen Black-out."

"Dann verrate ich es euch! Du, Alice, hast wie ein Blutegel an Lucien geklebt und du, Antonina, du wurdest von Ray auf Händen getragen!" Amalias Stimme ging immer weiter in die Höhe. Verdutzt sah ich sie an.

"Ich habe an Lucien geklebt? Wie?"

Amalias Augen wurden schmal. "Du weißt genau, was ich meine!"

Ich überlegte und dann ... Raue Hände, die über meinen Körper strichen, sein Gewicht auf meinen Hüfte. Unter meinen Fingern das Spiel schweißnasser Muskeln. Und dann sein Mund. So herb und leidenschaftlich, dass es mir den Atem nahm. Seine Zunge fuhr meine Kehle entlang. Erschrocken schnappte ich nach Luft. "Das ...! Oh mein Gott! Ich hab ... Oh mein Gott! Nein! Bestimmt nicht! Das kann nicht sein! Lucien hasst mich! Ehrlich, ich ..." Zitternd holte ich Luft und ließ mich zu Boden sinken. Dann kamen neue Bilder. Schwarze Augen, die nach mir verlangten. Ein Lächeln glitt über seine Züge, kräuselte seine Lippen. Hinter ihnen, leicht verborgen glänzten scharfe Eckzähne. 'Es gibt kein Zurück, Alice. Wunderschöne Alice. Es ist vorüber.' Seine Stimme war rau und direkt neben meinem Ohr, doch seine Worte erreichten meinen Verstand nicht. Er hing an seinem Körper, gab sich völlig dessen Spielereien hin. Seufzend sank ich tiefer in die Kissen. Sein Brustkorb senkte sich auf meinen. Weitere Luft entwich meinem Körper, mein Blick war starr auf den Boden gerichtet, während ich die Hände in meinen Haaren vergrub. "Das kann nicht sein", wiederholte ich immer wieder leise. Zitternd presste ich die Fingerknöchel gegen die Lippen. Irgendwas an diesen Erinnerungen machte mich starr vor Entsetzen. Irgendwas daran war falsch, verdreht. Ich fuhr zusammen, als ein Arm sich um mich legte.

"Alice ... Alles okay?", flüsterte eine angenehm raue Stimme. Mit großen Augen sah ich auf und in ein olivfarbenes, schmales Gesicht. Ein Wimmern entrang sich meiner Kehle. "Schsch, ist gut." Antonina nahm mich ganz in den Arm. Ich barg mein Gesicht an ihrer Schulter. Mir war kalt. "Wie ihr seht, muss Alice sich jetzt erst beruhigen. Danke, Amalia. Das hätte ich nicht besser hinbekommen können. Würdet ihr dann jetzt gehen, freundlicherweise."

Ich hörte ein Grummeln, dann schlug eine Tür zu. Ich schluchzte. Eine Hand strich mir übers Haar. "Ruhig, Alice. Es ist gut. Was hast du?"

"Er ... Irgendwas ... da war etwas ... Schreckliches ...!"

"Was war Schreckliches?"

"Es war kalt und so ähnlich wie ein Schatten. Groß und mächtig und dunkel ... Es ... es hat mir ... wehgetan."

"Lucien?"

"Nein! Nein ... nicht Lucien. Lucien war nur ... Er ..." Etwas schnürte mir die Kehle zu. Ich versuchte, weiterzusprechen, doch etwas hintere mich daran. Schmerz explodierte unter meiner Schädeldecke. Vor meinen Augen wurde alles langsam dunkler, mein Verstand wurde von einem zähen Nebel umhüllt.

"Alice! Sprich weiter! Was ist passiert? Alice!" Die panische Stimme drang nur aus weiter Ferne zu mir durch. Ich öffnete den Mund, ein gequältes Stöhnen entwich mir. Dann wusste ich nichts mehr.

 

 

~*~

 

 

Mit einem Fluch bettete er den Kopf neben ihrem Arm auf der Matratze. Vor einer halben Stunde war dieses Mädchen mit den Katzenaugen vor seiner Tür gestanden, hatte ihn beschimpft, verflucht, verwünscht. Sie hatte gezetert, dass er Alice, ihrer Freundin, wehgetan habe. Erst hatte er nicht gewusst, was sie meinte, doch sie hatte ihm bereitwillig alles erzählt. Bei jedem ihrer Sätze hatte er mehr begriffen, worauf sie hinauswollte, wurde immer entsetzter. Schließlich war er einfach hinausgestürzt, hatte sie untersucht, ihren Hals. Doch da war nichts. Wahrscheinlich, weil er schon zu spät gewesen war, die Wunde war schon verschlossen. Aber dann hätte sie doch vorher ihm oder ihrer Freundin auffallen müssen. Zum Teufel, er wollte doch nicht ... Eine Regung von ihr riss ihn aus seinen Gedanken. Abrupt hob er den Kopf. Genau in dem Moment, in dem sie ihre Augen eine Spalt öffnete. Sie blinzelte ihn an. Hatte sie die ganze Zeit über schon so tiefe meerblaue Augen gehabt?

"Was ist ..." Sie sah um sich, wollte sich aufsetzen, doch er drückte sie wieder runter. Als sie ihn erkannte sog sie scharf die Luft ein, ihre Augen weiteten sich. "Du!", brachte sie atemlos hervor.

"Ja, ich. Stell dir vor. Kannst du mir sagen, was gestern passiert ist?" Er massierte sich die Schläfen.

"Wir haben ..."

"Ich weiß, was wir gemacht haben! Aber deine Freundin ... Wie hieß sie gleich ... An ... Anto ..."

"Antonina."

"Antonina sagte, du hättest ihr noch etwas von etwas Großem, Schwarzen berichtet. Kannst du es mir genauer beschreiben?"

Sie verschränkte die Arme, reckte trotzig das Kinn vor und funkelte ihn an. "Ich wüsste nicht, was dich das angeht."

Er sah sie ebenfalls wütend an und bemerkte mit Genugtuung, wie sie ein Stück vor ihm zurückwich. "Es geht mich etwas an!"

"Ach, und was?"

"Dass ...", setzte er an, doch die Tür flog auf und knallte gegen die Wand.

"Ray und Liam sagen, du sollst sofort mit ihnen mitkommen. Oh, Alice, du bist wach!" Das Katzenaugen-Mädchen erschien. Er nickte, sah noch einmal auf Alice runter. "Wenn dir irgendwas an dir auffällt, du irgendwie das Gefühl hast, dass du dich veränderst, sag mir Bescheid! Dringend!" Dann stand er auf, verließ den Raum, die Wohnung und wurde von zwei verärgerten Blicken empfangen. Er seufzte. "Sie hatte keine Wunden."

"Das hat nichts zu sagen.", entgegnete der Blonde. Lucien betrachtete ihn.

"Möglich. Aber meint ihr nicht, sie müsste mir vorher aufgefallen sein...? Und warum konnte ich mich nicht daran erinnern?"

"Stimmt, das ist wirklich merkwürdig, dass du dich nicht an diese Schönheit erinnern kannst, vor allem ..."

"Liam! Es reicht, du weißt, dass du ..."

" ... noch keine Rechte hast, gerade, was Frauen angeht. Ist gut. Kein Grund, gleich auszurasten."

Lucien verdrehte die Augen. "Egal was passiert, behaltet sie im Auge! Wenn sie irgendwas Auffälliges tut, will ich sofort Bericht erhalten, verstanden?"

Die Beiden schlugen sich die Haust gegen die Brust. "Jawohl!" Luciens Schützlinge verschwanden und er selbst presste sich Daumen und Mittelfinger gegen den Nasenrücken. Seufzend drehte er sich um und ging in die andere Richtung. Mitten in der Bewegung stockte er jedoch. Bilder, an die er sich nicht erinnern konnte schwirrten durch seinen Kopf, doch sie waren aus seiner Perspektive. Ihr langes dunkles Haar strich über seine nackte Brust. Sie erhob sich, setzte sich auf sein Becken. Sacht, fast ehrfürchtig strich sie mit dem Zeigefinger die Konturen seines Körpers entlang, über das feine Relief seines Bauches. Wohlig seufzend breitete er die Arme aus, gab sich ihr hin. Dann sah sie ihn aus schönen, ozeanblauen Augen an, nahm ihm den kläglichen Rest seines Verstandes. Zitternd brach er in die Knie, fuhr sich durch die Haare. Das konnte nicht sein! Aber da war noch mehr ... Ein Schemen, ein Schatten baute sich über ihnen auf. Dunkel und undurchdringlich legte er sich über sie. Alice schrie. Ihr Schrei gellte in seinen Ohren, ließ ihn zusammenfahren. Für einen Moment war er aus seiner weichen Trance erwacht, er wollte ihr helfen, sackte zusammen. Aus weiter Ferne spürte er, wie etwas warmes ihn streifte, dann war dort nur eine verzehrende Dunkelheit. "Das kann nicht sein. Bestimmt nicht! Warum sollte ... Nein, das war es nicht ..." Es konnte doch nicht sein, dass ... Mit einem Stöhnen krümmte er sich zusammen, richtete sich aber sogleich wieder auf und lief zurück. Er stieß die Tür auf und suchte den Raum mit Blicken ab. Er fand sie auf dem Teppich kauernd. Sie trug nicht mehr, als ein längeres Nachthemd. "A ... lice ... Was macht ... machst du da?"

Sie sah auf. "Mich auf die Schule morgen vorbereiten. Was machst du wieder hier?"

Er betrachtete sie verwirrt. "Ich ..." Ja, was machte er hier?

"Nein." Sie hatte sich wieder den Büchern und Hefte zugewandt.

"Wie?"

"Ich habe nicht das Gefühl, dass ich mich verändere. Überhaupt ist nichts komisch, außer, dass du dich auf einmal um mich zu sorgen scheinst. Wie kommt das?"

"Nein, ich ... ich ..." Er kam sich plötzlich so dumm und überdrüssig vor. Fehl am Platz. Zum letzten Mal hatte er sich vor 450 Jahren so gefühlt, während seiner Ausbildung. Sollte er nicht so kühl und gelassen sein, wie sie es gerade war? Aber sie wusste ja nicht, was ihr vielleicht passiert ist. Sie wusste nichts, hatte keine Ahnung. Aber es ging ihr gut. Oder?

"Nein, natürlich nicht. Du fühlst dich nur verantwortlich. Vielleicht hast du ja auch Angst."

Unwillkürlich straffte er sich. Angst? Er? Er hatte noch nicht einmal Angst angesichts des sicheren Todes! Er wollte gerade fragen, wie sie darauf kam, so mit ihm zu sprechen, ob sie nicht wüsste, wer er war, als er ihren Blick bemerkte. Seltsam verloren. Etwas rührte sich in ihm. "Nein, ich habe keine Angst.", flüsterte er. Verdammt, was war los mit ihm? Sein Blick glitt über ihre schlanke, zusammengekauerte Gestalt. Sie wirkte irgendwie so zerbrechlich wie ein kleines Kind, aber auf andere Weise anmutig und stark wie die Frauen seines Volkes. Unwillkürlich verglich er sie mit einer Gazelle. Er hatte nicht verstehen können, was die Leute an den Tieren so toll fanden, doch jetzt ... Vielleicht würde er ja ... Nein, das ist Wahnsinn, du Idiot! Das Mädchen sah auf, betrachtete ihn aus großen Augen. Sie wirkte verängstigt. Und dieser Anblick schnürte ihm die Lungen zusammen. Er hockte sich neben sie. "Alles ... okay?"

Sie wandte das Gesicht ab und nickte. "Ja.", brachte sie heiser hervor. Zögernd fasste er nach ihrem Kinn, zwang sie dazu, ihn anzusehen. In ihren schönen Augen glitzerten Tränen, ihre Unterlippe zitterte.

"Lüg nicht." Seine Stimme lang selbst in seinen Ohren überraschend sanft. Was stellte das Mädchen mit ihm an?

Sie schniefte.

"Das ist alles verrückt hier! - Zu verrückt! Alles ist komisch, gar nicht, wie ich mir das vorgestellt habe! Und du bist ... Du bist ..."

... ein wahnsinniger, zum Lügen verdammter Idiot, der irgendwas für dich empfindet, es aber nicht einordnen kann. Er seufzte. "Ich mache es nicht gerade besser."

Sie sah ihn kurz an, nickte dann. "Ja ... Ich vermisse Italien. Da war überall Sonne und Wärme ... Und das Meer ... Blau und beruhigend ... Und Akazien und Flieder im Sommer ... Der Duft von Wiesen ..."

"Hier in der Nähe ist auch ein Meer. Ein Ozean ... Vielleicht ... Du könntest ihn dir mal ansehen ..." Was redete er hier? Sie wirkte im Moment so schwach, zerbrechlich. Verletzt.

"In der Nähe? Ich höre ihn nicht."

"Wen hörst du nicht?"

"Den Ozean. In Italien konnte ich ihn immer hören. Das ist nicht mein Traum ... Es ist ... fast ein Albtraum ... Ich meine ..."

Er nickte, unterbrach sie. "Ich weiß, was du meinst." Versunken sah er zum Fenster raus, betrachtete die Regentropfen, die gegen die Scheiben gepeitscht wurden und an ihnen hinunter rannen. Erst jetzt bemerkte er die Geräusche von klapperndem Geschirr aus der Küche.

"Wer bist du?" Die leise Stimme brachte ihn zurück. Er sah auf sie runter. Sie war so unschuldig.

"Wie, wer bin ich?" Seine Hand kribbelte, verbreitete in seinem Körper das Bedürfnis, ihre Wange zu streicheln. Er glaubte schon ihre weiche Haut unter seinen Fingerspitzen zu spüren. Er stöhnte gequält und verzweifelt auf, schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete hatte sie sich zu ihm vorgebeugt. "Du bist nicht ... wie die anderen. Was bist du?" Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände, studierte es mit fasziniertem Blick. Er erstarrte, sah zu, wie sie sich ihm näherte. Ohne, dass er das wollte ging sein Atem nur noch stoßweise, bis er ihre zarten, weichen Lippen auf den seinen spürte. Leise seufzend schloss er die Augen, riss sie aber jäh wieder auf, als er merkte, was er tat. Als ob der Kuss in seinem Kopf wieder alles zurechtgerückt hätte, wollte er sich von ihr losmachen, doch sie krallte sich an seinen Schultern fest, als müsse er sie vor dem Ertrinken retten. Nur langsam entspannten sich ihre Hände, bis sie auf seiner Brust ruhten. Wenn er sich allerdings zu bewegen versuchte, krallte sie die Finger erneut in sein Hemd. Sie seufzte an seinem Mund. Was war das? Er hörte Schritte, das Geklapper in der Küche hatte aufgehört.

Dann: "Alice, ich hab ... Was zum ...?"

Erschrocken löste Alice sich von ihm, wich zurück. Lucien fletschte die Zähne, stand auf und war im selben Augenblick an der Tür. Wütend verließ er die Wohnung und den Mädchentrakt, ohne zu wissen, wem sein Zorn galt. Ihm, weil er so schwach gewesen war? Ihr, weil sie ihn tatsächlich geküsst hatte. Oder dem Katzenaugen-Mädchen, weil sie sie unterbrochen hatte?

Kapitel 4: Wandlung

Still saß ich noch immer auf dem Teppich und starrte die Tür an, durch die Lucien gerade verschwunden war. Vorsichtig berührte ich meine Lippen. War das gerade ... Neben mir setzte sich jemand, doch ich konnte den Blick nicht von der Tür nehme.

"Habt ihr gerade ...?" Antonina.

"Wir haben gerade und dann ... hab ich ihn geküsst." Ich schüttelte den Kopf, um den kleistrigen Nebel, der wieder über meinem Verstand hing, loszuwerden. Ich brauchte frische Luft. Und ich wollte das hier vergessen. Zu meiner Ehrleichterung ging meine Zimmernachbarin nicht weiter darauf ein.

"Hast du Hunger?"

Mein knurrender Magen war Antwort genug. Lächelnd streckte sie mir die Hand entgegen. Ich bemerkte, dass ich sie nötig hatte, denn um mich herum schwankte das Zimmer. Wir gingen in die Küche und aßen. Den Rest des Tages redeten wir, gingen kurz nach draußen, als es aufgehört hatte, zu regnen und allmählich vergaß ich Lucien.

 

Durch sanftes Rütteln wurde ich wach. Langsam öffnete ich ein Auge. "Hm?"

"Aufstehen. Oder willst du zu deiner ersten Unterrichtsstunde an dem Mystic-Art-Internat zu spät kommen?" Antonina lächelte auf mich herab. Ich setzte mich auf.

"Wie spät ist es?"

"Frag doch jetzt nicht so viel! Es ist halb neun. Beeil dich." Damit verschwand sie wieder. Und ich kam ihrem Befehl nach, stand auf und zog mich um. Zusammen mit meiner Zimmernachbarin aß ich eine Schüssel Müsli, dann schleppte sie mich nach draußen, über die Wiese, auf das Hauptgebäude zu, vor dem sich schon eine riesige Menge von Schülern angesammelt hatte. Ich sah zu einem der Türme rauf.

"Dort oben sind die Chemie- und Physikräume.", erklärte Antonina.

"Ach? Gibt es Aufzüge?"

Sie schüttelte den Kopf. "Nein. Aber das ist doch gut für die Figur."

Ich lachte leise. "Ja. Möglich." Ich verstummte, als mir auf die Schulter getippt wurde. Überrascht drehte ich mich um. Ein Blondschopf sah mich entschuldigend an. "Ach, Amalia. Du redest noch mit mir?"

"Ja. Ich wollte mich entschuldigen. Es tut mir leid, wie ich gestern zu dir war. Ich meine, du bist ja nicht die einzige, die außer mir auf Lucien steht. Verzeihst du mir?"

"Hm ... Ja ... klar. Aber soll ich dir was sagen. Ich stehe nicht auf ihn ..."

"Nicht?" Ihre hellen Brauen hoben sich verblüfft. Offensichtlich verstand sie nicht, wie man sich ihm entziehen konnte.

"Nein. Er ist irgendwie komisch. Vorgestern ... Ich war betrunken."

"Komisch? Lucien?"

"Ja. Aber sei nicht wieder sauer, wenn das so aussieht, als ob da etwas zwischen uns ist, denn irgendwie ... ist da was ... Allerdings weiß ich nicht, was."

"Aha. Okay ... Naja ... Ist gut. Aber auf jeden Fall tut es mir leid."

"Alice?", erklang wieder die Stimme meiner Zimmernachbarin weiter vorne. "Kommst du, weiter?"

"Ja, ja." Eine Hand packte mich, zog mich ins Gedränge.

"Wir habe als erstes Englisch. Das ist im zweiten Stock."

"Schon gut. Was hast du denn?"

"Da hinten war Ray in der Nähe. Er hat mich angesehen."

"Du rennst vor Ray davon?"

"Wenn du es so nennen willst."

Ich seufzte. "Okay." Sie zog mich weiter, stieß jeden beiseite, der uns im Weg war, bis wir in der Eingangshalle waren. Dort schob sie mich die Treppe hoch. Oben angekommen stockte ich erst einmal. Hier wurde übergangslos alles modern. Helle Wände und Böden, viele Türen. Es wirkte wie in einer normalen Schule. Antonina schob mich weiter. Im zweiten Stock sah es ähnlich aus. Ungeduldig zerrte meine Freundin mich hinter sich her. Ich runzelte die Stirn. Sie war heute definitiv eigenartig. Warum hatte sie Angst vor Ray? Wir betraten einen Raum und sie seufzte auf.

"Was ist denn los? Warum bist so ..."

"Hast du das denn nicht gespürt?"

"Was denn?" Ich hob die Brauen. War da etwas gewesen?

"Da war irgendwas, es war gefährlich und es schien uns zu verfolgen." Sie erstarrte. "Es ist immer noch hier."

"Ach? Ich sehe nichts."

"Ich sehe auch nichts. Ich spüre es."

"Hm ..." Ich sah mich um. Nichts. Nur Schüler, die sich aufgeregt unterhielten. "Na, vielleicht verschwindet es ja. Komm, wir suchen uns einen Platz." Ich fasste ihre Hand, zog sie weiter in den Raum, zu einem Platz in einer der hinteren Reihen, nötigte sie dazu, sich hinzusetzen. Ich wollte mich auch gerade hinsetzen, als eine Frauenstimme hinter mir erklang.

"Ms. Alice?"

Ms. Alice? Das war lustig. Ich wandte mich um. "Ja?"

Ich bemerkte, dass sie zurückwich, als sie mir in die Augen sah.

"Ähm ... Entschuldigen Sie ... Ich wollte ..."

"Ja?" Was war diese Brünette denn so nervös?

"Ihre ... Bücher ..." Sie legte einen Stapel auf den Tisch, den ich mir ausgesucht hatte, den Blick unverwandt und starr auf meine Gesicht gerichtet. Ich runzelte die Stirn und wandte mich den Büchern zu. Hastig verschwand die Frau und brachte sich hinter dem Pult in Sicherheit.

"Wie hast du das denn jetzt wieder geschafft?" Ich spürte Antoninas Blick, sah allerdings nicht auf.

"Was geschafft?", fragte ich trocken. Das wurde alles immer komischer. Und wenn ich mich recht erinnerte hatte es mit Lucien angefangen.

"Ms. Anderson so zu verängstigen."

"Ich hab sie verängstigt? Ist mir nicht ..."

"Da sind Ray und Liam! Was machen ... und Lucien! Was machen die hier?" Meine Zimmernachbarin machte sich auf ihrem Sitz klein und rutschte unbehaglich hin und her. Jetzt sah ich auf. Gerade betraten Luciens Schatten den Klassenraum. Er selber unterhielt sich hinter ihnen noch mit jemand anderem. Die Augen der beiden wanderten umher, trafen mich. Kurz blieben sie wie angewurzelt stehen, starrten mich an, dann tuschelten sie irgendwas. Als sie sich auf etwas geeinigt zu haben schienen wandten sie sich zu Lucien, der sofort alarmiert zu mir rüber sah. Ich sah ihn fluchen, er fuhr sich durch die tiefschwarzen Haare, massierte seine Schläfen, dann war er wieder kalt.

Das Ganze hatte ich mit verengten Augen beobachtet, jetzt folgte ich ihnen mit dem Blick, wie sie sich scheinbar gelassen durch den Raum bewegten. Nur Luciens Augen verrieten, dass er um seine Beherrschtheit bemüht war. Ein kühler, abmessender Blick aus seinem Augenwinkel traf mich und ich war verstört. Sie alle drei bewegten mit solcher geschmeidigen Anmut, dass man sich bei ihrem Anblick sofort ernüchtert fühlte. Und gleichzeitig sah man in ihrem Gang die unterschwellige Kraft. Wie Raubkatzen, die immer wieder am Gitter ihres Käfigs hin und her schlichen, den Kopf hoch erhoben und doch lauernd. Und ich konnte seinen natürlichen Duft wieder wahrnehmen. Erde und Regen. Seufzend ließ ich mich auf meinen Stuhl fallen, während die drei direkt hinter mir Platz nahmen. Das konnte ja heiter werden. Vor allem, weil sie natürlich sofort alle Aufmerksamkeit auf sich zogen.

"Alice?"

Ich sah zu Antonina. Doch sie erschrak nicht. "Ja?"

"Nichts. Ist schon gut."

Ich runzelte die Stirn. Das wurde wirklich immer komischer. Ich zuckte die Schultern, als Ms. Anderson vorne versuchte, Ruhe in die Klasse zu bringen, um den Unterricht zu beginnen zu können. Ihr ängstlicher Blick traf mich, doch dann entspannte sie sich. Die Stunden zog quälend langsam an mir vorbei. Die ganze Zeit spürte Luciens, Rays und Liams Blicke in meinem Rücken. Aber sonst bekam ich nichts mit, lediglich, dass wir Lord Byron durchnahmen. Irgendwann klingelte es dann. Seufzend stand ich auf, sammelte meine Hefte und Bücher zusammen und packte sie in meine Tasche. Dabei ignorierte ich Lucien und sein 'Gefolge', die auf mich zu warten schienen.

"Als nächstes haben wir ... Mathe. Komm." Antonina zog mich weiter, doch ihr unsicherer Blick zu den Jungs rüber entging mir nicht. Sie folgten uns mit starrer, ausdrucksloser Meine. Irgendwann bog Lucien rechts ab, doch Ray und Liam blieben hinter uns.

"Warum rennen die uns hinterher?", flüstere ich zu meiner Freundin. Sie sah kurz über die Schulter.

"Ich weiß nicht. Komm schneller." Wir rannten jetzt fast durch die Gänge, doch sie beschleunigten ihren Schritt fast im selben Augenblick wie wir. Verärgert löste ich meine Hand aus Antonina und drehte mich um.

Unsere zwei Verfolger blieben sofort stehen und betrachten mich argwöhnisch. Ich ging auf sie zu, die Oberlippe aus irgendeinem Instinkt leicht zurückgezogen. Die Jungs folgten meiner drohenden Geste. Dann standen wir uns dort nur so gegenüber, die Zähne gefletscht. Dabei fiel mir erst später auf, dass ihre ein wenig länger als gewöhnlich waren. – Ein wenig sehr viel länger.

"Warum verfolgt ihr uns?", knurrte ich. Sie antwortete mir nicht, maßen mich nur stumm. Irgendwann tauschten sie sich wieder flüsternd aus. Zu meiner Verwunderung konnte ich sie kristallklar verstehen. Nur die Sprache, die sie sprachen irritierte mich. Es war kein englisch, kein italienisch oder so etwas ähnliches. Sie klang kehlig und gleichzeitig zischend und ich konnte mir schon die ganzen Striche über den Es, den Os und den Ns vorstellen und was es nicht sonst noch gab. Ich legte den Kopf schief.

"Hey! Antwortet mir!"

„Würden wir gerne, Alice. Aber wir haben nicht die Erlaubnis dazu." Liam neigte den Kopf, wie um eine Verbeugung anzudeuten.

"Hä? Was soll das? Braucht ihr etwa eine Erlaubnis von eurem erhabenen Lucien, um mir eine kleine Frage zu beantworten?" Ich packte den Blonden am Kragen und zog ihn zu mir runter, auf Augenhöhe. "Sag mir, warum ihr uns verfolgt!"

Liam pfiff leise durch die Zähne und lächelte. "Temperamentvoll!" Ich knurrte, wurde dann aber von hinten gepackt. Ich schrie leise auf, strampelte, schlug nach der Person, die mich festhielt. Eine Hand legte sich auf meinen Mund und als ob jemand bei mir einen Hebel betätigt hatte, war ich urplötzlich ruhig.

"Sei still!", zischte eine raue Stimme. Es roch nach Stahl und Holz. Ich war erstaunt, dass ich diese Gerüche zuordnen konnte. Ich war überhaupt überrascht, dass Stahl anscheinend einen Geruch hatte. "Lucien wird dir zu gegebener Zeit alles beantworten. Bis dahin solltest du allerdings versuchen, dein Temperament unter Kontrolle zu bekommen. Es seiden du stehst darauf, dir und anderen deiner Art Probleme einzuhandeln." Langsam löste er die Hand von meinem Mund. "Hast du verstanden?"

Ich nickte. Mein Instinkt riet mir, mich ihnen zu untergeben, sie waren stärker als ich. Woher das kam, wusste ich nicht. "Anderen meiner Art?" Ich drehte mich um und stand Ray gegenüber. Sein markantes Gesicht wies nichts außer gnadenloser Beherrschtheit auf. Aber er schwieg. Hinter mir schnalzte Liam missbilligend mit der Zunge. Ich senkte den Kopf. "Ist ja gut. Ich gehe ja." Gerade wollte ich mich in Bewegung setzten, als der Dunkelhaarige mich noch mal am Oberarm packte.

"Sag deiner Freundin, sie soll das gerade hier vergessen. Es handelte sich um Missverständnis. Und wehe, du rastest noch mal so aus, denn du musst uns jetzt ertragen, bis wir neue Order haben, verstanden?"

Ich zog die Unterlippe zwischen die Zähne und nickte. "Neue Order?", fragte ich, doch ich erwartete keine Antwort. Stattdessen ging ich zu meiner Zimmernachbarin zurück, die alles mit großen grünen Augen beobachtet hatte.

"Was ist?", fragte sie leise. Ich schüttelte den Kopf.

"Nichts. Das war nur ein Missverständnis." Brav kam ich Rays Anweisungen nach.

"Achso ... Hm ..."

"Was?"

"Ray sieht echt gut aus, wenn er wütend ist, aber es kann einem auch Angst einjagen."

Ich lachte leise. Irgendwoher kannte ich das. Aber Lucien zeigte mir auch seinen Spott, womit ich komischerweise besser leben konnte, als mit dieser absoluten, kühlen Ausdruckslosigkeit, wie bei Ray. Ich schüttelte den Gedanken an den Schwarzhaarigen ab und ging mit meiner Freundin weiter, den Gang entlang, immer noch mit schnellen Schritten, da wir fast schon zu spät waren. Sie stieß mich mit dem Ellbogen an.

"Sie folgen uns immer noch."

"Ich weiß. Lustig, ne?" Ich grinste sie an und sah, wie sie einen Schritt von mir wegtat. Ich runzelte die Stirn, mein Grinsen verschwand. "Was denn jetzt wieder?"

Antonina kam zögernd wieder näher. "Zeig mir mal deine Zähne."

Ich war verwirrt, gehorchte ihr aber und öffnete den Mund. Sie entspannte sich.

"Hab ich mir wohl nur eingebildet.", murmelte sie. Wir betraten den Matheraum, wo sofort die Aufmerksamkeit aller auf uns ruhte. Ich dachte erst, es lag an unseren Verfolgern, aber dann hörte ich ihre Schritte noch auf dem Gang. Ich hob eine Braue, marschierte dann aber auf einen Platz. Als ich mich setzte hörte ich ein leises, anzügliches Pfeifen, welches ich ignorierte. Antonia setzte sich währenddessen woandershin, da es keine zwei freien Plätze mehr nebeneinander gab. Ray und Liam, die gerade den Raum betraten, dagegen fanden wieder zwei Tische direkt hinter mir. Ich verdrehte die Augen und sah nach vorne, wo der Lehrer seinen Namen an die Tafel schrieb: Mr. Jasson. Ich grummelte etwas und erschrak, als ich bemerkte, dass es sich wie diese kehlige Sprache anhörte hatte. Ich holte tief Luft und überlegte. Das hieß, ich versuchte, alles Geschehene der letzten Stunde in mein Gedächtnis zurück zu rufen. Erstens: Antonina hatte etwas Gefährliches gespürt. Ob es das war, was ich so oft bei Lucien spürte? Zweitens: Ms. Anderson war total verschreckt gewesen, als sie mir in die Augen gesehen hatten. Das erinnerte mich auch an Lucien, an unsere erste Begegnung. Drittens: Lucien hatte geflucht, als er mich gesehen hatte. Gut, das konnte ich verstehen, nachdem, was gestern passiert war. Viertens: Ray und Liam verfolgten mich, unterhielten sich in einer fremden Sprache und sagte, sie hätten Befehle bekommen, die es ihnen verboten, mir Fragen zu beantwortet. Fünftens: Meine Freundin schrak zurück, als ich sie angegrinst und ihr somit meine Zähne gezeigt hatte.

Seufzend stützte ich den Kopf auf meine Hand. Das ergab alles zusammen ... nichts. Keinen Sinn. Ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. Außer ... Nein, ich hatte bestimmt keine Ähnlichkeiten mit Lucien. Woher denn ... Ich war ja nicht mit ihm verwandt oder so, oder doch? Vielleicht über mehrere viele Ecke. Nein. Bestimmt nicht.

Ich lachte leise auf. Gefährliche Aura? Angst bei Augenkontakt? Angst vor meinen Zähnen? Was kam als nächstes? Dass ich anfing, die Hälse der Leute um mich herum anzuschielen? Ja, sicher doch! Ich verwandelte mich in einen Vampir! Ich lachte wieder leicht hysterisch auf. Zum Versuch sah ich zu meinem Sitznachbar rüber, der, wie ich gerade bemerkte, mich anstarrte. Fast automatisch fiel mein Blick auf seine Kehle, wo ich zu meinem Schrecken seine Pulsader pulsieren sehen und hören konnte. Doch es stieß mich nicht ab. - Im Gegenteil! Ich hörte, wie unter seiner Haut das Leben floss, roch es, warm und kräftig, und leckte mir über die Lippen.

"Na, sehe ich lecker aus?" Eine männliche Stimme ließ mich den Kopf heben.

"Wie?" Ich blinzelte.

"Du starrst mich so an und leckst dir die Lippen. Weißt du, ich hätte dam am Mittwoch noch einen freien Plan in meinem Bett."

Ich verengte die Augen, hinter mir hörte ich Liam knurren. "Das ist schön. Ich bin sicher, du findest noch jemanden, um die Leere dort zu füllen."

Er grinste und seine blauen funkelten vergnügt. Er beugte sich zu mir rüber. "Ich bin sicher, es würde dir eine Ehre sein, mir Gesellschaft zu leisten."

Ich biss die Zähne zusammen, um nicht wieder auszurasten und wandte mich abrupt nach vorne. Neben mir schnalzte er mit der Zunge, dann packte er mein Kinn und kurz darauf spürte ich seinen Mund feucht und hart auf meinem. Entsetzt riss ich mich von ihm los, starrte ihn ein paar Herzschläge an. Er wich vor mir zurück, jedoch nicht weit und nicht schnell genug, denn schon hatte meine Hand einen flammenden Abdruck auf seiner Wange hinterlassen. Ich packte ihn und fletschte die Zähne.

"Machst du so was immer?", knurrte ich.

"N-Nein, du ..."

"Ich will keine Ausreden! Wie kommst du darauf, dir so was erlauben zu können?"

Er hob abwehrend die Hände. "Schon gut. Sorry. Ich wusste ja nicht, dass du so empfindlich bist." Er war um einen gelassenen Ton bemüht, doch der Ausdruck in seinen Augen strafte ihn Lügen.

"Ich bin ..."

Ein gezischte "Alice!" Von hinten rief mich wieder zur Ruhe. Ich ließ von dem armen Kerl ab und setzte mich wieder normal hin. Mein Blick wanderte durch die Klasse. Komischerweise schien niemand von dem Vorfall etwas mitbekommen zu haben. Nur Antonina sah mich besorgt an.

Es klingelte. Ich wandte mich an meine zwei 'Bewacher'.

"Ich muss mit Lucien reden!"

Ray nickte stumm. Dann wartete er, bis ich alles zusammengerafft hatte, um voran zu gehen. Auf dem Gang kam uns besagter Mann schon mit ernster Miene entgegen. Ich schritt auf ihn zu, doch sein Blick war auf meine Wachhunde gerichtet. Wieder unterhielten sie sich in der fremden Sprache. Lucien nickte, drehte sich zu mir um und packte mein Kinn.

"Mach den Mund auf.", befahl er. Ich tat es und er befühlte meine Eckzähne. Als er mich losließ sah ich ängstlich zu ihm auf.

"Was passiert mit mir?" Meine Stimme klang ungewollt zittrig.

"Du verwandelst dich.", sagte er gelassen und wollte sich abwenden, doch ich hielt ihn fest.

"In was? Wie? Warum? Lucien, bitte! Sag es mir!"

Doch er schüttelte den Kopf. "Du würdest mir nicht glauben. Und wenn doch, dann würdest du ... mich hassen und das ..." In seinen Augen erschien ein trauriger, verletzter Ausdruck. Er fuhr mit den Fingerspitzen meine Wange entlang. Meine Haut brannte unter seiner Berührung. Auf einmal war mir zum Heule zumute. Warum war Lucien traurig? Er sollte nicht traurig sein. Verwirrt schüttelte ich den Kopf und schlang hilflos die Arme um seine Mitte. Er ließ mich gewähren, legte einen Arm um mich.

"Bitte, Lucien.", flüsterte ich und barg mein Gesicht an seiner Brust. "Ich will es wissen. Ich muss es wissen."

"Du würdest mir nicht glauben.", wiederholte er.

"Und wenn doch?"

Er schwieg. Nachdem er nach einundzwanzig Atemzügen immer noch nichts gesagt hatte hob ich den Kopf. Er betrachtete mich aus seinen schwarzen Augen, doch diesmal lagen in ihnen weder Zorn, noch Kälte, noch Hunger. Beinahe zärtlich war der Ausdruck in ihnen. Er strich mir eine dunkle Strähne hinters Ohr.

"Glaubst du an Mythen, Legenden und Sagen? So wie Hexen, Elfen ... Vampire?", fragte er leise. Ich schüttelte den Kopf.

"Nein. Die gibt es nicht."

"Und wenn doch."

Ich schwieg. Darauf wusste ich keine Antwort. Was wäre, wenn es sie geben würde? Wenn die ganzen Mythen gar keine Mythen waren? Aber es waren doch nur Mythen, oder?

"Alice?" Er sprach meinen Namen sanft aus. "Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich ein Vampir bin? Dass Liam und Ray es auch sind und du ebenfalls bald einer sein wirst? Dass es viele Völker gibt, die im ständigen Krieg zueinander stehen und dass diese Vanessa eine Elfe ist?"

Ich starrte ihn an. "Aber das kann nicht sein."

"Alice!" Antonina kam atemlos angerannt. Lucien löste sich von mir, sein Gesicht  wurde kalt und abweisend. Zitternd sah ich zu ihm hoch. Kaum hatte er mich losgelassen, wünschte ich mir, er würde mich wieder an sich ziehen, mir übers Haar streichen. Und ich verfluchte mich dafür. Der Typ war definitiv viel zu arrogant, überheblich, stur, anmaßend und ... aber das stimmte nicht. Er konnte auch einfühlsam, freundlich, beinahe liebevoll und sanft sein ... wenn er wollte. Ich sog die Unterlippe zwischen die Zähne. Meine Hand wurde gepackt, ich zuckte zusammen und erwachte kurz aus meinen Gedanken.

"Alice, wir müssen in die andere Richtung." Sie zog, doch ich blieb wie angefroren stehen. Sie zog noch mal, stärker diesmal, doch es hatte keine Wirkung. Verloren starrte ich den Boden an. In meinem Kopf schwirrte es.

"Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich ein Vampir bin? Dass Liam und Ray es auch sind und du auch bald einer sein wirst?"

"Du verwandelst dich."

Seine Worte hallten in meinem Kopf wider. Immer wieder hörte ich sie und konnte sie nicht glauben.

"Glaubst du an Mythen, Legenden und Sagen?"

Nein, ich glaubte nicht an Mythen, Legenden und Sagen! Sie waren alle erfunden. Vampire waren Märchenfiguren, Wesen der Nacht, die Bauern im Mittelalter erfunden haben, um ihre Angst vor der Dunkelheit zu erklären. Von mir aus wurden sie auch von einem gewissen Bram Stoker erfunden, der sich von einem Vlad Tepes hat inspirieren lassen ... Aber das war alles nur ausgedacht!

Wenn er aber doch die Wahrheit sagt?, flüsterte eine Stimme in mir. Warum sollte er dich anlügen? Dazu ist er zu arrogant. Denkst du, er will dich nur verarschen? Auf so ein niedriges Niveau würde er sich niemals hinab begeben. Und wenn er mir wirklich die Wahrheit sagte? Ja, was dann?

"Dann würdest du ... mich hassen und das ..."

Würde ich ihn hassen? Warum? Wurde ich wirklich zum Vampir? War er einer?

"Alice, was hast du? Antworte doch! Komm schon, Alice! Was machst du denn hier? Bitte!" Die verzweifelte weibliche Stimme ließ mich aufsehen. Antonina stand vor mir, ihre Finger krallten sich in meine Hand, doch ich spürte es kaum.

"Ich muss noch aufs Klo.", sagte ich leise und ohne dass ich das wirklich mitbekam.

"Ich komm mit, sonst ..."

"Nein, nein.", unterbrach ich sie. "Geh du schon vor. Wir sind schon zu spät. Sag, dass ich gleich komme, ich ..."

"Geh, Antonina. Wir begleiten Alice. Natürlich nur bis zu Tür." Lucien trat hinter mich. Ich nahm seinen Duft wieder wahr und wollte mich schon gegen ihn lehnen, konnte mich im letzten Moment jedoch davon abhalten. Ich wankte, doch der Schwarzhaarige legte mir eine Hand an den Ellbogen und stützte mich unauffällig. Meine Freundin sah erst ihn, dann mich unsicher an. Schließlich nickte sie und verschwand, nicht ohne sich noch einmal umzudrehen. Lucien sah ihr kurz nach, dann schob er mich stumm durch die Gänge. Ray und Liam, die die ganze Zeit wortlos daneben gestanden hatte, folgten uns. Nach ein paar Ecken standen wir vor der Damentoilette. Meine 'Wachhunde' postierten sich rechts und links von der Tür, Lucien lehnte sich gegen eine Wand, schloss die Augen. Ich sah alle noch mal an. Taten sie das, damit niemand rein kam, oder damit ich nicht weglief? Vor meinen Augen wurden die drei zu Statuen. Sie regten sich nicht mehr, schienen nicht einmal mehr zu atmen. Ihre blasse Haut bekräftigte das alles noch. Zögernd wandte ich mich um und betrat den kühl beleuchteten, sauberen Raum. Mein Ziel war allerdings nicht eine der Kabinen, sondern der Spiegel, der über den Waschbecken hing. Ich trat vorsichtig an ihn ran, hob langsam den Kopf und erschrak. Ich musste die Fingerknöchel gegen meine Lippen pressen, um den entsetzten Schrei zu ersticken, der sich aus meinem Innern einen Weg nach draußen suchte. Zitternd trat ich noch näher, streckte zögernd die Hand aus. Das Bild vor mir ahmte die Bewegung nach. Ich überlegte, was mir mehr Angst einjagte. Die Tatsache, dass ich tiefe dunkle Ringe unter den Augen hatte, dass ich blasse, fast durchscheinende Haut, wie Lucien und seine Schatten hatte, oder dass ich auf eine verdrehte Art vollkommen anders aussah und doch nicht. Das Blau meiner Augen war tiefer, meine Lippen waren voller, blasser, zartrosa, meine Wimpern tiefschwarz. Mein Haar war ein ganzes Stück länger und glänzender. Vorsichtig öffnete ich den Mund und schrie jetzt doch. Der Boden unter meinen Füßen schien sich zu drehen, irgendwas schien mich innerlich komplett durchzuschütteln. Als ob alles auf den Kopf gestellt wurde, mein Atem kam abgehackt und ich sank zu Boden.

Das konnte doch nicht sein! Wie konnte ich so lange und spitzte Zähne haben? Das war völlig unmöglich! Völlig absurd ...

"Glaubst du an Mythen, Legenden und Sagen?"

"Du verwandelst dich"

Ich krümmte mich zusammen, schüttelte den Kopf. Ich schrie immer noch. Ich verwandelte mich nicht! Vampire gab es nicht!

Ich hörte, wie die Tür aufflog und Lucien, Ray und Liam zu mir in den Raum stürzten. Tränen rannen mir an den Wangen runter, tropften von meinem Kinn auf meine Knie. Ein Arm legte sich um mich, ich schüttelte ihn ab. Sie sollten mich in Ruhe lassen! Vor allem Lucien! Er brachte mir nur Unglück! Ein hartes Schluchzten entrang sich meiner Kehle, während sich wieder ein kleistriger Nebel über mein Denken senkte und noch mehr Tränen meine Sicht verschwimmen ließen.

"Schsch, ist gut Alice." Eine Hand strich über mein Haar, ich schlug sie fort.

"Nichts ist gut, du Mistkerl!", schrie ich und stürzte auf die Gänge raus. Ich rannte, ohne zu wissen und zu sehen, wohin, wollte einfach nur weg. Weg von Lucien, weg von seinen Schatten, weg von diesem verdammten Ort. Arme legten sich um meine Taille, hielten mich fest und hoben mich in die Höhe. Ich schlug um mich, schluchzte erneut auf. "Lass mich! Ich will nicht! Ich will weg!"

"Alice, bitte. Beruhig dich."

"Nein! Das kann alles nicht sein! Das ist alles ein Traum - ein Albtraum. Lass mich!" Ich spürte, wie mich langsam meine Kräfte verließen, bis ich am Ende nur noch zitternd und schluchzend in seine Armen hing. "Dann würdest du ... mich hassen und das ..."

Ich spürte seinen warmen Atem in meinem Nacken, als er kurz die Nase in meinen Haaren vergrub und mich dann wieder auf den Boden stellte. Ich drehte mich zu ihm um, krallte meine Finger in sein T-Shirt und presste mein Gesicht hinein.

"Lucien ...", flüsterte ich. Er zog mich an sich.

"Schsch ... Ist gut."

"Gibt es Vampire wirklich?"

"Ja." Eine einfache Antwort und doch war sie zu viel für mich. Ich kam mir vor, wie ein Kind, dem erklärt wird, dass der Weihnachtsmann nichts existiert. Aber so wie es den Weihnachtsmann nicht gab, gab es vielleicht Vampire und andere mystische Wesen. Ich sog scharf die Luft ein, drückte mich aber noch enger an ihn. Eine Kälte hatte sich in mir ausgebreitet, die nun allmählich verschwand, während wir dort so standen und er mich im Arm hielt. Ich überlegte, wie es dazu gekommen war, dass ich mich in seinen Armen, in seiner Nähe so wohl fühlte, wenn ich am Anfang doch Angst vor ihm hatte. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass ich nach diesem Ereignis Halt brauchte. Als ich mich beruhigt hatte, wollte er sich von mir lösen, doch ich hielt ihn an seinen Oberarmen, sah zu ihm auf.

"Bitte, lass mich nicht los.", flehte ich.

"Dann würdest du ... mich hassen und das ..." Was würde ihm das antun? Er sah mich mit seinen dunklen Augen und einem unlesbaren Ausdruck in ihnen an, dann nahm er mein Gesicht in seine Hände. Ich hielt still, während er mit den Daumen über meine Wangenknochen strich.

"Alice." Er flüsterte meinen Namen, wisperte ihn fast schon. "Du tust mir weh."

Ich sah ihn kurz verständnislos an, dann merkte ich, dass ich meine Fingernägel in seine Arme gekrallt hatte. Ich ließ ihn los, doch er schüttelte leise lächelnd den Kopf.

"Das meine ich nicht." Er hielt mir seine Hand hin. "Komm, wir gehen nach draußen."

"Aber ich muss doch zum Unterricht ...?"

Das feine Lächeln wurde kurz echter, dann verschwand es, ein seltsam trauriger, leerer Ausdruck nahm in seiner Miene den Platz ein. "Denkst du, ich lass dich in diesem ... Zustand ... auf die anderen Schüler los? Und du ... Ich glaube, die frische Luft würde dir gut tun." Er biss sich kur auf die Unterlippe, bevor er mich mit einem unsicheren Blick von unten herauf  aus seinen schwarzen Augen ansah. Ich spürte, wie ich unweigerlich in seinen Bann geriet, der, dem ich mich von Anfang an nie hatte entziehen können. Unfreiwillig nickte ich. Fast automatisch hob sich mein Arm, meine Hand fasste seine. Sie war rau und warm, seine Hand. Und so viel größer als meine. Überhaupt kam ich mir viel zu klein und zu schwach vor. Er wirkte wie ein großer, beschützender Felsen, wenn auch etwas schmäler, und ich sehnte mich nach mehr, als nur die Berührung unserer Handflächen.

Kühle Luft, die über meine Wangen strich, klärte meine Gedanken ein wenig auf und rissen sie ein Stück von dem Mann, der neben mir ging und meine Hand hielt, weg. Wir traten ins Freie, während ein Teil meines Gehirns begann, über Vampire nachzudenken. Wenn es sie wirklich gab ... Was ich nach meinen neuesten Erfahrungen mal stark annahm ... Waren sie so wie Dracula in den Mythen? Konten sie sich in Fledermäuse verwandeln? Tranken sie Blut? Hatten sie ein Spiegelbild? Letztere Frage konnte ich mir selbst beantworten. Sonst hätte ich mein neues Aussehen ja gar nicht entdecken können. Ich löste mich von Lucien, schlang die Arme um meine Mitte und ging über die Wiese. Irgendwann blieb ich stehen, ließ den Wind mit meinen inzwischen fast hüftlangen Haaren spielen. Ich schloss die Augen und versuchte, meine Gedanken einfach nur schweben zu lassen. Ich spürte die Blicke der anderen drei in meinem Rücke und irgendwann fiel mir auf, wie angespannt meine Sinne und mein Körper waren. Vogelgezwitscher, tief aus dem Wald, welches ich eigentlich nicht hören können sollte, drang an mein Ohr, das Gras raschelte, Schritte und Stimmen klangen aus dem Gebäude hinter mir und das gleichmäßige Atmen meiner Wächter hing in der Luft. Ich roch unterschiedliche Blumen, ein paar kleine Tiere im Gras um mich herum, Stahl, Holz, Erde, Regen, Leder und den Sonnenuntergang. Die letzteren beide Gerüche ordnete ich Liam zu. Hatte der Sonnenuntergang einen bestimmten Geruch? Anscheinend.

Ich seufzte leise und ließ meine Gedanken wieder kreisen. Still genoss ich die natürlich Stille, ließ sie mich umfangen wie ein verloren geglaubtes Kind. Wie lange war es her, dass ich einfach nur für mich und meine Träume da war?

"Vampire ...", brach meine leise Stimme nach einiger Zeit die Ruhe. Das Wort ging ungewohnt über meine Vampire. "Wie sind sie? Trinken sie Blut?"

"Wir. Ja, das tun wir." Lucien tat einen Schritt auf mich zu, als ich mich langsam umdrehte. Ich nickte. Wie seltsam ruhig man wurde, wenn man sein Schicksal akzeptiert hatte.

"Wir.", stimmte ich zu.

"Aber wir trinken nur in Schlachten und Notfällen menschliches Blut. Sonst trinken wir nur Tierblut. Dazu noch total irrsinnig zivilisiert aus Gläsern." Ein leichtes ironisches Lächeln war in seiner Stimme. Ich musste mir ebenfalls ein Lächeln verkneifen. Dann erreichten seine Worte meinen Verstand.

"In Schlachten?"

"Wie schon gesagt, unsere Völker stehen im ständigen Krieg zueinander. Und dann sind da noch Vampirjäger, die meinen, wir wären das Ergebnis einer Krankheit und gehören ausgelöscht, weil wir die Krankheit immer weiter tragen und zudem den Menschen die Weltherrschaft streitig machen können - obwohl die meisten eh nichts von uns wissen -, indem wir ihnen Blut abzapfen und so ein Massensterben verursache. Als ob die sich nicht untereinander gegenseitig abschlachten. Aber das verstehen sie nicht, weil sie die Vorstellung nicht ertragen können, dass es Lebewesen gibt, die sie nicht bezwingen können, die widerstands- und anpassungsfähiger sind als sie selbst, stärker. Dass es Wesen gibt mit Fähigkeiten jenseits ihres Verstandes. Die Menschen sind so machtsüchtig, so egoistisch, alle. Sie kümmern sich nur um sich und ihren 'Wohlstand' und stampfen die Natur nieder. Sie meinen, sie sind stark, weil sie die Welt nach ihren Wünschen gestalten, anstatt sich nach ihr zu richten und so es für alle einfacher zu machen. So fördern sie eine Katastrophe nach der anderen und wundern sich dann, wie so was passieren kann. Sie merken nicht, dass der Planet das nicht mehr lange aushält und sich wehrt. Sie töten Tiere, die ihnen niemals auch nur ein Haar gekrümmt hätten, weil diese größer und stärker sind, als sie und ihnen bedrohlich werden könnten. Aber das geben sie natürlich nicht zu. Menschen tun etwas und wenn sie den Preis dafür zahlen sollen, reden sie sich heraus. Und dann meinen sie, sie wären etwas anderes, etwas Besseres als Tiere. Dabei können Tiere all das, was Menschen auch können, nur sind sie stark genug, sich der Natur anzupassen. Die Menschen haben sich ausgebreitet, löschen alles aus, sogar sich selbst, aber das ist ihnen egal." Aufgebracht stieß Lucien die Luft aus, fuhr sich durch die dunklen Haare und massierte sich seine Schläfen, was er öfters tat, wie ich bemerkte. Verblüfft über die längste Rede, die ich je von ihm gehört hatte - die überhaupt längste Rede, die ich je gehört hatte, abgesehen von denen von meiner Mutter - blies ich kurz die Backen auf und sah zu Ray und Liam rüber, die die ganze Zeit über wortlos hinter ihm gestanden hatten. Auch auf ihren Gesichtern zeichnete sich Überraschung ab. Aber ich musste zugeben, zum Teil gab ich Lucien recht, was die Menschen betraf. Sie waren egoistisch und selbstsüchtig. Ich schüttelte den Kopf, um meinen Faden wiederzukriegen.

"Ja. Ich verstehe."

"Nein! Du verstehst nicht!" Mit zu Klauen gekrümmten Händen fuhr er zu mir herum. Ich verengte die Augen.

"Auch möglich. Aber ich hab noch andere Fragen."

Für zwei schier unendliche Atemzüge sah er mich nur an, dann schien er sich zu beruhigen, seine Schultern sackten herab. Ich wartete, während er sich schon wieder die Schläfen massierte, die Augen geschlossen. Irgendwann seufzte er. "Ja?"

"Könnt ihr ... Können wir uns in Fledermäuse verwandeln?"

Ein kleines Lächeln stahl sich auf seine sanft geschwungenen Lippen, wurde breiter, bis er grinste. Ich sah seine Fangzähne aufblitzen. "Versuch es doch!", lachte er. Verwirrt sah ich ihn an, was ihn anscheinend noch mehr zum lachen brachte. Es hörte sich ein wenig rau an, doch es schien natürlich und es klang gut. Allerdings wusste ich nicht, ob er mich auslachte oder ob ich mit ihm lachen sollte.

"Was ist so lustig?" Ich mochte es nicht, ausgelacht zu werden. Und dass er es tat gefiel mir gar nicht. Langsam kriegte er sich wieder ein. Er wischte mit der Hand durch die Luft.

"Nichts. Ich kann mir nur nicht vorstellen ... Du und Fledermaus ..." Er schüttelte den Kopf.

"Was soll das heißen?" Innerhalb weniger als einer Sekunde war er bei mir, zog mich an sich und flüsterte sanft: "Wir können uns in Fledermäuse verwandeln, ja. Aber auch in alles andere. Zu dir passt allerdings keine Fledermaus. Sie steht für die Nacht und die Dunkelheit, doch du bist ... das Gegenteil. So strahlend, der Sonnenaufgang. Geheimnisvoll und wunderschön. Zu dir passt ein schöner Falke ... oder eine Katze. Ein anmutiger Tiger. Ein geheimnisvoller Panther. Zahm und doch gefährlich." Er sah mir tief in die Augen. In seinen schwarzen Abgründen loderte ein Feuer, welches mir eine Gänsehaut verursachte. Es fiel mir schwer, nicht zu viel in seine Worte hinein zu interpretieren. Doch irgendwie gelang es mir. Er ist nichts für dich. Er fühlt doch gar nichts für dich. Vielleicht als Freund, doch mehr ist nicht gut. Was du fühlst ist nur vorübergehend. Er ist keine Beziehung fürs Leben. Sieh ihn dir doch an., flüsterte mir die leise Stimme wieder zu. Und schon fühlte ich fast nichts, außer die Berührung von ihm. Ich bemühte mich, seine Umarmung als reinen Schützerinstinkt zu deuten. Er fühlte sich verantwortlich. Ich schluckte den Knoten, der in meiner Kehle zu bersten drohte runter und erstickte das flatternde Gefühl in meiner Magengegend. Er fühlt nichts für dich. Ich räusperte mich.

"Danke.", sagte ich mit rauer Stimme. Es war nur ein Danke für das freundschaftliche Kompliment. Vorsichtig sah ich zu ihm hoch. Sein Blick glitt fasziniert und zärtlich über mein Gesicht. Sanft, als fürchte er, ich würde zusammenfallen wie eine Mingvase, wenn er mich grober anfassen würde, strich er mir das Haar aus dem Gesicht, fuhr mit dem Daumen über meine Lippen. Leicht, nur ein Hauch war der Kuss, den er mir gab und doch schien für einen kurzen endlosen Moment die Welt still zu stehen. Doch dann fand sein Blick meinen. Er schien in die Wirklichkeit  zurückzufinden. Das Feuer in seinen Augen erlosch, seine Miene war nicht mehr verträumt, sondern ausdruckslos. Er löste sich von mir und räusperte sich.

"Gerne." Damit fasste er unter seine Kapuzenjacke und hielt mir kurz darauf ein Fläschchen entgegen. Darin schimmerte es rot. Zögernd nahm ich es entgegen.

"Was ist das?"

"Blut. Du brauchst es."

Ich nickte, doch in mir sträubte sich alles dagegen, den Inhalt der Phiole zu trinken. "Soll ich ...?" Ich ließ die Frage in der Luft stehen. Er betrachtete mich.

"Du musst es nicht jetzt tun. Ray und Liam werden dich in sein Zimmer begleiten. Dort kannst du dann über alles nachdenken."

"Ray und Liam? In mein Zimmer? Kann ich etwa nicht allein gehen? Und außerdem muss ich in die Klasse!" Ich funkelte ihn an, doch kurz darauf war er verschwunden. So strahlend, der Sonnenaufgang. Ich unterdrückte ein hysterisches Auflachen, dann marschierte ich auf das Hauptgebäude zu. Doch kaum war ich zwei Schritte gegangen, lag auch schon wieder ein Arm um meine Mitte, der mich mit sich zog - in die entgegen gesetzte Richtung. Es roch nach Stahl und Holz. Wieder schlug ich nach hinten, zappelte. "Lass mich los, Ray!"

"Nein! Ich bring dich auf dein Zimmer, wie Lucien es gesagt hat. Er kümmert sich um deine Mitschüler und Lehrer. Und jetzt sei ruhig, verdammtes Weib."

Ich sog scharf die Luft ein, stemmte meine Füße in den Boden, wandte den Kopf zu ihm um. "Du hast mir gar nichts zu sagen, mein Lieber! Und Lucien ... es geht mich einen Scheißdreck an, was er sagt! Mir kann er sowieso nichts befehlen! Warum verherrlicht ihr ihn so? Warum hört ihr auf ihn wie irgendwelche zahmen Schoßhündchen? Das ist doch lächerlich, findet ihr nicht?"

Auf seinem harten Gesicht zeichnete sich Verblüffung ab, seine Brauen hoben sich. "Du weißt nicht ... Er ist ..."

"Ja?" Ich verdrehte die Augen.

"Los! Weiter!" Er schubste mich, dass ich nach vorne stolperte. Seine Oberlippe war zurückgezogen, sodass ich seine Fangzähne betrachten konnte. Sie waren kräftig und lang. Erst war es ein kleiner Schock, dann fasste ich mich wieder und wandte mich erhobenen Hauptes ab.

"Nicht sehr gentlemanlike.", murmelte ich.

"Aber wirklich, Ray. Du kannst unser schönes Mädchen doch nicht wie eine Sklavin behandeln." Liam betrachtete mich mit gerunzelter Stirn. Sein Gesicht hellte sich auf, als ich mich mit eine strahlendem Lächeln bei ihm bedankte.

"Ich behandle sie nicht wie eine Sklavin.", knurrte er. "Und jetzt geh endlich weiter. Oder Lucien wird nachher äußerst ungehalten reagieren, wenn du immer noch hier stehst."

"Warum sollte er das tun?"

"Weil du seine Befehle missachtest."

"Befehle? Herrgott, dann eben noch einmal für Moses zum mitmeißeln: Seine Befehle kann er sich sonst wohin stecken! Er ist nicht mein König oder so was!"

Liam kicherte, doch meine Aufmerksamkeit galt Ray, der, die Arme vor der Brust verschränkt und mit leicht gespreizten Beinen, vor mir stand und mich aus sturmgrauen Augen musterte. Zum Teufel, waren alle männlichen Vampire so attraktiv? Ich starrte ihn meinerseits an. Doch Ray schien eher der Typ zu sein, der seine Befehle immer korrekt, wenn nötig mit brutaler Gewalt durchführte, wie ich jetzt begriff. Während Lucien da wohl eher listig mit Worten war. Also machte ich mir keine Hoffnungen auf einen Sieg, wenn ich mich jetzt wieder wehrte. Ich fletschte die Zähne und sah, wie mein Gegenüber triumphierend die Augen zusammenkniff, als er das Begreifen auf meinem Gesicht sah. Um seinen Mund war ein spöttisches Zucken, während ich mich fluchend von ihm abführen ließ.

 

Schon seit einiger Zeit saß ich still meinem Bett, die Knie angezogen und wiegte mich vor und zurück. Vor mir lag die Phiole mit dem Blut, auf welche ich starr meinen Blick gerichtet hatte. Über meine Wangen flossen verständnislose Tränen, doch ich hielt sie nicht auf. Ich war damit beschäftigt, meine Verwirrung und meine Wut unter Kontrolle zu bekommen. Lucien! Ein Vampir! Es gab Vampire! Und ich wurde dank ihm auch einer! Warum? Und wie? Warum gab er mir Befehle? Warum hat Ray mich einfach so hier rein gesteckt? Wer war Lucien, dass Ray und Liam jedes Mal aufs Neue geschockt waren, wenn ich mich ihm widersetzte? Aber warum schien ihn das nicht zu stören? Eher zu belustigen? Und musste ich jetzt Blut trinken?

Wütend über meine Hilflosigkeit fletschte ich die Zähne und stieß ein Knurren aus, welches mich erschrocken zusammenfahren ließ. Ich hatte jetzt einige neue Instinkte, die mich an Raubtiere erinnerten und mir manchmal Angst einjagten. Was waren Vampire eigentlich? Tiere? Menschen? Beides?

Energisch wischte ich mir kurz übers Gesicht. Fragen über Fragen, die mich nicht weiterbrachten. Durch den Tränenschleier vor meinen Augen betrachtete ich jetzt wieder das Glasfläschchen. Ich blinzelte und mein Blick klärte sich ein wenig. Sollte ich es trinken? Was würde passieren, wenn ich es nicht tun würde? Wie fühlte sich Blutdurst an? Wurde ich tatsächlich zum Vampir? Ich schüttelte den Kopf, konnte es immer noch nicht glauben. Doch ich hatte alle Beweise, die ich brauchte, um mir diese Frage zu bestätigen. Abrupt sprang ich auf. Das reichte mir! Schluss! Ich hatte genug davon, mir Gedanken zu machen! Ich beschloss, es so zu akzeptieren, wie es war. Lucien und seine Schatten waren Vampire, ich auch und es gab irgendeine Rangordnung, die es noch zu studieren galt. Unruhig ging ich im Zimmer auf und ab, merkte jedoch bald, dass der Raum zu klein war, um die plötzliche Kraft in meine Inneren beruhigen zu können. Also machte ich meine Route größer, ging durch Wohnzimmer, Küche, wieder ins Schlafzimmer, bis ich merkte, dass die Kraft nicht daher kam, dass ich zu wenig ausgelastet war, sondern, daher, dass ich mich bedrängt fühlte. Diese Mistkerle hatten mir doch tatsächlich den Schlüssel abgenommen und abgeschlossen! Ich war eingesperrt und das ging meinem neuen Wesen eindeutig gegen den Strich. Die Wände um mich herum schienen immer näher zu kommen, ich fühlte mich, als würde ich gleich explodieren und gleichzeitig schnürte mir etwas die Kehle zu. Tief durchatmend versuchte ich mich zu beruhigen, während ich nicht aufhören konnte, wie eine Raubkatze an dem Gitter ihres Käfigs meine Kreise durch die Räume zu ziehen.

Ein anmutiger Tiger. Ein geheimnisvoller Panther. Zahm und doch gefährlich. Ich schnaubte verächtlich. Wenn er damit meinte, dass ich zahm war, dass ich mich ihm unterwarf, das konnte er sich abschminken. Nein, ganz bestimmt nicht würde ich seinen Befehlen Folge leisten und ihn vergöttern wie die Stümper Ray und Liam. Gefährlich ja, zahm nein! Mit einem Seufzen ließ ich mich auf meine Bettkante sinken. Automatisch wanderte mein Blick zu dem Blutfläschchen. Sollte ich? Ach, was soll’s! Wenn ich jetzt schon unglaublich blasse Haut und übermäßig lange Eckzähen hatte ... Ich wollte gerade nach der Phiole greifen, als mein Handy auf dem Nachttisch summte. Schnell griff ich danach, ohne auf den Namen auf dem Display zu achten. Froh über ein wenig Ablenkung in dieser nervenden Stille klappte ich es auf.

"Si."

"Alice!", rief meine Mutter mit ihrer hohen Stimme am anderen Ende der Leitung. Oje. "Warum hast du nicht angerufen? Du hast uns versprochen, anzurufen, wenn du ankommst. Wir warten seit drei Tagen. Wir dachten schon, es ist was passiert! Du bist doch nicht entführt worden?" Sie sprach italienisch. Ich wischte mir kurz übers Gesicht. Da zog ich die stille Gefangenschaft den Predigten meiner Mom eindeutig vor. Moment ... Entführt? Also jetzt wurde sie aber hysterisch. Sie war doch sonst so eine gefasste Engländerin.

"Ja, tut mir leid. Das war anfangs etwas stressig und Naja ... Mach dir keine Sorgen."

"Stressig? Was war stressig?" Gott erschuf die Neugierde und nannte sie Mutter, dachte ich bissig. Um meine neugewonnen Beherrschung nicht gleich wieder zu verlieren presste ich die Zähne aufeinander.

"Nichts. Nur die Zeitverschiebung und so ..." Ich seufzte.

"Ach ja!" Sie klang hörbar ehrleichter. "Ich hatte ganz vergessen ... Oh, ich hoffe, ich störe nicht gerade?"

"Wieso?"

"Wie viel Uhr ist es bei dir dort drüben?"

"Vierzehn Uhr. Wieso?"

"Hast du nicht Unterricht?"

Oh, Mist. "Nein, i-ich hab ... hab grade Pause." Musste ich wegen Lucien jetzt andauernd lügen?" Ich knirschte mit den Zähnen. Meine Mutter antwortete noch etwas, doch das hörte ich nicht mehr. Mürrisch legte ich auf und trat ans Fenster. Dieser Kerl trieb mich in den Wahnsinn, ob er nun da war, oder nicht. Ich ließ meine Gedanken schweifen. Irgendwann fiel mir dann auf, dass ich die ganze Zeit neben meinem Fluchtweg gesessen hatte. Ich schlug mir gegen die Stirn. Das Fenster! Natürlich, ich Dummkopf! Das hatten meine Wachhunde wohl nicht bedacht. Schnell öffnete ich es, sprang mit einem letzten gehässigen Grinsen Richtung Tür behände hinaus und rannte in den Wald.

 

 

                                                                       ~*~

 

Augen verdrehend schloss er die Tür auf. Ray übertrieb es in letzter Zeit mit der Genauigkeit, während er seine Befehle verfolgte. Diese sanfte Schönheit anzusperren ... Er schüttelte den Kopf. Aber Ray hatte schon immer eine eigene, leicht brutale Art. Er konnte froh sein, dass er überhaupt noch leicht zwischen Mann und Frau unterschied. Leise betrat er den Raum, stockte kurz. Es war ruhig - ein wenig zu ruhig. Vielleicht schlief sie? Ein leises Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als er sich vorstellte, wie sie schlummernd in ihrem Bett lag, das seidige lange Haar über das Kissen verteilt, die Züge wunderbar entspannt. Und während er lautlos durch das Zimmer ging, fragte er sich, warum sein Herz ihm so heftig gegen die Rippen schlug. Wie wäre es, wenn er mit ihr leben würde? Wenn er ins Schlafzimmer käme und sie sehnsüchtig auf ihn wartete? Oder wenn sie bereits friedlich schlief und er zu ihr ins Bett kroch, sich neben sie legte. Augenblicklich fing sein Herz noch heftiger an zu flattern. Fühlte man sich so vor dem Altar, wenn man auf seine Braut wartete? Er musste grinsen, doch das Lächeln verschwand wieder, machte einem nachdenklichen, verträumten Blick Platz. Er musste ihr sagen, was er fühlte. Er würde es auch tun, auch wenn er sich damit vielleicht selbst wehtun würde, weil sie nicht dasselbe fühlte. Vielleicht aber doch? Er betrat das Schlafzimmer. Es duftete nach ihr, doch irgendwas war falsch. Kühle Luft schlug ihm entgegen. Sofort sah zum Fenster. Es stand sperrangelweit offen. Langsam trat er ans Bett und glaubte fast, sein Herz würde nach diesem Galopp stehen bleiben. Es war leer, nur die Phiole mit dem Blut lag unberührt auf der Decke. Fluchend packte er es sich wieder unter die Jacke und hob witternd die Nase. Eindeutig führte ihre Spur aus dem Fenster. Er nahm die Jagd auf, sprang hinterher. Ihr Duft, der in klaren Luft leicht zu verfolgen war leitete ihn in den Wald. Aber schon nach einiger Zeit verlor sich die Spur. Suchend blickte er sich um, betrachtete eingehen die Bäume und Büsche um sich herum. Nichts. Verdammt! Wenn der Geruch nachließ, bekam sie Blutdurst! Die Sinne bis zum Zerreißen gespannt, dass er keine Regung, kein Geräusch verpasste ging er langsam aufmerksam weiter. Um ihn herum rauschten die Bäume, in der Nähe plätscherte ein Bach. Rein gar nichts deutete darauf hin, dass außer ihm noch eine zweite Person hier war ... Außer ... Es liefen keine Tiere herum, nicht mal ein Hase. Sie spürten die Gefahr. Doch die konnte ebenso gut er sein. Er ging weiter, stockte dann. Ein Knacken war hinter ihm. Er wirbelte herum. Nichts. Doch! Da! Ein huschender Schatten. Vorsichtig näherte er sich ihm, aber kaum war er nur noch fünf Meter entfernt war verschwunden. Ein unheimliches Lachen war um ihn her, hallte von den Bäumen wider.

"Alice!“, schrie er. "Komm her!"

"Nein. Komm du doch her! Du bist es, der mich sucht." Die Stimme schien überall zu sein. Was für ein Spiel spielte sie mit ihm?

"Dann sag mir, wo du bist!"

"Das kann ich nicht."

"Was soll das heißen?"

"Niemand weiß es. Ich könnte hier sein. - Oder auch hier. - Nein, warte! Ich bin hier! - Oder doch hier drüben? Fang mich, Lucien. Komm, finde mich."

Er wirbelte herum. Immer wieder um die eigene Achse. Wo war sie? Überall, aber nirgends zu sehen. Warum war sie so lautlos? "Ich kann dich nicht finden, Alice."

"Hör auf meine Stimme."

"Wie? Sie ist überall."

Ein vergnügtes Lachen, dann das Spritzen von Wasser. Der Bach! "Lausche doch, Lucien. Ich weiß, dass du mich finden kannst!" Wieder das Lachen. Lucien setzte sich in Bewegung. Das Mädchen war ein starker Vampir! Erst jetzt fiel ihm ihre Macht auf, die sie später einmal haben würde. Vielleicht war sie ihm nicht nur, was die die Gesellschaft anging, von Nutzen. Nein! Was waren das für egoistische Gedanken? Oder doch? Er brauchte nur ... Die Szene, die sich ihm nun an dem Wasserstrom, der in seinem steinernen Bett plätschernd vor sich hin floss, bot, ließ seine Gedanken, seinen Herzschlag, seinen Atem innehalten. Alice hatte ihr schulterfreies Shirt vom Morgen noch an, welches ihre zarte, fast schneeweiße Haut entblößte. Kurz wirbelte es auf, gestatte ihm einen Blick auf ihren flachen Bauch. Ihre schlanken langen Beine steckten in einer schwarzen Röhrenjeans. So drehte sie sich tanzend in dem kleinen Wasserlauf. Ihr langes Haar wirbelte umher und ihre anmutigen Bewegungen spritzten Wassertropfen auf, die um sie herum, auf ihren Schultern und in der dunklen Seide ihrer Haare wie tausende winzige Diamanten glitzerten. Seine Kehle war rau und eng. Was war das für ein Wesen, das ihn jetzt mit so wunderbaren ozeanblauen Augen ansah und lächelte. Es konnte nicht von dieser Erde sein, dazu war es viel zu schön, zu unwirklich. Benommen starrte er sie an.

"Da bist du ja endlich!" Ein sanftes Lächeln umspielte ihre süßen Lippen, während sie auf ihn zuging. Wieder begann sein Herz heftiger zu schlagen, sein Zorn verrauchte. Regungslos, unfähig sich zu bewegen, wartete er ungeduldig ab, bis sie die Distanz zwischen ihnen überbrückt hatte und die Arme um seinen Hals schlang. Er stöhnte auf. Das war zu viel für ihn. Sie tat ihm weh. Sie machte ihn mit Kleinigkeiten glücklich, so glücklich, dass es wehtat. Wie schaffte sie das?

"Alice ...", flüstere er heiser. ihr Atem streifte sein Gesicht. Die Tatsache, dass er kein Geruch hatte ließ ihn für kurze Zeit in die Wirklichkeit zurückfinden. mit zitternden Händen griff er unter seine Jacke. Einen Moment später beäugte sie das Fläschchen mit dem roten Inhalt kritisch. Dann zuckte sie jedoch nur die Schultern, nahm es an und setzte es an die Lippen. Ein wohliges Seufzen entrang sich ihrer Kehle, während sie trank. Sobald sie es geleert hatte nahm er ihr die Phiole ab und sah, wie sie schon leicht zu schwanken zu begann. Er hatte ein leichtes Schlafmittel reingemischt, damit sie für eine Zeit ruhig war. Denn so wunderschön sie auch war, war sie auch etwas kratzbürstig. Als sie stärker zu taumeln begann, nahm er sie auf die Arme. Lächeln krallte sie die Finger und sein T-Shirt und schmiegte die Wange an seine Brust.

"Lucien ...", gab sie ein wenig schlaftrunken von sich, während er zum Mädchentrakt zurückging. "Bin müde ..."

"Dann schlaf ein wenig."

"Hm ... ja ... Ich liebe dich ..." Ihre Worte waren nur Murmeln, doch erhörte sie und sie machten ihn fast trunken vor Glück.

Kapitel 5: Gift und Jäger

Langsam öffnete ich die Augen. Hinter meiner Stirn drehte sich alles und meine Lider waren schwer. Benommen setzte ich mich auf und sah mich um. Ich befand mich in meinem Bett, in Antonina und meinem gemeinsamen Schlafzimmer.

„Ah, Dornröschen ist wieder da! Wie geht’s?“ Die dunkle Stimme klang durch den Raum und brachte die Erinnerung zurück. Noch immer träge wandte ich den Kopf und funkelte Lucien wütend an. Er saß lässig auf dem anderen bett, den sanfte Blick seiner dunklen Augen unverwandt auf mich gerichtet. Was mich allerdings nicht so überraschte, wie sein Gesichtsausdruck. Seine Züge waren entspannt, er wirkte völlig gelöst. Auf seinen Lippen lag ein freundliches Lächeln. Verblüfft hob ich die Brauen, doch dann erinnerte ich mich, was diese Kerle mit mir angestellt hatten.

„Ihr habt mich eingesperrt!“

„Korrigiere: Ray hat dich eingesperrt. Das war allerdings nicht mein Befehl gewesen. Er schießt manchmal gerne übers Ziel hinaus.“

Ich betrachtete ihn. „Ach?“

„Ja. Wenn er das nächste Mal so etwas versucht, sag ihm, er soll sich zum Teufel scheren.“

„Als ob ich das nicht getan hätte.“, murmelte ich. Er sah mich aufmerksam an.

„Hat er dir was getan?“

„Nein! Er hat mich nur rumgeschubst, gesagt, dass es dich nicht freuen wird, wenn ich mich deinen Befehlen widersetze und mich hier eingesperrt.“

„Hm … Hast du ihm deine Meinung gesagt?“

„Nein, ich behalte immer alles schön für mich und lass mich wie ein Spielzeug durch die Welt schieben. Wo denkst du hin? Natürlich hab ich das.“

„Und was war deine Meinung?“

Ich seufzte, senkte den Blick. „Ich hab ihm gesagt, du kannst dir deine Befehle sonst wohin stecken.“

Er kicherte leise und keinen Augenblick später saß er neben mir. Wieder kam ich mir klein und hilflos und doch stark und beschützt vor. Verdammt, ich hatte mir geschworen, nicht mehr so auf ihn zu reagieren, doch er durchbrach meine kleine Mauer, als wäre sie nichts. Stumm ließ ich mich von ihm an seine harte Brust ziehen. Er legte das Kinn auf meinen Scheitel und seufzte.

„Das fühlt sich so schön an.“

„Was?“ Ich versuchte, zu ihm aufzublicken, um seinen Gesichtsausdruck zu sehen, doch er vergrub das Gesicht in meinen Haaren, seufzte erneut.

„Bei dir zu sein.“, flüsterte er. Ich war froh, dass er mich nicht ansah, denn sonst hätte er gesehen, wie meine Wangen brannten.

„Wie meinst du das?“, fragte ich schwach, während ich versuchte, meinen Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. Statt einer Antwort beugte er sich zu mir herab. Seine Lippen streiften meine, wanderten zu meiner Schläfe. Augenblicklich setzte mein Atmen aus. Ein Wimmern entrang sich mir, während ich mein Gesicht zu seinem hab, darum bettelte, dass er mich richtig küsste. Er erfüllte mir meinen Wunsch und ich spürte seinen Mund weich auf meinem. Seufzend teilten sich unsere Lippen. Der Kuss war vorsichtig, ein sachtes Ertasten und doch raubte er mir die Sinne. Zudem fühlte ich Gefühle dahinter, die mein Verstand nicht ganz begreifen konnte, mein Herz aber zum Stolpern brachte. Nach gefühlten Stunden löste er sich langsam von mir. Ein verträumtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

„Danke.“, hauchte er. Ich konnte nur nicken. In meinem Kopf schwirrte es. Verlegen sah ich zu Seite, doch er nahm mein Gesicht in seine Hände, zwang mich sanft dazu, in seine schwarzen Augen zu sehen, die ihre anfängliche Wirkung auf mich verloren hatten. „Du hast die wunderschönsten Augen, die ich je gesehen habe.“ Seine Daumen streichelten meine Wangen. Ich musste lächeln, während ich wieder rot wurde.

„Jetzt wird es aber kitschig.“

Er kicherte. „Du deckst neue Seiten in mir auf. Übrigens wartet deine Freundin in der Küche darauf, dass du aufwachst. Ich hab ihr gesagt, dass es dir nicht gut ging und ich mir deshalb die Freiheit genommen hab, dich ins Zimmer zu bringen.“

Ich musterte ihn wieder. „Du verwirrst mich. Was willst du mir damit jetzt sagen? Moment … hat sie nicht Unterricht?“

Lächeln beugte er sich vor. „Es bereits achtzehn Uhr. Und … wenn ich ehrlich sein soll … Mein Kompliment war ein kläglicher Versuch, ein Geständnis abzulegen …“ Er schüttelte über sich selbst den Kopf. „Ich bin nicht gut in solchen Sachen, das muss ich wohl zugeben. Dabei hatte ich 450 Jahre Zeit dazu … Wie soll das denn werden, wenn … wenn …“ Er stockte, als er merkte, wie ich mich versteifte.

„450 Jahre?“, fragte ich. Ich war mir nicht sicher … Wahrscheinlich hatte ich mich verhört.

„Ja … Ich bin unsterblich, wir sind …“

„Oh …“ Ich sackte ein Stück zusammen. Ich war also nicht nur verdammt, Blut zu trinken, vor Vampirjägern davonzurennen, nein, jetzt war ich auch noch unsterblich. Das hieß, bis in die Unendlichkeit im Körper eines 17-jährigen Mädchens rumzulaufen. Wollte ich das? Für immer jung … Oder doch nicht. „Was heißt das?“

„Man altert nicht.“, bestätigte er mich.

„Ja, ja … Aber nur äußerlich oder bleibt man geistig auch beschränkt?“

„Als beschränkt würde ich es wohl kaum bezeichnen.“ Er zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, das ist unterschiedlich.“

Ein ungewohntes Drücke machte sich in meiner Kehle breit, wurde stärker und bahnte sich schließlich als lautes Lachen seinen Weg nach draußen. Lachend rollte ich mich auf dem Bett zusammen, hielt mir den Bauch. Luciens verständnisloser, verwirrter Blick machte es nicht gerade besser. Jedoch wartete er geduldig, bis ich mich beruhigt hatte. Immer noch kichernd setzte ich mich wieder auf. „Ich … Ich hab … Ich hab einen 450-jährigen Mann geküsst!“, brachte ich atemlos hervor und schlug ihm gegen die Schulter, bevor mich eine weitere Lachsalve einholte. „Alter Mann!“

Er brummte. „Danke schön. Hört man doch immer wieder gern.“

Ich schüttelte lächeln den Kopf. Wieso störte es mich nicht, was er mir eben erzählt hatte?

„Moment! Bin ich tot?“ Mein Lachen verging. Lucien runzelte die Stirn.

„Nein … Warum? Wie kommst du jetzt darauf?“

„Naja … Weiß nicht … Dracula war ja auch ein Untoter … Oder hab ich das falsch verstanden?“

Er lachte und schüttelte den Kopf. Kurz darauf ging die Tür auf und meine Freundin erschien.

„Alice! Ich dachte schon …“ Sie stockte, als sie sah, wie nah ich und Lucien zusammen saßen. Auch ich registrierte nun diesen Umstand und rückte ein Stück von ihm ab. Kurz flackerte etwas Verletztes in seinen Augen auf, doch dann gewann er wieder die Kontrolle über sich. Antonina runzelte die Stirn. Ich lächelte beschwichtigend. Wem von den beiden es galt, wusste ich allerdings selbst nicht.

„Mir geht es gut, Anto. Ich war nur irgendwie schrecklich müde.“

Sie nickte, den Blick unsicher auf Lucien geheftet. „Soll ich dir einen Tee machen, oder so?“

Ich strahlte. „Ein Tee wäre super! Danke!“

Wieder nickte sie langsam und verschwand. Neben mir ertönte ein Schnauben.

„Was denn?“

Er schüttelte den Kopf und ging zum Fenster, wo er mir den Rücken zuwandte und nach draußen starrte. Ich seufzte.

„Du bist schrecklich.“

Keine Reaktion. Er schien dort nicht einmal mehr zu atmen.

„Soll ich es ihr sagen?“

Er schwieg weiter. War sein Motto Schweigen ist eine Tugend oder so? Langsam glaubte ich das wirklich.

„Hallo?“ Ich seufzte genervt. „Ich ja auch egal, ich brauche deine Erlaubnis sowieso nicht.“ Ich wollte aufstehen, doch er war blitzschnell über mir, nagelte mich, meine Hände rechts und links von meinem Kopf, auf dem Bett fest. Ich spürte seine festen Oberschenkel an meinen und schnappte nach Luft. Sein Gewicht auf mir ließ mir kaum Atem.

„Du brauchst meine Erlaubnis sehr wohl und du wirst es ihr nur sagen, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Es geht niemanden etwas an, was wir sind. Das sind Menschen!“, knurrte er. Das letzte Wort spie er aus wie den Namen einer hässlichen Seuche. Wütend wand ich mich unter ihm, doch er verhärtete den Griff um meine Handgelenke nur noch.

„Lass mich los! Du hast mir gar nichts zu befehlen! Geh runter von mir!“ Ich schnappte mit den Zähnen nach ihm, doch er wich mir geschickt aus, ohne mir auch nur die geringste Chance auf Bewegungsfreiheit zu geben. Knurrend gab ich auf hielt still, während ich seinen wütenden Blick erwiderte. Drohend beugte er sich zu mir herab.

„Du weißt gar nicht, was ich dir alles befehlen kann. Und jetzt solltest du dein hübsches Mundwerk halten, um mich nicht unnötig zu reizen.“

Ich fauchte, doch dann war ich wieder ruhig und sah ihn mitleidig an. Vielleicht hatten seine grotesken Stimmungsschwankungen etwas mit einem Komplex seines Hirns zu tun? Das wär ja noch schöner!, lachte meine innere Stimme. Jetzt hast du dir ein hirngeschädigtes Wesen der Nacht angelacht! Doch ich brachte die Stimme zum Schweigen. Solche Leute brauchten Hilfe – egal ob Mensch oder Vampir. Er bemerkte meinen Blick und hob eine fein geschwungene Braue. Ich legte den Kopf schief. „Woher kommen deine Stimmungsschwankungen?“

Sein Blick glitt kur irritiert über mein Gesicht, dann sprang er mit einem Knurren aus dem Bett. Ich setzte mich auf und sah, wie er sich am Fenster erst übers Gesicht, dann durch die dunklen, längeren Haare fuhr. Den arm angewinkelt, den Ellbogen gegen die Wand gestützt und die untere Gesichtshälfte hinter der Hand verborgen, sah er wieder nach draußen. Kurz darauf ging die Tür wieder auf, Antonina kam rein. Sie reichte mir eine dampfende Tasse, ich lächelte sie dankbar an, wobei ich darauf achtete, ihr nicht meine Fänge zu zeigen. Stumm setzte sich meine Freundin ebenfalls auf das Bett und betrachtete die Muster der Decke. Lucien erstarrte abermals zu einer Statue. Die Stille, die sich um uns gelegt hatte dauerte an, wurde immer lauter. Verlegen schnupperte ich an der Tasse, doch der Geruch stieß mich ab. Angeekelt verzog ich das Gesicht. Antonina schien es bemerkt zu haben und sah mich besorgt an. Ich versuchte ein Lächeln auf meine Lippen zu zaubern, doch irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es mir nicht gelang. Also tat ich so, als würde ich einen Schluck nehmen, während ich die Luft anhielt. Doch dann drifteten meine Gedanken ab und verschwanden irgendwo im Nichts. Ich hörte nur noch das Ticken der Küchenuhr, das langsam leiser werdender Gezwitscher der Vögel von draußen, das Atmen und die Herzschläge unserer drei Personen. Irgendwann konzentrierte ich mich nur noch auf das dumpfe, stetische Pochen meines Herzens, das immer einen Tick lauter und schneller wurde, wenn ich zu dem schweigsamen Mann an der anderen Seite des Raumes schielte. Er schien es nicht zu bemerken. Neugierig lauschte ich seinem Herzschlag, der normal im Sekundentakt verlief. Nach einiger Zeit beschleunigte er sich dann, wurde immer schneller. Alarmiert sah ich hm ins Gesicht, das keine Regung zu zeigen schien. Allerdings zuckte sein rechter Wangenmuskel, bis schließlich ein verstörtes Lachen aus ihm heraus brach, welches schnell zu einem ächzenden Stöhnen wurde. Sofort sprang ich auf. Im selben Moment schlug die Wohnungstür auf.

 

Schon zum tausendsten Mal strich ich ihm durch das schweißnasse Haar und befühlte seine heiße, ebenfalls benetzte Stirn. Mit einem merkwürdigen Knoten im Hals sackte ich ein wenig zusammen, den Blick auf seine schlaffe, leblose Gestalt geheftet, die sich unter den Decken abzeichnete. Wieder strich ich ihm über den Kopf. Ein Keuchen entrang sich ihm und seine Augen öffneten sich einen Spalt. Erschrocken stellte ich fest, dass fast kein Lebensfunken mehr in ihnen war. Das änderte sich jedoch, als er mich entdeckte. Ein schwaches Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht, und ich sah, wie viel Anstrengung es ihn kostete.

„Alice …“, hauchte er heiser. Ich hielt ihm den Mund zu.

„Scht! Nicht sprechen.“

„Aber …“

Ich schüttelte den Kopf. „Kein ‚aber’! Jetzt musst du einmal meinen Befehlen gehorchen.“

Er nickte – versuchte es zumindest. Dann ächzte er wieder, leckte sich über die trockenen Lippen. Ich wollte nach einem Glas Wasser greifen, doch er hielt mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, meinen Arm fest. „Will nicht … Schmeckt nicht … Gib … mir Blut …“

Ich las ihm die Worte mehr von den Lippen ab, als dass ich sie tatsächlich hörte. Unwillkürlich versteifte ich mich. Passierte das, wenn man zu lange kein Blut trank? Langsam und behutsam löste ich seine heiße Hand von mir, legte sie neben seinen reglosen Körper und wollte aufstehen, doch wieder hielt er mich zurück.

„Geh … nicht … Bitte …“, brachte er mit gequälter, leiser Stimme flehend hervor. „Schick … Ray … Bitte geh … nicht …“ Seine Worte wurden immer leiser, abgehackter, während er mich darum bat, ihn nicht zu verlassen, bis sie schließlich ganz verebbte und er tiefer in die Kissen und Decken sank.

 

                                                                        

~*~

 

 

Das erste, was er spürte, als er erwachte, war eine heiße Hand unter seinem Nacken. Kurz darauf benetzte etwas Warmes, Flüssiges seine Lippen. Es sammelte sich in seinem Mund an und er glaubte, beinahe zu ersticken, als er sich erinnerte, wie man schluckte. Langsam floss die Flüssigkeit seinen Hals hinunter, breitete sich in seiner Magengegend aus und wärmte ihn von innen. Dennoch war tief in seinem betäubten Körper ein glühendes Pochen, welches ihm ein ächzendes Stöhnen entrang. Was hatten sie ihm angetan? Ein weiteres Mal berührte etwas Festes seinen Mund und weiteres Mal musste er qualvoll schlucken. Eine zweite heiße Hand strich kurz über seine Wange und durch seine Haar. Er wollte die Augen öffnen, um zu sehen, wessen Hand das war, die ihn so zärtlich streichelte, aber sein Körper reagierte nicht. Regungslos, völlig unfähig, sich zu bewegen, lag er da, während sich etwas Unangenehmes in seinen steifen Gliedern ausbreitete, und lauschte der sanften Stimme an seinem Ohr, die leise auf ihn einredete. Ein Seufzen entwich ihm, als er von der Person mit der schönen Stimme in den Arm genommen wurde. Dann spürte er nichts mehr.

 

Als er ein weiteres Mal erwachte kehrte langsam das Gefühl in seinen glühenden und pochenden Körper zurück. Mit einem Stöhnen gelang es ihm, die Augen zu öffnen. Um ihn herum war es dunkel. Wo war er? Er wollte sich auf die Seite drehen, doch so weit gehorchten seine Glieder noch nicht. Außerdem spürte und hörte er einen anderen Körper neben sich. Mühsam wandte er den Kopf. Ein Mädchen hatte, dich an seine Seite gedrängt, den Kopf auf seine Schulter gelegt und einen Arm quer über seine Brust. Plötzlich wollte er sich nicht mehr bewegen, denn das würde sie vermutlich aufwecken. Und sie zu wecken war das Letzte, was er wollte. Still hielt er das Drängen nach Bewegung ins einem Körper aus, während das Licht, das von draußen hereindrang immer heller wurde. Irgendwann regte sich das Mädchen neben ihm und richtete sich schließlich auf. Verschlafen strich sie sich das wirre, fast hüftlange Haar hinter die Ohren. Dann traf ihr Blick seinen. Sofort waren jegliche Qualen vergessen. Sie lächelte und in ihm schien etwas zu singen.

„Wie geht es dir?“

Er wollte antworten, doch seine Zunge klebte wie ein geschwollener Fremdkörper an seinem Gaumen.

„Hm … Ja … Warte kurz.“ Ehe er reagieren konnte war sie verschwunden und ehe er blinzeln konnte, war sie wieder bei ihm. Sie setzte ihm eine Tasse an die Lippen. Während er den Sud hinunterwürgte und das Gesicht verzog kam ein Teil der Erinnerung zurück. Alice nahm den Becher weg und Lucien fand die Kraft, sich aufzusetzen und gegen die Wand zu lehnen.

„Was ist das?“ Angeekelt streckte er die Zunge raus und unterdrückte einen Schauer. Sie schnupperte verdutzt an der Flüssigkeit.

„Blut.“

„Von wem oder was?“

„Ray sagte von einer Wölfin … Und er hat noch irgendwas reingemischt …“

Er verdrehte die Augen. „Das Blut einer Wölfin …! Ich werde ihn vierteilen!“

Sie sah ihn an, als wäre er verrückt. Vielleicht bin ich das auch? „Warum?“

Er schüttelte den Kopf und wollte aufstehen, um seinen tauben Gliedern ihre wohlverdiente Bewegung zu gewähren, doch hinter seiner Stirn drehte sich alles. Fluchend sackte er zusammen, musste husten und schniefen. Alice beugte sich wieder über ihn, hielt ihm Taschentücher und die Tasse hin. Wieder schüttelte er den Kopf und funkelte sie an, während ein weiterer Hustanfall ihn zittern ließ. „Ich werde das nicht trinken“, brachte er heiser hervor und wischte sich über die schweißnasse Stirn. Erst jetzt bemerkte er, dass er nichts weiter als Boxershorts am Leib hatte und von oben bis unten wie ein Schwein schwitzte. Er stieß ein verbittertes Schnauben aus.

„Doch, du wirst das trinken. Oder ich werde dich dazu zwingen und das wird wirklich unschön.“ Gefährlich verengte sie die Augen zu funkelten Schlitzen. Lucien wusste, dass man sich mit ihr nicht anlegen sollte, denn sie besaß ungezügeltes Temperament, doch er konnte es nicht lassen.

„Du willst mir drohen?“ Sein Spott büßte einiges an einer weiteren Hustsalve ein.

„Ich will nicht nur, ich tue es bereits. Und jetzt füg dich in dein Schicksal.“

„Pah, Schicksal!“ Er griff nach einem der Taschentücher, die sie ihm nach wie vor hinhielt und putzte sich geräuschvoll die Nase, während er ein Grinsen verbarg. Sie gefiel ihm wirklich jedes Mal mehr. Und ihr Zorn ließ sie noch anmutiger und unwiderstehlicher wirken. Die kühle Arroganz in ihrem Blick verstärkte das alles noch. Himmel, er wünschte sich, sie wäre sein.

Mit aufgesetzter missmutiger Miene warf er das benutzte Taschentuch nach ihr. Mehr hatte er ihr im Moment nicht entgegenzubringen. Das zerknüllte Papier prallte an ihrer Schulter ab und segelte zu Boden. Sie verfolgte es mit einer perfekt gezupften, gehobenen Braue. Dann stemmte sie die eine Hand in die Hüfte, warf kurz den Kopf in den Nacken, um tief einzuatmen und sah ihn anschließend mit strengem Blick an. Er kam sich schon wieder wie ein dummer kleiner Junge vor, der getadelt wurde.

„Du legst dich mit mir an?“, fragte sie gefährlich langsam. Lucien konnte sich ein weiteres Grinsen nicht verkneifen. „Dann darf ich dich darauf hinweisen, dass du mit deiner roten Nase und dem verschwitzten Körper eher unattraktiv und nicht gerade bedrohlich aussiehst?“

Er hörte den amüsierten Unterton und schenkte ihr einen Blick, der sie nach Luft schnappen ließ. „Erstens“, begann er mit unangenehm verschnupfter Stimme. „was hat das eine mit dem anderen zu tun? Zweitens sehe ich immer gut aus und drittens solltest du mich zu deiner eigenen körperlichen Gesundheit nicht unterschätzen.“

Sie funkelte ihn ein paar Atemzüge an, dann seufzte sie. „Okay, ich gebe auf. Ich krieg das nicht hin mit dem Strengsein. Muss wohl doch Ray machen.“ Sie setzte sich neben ihn. Mit misstrauisch verengten Augen rückte er ein Stück ab. „Schon gut, ich kipp dir den Inhalt der Tasse nicht über den Kopf.“

Dennoch machte er keine Anstalten, sich ihr wieder zu nähern. „Was ist eigentlich passiert?“, fragte er, während er sich durch die schon ein paart Tage nicht gewaschenen Haare fuhr. Sie zuckte die Schultern.

„Keine Ahnung. Ray … und Liam meinten, du hättest irgendwas Falsches gegessen oder so.“

Er runzelte die Stirn. Was Falsches gegessen? Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er jemals zuletzt etwas gegessen hatte. „Und wie lange liege ich hier schon so ohnmächtig?“

„Zwei … nein, drei Tage.“

Er sprang auf, wobei ihn ein kräftiger Schwindel überfiel und er beinahe wieder zusammenbrach. „Drei Tage?!“

Sie zuckte abermals mit den Schultern. „Ja. Ich bin auf Wunsch von deinen Schatten weiterhin zum Unterricht gegangen. Allerdings hat Ray mich die ganze Zeit verfolgt.“ Ihre Augen verengten sich, dann hob sie die Brauen. „Was ist mit dem Blut einer Wölfin?“

„Es ist ähnlich wie ein Schmerzmittel und dazu betäubt es auch.“

„Aha. Gut zu wissen.“ Ein Grinsen entblößte ihre Fänge. Unwillkürlich beugte er sich zu ihr vor, strich mit zittrigen Fingern durch ihre Haare. Sie wich zurück, dennoch sah er etwas in ihren blauen Augen aufblitzen. „Lucien … Du … solltest dich ausruhen. Leg dich wieder hin.“

„Aber ich will nicht!“ Trotzig verschränkte er die Arme vor der Brust. „Ich will nicht schlafen! Ich will …  will …“ Er geriet ins Stocken, als sie dicht vor in trat und vorsichtig mit den Fingerspitzen seine nackte, schweißbedeckte Brust streichelte, seinen Hals und schließlich nahm sie sein Gesicht in ihre Hände. Luciens Atmen flatterte, ein Husten blieb ihm im Hals stecken. „A-Alice …“

Ein sanftes Lächeln entstand um ihre Lippen, die nur wenige Millimeter von seinen entfernt waren. „Vergiss es.“, hauchte sie leise, spöttisch lachend und bevor er begriff hatte sie ihn irgendwie wieder ins Bett gefördert. Er wehrte sich, als sie sich rittlings auf ihn setzte, ein gehässiges Grinsen auf den zarten, blassrosa Lippen. Doch es half ihm nichts. Er war nach wie vor kraftlos. Hilflos, mit einem merkwürdigen Klumpen in der Kehle ließ er es geschehen, dass sie Blut zwischen seine zusammengepressten Lippen fließen ließ. Er wollte es ausspucken, doch sie zwang ihn dazu, die bittere, mit Honig versüßte Flüssigkeit hinunterzuwürgen.

„Rache ist Zuckerwatte.“, hörte er sie noch lachen. Kurz darauf spürte er, wie die Welt um ihn schwand. Und Alice mit ihr. Seine Lungen schienen sich zusammenzuziehen, während es hinter seinen Augen verräterisch brannte. Er verstand nicht, wieso. Dann war alles schwarz, aber auf merkwürdige Weise nicht entspannend.

Als er wieder aufwachte war er allein und konnte sich nicht mehr an den bedrückenden Traum erinnern. Seufzend setzte er sich auf und bemerkte, dass das Zimmer sich um ihn herum nicht herum nicht mehr drehte. Vorsichtig schlich er durch die Wohnung. Weder Alice, noch Ray, noch Liam waren hier. Wieder im Schlafzimmer stand auf dem Nachttisch, neben seinem iPhone und seiner Brille, die er durchaus manchmal brauchte, eine Tasse mit roter, schimmernder Flüssigkeit. Er roch daran. Wölfinnenblut. Mit Honig versüßt. Schon wieder. Da die Tür abgeschlossen war, was er Alice zuschrieb, er noch zu schwach war, um sich nach einem Sprung aus dem zweiten Stock abzufangen und er sowieso nichts zu tun hatte zuckte er die Schultern und leerte den Behälter.

Beim nächsten Erwachen spürte er Alice wieder neben sich. Lächelnd zog er sie aus irgendeinem Instinkt heraus an sich. Sie schmiegte sich an ihn, legte eine Hand um seinen Nacken.

„Lucien?“

„Hm?“ Er war noch ganz benommen vom Betäubungsmittel.

„Wie geht’s dir?“

„Janz jut.“

Sie kicherte, drückte sich enger an seine Seite, stützte sich auf einen Ellbogen, betrachtete sein Gesicht. „Was heißt das?“

„Das heißt … ich weiß nicht. Aber ich kann mich durchaus wieder mit dir streiten.“ Er fühlte sich beschwipst.

„Das ist doch Hauptsache!“ Sie lachte auf und es klang so echt, so hinreißend, dass er sich wünschte, sie würde immer so für ihn lachen. Vorsichtig zog er sie zu sich runter, streichelte ihre Wange.

„Alice…“

„Hm?“ Sie hatte die Augen geschlossen, ihre Lippen waren leicht geöffnet.

„Du machst mich wahnsinnig.“ Er musste sich räuspern, damit sie die verräterische Rauheit seiner Stimme nicht zu deutlich hörte.

„Dich auch noch?“ Ihre Fangzähne blitzten kurz auf, als sie grinste.

„Wie?“

„Ray sagte vor eine paar Stunden auch, ich mache ihn noch komplett wahnsinnig.“

„Und unter welchen Umständen war das?“ Er konnte nicht verhindern, dass in seinen Worten die unterschwellige Eifersucht rauszuhören war, die ihn wie ein kurzer Blitz durchzuckte. Verwundert fragte er sich, ob das wirklich Eifersucht war. Noch nie hatte er so etwas gefühlt.

„Liam und ich haben uns ein paar Späße mit ihm erlaubt. Ihm hat er eine gebrochene Nase verpasst. Übrigens ist Liam echt cool!“

„Hm … Ja … Er ist nett.“ Er wollte ihr nicht zeigen, wie erleichtert er war. Sie könnte immer noch ihm gehören. Mir gehören?

„Klingt ja so absolut begeistert.“ Ihre Nase strich sanft seine Mundwinkel entlang. Wie machte sie das?

„Ich meins aber ernst. Obwohl du mich mehr begeisterst.“ Zu spät bemerkte er, was ihm rausgerutscht war, doch ihre Berührungen machten ihn unfähig, zu denken.

„Wollten wir uns nicht streiten?“ Sie wich ein kleines Stück zurück, lächelte verklemmt. Hatte er sie verletzt? Hätte er das wirklich nicht sagen sollen? War sie verschreckt? Wenn ja, sie zeigte es nicht. Was dachte sie?

Hastig setzte er sich auf, beugte sich ein Stück vor. Er fühlte sich kalt, wenn er nicht nah genug an ihr dran war. „Verzeihung, Ma’am. Nach 450 Jahren wird man schon mal leicht vergesslich.“ Mit Mühe fand er seinen Sarkasmus wieder und lächelte. Auch ihre Lippen verzogen sich süß.

„So so.“ Ihre Münder trafen aufeinander. Leidenschaftlicher als der letzte Kuss war er, doch immer noch zärtlich. Lucien stöhnte kurz auf, als er es spürte. So süß, und trotzdem herb. Was tat sie mit ihm? Und wie? Und warum? Sie verdreht ihm völlig den Kopf, stellte seine Welt falsch herum, dann wieder richtig. Sie zerstörte seine Gedanken und baute sie wieder neu auf, anders, ließ seine Brust, sein Herz beinahe explodieren und ihn verbrennen. Doch es war süß und er ertrug es gerne. Nach einiger Zeit löste sie sich sanft von ihm. „Danke“, hauchte sie.

„Gerne. Steht sonst noch was an?“ Er bemühte sich, wieder Luft in die Lungen zu bekommen. Sie lachte leise.

„Ms Sunchez will ein Foto der Theater-Gruppe machen.“

„Dann los! Ich muss mich aber noch duschen! Himmel, als wenn ich aus dem Stall käme!“ Hastig verschwand er, jedoch nicht ohne, dass er an das wunderschöne Mädchen dachte. Als er dann das Wasser spürte, kalt und beruhigend, klärten sich seine Gedanken wieder. Sein Verstand wurde von dem klebrigen Nebel des Betäubungsmittels befreit und er lachte auf.

 

                                                                        

~*~

 

 

Stumm und gierig ließ ich meinen Blick über ihn gleiten. Das dunkle Haar, die schwarzen Augen, das blaue Kapuzen-Sweatshirt, dessen Ärmel er hochgeschoben hatte, die schwarzen Jeans und die schwarzen ledernen Stiefel. Allerdings waren es nicht die hohen, die ich an ihm gesehen hatte, als er über mir auf dem Baum gesessen hatte.

„Das ist unfair!“, murrte ich. Warum musste unbedingt er so gut aussehen? Und warum jetzt? Auf dem Foto würde ich neben ihm mit meiner ausgefransten Jeans, den Ballerinas und dem nicht unbedingt ganz einfachen T-Shirt unwahrscheinlich wirken! Ich sah zu ihm auf, hoffte auf ein Anzeichen von Reue, dass er sich erlaubt hatte so verdammt unverschämt attraktiv zu sein, doch er lächelte nur schief, darauf bedacht, seine Fänge nicht zu entblößen. Dann legte er einen Arm um meine Mitte. Augenblicklich schoss ein unwiderstehliches Kribbeln durch meinen Körper.

„Was ist denn?“, fragte er sanft. Ich schüttelte den Kopf.

„Nichts. Wir sollten gehen. Ms Sunchez wartet.“

Er lächelte wieder, als ich meine Finger in seinen Pulli krallte. „Natürlich, Mademoiselle. Nach Ihnen.“ Er löste sich und deutete mit einer eleganten Verbeugung auf die Tür. Ich verschränkte meine Finger miteinander, um sie am Zittern zu hindern und senkte den Blick. Hinter mir sog er kurz scharf die Luft ein, doch aus irgendeinem Grund traute ich mich nicht, aufzusehen. Innerlich schüttelte ich den Kopf. Wann war das passiert? Wann hatte ich mich in seine dunklen Augen verliebt, in seinen Duft, seine Nähe, in seine Art? Wann hatte ich mich in ihn verliebt? Heute? Gestern? Schon vor einer Woche? Schweigend ging ich neben ihm her, so nah, dass sich unsere Arme manchmal berührten.

„Lucien?“, fragte ich nach einer Weile. Es war ein komisches Gefühl, seinen Namen auszusprechen. Ein komisch gutes. Als ob … er dafür geschaffen wurde. Er strich sanft über meine Wange, hinterließ eine warme Spur.

„Ja?“ Seine Stimme war eine weiche, dunkle Melodie.

„Sieht man und überhaupt auf den Fotos?“

Ein leises Kichern. „Natürlich.“

Ich nahm die Antwort mit einem Nicken zur Kenntnis. „Was ist eigentlich mit Knoblauch und Weihwasser?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich mag Knoblauch. Das heißt, ich würde ihn mögen, würde ich noch menschliche Nahrung zu mir nehmen. Und Weihwasser … Es nützt ebenso wenig wie Kreuze. Es gibt viele Vampire, die gläubig sind … und auf Erlösung hoffen.“

„Gehörst zu ihnen?“

Er lachte. „Nein, ganz bestimmt nicht.“

Ich wollte wieder nicken, doch ich stockte. „Erlösung?“

„Den Tod. Wenn man ein sterblicher, schwacher Mensch ist klingt das Versprechen auf ein ewiges Leben, ohne zu altern sehr verlockend. Doch wenn du eine Zeitspanne von mehreren Jahrhunderten durchlebt hast wünscht du dir nur noch das Ende. Es gibt schwache Geister, die es nur höchstens ein Jahrhundert aushalten, aber es gibt auch starke, die auch nach tausend Jahren noch nicht genug von der Welt und deren mittlerweile sehr seltenen Schätzen haben, die sie bieten könnte.“

Ich sah jetzt doch zu ihm hoch, nahm seine Hand, während wir das Hauptgebäude betraten und die Treppe hochtrotteten. Er bedachte mich mit einem ruhigen Blick, bevor er weitersprach:

„Wenn du unsterblich bist und nicht mehr alterst ist es als würdest du … nicht mehr ganz auf der Erde existieren. Du siehst alles von außerhalb, wanderst neben den Menschen her und siehst zu, wie sie ihre Fehler begehen, aufsteigen, wieder fallen. Alles um dich herum vergeht, entsteht von Neuem, nur du stehst da, unberührt von der Zeit. Alles vergeht im Zeitraffer. Da ist nichts, was dich hält. Nichts, was heraussticht.“

„Aber du willst doch nicht …“

„Nein, ich wünsche mir in keinster Weise das Ende.“ Mit zwei Schritten hatte er mich an eine Wand genagelt. Ich wehrte mich nicht. Stattdessen ließ ich zu, dass er mein Gesicht streichelte. Genussvoll schloss ich die Augen, konzentrierte mich auf seine federleichten Berührungen. „Alice.“, hauchte er.

„Hm.“ Ich brachte nur ein Brummen zustande.

„Du musst mir zuhören. Es ist wichtig.“ Bei dem flehenden, fast ängstlichen Klang seiner Stimme öffnete ich die Augen. Sein Gesicht war nur Millimeter von meinem entfernt. Und zum ersten Mal betrachtete ich es ausgiebig. Seine Nase war nicht ganz so gerade, wie sie mir immer erschienen ist. An ihrer Wurzel war ein kleiner Höcker, als wenn sie mal gebrochen gewesen war. Seine Oberlippe war ein Stückchen voller als die Untere. Seine Wangenknochen stachen nicht besonders hervor, dafür sah man, wie kräftig sein Kiefer war. Seine Augen hatten eine schmale, mandelförmige Form. Vorsichtig nahm ich sein Gesicht in meine Hände, völlig fasziniert von dessen Struktur. Leise seufzend lehnte er die Stirn gegen meine, schloss die dunklen Augen. Ich tat es ihm gleich.

„Alice …“, flüsterte er wieder, zog mich an sich. Irgendwie hatte ich das Gefühl, er hatte Probleme damit, das auszusprechen, was er mir sagen wollte. Mit einem Brummen deutete ich ihm, dass ich zuhörte. Er schluckte. „Ich liebe dich.“, brachte er leicht atemlos hervor.

Zuerst verstand ich nicht, was so schlimm gewesen war, dass es so lange gedauert hat, es auszusprechen, dann entwich mir ein überraschtes „Oh!“. Sofort presste ich die Lippen aufeinander. Lucien trat einen Schritt zurück, betrachtete mich.

„Ich dachte, das … solltest du wissen.“, sagte er mit merkwürdig gepresster Stimme und wollte sich abwenden.

„Nein, warte!“ Ich schlang die Arme um seinen Nacken, barg das Gesicht an seinem Hals. Zögernd schloss er mich in seine Arme. „Sag das noch mal.“

„Ich liebe dich.“

Mein Herz pochte wie wild, als ich mich auf die Zehenspitzen stellte, um ihn zu küssen. Ein leises, befreites Lachen drang aus seiner Kehle. „Ich liebe dich, Lucien.“, flüsterte ich. Dann musste ich auch lachen. Er sah mich mit einem aufgeregten Glitzern in den Augen an.

„Was ist?“

„Nicht ich such mir einen höflichen, charmanten, menschlichen, süßen Jungen mit blauen Augen und blonden Haaren aus! Nein, natürlich nicht! Es muss ja unbedingt ein schwarzhaariger Vampir mit grotesken Stimmungsschwankungen sein!“

„Welche Stimmungsschwankungen?“

„Oh, du weißt ganz genau, was ich meine!“

„Ms. Sunchez wartet. Komm!“ Er zog mich hinter sich her.

„Feigling.“, murmelte ich. Ich wusste, erhatte es gehört, doch er ging nicht darauf ein, bedachte mich nur mit einem sanften Blick aus den Augenwinkeln. Ich musste lächeln. Dann erreichten wir den Theatersaal. Ganz gentlemanlike öffnete er mir die Tür und verbeugte sich erneut mit dieser Geschmeidigkeit, dass ich mich unwillkürlich wieder an den edlen Ritter  erinnerte. Ich deutete einen Knicks an und hörte kurz darauf, wie er nach Luft schnappte.

Natürlich wandten sich alle Anwesenden augenblicklich zu uns um, als wir die Halle betraten. Und begannen zu tuscheln, während Ms. Sunchez auf uns zu kam und erst dicht vor Lucien Halt machte. Ms. Sunchez war eine kleine Frau mit kurzen schokoladenfarbenen Haare und Augen derselben Farbe.

„Lucien, ich sehe, es geht Ihnen wieder gut.“ Ein strahlendes Lächeln erschien auf ihren Zügen. Entweder sie freute sich, weil er ein so guter Schüler war oder sie hegte noch andere Gedanken. Lucien lächelte schief und legte einen Arm um mich.

„Ja. Ich hatte eine gute, vielleicht auch ein wenig zu strenge Verpflegung.“ Sein warmer Blick traf mich so unerwartet, dass meine Knie nachzugeben drohten. Ich schmiegte mich in seinen starken Griff. Das Getuschel um uns herum wurde lauter, doch ich blendete es aus. Die Welt war für mich gerade perfekt. Am liebsten hätte ich mich von ihm fest in den Arm nehmen lassen und mich dort vergessen. Lucien beugte sich zu mir runter und hauchte mir einen Kuss an die Schläfen. Ich musste mich beherrschen, mich nicht absolut unschicklich an ihn zu drücken und unterdrückte einen Lachanfall. Ms. Sunchez’ Lächeln wurde strahlender.

„Das freut mich. Ich hatte nämlich vor, Die in dem nächsten Stück die männliche Hauptrolle spielen zu lassen.“

Er neigte den Kopf und wirkte dabei unwirklich erhaben, aber der freundliche Ausdruck in seinen Augen ließ ihn gutmütig erscheinen. „Und welches Stück wäre das?“

„Shakespeares wohl bekanntestes Stück Romeo und Julia.“

Die männlichen Schüler stöhnten auf. – Im Gegensatz zu Lucien, der lachte. „Haben Sie denn auch schon eine Julia?“ Er sah mich an, eine dunkle Braue gehoben. Ich verstand nicht ganz, was er damit sagen wollte.

„Nein, die habe ich in der Tat noch nicht. Doch da ich noch nicht irgendeine x-Beliebige von euch nehmen werde ich eine Art Aussscheidungs-Casting machen. Natürlich nur für diejenigen, die interessiert sind. Alice, was Sie mir bis jetzt gezeigt haben sah vielversprechend aus. Ich hoffe, Sie werden sich melden.“

„Bestimmt.“ Ich nickte.

„Sehr schön. Doch bevor wir beginnen will ich gerne das Foto machen.“

Meine Befürchtungen bewahrheiteten sich. Lucien sah viel zu gut aus für das Bild. Doch meine Missbilligung verrauchte, als er ein paar Verse aus seiner Romeo-Rolle als Monolog vortrug. Seine dunkle Stimme vermischte sich mit den alten Sätzen und Worten zu einer süßen, traumhaften Komposition und ich hatte wieder den Krieger vor mir. Als er endete klatsche ich wohl am begeistertsten, denn einige sahen mich irritiert an. Lucien lächelte mich an, die Welt um mich herum schrumpfte. Erst zum Ende der Stunde bemerkte ich, dass meine Freundin fehlte. Ich hatte sie schon einige Tage nicht gesehen. Vor allem, weil ich immer in Luciens Wohnung war, doch auch im Unterricht war sie nicht da. Ich zupfte an Luciens Ärmel. Er beugte sich zu mir runter.

„Ich habe Antonina ein paar Tage nicht gesehen.“

„Als Vampir verlierst du den Kontakt zu Menschen.“

„Aber ich müsste sie doch im Unterricht sehen?“

Er runzelte die Stirn. „Wir sehen nachher nach ihr. Jetzt müssen wir Ray und Liam suchen.“

„Warum denn Ray und Liam?“ Dass er mich jetzt einfach so überging und nur an die zwei dachte ärgerte mich doch schon ein bisschen.

„Weil sie sonst wieder irgendeinen Scheiß anstellen und ich hab keine Lust, wegen einer ihrer Streitereien in Schwierigkeiten zu kommen.“ Er zog mich hinter sich her.

„Warum … verherrlichen sie dich so?“

Er zuckte die Schultern. „Sie haben sich dafür entschieden.“ Was war das denn für eine Antwort? Aber hatte ich etwas anderes erwartet? Immerhin war so geheimnisvoll schon als ich ihn kennengelernt habe. Daran wird sich wohl kaum etwas geändert haben. Ich schüttelte den Kopf und überlegte, wie er das meinen könnte. Sanft zog er mich an seine Seite, legte einen Arm um meine Taille und lächelte.

„Daran könnte ich mich gewöhnen.“, murmelte er. Wir fanden seine Schatten auf der Wiese, wo sie unter dem Baum mit den einladend breiten und verzweigten Ästen standen. Wo ich zum ersten Mal den Krieger gesehen hatte. Unwillkürlich musste ich lächeln. Doch das verschwand, als ich die Gesichter der beiden sah. Kalter, beherrschter Zorn. Sogar Liam hatte diese Miene und er wirkte viel älter, nicht mehr so locker. Seine Augen waren dunkel. Lucien hob alarmiert den Kopf. Rays Brauen hoben sich für einen Atemzug, als er uns sah, dann trat er mit seinem üblichen Gesichtsausdruck auf uns zu.

„Wer ist gestorben?“, fragte ich halb im Ernst. Rays graue Augen verengten sich und trafen mich. Ich fröstelte.

„Lucien wird gleich sterben, dieser Narr!“, fauchte er, die Oberlippe leicht zurückgezogen. Lucien bleckte ebenfalls die Zähne. Der andere zuckte zusammen. „Verzeiht.“, flüsterte er und senkte beinah demütig den Kopf. Ich sah ihn verblüfft an. Liam trat hinzu und betrachtete mich eindringlich.

„Und warum wird dieser Narr gleich sterben, wenn ich mir die Frage erlauben darf?“, spöttelte Lucien, reckte das Kinn vor und verschränkt die Arme. Sein Blick glitzerte ebenso spöttisch, wie es sein Ton vorher gewesen war. Ray öffnete den Mund, doch die Antwort kam von hinter uns von einer weiblichen Stimme.

„Weil dieser Narr mir nicht erzählt hat, dass er sich erstens eine süße Freundin geschaffen hat und zweitens die Ehre hat, eine Elfe zu fangen.“

Wir wirbelten herum. Ein Mädchen kam auf uns zu, die blonden Haare so hochgesteckt, dass noch ein paar Wellen ihr Gesicht umspielten und ihr in den Nacken fielen. Luciens Augen wurden groß, was mich bei dieser Schönheit nicht wunderte. Mit ihrer schmalen Gestalt kam sie lachend auf uns zugetanzt und blieb erst dicht vor Lucien stehen, der noch immer meine Hand hielt und diese jetzt sanft drückte. Meine rechte Schulter entspannte sich und ich betrachtete das Mädchen. Sie war ein Stück kleiner als ich. Ihr blasses, schmales Gesicht wurde von großen violett-blauen Augen dominiert. Sie hatte eine kleine Stupsnase und ihr Lächeln entblößte immer ihre Fänge. Sie waren nicht besonders kräftig.

„Serena.“ Er neigte höflich den Kopf, doch ein Grinsen konnte er nicht verbergen. Unauffällig schielte er zu Ray, der weniger erfreut aussah. Er brachte sich hinter dem Schwarzhaarigen in Deckung, was mir ein Kichern entlockte. Serena knuffte Lucien in die Seite.

„Du sollst diese hässlichen Förmlichkeiten lassen! Wo ist denn …“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und sucht die Gegend hinter Lucien ab. Sie kreischte, als sie ihn entdeckte. „Ray!“ Sie sprang ihm an den Hals und quietschte vergnügt. Der Junge verzog nur leidend das Gesicht, musste dann aber doch lächeln. Als sie sich küsste sah ich zu Lucien, der meinen Blick erwiderte und die Schultern zuckte ála Was soll man machen?

„Wird Antonina gar nicht gefallen.“, murmelte ich, bereute es jedoch sofort, als Ray mir einen seiner scharfen stahlgrauen Blicke zuwarf und Serena zu mir sah, dann zu Ray.

„Wer ist Antonina?“

Ich lachte auf. „Niemand. Nur eine Freundin von mir, die sich wohl ein wenig in Ray verknallt hat. Aber wie es aussieht empfindet er nicht dasselbe.“

„Ist sie ein Mensch?“

Ich nickte und sie atmete erleichtert auf.

„Dann ist ja gut. Oh! Du bist …“ Sie sah zwischen Lucien und mir hin und her. „Ah! Du bist die geschaffene Freundin von meinem lieben Cousin!“ Sie ließ Ray nicht los und er zog sie noch mehr an sich. Irgendwie sahen die zwei zusammen ziemlich komisch aus. Der dunkle Ray und ein zierliches, blondes Mädchen …

„Ich hab sie nicht geschaffen …!“, knurrte Lucien.

„Nein? Und wie gedenkst du mir zu erklären, wie das passieren konnte? Man sieht ihr noch den Menschen an – und man riecht es.“

„Ich weiß es nicht.“ Er flüsterte, senkte den Kopf und strich mir eine hüftlange Strähne hinters Ohr. „Ich weiß es nicht.“

Ein Bild durchzuckte mich. Der Schatten. Ich schloss die Augen und versuchte es festzuhalten. Doch statt klarer zu werden verflüchtigte sich die Erinnerung nur umso schneller. Verzweifelt kniff ich die Augen fester zusammen und rannte der Vision hinterher. Bildlich gesprochen. Schmerz explodierte wieder hinter meiner Stirn, doch ich versuchte ihn zu ignorieren. Aber nach kurzer Zeit konnte ich nicht mehr. Der Boden unter mir bockte, in meinem Kopf drehte sich alles, mir war schlecht und mein Atem kam stoßweise und abgehackt. Hilfesuchend streckte ich die Hand, nicht fähig, meine Augen zu öffnen. Ich griff ins Leere. „Lucien …“, flüsterte ich schwach. Gerade in dem Moment, als die Erdanziehung meinen Körper unter Beschlag nehmen wollte legte sich ein Arm um meine Taille und zog mich an eine harte Brust. Leise stöhnend ließ ich mich gegen den starken Körper fallen. Ich war auf einmal so müde. Doch bevor ich einschlafen konnte wurde ich durchgeschüttelt.

„Alice! Was ist passiert?“

Ich musste lächeln. Was für eine wundervolle Stimme. Aber warum klang sie so panisch? Ich runzelte die Stirn. Gab es einen Grund dafür? Ich zwang meine Lider dazu, sich einen Spalt zu öffnen. Meine Sicht war verschwommen doch bald klärte sie sich. Ich sah in zwei bodenlose Augen. Schwarz wie ein Nachthimmel ohne Sterne. Ich fiel.

„Alice? Was ist passiert? Du sahst gar nicht gut aus. Ich hab dich geschüttelt und deinen Namen gerufen. Du hast nicht reagiert.“

Ich lächelte und legte ihm eine Hand an die Wange. „Es ist nichts passiert.“, flüsterte ich, schmiegte mich an ihn und schloss die Augen.

„Kannst du stehen?“, fragte er. Müde schüttelte ich den Kopf. Dann spürte ich, wie ich in die Luft gehoben wurde. Ein Klatschen klang von irgendwoher. Wir alle sahen auf. Über uns, in dem Baum, saß ein Junge. Auf seinem markanten Gesicht zeichnete sich ein hämisches Grinsen ab. Seine schulterlangen gold-blonden Locken waren zerzaust. Aus violett-blauen Augen musterte er uns, während vom Ast sprang.

„Lucien!“ Seine Stimme überraschend leise und sanft. Wie ein flüsternder Windhauch. „Ich wusste gar nicht, dass du so mitfühlend und herzzerreißend romantisch sein kannst. Köstlich diese Panik auf deinem Gesicht, als das süße Ding nicht reagiert hat. Du bist wohl immer noch ziemlich befehlshaberisch und herrisch …“ Er grinste und entblößte mehr scharfe als kräftige Fangzähne. Ich verdrehte die Augen. Wie viele Vampire gab es denn auf dieser Welt, geschweigedenn an diesem Internat? Lucien verkrampfte sich.

„Wenn du willst, kann ich auch ganz anders, das weißt du, Adrian.“

„Beweis es mir!“

Erschrocken sah ich zu Lucien auf. Sein Kiefer war angespannt, sodass man ihn deutlich  hervorstehen sehen konnte. Ich wusste, wozu das führte. Vorsichtig legte ich ihm eine Hand auf die Brust. Er sah zu mir runter und ich schüttelte den Kopf. Auch Serena trat dazwischen.

„Adrian! Hör auf mit dem Mist! Musst du immer alle provozieren?“

Adrian grinste. Dann sprach Lucien.

„Serena, lass es. Er hat mich herausgefordert. Ich muss annehmen.“

„Musst du nicht!“

„Doch, muss ich. Es wäre gegen die Regeln und gegen die Ehre, würde ich es nicht tun. Liam, halt sie.“ Vorsichtig und sanft übergab er mich wie ein kleines Baby an den blonden Sunny-Boy, mit dem ich mich in den letzten Tagen angefreundet hatte. Er lächelte und ich konnte nicht anders, als dieses strahlende, freundliche Lächeln zu erwidern, welches sich in seinen hellgrünen Augen spiegelte und ich sofort gemocht hatte.

„Dann nimm du zurück, Bruder! Er wird dich doch sowieso besiegen. Er ist so viel älter als du.“ Serena trat auf Adrian zu, doch dieser sprang mit einem Satz über sie hinweg und ging auf Lucien los. Ich zuckte zusammen, als der Blonde mit den scharfen Zähnen nach Luciens Kehle schnappte. Liam drückte mich kurz fester.

„Keine Angst, Al. Lucien ist viel stärker und älter. Und geschickter. Adrian hat keine Chance.“

Ich nickte. Und wie Liam gesagt hatte flog Adrian dann auch Sekunden später durch die Luft und landete mehrere Meter weiter entfernt im Gras. Lucien lachte, stieß die Faust in die Luft, ließ ein triumphierendes Heulen ertönen und wackelte mit dem Hintern. Ich musste kichern. Das war so gar nicht der Junge beziehungsweise Mann, den ich kannte. Oder meinte, gekannt zu haben.

„Eins zu Null für Lucien.“, rief Ray und Liam lachte. Erst da bemerkte ich, dass das alles nur Spaß war. Serena schien verwirrt zu sein. Ich sah zu dem vermeintlichen Kampf der zwei und beobachtete, wie Adrian schwer atmend und lachend auf die Beine kam. Lucien hob die Hand und er schlug ein.

„Ich schlage vor, den Rest tragen wie ein andermal aus. Ich muss zu meiner Lady zurück.“ Der Blonde grinste mich und Liam an.

„Welche Lady? Mein lieber Freund, was hast du mir schon wieder vorent…“ Mitten im Satz brach der Schwarzhaarige ab. Ich war von Liams Armen gesprungen und auf Luciens Rücken drauf.

„Du arroganter, mieser, hohlköpfiger, gemeiner … Idiot!“ Bessere Beleidigungen fielen mir nicht ein, während ich mit der Faust auf seine Schulter schlug, wohlwissend, dass es ihm nicht auch nur ansatzweise einen Deut wehtat. „Verräter!“

„Hey, hey, wir wollen nicht zu unfreundlich werden …“ Er kicherte. „Ich denke, ich sollte dir die zwei hier vorstellen.“ Er deutete auf Serena und Adrian und ich kletterte von Luciens Rücken. „Dieses hübsche Mädchen hier ist meine geschätzte Cousine, alias die größte Nervensäge der Welt, gleich nach dir, alias Rays Verlobte.“

Serena machte einen anmutigen Knicks. Ich hob die Brauen. Ray war verlobt? Also, wenn ich es schon vorher komisch fand, dass die zwei überhaupt zusammen waren, was sollte ich dann davon halten? Lucien beugte sich zu mir herab. „Unvorstellbar, ich weiß, aber dennoch wahr.“, flüsterte er. Dann fuhr er lauter fort: „Und dieser nicht mehr ganz so junge Mann ist mein Cousin.“

Adrian nahm meine Hand und beugte sich über sie. „Alias der dritte Heerführer und Offizier des Lords des Nebel-Clans, wie mein förmlichkeitenverliebter Cousin jetzt sagen würde.“

„Ah, und wer ist der erste und der zweite, wenn ich mir die Frage erlauben darf.“

Lucien zuckte unmerklich zusammen, doch Adrian lächelte freundlich. „Nun, der erste ist dein lieber Freund.“ Er beugte sich weiter zu mir und flüsterte: „Über den zweiten darf ich leider kein weiteres Wort verlieren, würde dem ersten Heerführer nicht gefallen.“ Er richtete sich auf. „Aber jetzt muss ich … Ah, ich habe sie zu lange warten lassen. Sie ist mir gefolgt! Mia bella, es tut mir so leid!“ Der Blonde eilte an uns vorbei. Mein Blick streifte Lucien, der mich eingehend musterte, dann wandte ich mich um, neugierig auf die „mia bella“ und blieb stocksteif stehen. Adrian lächelte schüchtern. „Ich weiß, sie ist deine Freundin, aber ich konnte nicht widerstehen! Sie ist so wundervoll und ihr Aussehen haut mich jedes Mal aufs Neue um. Natürlich ist sie nach wie vor ein Mensch, das versteht sich von selbst.“ Bei den letzten Worten sah er Lucien an, der schuldbewusst zusammenzuckte. Ich legte ihm eine Hand auf den Arm, während ich mit geschockter Miene Antonina musterte. Sie trat auf mich zu, Adrian neben sich. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. War sie verlegen, wütend, weil ich ihr nichts erzählt habe, oder hatte sie Angst?

Sie kam unbeirrt weiter auf mich zu und blieb erst einen halben Meter vor mir stehen. Vorsichtig nahm sie mein Gesicht in ihre Hände.

„Zeig mir deine Eckzähne.“ Ihre Finger zitterten leicht. Ich registrierte aus den Augenwinkeln, wie Lucien und Liam sich neben mir postierten, dann sah ich in Antoninas grüne Augen. In ihnen flackerte etwas, als ich leicht den Mund öffnete. Sie trat zurück und nickte. „Dann ist das also wahr …“

„Anto, ich …“

„Nein, es ist gut. Ich hab kein Problem damit. Nur, wie willst du deinen Eltern erklären, was mit dir passiert ist? Wenn du nicht mehr älter wirst und …“

Ich runzelte die Stirn, doch Lucien kam mir dazwischen. Schützend stelle er sich vor mich und verengte die Augen.

„Was weiß du alles über uns?“

Sie zuckte die Schultern und senkte den Kopf. Ich hörte, wie Tropfen auf dem Gras landete, machte einen Schritt auf sie zu und nahm sie in den Arm. Sie klammerte sich an mich.

„Schsch, ist gut, Anto. Ist doch alles gut.“ Beruhigend strich ich ihr über den Rücken. Sie schluchzte.

„Alice, deine Eltern …“

„Ist gut. Lucien und ich finden eine Lösung.“

„Nein, nein. Sie sind …“

„Antonina, lass das meine Sache sein.“

„Aber sie sind Vampirjäger!“

„Was?“ Ich wich zurück, prallte gegen jemanden. Lucien schloss die Arme um mich. Liam stellte sich schräg vor mich. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, kann doch gar nicht sein Woher willst du das denn wissen?“

„Bella, es ist gut.“ Adrian zog Antonina von uns weg, strich über ihre tränennassen Wangen. Ihr Blick blieb unverwandt auf mich gerichtet.

„Woher willst du das wissen?“, wiederholte ich, als ich merkte, dass sie gar nicht mich ansah, sondern Lucien. Sie sah ihn flehend und ernst an. Und dann wurden wir voneinander weggeführt. Meine Freundin sah mir noch einmal über die Schulter nach.

Kapitel 6: Entführt

Schnaubend ließ ich mich auf sein Bett fallen und funkelte Lucien an, der eine entspannte Haltung neben mir einnahm und mir in die Augen sah.

„Das ist unfair!“, begann ich. „Willst du mir jetzt verbieten, mir meine Freunde selbst aussuchen zu dürfen, Mr. Was-ich-befehle-muss-befolgt-werden-ansonsten-wird-meine-Rache-bitter?“

Kurze Zeit sah er mich nur weiterhin an, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, ganz und gar nicht. Nur vielleicht solltest du es ernst nehmen, was deine … Freundin gesagt hat.“

„Aha!“ Ich sprang auf, stemmte die Hände in die Hüften. „Du hast bei dem Wort ‚Freundin’ gezögert! Also doch!“ Abermals schüttelte er den Kopf. „Vergiss es, Alice. Warum sollte ich das denn tun?“

„Weiß nicht. Ich kann keine Gedanken lesen.“ Ich ignorierte den belustigten Ausdruck auf seinem Gesicht erfolgreich, spürte dann jedoch ein leichtes Brennen in der Kehle. „Ich hab Durst.“

Er nickte, stand auf und verschwand in der Küche. Grummelnd setzte ich mich wieder auf sein Bett, in dem er vor einem Tag durchgeschwitzt und mit viel zu hoher Temperatur beinahe vollkommen reglos dagelegen hatte. Lucien teilte sich die Wohnung mit niemandem. Ray und Liam hatten eine zusammen.

„Nun, der erste ist dein lieber Freund.“

Was war eigentlich ein Heerführer beziehungsweise ein Offizier genau? Und was hatte das mit der Nummerierung auf sich? War das diese Rangordnung?

„… und zweitens die Ehre hat, eine Elfe zu fangen.“

„… und dass diese Vanessa eine Elfe ist?“

Ich sprang wieder auf, gerade, als Lucien mit einer Tasse den Raum betrat. Ich starrte ihn an, er musterte mich.

„Elfe“, hauchte ich. Er nickte wieder, dann deutete er mich, mich zu setzten, während er mir die Tasse reichte. „Du sagtest, Vanessa sei eine Elfe. Und Serena meinte, du hättest die Ehre, eine Elfe zu fangen.“

Seufzend ließ er sich auf die Matratze fallen, lehnte sich gegen die Wand und zog mich an sich. Ich lehnte aus irgendeinem Reflex den Kopf an seine Schulter und schnupperte an der rot schimmernden Flüssigkeit, während ich auf seine Antwort wartete. Ich ordnete es einem Fuchs zu. Abermals seufzte er, ich sah auf. Lucien sah müde aus. Ich legte ihm eine Hand an die Stirn.

„Geht es dir nicht gut?“

Er lächelte und schüttelte beruhigend den Kopf. „Bei dir geht es mir immer gut.“

Ich verdrehte die Augen, doch er beugte sich zu mir herab, fing meinen Blick ein und hielt ihn mit seinen schwarzen Augen fest. Augenblicklich vergaß ich meine gesamten Fragen. Die Welt um mich schrumpfte, blieb stehen. Wieder waren wir gefangen in der Stille, die uns schützend umgab. Sein Daumen strich über meinen Wangenknochen, während sein Blick über mein Gesicht glitt. Ich schloss die Augen und drückte meine Lippen auf seine. Wir beide seufzten wohlig. Gierig legte ich die Hände um seinen Nacken, zog ihn noch mehr an mich, vergrub die Finger in seinen dichten, seidigen Haaren. Seine Lippen waren rau und weich, kühl und warm. Lucien ließ sich noch vorne fallen, begrub meinen Körper unter sich. Mit festen, heißen Küssen fuhr er meinen Hals hinunter, seine Zähne schabten an meinem Kiefer entlang.

„Vertraust du mir?“, fragte er mich mit rauer Stimme. Sein Atem kam in schweren Stößen. Ich nickte.

„Ja. Ja, ich vertraue dir.“

Er zog sich den blauen Pulli aus und zerrte das schwarze T-Shirt darunter gleich mit. Ich sog scharf die Luft ein, betrachtete seinen schlanken, sehnigen Oberkörper, strich mit den Fingerspitzen über seine Schulter und hatte sofort ein Deja-Vu. Augenblicklich wurden meine Erinnerungen jedoch von seinem Mund unterbrochen, während er mein T-Shirt hochschob.

Wenig später fiel auch seine Jeans, seine Boxershorts folgten. Sanft erforschten seine Hände meinen Körper. Ich drückte mich an ihn, fühlte seine Brust, seine Arme, die flachen Muskelstränge auf seinem Rücken, fühlte ihn, als sein Körper auf meinen glitt. Und wir schwiegen. Doch wir waren nicht still. Unser Atem floss im Einklang, es gab keinen Unterschied.

Schließlich senkte Lucien den Kopf neben den meinen. Zärtlich streichelte ich seinen schweißbedeckten Nacken.

„Schlaf mit mir.“, hauchte er. „Schlaf mit mir ein.“

Müde nickte ich und ließ mich in wundervolle Leere fallen.

 

Träge hob ich meine Lider, schloss sie jedoch gleich wieder. Helles Sonnenlicht durchflutete das Zimmer. Lächelnd schmiegte ich mich enger an den Körper neben mir. Er gab ein wohliges Schnaufen von sich, schlang einen Arm um mich. Jetzt öffnete ich die Augen doch, hob den Kopf und betrachtete sein schlafendes Gesicht. Die geschlossenen Lider flatterten leicht, er träumte. Seine Lippen waren geschlossen, nur manchmal bewegten sie sich kurz, gaben etwas Unverständliches von sich. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, beugte ich mich über ihn, fuhr mit dem Finger seine Gesichtskonturen nach. Während ich das tat streichelte er hin und wieder mit einer Hand meinen Rücken. Als ich nach zehn Minuten Gesichtsanalyse genug hatte, bettete ich meinen Kopf auf seiner Brust, er vergrub das Gesicht in meinen Haaren. Doch bald hatte ich auch wieder genug vom Stillliegen, also erforschte ich seinen Körper bei Tageslicht. Ich fing an seiner Brust an. Als ich mit der flachen Hand über seinen Bauch abwärts fuhr, regte er sich. Ich sah auf. Lucien beobachtete mich unter halb geschlossenen Lidern, seine Nasenflügel flatterten. Ich lächelte.

„Guten Morgen.“ Ich beugte mich vor und küsste ihn. Er schlang beide Arme um mich, zog mich so fest an sich, wie nur möglich.

„Morgen.“, flüsterte er, als wir wieder voneinander abließen. „Ich hab von dir geträumt.“

Ich musste schmunzeln. Süß. „Natürlich hast du das. Warum auch nicht.“ Ich legte so viel Selbstverliebtheit in meine Stimme, wie es mir möglich war und warf mein langes Haar zurück.

„Ich meins ernst, Alice.“

„Ich meins auch ernst, todernst.“

Er sah mich mit gehobener Braue an, dann kicherte er. „Wie schön. Also habe ich mir auf irgendeine Weise eine Vampirfreundin geschaffen, die erstens viel jünger ist als ich und zweitens eingebildet ist.“

„Mein Lieber, ich habe mir auf irgendeine Weise einen Vampirfreund angelacht, der erstens viel älter ist als ich und zweitens gigantische Stimmungsschwankungen hat. Jetzt frag dich, wer es schwerer hat.“

„Also steht es eins  zu eins.“ Seufzend schloss er die Augen, seine Arme entspannten sich, ließen locker. Er gähnte. „Ich bin müde.“, murmelte er, bevor er so schnell wegtrat, dass ich es eigentlich für unmöglich hielt. Gut, nicht nur eigentlich. Es war unmöglich.

Da ich bezweifelte, dass ich ihn wach kriegen würde, geschweigedenn, dass er von alleine aufwachen würde, kletterte ich über ihn hinweg. Flink zog ich mir sein T-Shirt über und machte mich auf den Weg in die Küche. Ein dämliches Grinsen zierte mein Gesicht, das wusste ich, aber ich konnte nicht dagegen tun. Ich war ein Vampir, unsterblich und dazu verdammt, Blut zu trinken! Und ich hatte einen anderen Vampir gefunden, der zwar unerträglich sein konnte, den ich aber trotzdem liebte. Zumindest glaubt eich das. Wenn ich jetzt darüber nachdachte, war ich mir nicht ganz so sicher. Ich kannte ihn eigentlich nicht, wusste gar nichts von ihm. Aber eigentlich machte das nichts. Er würde mich immer beschützen, das wusste ich und es reichte mit. Woher ich das wusste? Es war eben so.

Ich war derartig in meine Gedanken vertieft, dass ich die dunkle Gestalt erst bemerkte, als sie hinter der Tür hervorschoss und mich packte. Dumm, ich weiß, aber mein erster Gedanke war: Wie unkreativ und einfallslos manche doch sind. In meinem zweiten Gedanken formte ich einen Schrei. Doch eine eklig warme, nassgeschwitzte Hand legte sich über meinen Mund. Mein dritter Gedanke galt Lucien. Ich riss die Augen auf. Panik durchflutete mich. Lucien! Er schlief! Wie verrückt versuchte ich, mich zu wehren.

„Hey, hör auf. Bitte, ich will nicht …“, flüsterte der Kerl hinter mir. Ich roch, dass er ein Vampir war. Verzweifelt biss ich ihm in die Hand, darauf bedacht, meine Fangzähne möglichst geschickt und möglichst tief in eine Vene zu schlagen. Der Vampir jaulte auf, hob allerdings sogleich die andere Hand und holte aus. Einen weiteren Gedanken konnte ich nicht fassen. Dumpfer Schmerz erwachte in meinen Schläfen, riss mich mit sich.

 

                                                                        

~*~

 

 

Stöhnend richtete er sich auf. Das Letzte, an das er sich erinnern konnte war Alice in seinen Armen. Aber das war, soweit sein Gedächtnis ihn nicht trügte, in seinem Bett im Jungentrakt des Mystic-Art-Internats und nicht auf einem feucht-dreckigen kalten Boden. Außerdem konnte er Alice nicht neben sich spüren.

Beunruhigt verengte Augen, um besser sehen zu können. Nach kurzer Zeit brannten sie ihm. Ein Stechen breitete sich von seinen Schläfen zu seinen Wangenknochen und weiter aus. Ein Zeichen, dafür, dass diese Dunkelheit hier zu einem Teil ‚künstlich’ und mit einem Zauber belegt worden war, der es der Nachtsichtigkeit der Vampire erschwerte. Doch solche Tricks wusste er zu umgehen. Nach kurzer Zeit erkannte Lucien, dass er sich in einer wirklich engen Zelle befand. Alice lag zusammengesunken in einer Ecke, das dunkle Haar über den Boden verteilt und zerzaust. Soweit es die Fesseln, die sich um seine Handgelenke spannten, zuließen kroch er zu ihr rüber. Allerdings kam er nicht halb so weit, als dass er sie erreichen konnte. Knurrend biss er die Zähne zusammen, versuchte sich mit Kraft zu befreien. Das Metall biss in seine Gelenke, verbreitete einen höllischen Schmerz. Keuchend sank er zu Boden, die Wange auf den kühlen Beton gepresst. Silber. Wer auch immer sie hier reingesteckt hat, wusste, wer er war.

„Alice!“, raunte er. Sie reagierte nicht. Sie schien nicht einmal mehr zu atmen. Besorgt betrachtete er sie. Die Hände auf dem Rücken lag sie in einer ungemütlichen Position, das Gesicht dem Boden zugewandt. Getrocknetes Blut klebte an ihrer Schläfe und sie trug nicht mehr als ein T-Shirt, das er als seines identifizierte und ein Höschen. Ein wildes Knurren entfuhr Lucien, sein Oberkörper zuckte nach oben. Was auch immer diese Bastarde ihr angetan hatten, sie würden mit dem Hundertfachen bezahlen!

Abermals versuchte er, über den Boden zu ihr zu robben und abermals wurde er aufgehalten von dem unvergleichlichen Schmerz, den Silber ihm zufügte. Er holte tief Luft und keuchte auf, als er registrierte, dass er nackt war. Ein paar Momente und er schüttelte den Kopf. Das war jetzt egal, er musste an Alice rankommen. Inzwischen hatte sich Schweiß auf ihrer Stirn breitgemacht, lief ihre eingefallenen, bleichen Wangen hinunter. Sie atmete jetzt schwer. Wütend riss er sich zusammen, bäumte sich auf, riss an den Ketten, die ihm tief ins Fleisch schnitten. Er ignorierte den lähmenden Schmerz, streckte sich. Er musste an seine Alice rankommen! Sie durfte nicht. Sie gehörte ihm! Noch einmal bäumte er sich auf und verlor mit einem letzten verzweifelten Schrei das Bewusstsein.

Als er wieder zu sich kam ging die Tür mit einem grässlichen Quietschen und Knarren auf. Ein Vampir erschien. Nicht besonders groß, auch nicht stark, wie er im Gegenlicht schwach erkennen konnte. Dennoch strahlte er eine ungeheuere, dunkle Macht aus. Lucien zuckte zusammen, als dieser ihn an den Haaren packte und hochriss. Er wehrte sich nicht, gab nur ein gequältes Stöhnen von sich. Er war noch zu schwach. Das Silber hatte ihn stark außergefecht gesetzt. Eine fast unerträgliche Übelkeit überkam ihn, als der andere ihm ins Gesicht hauchte.

„Guten Morgen, Mylord. Ich hoffe, Ihr habt Euch schon in Eurer neuen Residenz eingewöhnen können?“ Ein widerwärtiges Grinsen zog seine Wangen auseinander, als er sah, wie Luciens trüber Blick zu seiner nach wie vor bewusstlosen Frau glitt. Seine Frau? Wo kam dieser Gedanke her? Alice war nicht seine Frau. Und warum wünschte er sich mit solcher Sehnsucht, dass sie doch wär?

„Macht Euch keine Sorgen um das Mädchen, Prinz. Es ist nur ein vorübergehendes Fieber. Obwohl … Es könnte durchaus doch schlimmer sein, als es aussieht. Ich weiß es nicht. Aber ich muss sagen, sie ist eine wahre Schönheit. Sie könnte eine Königin sein, eine anmutige Lady. Würde sie sich nicht in diesem erbärmlichen Zustand befinden. Nur ist so noch so schwach …“

„Wer bist du und was willst du?“, stieß Lucien hervor und räusperte sich.

„Das werdet Ihr noch erfahren, Mylord. Es hat etwas mit Eurem Leben zu tun. Könnt Ihr es erraten?“

„Nur mit meinem? Dann lass Alice gehen.“

„Alice? – Ein hübscher Name. Passt zu ihr. Aber nein, tut mir leid, Mylord. Alice hat etwas mit Eurem Leben zu tun. Mit Eurer Familie. Sie ist äußerst wichtig für uns.“

„Wer ist uns? Und was hat Alice mit meiner Familie zu tun?“

„Ach, der Herr weiß es noch nicht. Nun dennoch, will ich Euch beglückwünschen, Prinz. Auch wenn das Glück nicht lange währen wird. Zu Schade.“

„Wozu? Was weiß ich noch nicht?“

„Es ist von großer Bedeutung zweier Völker, Mylord. Sie trägt die Bedeutung! Mehr kann ich nicht sagen. Es würde meinen Befehlen widersprechen.“ Der Vampir trat zurück. „Findet es selbst heraus.“ Wieder dieses dreckige Grinsen.

„Binde sie los! Bitte. Was kann sie getan haben? Sie ist fast noch ein halber Mensch. Und, wie du bereits sagtest, noch schwach. Sie hat keine Ahnung, was für Kräfte sie hat. Binde sie los!“

Der Kerl lachte. „Ihr seid in der Tat anders, als Euer Bruder, Prinz Lucien. Während er befiehlt und erwartet, dass jeder ihm gehorcht, versucht Ihr es mit Argumenten. Stichhaltigen Argumenten.“ Zufrieden beobachtete er, wie Lucien bei der Erwähnung seines Bruders zusammenzuckte. „Dennoch hätte ich dies hier nicht für möglich gehalten. Das der stolze zweitgeborene Prinz des Nebel-Clans einmal vor mir knien und um die Freiheit einer Frau betteln würde! Und das auch noch nackt! Also nein, das ist zu viel für mich!“ Theatralisch fasste er sich ans Herz, dann fuhr er fort, die Bitterkeit und Röte auf dem Gesicht des anderen ignorierend. „Aber macht nicht gerade diese Unwissenheit das Mädchen gefährlich? Sie kann es nicht kontrollieren.“

„Aber sie ist bewusstlos, sie hat Fieber. Binde sie los.“

„Nun gut … Ich will ja besser sein als Eure Mutter … Oder Euer Vater, bei dem ich übrigens einmal drei kostenlose Nächte in seinem Kerker verbringen durfte. Für nichts und wieder nichts. Glaubt mir, Mylord, dieses Erlebnis sollte Euch lieber vorenthalten werden. Also schön. Asher, folge dem Wunsch seiner Majestät.“

Luciens dunkle Augen wurden groß, als eine hochgewachsene Gestalt den winzigen Raum betrat. Er musste blinzeln, um sich zu vergewissern. Nein, das konnte nicht der Asher sein. Er war tot. Doch kaum hatte er diesen Gedanken vollendet, wandte Asher sich zu ihm um. Und Lucien erkannte ihn. Dieselben schwarzen Haare, dieselben dunklen Augen, die Gesichtszüge … Ashers Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln.

„Schön dich wiederzusehen, Zwilling. Bevor du fragst: Ja, ich bin es wirklich und nein, ich bin nicht tot, wie du ja unschwer erkennen kannst. Unsere Mutter verbannte mich. Aber das ist nicht weiter wichtig. Dich hat sie sowieso immer lieber gehabt, nicht wahr? Obwohl ich der Ältere bin.“

„Lieber gehabt?“, echote Lucien. „Oh ja, ganz sicher! Sie ist eine dreckige Hure, sie hat niemanden lieb! Von mir ganz zu schweigen und jetzt binde Alice los und verpiss dich!“

„Man sollte meinen, du würdest dich freuen, deinen Bruder nach Jahrhunderten wiederzusehen, aber wenn es dir egal ist …“ Asher tat gleichgültig und machte sich schulterzuckend daran, Alice zu befreien. Doch Lucien fühlte den heftigen Stich, den er seinem Bruder zugefügt hatte, als hätte er ihm selbst gegolten. Das zitternde Mädchen wurde vor seine Füße gesenkt. Er sah auf.

„Hier hast du dein Weib.“, zischte Asher und verschwand. Lucien zuckte zusammen, als die schwere Tür mit erneutem Quetschen und Knarren ins Schloss fiel und ihn in Dunkelheit hüllte, dann beugte er sich über die schöne, aschfahl blasse Frau. Vorsichtig strich er ihr eine schweißnasse Strähne aus dem Gesicht, küsste ihre heiße Stirn, ihre Kalte Nasenspitze.

„Es wird gut, Alice. Alles wird gut. Ich liebe dich.“, versprach er flüsternd.

Kapitel 7: Krieger

Unruhig ging der Lord des Nebel-Clans in seinem Büro auf und ab. Luciens treue Diener, Ray und Liam, sowie sein Cousin und seine Cousine folgten seinen Schritten mit besorgten Blicken. Sie waren sofort zu ihm gekommen, als sie Lucien und seine, wie sie sagten, geschaffene Gefährtin nicht auffinden konnten, was äußerst beunruhigend war. Der Lord runzelte die Stirn. Zudem hatte sein Sohn noch nie jemanden verwandelt. Warum also dieses Mädchen? Er schauderte, als er sich an die Taten ihrer Eltern erinnerte. Viele fähige Krieger hatte er verloren. Was hatte der Prinz sich nur dabei gedacht? Oder hatte er wie des Öfteren überhaupt nicht gedacht? Wusste er nicht, wer sie war? Aber das unmöglich. Jeder Vampir wusste von der italienischen Familie von Jägern. Seit hunderten von Generationen schlachtete sie seine mächtige Spezie ab.

„Lex?“, kam es aus einer Ecke. Der Lord fuhr zu seiner Frau herum, deren feuerrotes Haar ihr ungebändigt den Rücken hinabfloss und deren warme braune Augen ihn ängstlich ansahen. Eine Narbe, die sie aus einer Schlacht davongetragen hatte, zog sich von ihrer Schläfe, bis hin zum Kieferknochen. Doch milderte ihre Schönheit nicht. Im Gegenteil sah sie noch unwiderstehlicher aus.

„Alexander, wir müssen ihn suchen. Ich will ihn nicht auch noch verlieren.“

Der Lord eilte zu seiner Frau, nahm ihr Gesicht in beide Hände. „Schsch, es wird alles gut, Lyvia. Ich habe doch bereits einen Suchtrupp losgeschickt. Sie werden ihn finden. Wir müssen nur warten.“, versprach er. Doch die Wahrheit war, wie jeder hier im Raum wusste, er hatte bereits drei Suchtrupps vor zwei Tagen losgeschickt und keiner ist bisher zurückgenommen.

„Ray, Liam! Wann habt ihr meinen Sohn zuletzt gesehen?“

„Als Lucien, Verzeihung, der Prinz und Adrian auseinandergegangen sind. Nicht wegen eines Streites. Lucien, Mylord, hat Alice auf sein Zimmer gebracht, da sie ein wenig aufgewühlt war.“, antwortete Liam.

„Weshalb war sie aufgebracht?“ Alexander verengte die Augen.

„Sie hat von ihrer Freundin Antonina erfahren, dass ihre Eltern Vampirjäger sind. Sie konnte es nicht ganz glauben.“, erklärte Ray. Der Lord hob die dunklen Brauen. Das hieß, sie wusste gar nichts über ihre Herkunft? „Seit wann ist sie ein Vampir?“

„Etwa seit zwei Wochen. Der Prinz hat sie unwillkürlich verwandelt. Sie wollte erst nicht glauben, dass es Unseresgleichen gibt, doch dann hat sie es relativ schnell akzeptiert. Sie trinkt Blut und wirkt insgesamt nicht unglücklich.“

„Unwillkürlich? Wie soll mein Sohn sie unfreiwillig verwandelt haben?“ Alexander setzte seine Runden auf dem weichen Teppich fort.

„Ich weiß es nicht, Mylord.“

Seufzend ließ er sich in einen Sessel nieder, als ein Page ins Zimmer gestürmt kam. Erzürnt sprang er wieder auf. „Hast du noch nie etwas von Anklopfen gehört, Junge?“ Der Lord fletschte die Zähne, zeigte seine beeindruckende Fänge. Ängstlich wich der junge Page zurück.

„V-verzeiht, Mylord. Ihr habt ei-eine Bo-botschaft bekommen.“, stammelte er und hielt Alexander mit zitternden Fingern den versiegelten Umschlag hin.

„Hör auf zu stottern und gib her!“ Alexander riss dem Jungen das Pergament aus der Hand. Dieser verschwand sofort blitzartig. Entnervt brach der Lord das Siegel und während er las entgleisten ihm die Gesichtszüge.

 

                                                                        

~*~

 

 

Knurrend wanderte er auf und ab. Was hatte Lucien hier zu suchen? Und wer war dieses Mädchen gewesen, das dort bei ihm gewesen ist? Warum hatte er so darum gebettelt, dass sie sie freiließen? Warum wollte er alles auf sich nehmen, nur damit sie freikam? Er war sonst nie sonst gewesen, oder? Er wusste es nicht mehr, es war so lange her, seit sie sich zum letzten Mal gesehen hatten. Doch er glaubte zu wissen, dass sein Bruder ziemlich einzelgängerisch und egoistisch gewesen war. Warum wollte er dieses Mädchen retten? Doch wohl kaum nur wegen ihrer unbestreitbaren Schönheit.

Ein Schauer rieselte seinen Rücken hinunter, als er sich erinnerte. Die Frau war so zart, so schwach und doch war sie das schönste Wesen, das er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Und sie gehörte ihm! Wütend trat er auf die Wand ein, bis es von nebenan empört klopfte.

„Treibs doch etwas leiser, Mann! Die Wände sind hellhörig“, klang es gedämpft zu ihm durch. Asher trat zurück, ließ die Schultern hinabsacken und versuchte sich zu entspannen. Er atmete tief ein und fuhr sich durch die dunklen Haare. Doch kurz darauf erbebte sein Körper wieder. Lucien! Was hatte sein Zwillingsbruder … Wie …

Verzweifelt schrie er auf. Das war zu viel für ihn! Er hatte seinen Bruder aus seinen Gedanken verbannt und nun war er hier … in einer der tiefsten Zellen, nackt und mit Silber angekettet. Asher verstand seine Gefühle nicht. Einerseits wollte er … Ja, was wollte er?

Er ließ sich zu Boden fallen.

Was hatte Arkan mit dem Prinzen vor?

Eine ungute Ahnung beschlich ihn.

 

                                                                        

 

~*~

 

 

Schmerz. Trägheit. Taubheit. Durst. Durst! Unbeschreiblicher Durst!

Ich wusste nicht, woher ich diese Kraft nahm, aber ich schaffte es, meine Finger in etwas zu krallen, was neben mir lag, stand, was auch immer. Es fühlte sich wundervoll glatt, neutral und weich an, so anders als der Untergrund unter mir. Ein Keuchen entrang sich mir, ein Stöhnen. Ich konnte nicht mehr. Ich wollte nicht mehr. Meine Glieder waren schwer, alles brannte, in meinen Ohren rauschte es. Aber ich hörte eine Stimme. Sanft und dunkel. Ich verstand die Worte nicht, ihren Sinn schon gar nicht. Ächzend wandte ich den Kopf in die Richtung, aus der ich glaubte, die Stimme zu hören. Etwas berührte meine Stirn. Es war so schwer. Es nahm mir den Atem. Ich sank, vergaß.

 

Als ich wieder einigermaßen zu mir kam und es nach einem Kampf schaffte, die Augen zu öffnen, was es dunkel. Und in meiner Kehle brannte es immer noch. Irgendwas warmes, feuchtes benetzte meine ganze Haut. Mühsam schaffte ich es, den Kopf zu wenden. Lucien sah mich müde und erschöpft aus seinen dunklen Augen an. Ich blinzelte.

„Wo … wo sind wir?“ Ich schluckte und räusperte mich. Meine Stimme war rauer als Schmirgelpapier. Er brachte ein schwaches Lächeln zustande, doch es schaffte nicht, sich ganz einen seinen Augen zu spiegeln, wie es das immer bei Liam tat.

„Ich weiß es nicht.“, gab er zu, den Blick nahm er nicht von mir. Er beugte sich langsam vor, nahm mich in den Arm. Ich klammerte mich an ihn, nahm seine starke Nähe in mich auf. Doch etwas war falsch. Etwas Kühles und gleichzeitig Brennendes streifte meinen Nacken. Ich fuhr zurück, nahm seine Hände von mir und betrachtete sie entsetzt. Fesseln lagen um seine Gelenke, die vollkommen aufgeschürft waren. An manchen Stellen sah es sogar so aus, als wäre das Fleisch weggeätzt worden. Ich sah ihm ins Gesicht. Er sah aus, als würde er jeden Moment in Ohnmacht fallen.

„Was ist das?“ Meine Frage kam nur als ein rauer Hauch raus. Er zuckte scheinbar gleichgültig die Schultern, betrachtete mich.

„Silberfesseln.“ Er beugte sich wieder vor, seine Lippen streiften meine und mir wurde schwindelig. „Ich liebe dich.“; flüsterte er, die Stimme merkwürdig gepresst. Tränen traten mir in die Augen. Wer hatte ihm das angetan? Ich nahm sein blasses Gesicht in meine Hände.

„Ich liebe dich auch.“ Als ich es aussprach spürte ich, dass es so war. Dass ich Lucien wirklich liebte und er liebte mich. Ich musste kurz leise lachen, doch dann überkam mich etwas. Hastig schlug ich mir die Hand vor den Mund. Galle kroch mir die Speiseröhre hoch, in meinem Magen rumorte es. Ich löste mich von meinem Vampir, kroch weiter weg und übergab mich. Der Gestank von Erbrochenem füllte den stickigen, kleinen Raum, sodass mir noch übler wurde. Und gleichzeitig mit dem weiteren Mageninhalt, wurde ich mich dem Schweiß bewusst, der noch immer alles an mir benetzte und Luciens T-Shirt wie eine zweite Haut an mir kleben ließ. Lucien hatte sich halb aufgerichtet und sah mich alarmiert. Ich rang mir ein Lächeln ab und schüttelte beruhigend den Kopf.

„Das ist nichts. War bestimmt nur wegen dem Fieber.“

Er runzelte die Stirn, zog die Brauen zusammen. Er schien sich nicht beruhigen lassen zu wollen. Ich wollte noch zu einer anderen Erklärung ansetzen, oder versuchen, ihm klar zu machen, dass er mir eigentlich ganz gut ging, als von irgendwoher Stimme, Schreie und Waffengeklirr erklang. Ich fühlte mich auf einmal wie in einem Film. Unsere Köpfe flogen herum, gerade als die Tür aufflog und ein Vampir mit gebleckten Zähnen hereinstürmte. Er machte sich kurz an Luciens Fesseln zu schaffen, die mit einem leisen Klirren zu Boden fielen und ich bekam Angst. Was hatte der vor?

„Los, raus!“, blaffte er, packte mich an den Haaren und riss mich hoch. Ich jaulte auf. Doch kurz darauf ließ er mir wieder los. Etwas sauste durch die Luft, haarscharf an mir vorbei. Erschrocken wirbelte ich herum und starrte in Rays helle Augen. Dieser wirkte hochkonzentrierte, während er das blutige Schwert in seiner Hand an dem Hemd des kopflosen Vampirs abwischte. Sein Blick galt weder mir noch Lucien. Ich befürchtete schon, er würde uns gar nicht wahrnehmen, bis er Lucien etwas Schwarzes zuwarf. Verwundert sah ich zu ihm und bemerkte erst jetzt, während er sich die lederne Hose und das schwarze Hemd anzog, dass er nackt war. Hitze kroch mir den Hals hinauf. Dann hielt Ray auch mir solche Sachen hin. Zögernd nahm ich sie entgegen und schlich in eine dunkle Ecke, wohlwissend, dass es eigentlich sowieso nichts brachte, doch die zwei Männer sahen nicht zu mir herüber. Als ich mich umgezogen hatte, trat ich wieder hervor. Die Hose aus schwarzem Leder wie Luciens und Rays schmiegte sich eng an meine Beine. Die Stiefel waren ebenso dunklen und hatten eine flache Sohle. Was jedoch komischer war, war das eng anliegende Hemd mit den aufgeschlitzten Ärmeln und das Korsett darüber, an dem ein paar Dolche befestigt waren. Ich wusste nicht, woher ich wusste, dass man die Oberteile in dieser Reihenfolge anzog, es war halt so. Ich sah auf und sah Lucien, wie einen Schwertgurt um seine schmalen Hüften befestigte. Ich erstarrte kurz. Da war er wieder. Der dunkle, gefährliche Krieger, doch diesmal war er tatsächlich und nicht nur ein leichter Abklatsch. Ich runzelte die Stirn. Was sollte diese Kleidung?

Lucien wischte diese Frage fort, indem er mir die Hand hinhielt. Ich verschränkte meine Finger mit den seinen und stieg mit ihm über den toten Kerl am Boden, der mir gar nicht auffiel, bei dem Anblick, der sich mir jenseits der Tür bot. Mindestens ein Dutzend Vampire lagen dem Gang entlang. Entweder mit grotesk verrenkten Gliedern oder schrecklichen Wunden. Doch das ängstigte mich nicht so sehr, wie die Tatsache, dass mein Verstand sich weigerte, dieses Bild als abstoßend oder ekelerregend einzustufen. Ich nahm es als selbstverständlich hin, diese Männer und diese eine Frau so misshandelt zu sehen. Ich sah zu Ray und Lucien auf, als sich der Grauäugige im Gehen gerade zu dem anderen beugte, um etwas gezischt zu flüstern. Doch nach ein paar Silben erkannte ich, dass er nicht zischte, sondern, dass es jene kehlige Sprache war, die ich sie habe reden hören während meiner Verwandlung. Doch diesmal verstand ich einzelne Fetzen: „ … warten im nächsten Korridor … Mylord … Liam … Adrian und Serena besorgt wegen … Alice’ Eltern auf dem Weg … Arkan im Thronsaal …“

„Was für ein Thronsaal?“, rutschte es mir raus. Ich verdrehte die Augen, doch da das schon draußen war, konnte ich auch gleich weiter machen. „Und wer ist Mylord? Und was ist mit meinen Eltern? Warum sind sie auf dem Weg? Und wer zur Hölle ist Arkan?“ Ich hob eine Braue. Ray und Lucien sahen mich erstaunt an.

„Du hast uns verstanden?“

Ich zuckte die Schultern. „Ein paar Fetzen. Also, was ist jetzt los?“

„Das wirst du später erfahren.“ Lucien zog mich mit sich, doch mir entging sein verwirrter und verwunderter Gesichtsausdruck nicht. Wir bogen ein paar Mal ab. Die Gänge waren schmal und nur einzeln mit fast runter gebrannten Fackeln erhellt. Die Wände schienen nur aus aufeinander gestapelten Steinen zu bestehen. Ich runzelte die Stirn. Sollte das ein Scherz sein?

Als wir gerade um die achte Biegung gingen wurde ich von zwei Paar Armen gepackt. Ich schrie auf und wollte auf einem Reflex heraus schon nach den Dolchen greifen, als ich den Duft von Leder und Sonnenuntergang wahrnahm.

„Liam!“ Lachend sprang ich dem Blonden, ebenfall in schwarzes Leder gekleidet, an den Hals. Auch er legte die Arme um mich, wirbelte mich einmal herum. Kurz darauf wurde ich von Seren stürmisch umarmt.

„Oh Gott! Es geht dir gut! Ich hab mir unglaubliche Sorgen um dich gemacht! Du hast keine Ahnung! Ich …“

Luciens Räuspern unterbrach sie. Auch die anderen, Ray, Adrian und Liam, wandten sich ihm zu. Er hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit aller. Lucien richtete sich auf, reckte das Kinn, doch ich sah, wie müde und geschwächt er von dem Silber noch war. Unwillkürlich trat ich vor, nahm seine Hand. Etwas blitzte in seinen dunklen Augen auf, verschwand wieder. Er zog mich an seine Seite, richtete den Blick wieder auf die anderen.

„Ihr wisst, dass Arkan uns im Thronsaal seiner hier erbauten Burg erwartet.“ Ein abfälliges Lächeln erschien auf seinem Gesicht und ich glaubte seine Gedanken zu hören: Ist das nicht vollkommen lächerlich? „Ich habe keine Ahnung, was er von uns will, doch er ist nicht unser einziges Problem.“

Auf den Gesichtern seiner Zuhörer erschien etwas, was Unmut am nächsten kam. Ray nickte nur grimmig und Lucien fuhr fort.

„Wie ihr ja alle wisst, sind Alice’ Eltern Vampirjäger. Schon seit Jahrhunderten jagen ihre Familien uns und löschen uns aus. Sie stammen vom mächtigsten Geschlecht der Jäger und sind nun hier,  um ihre Tochter …“ Er sah mich an, schaute schnell wieder weg. „zurückzuverwandeln.“

Ich zuckte zusammen und sog scharf die Luft ein. Nun lagen aller Blicke auf mir. „Zu-zurückverwandeln?“ Das ging? Ich sah zu den Jungs auf. Ray war kühl, wie immer, Adrian betrachtete mich eingehend, Liam blickte wehmütig und Lucien mied meinen Blick. „Aber ich will nicht.“, brachte ich hervor, fasste Luciens Hand fester. Nein, ich wollte nicht zurückverwandelt werden! Kein Mensch sein! Ich wollte bei Lucien sein, bei Liam und den anderen. Lucien sah mich überrascht an. Hatte er wirklich gedacht, ich würde meine Eltern alles mit mir machen lassen? Ich schüttelte den Kopf, sodass meine langen Haare herumwirbelten. Mir wurde bewusst, dass sie wohl zu schwer waren, was mich wohl hindern könnte. Ich sah zu Serena, die ihr blondes Haar geflochten und einmal umgewickelt hatte. Sie bemerkte meinen Blick und löste ein paar Klammern und ein Gummi aus ihren Locken und hatte mir mit ein paar Handgriffen die gleiche Frisur gezaubert. Verwundert sah ich sie an.

„Äh, danke.“, murmelte ich. Dann legte ich den Kopf schief und musterte alle. „Sollten wir nicht gehen?“

„Alice, du musst …“, begann Lucien, doch ich schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.

„Kscht! Ich muss gar nichts, mein Lieber. Außer vielleicht ein Reh aussaugen oder so und dir helfen, nicht von meinen Eltern ermordet zu werden. Himmel, das hört sich an, als wärest du mein Liebhaber, den ich im Schrank verstecken muss. Aber bist du das nicht? Ich meine, nur ohne den Schrank. Aber ich muss sagen, du bist gut darin. Zumindest glaub ich das, weil an das erste Mal kann ich mich ja gar nicht erinnern, wegen diesem dämlichen Schatten oder was das war …“ Während ich weiterplapperte schob Lucien mich die Gänge entlang. Ich glaubte, Röte auf seinem Gesicht zu sehen, doch das konnte ich mir ebenso gut einbilden, angesichts des Durstes, der in meiner Kehle brannte wie Höllenfeuer. Liam und Ray prusteten los, während die Zwillinge grinsten wie Paris Hilton, wenn sie Klatsch und Tratsch witterte.

„Sie braucht Blut.“, flüsterte Ray, doch ich hörte es.

„Sag ich doch!“ Ich wandte mich im Gehen um. „Aber wehe du gibst mir wieder so ein Ding, das mich flachlegt! Ich schwöre dir bei Gott, an den ich nicht glaube, dass …“

„Scht!“ Er legte mir eine Hand über den Mund und schien zu lauschen. Dann hörte ich es auch. Stimmen, die sich gedämpft unterhielten. Adrian spähte um die Ecke, während wir anderen uns an die Wand drückten. Lucien wandte sich zu Ray, raunte etwas in seiner Sprache. Ray nickte und verschwand. Kurz darauf erschien er wieder und warf jedem einen Haufen Klamotten hin. Als er nur noch etwas, was wohl für eine Frau gedacht war, und etwas Schlabberiges in der Hand hielt, sah er von mir zu Serena. Dann zuckte er die Schultern und warf der Blonden die Frauenklamotten hin. Ich erkannte die Uniform der Soldaten, die in dem vor Luciens und meiner Zelle lagen. Ich sah auf, als etwas unter meiner Nase erschien.

„Was ist das?“, zischte ich. Ray zuckte abermals die Schultern, forderte mich stumm auf, die Fetzen anzuziehen. Grummelnd kam ich seinem Befehl nach.

                                                                        

 

~*~

 

 

Stumm starrte er sie an, während sie an den braunen Lumpen rumfummelten, die sie jetzt trug. Einige würden sie jetzt wahrscheinlich abweisen, doch auf ihn wirkte sie nur umso anziehender. Wie wunderschön sie war!

Er wusste nicht recht, wieso Ray sie die Gefangene spielen lassen wollte, doch eigentlich wunderte es ihn nicht, denn er war sich der Gefühle zwischen ihm und Serena bewusst. Zudem war Alice eine gute Schauspielerin und so war es letztendlich doch egal, in welche Rolle sie schlüpfte, auch wenn sie sich an der Kleiderwahl nicht wirklich zu erfreuen schien. 

Kapitel 8: Blutige Begegnung

„He! Was wollt ihr?“, bellte einer der Wachen. Ich zuckte leicht zusammen. Was, wenn das hier schief ging? Wenn sie uns nicht durchließen? Dann würden Ray und Liam diese Baumstämme von Soldaten wohl mit Freuden zusammenschlagen. Aber wieso taten sie das nicht gleich? Wäre doch viel einfacher. Aber nein, wozu einfach, wenns auch kompliziert ging.

„Wir sollen diesen Gefangenen zu Meister Arkan bringen.“ Lucien sprach mit dunkler Stimme, doch ich hörte ihm an, wie wenig er davon hielt, diesen Arkan Meister zu nennen. Vorsichtig lugte ich unter meiner Kapuze hervor, wollte den Kopf heben, doch sogleich spürte ich Adrians festen Griff um meine Handgelenke. Ich zuckte zusammen und tat so, als würde ich mich in dem Griff des Blonden winden. Was mir nicht schwer fiel, da seine Berührung tatsächlich ein wenig unangenehm war. Lag wohl daran, dass er mir fast das frische Blut, das durch meine Adern floss, abquetschte. Lucien hatte mir eine Phiole mit Rehblut gegeben. Ich wusste nicht, woher er es gehabt hatte, noch weshalb die Wachen auf den Geruch von Blut nicht reagiert hatten. Aber nachdem ich mich genauer umgesehen hatte, war ich zu dem Schluss gekommen, dass es hier unten wohl nicht unüblich war, Blut wahrzunehmen. Eine Wache – eine Frau – schnaubte.

„Zu so vielen? Das ist doch nur ein halbwüchsiges Etwas.“ Die Frau gab ein kehliges Lachen von sich. Ich keuchte, begehrte kurz auf. Das würde definitiv schief gehen!

Doch Adrians Griff erinnerte mich wieder an meine Rolle als geschwächter Gefangener. Sogar Liam legte mir eine Hand auf die Schulter. Auf die Soldaten musste es wohl wirken, als würde er versuchen, mich zu bändigen. Doch mich beruhigte die Anwesenheit meines Freundes.

„Meister Arkan hat uns alle geschickt, denn er hier …“ Lucien packte mich am Arm. „Soll ziemlich aufsässig sein … Wir musste ihn mit Wölfinnenblut schwächen.“ So glatt ging ihm die Lüge über die Lippen. Nur bei wirklich genauerem Hinhören bemerkte man den sanften, zärtlichen Unterton.

„Aber ich glaube kaum, dass …“, begann eine andere Stimme, wurde von einem dumpfen Knurren unterbrochen. Neben mir bewegte sich etwas. Ich schielte rüber. Ray hatte sich aufgerichtet und starrte die Wachen hasserfüllt an.

„Wollt ihr wirklich die Befehle von Meister Arkan in Frage stellen?“, zischte er und beinahe glaubte ich , er stünde auf deren Seite, doch so war es nicht. Ich wusste es. Spürte es. Die Frau stieß zischend die Luft aus, dann grummelte sie etwas und Adrian stieß mich vor sich her. Ich wusste, er gehörte dazu, dennoch war ich nicht darauf vorbereitet gewesen und stolperte. Lucien fasste mich am Unterarm, führte mich vorwärts. Würde ich es dürfen, ich hätte ihn dankbar angelächelt.

Als sich die Tür hinter uns schloss umfing uns dämmriges Licht. Ich musste meine Augen zusammenkneifen, um etwas zu sehen. Adrian lockerte seinen Griff ein wenig und ich durfte mich aufrichten, als wir außer Hörweite waren, gab er mich ganz frei. Brummelnd ließ ich meine Schultern kreisen, um sie wieder ein wenig zu lockern. Ich seufzte.

„Schon viel besser. Also, wie geht’s weiter?“ Erwartungsvoll sah ich die Truppe an. Lucien schüttelte den Kopf.

„Wir müssen zu Arkan. Aber wir wissen nicht, wo der Thronsaal ist. Also müssen wir es wohl auf gut Glück versuchen. Wahrscheinlich ist diese Burg hier so ähnlich aufgebaut, wie unsere in Schottland …“

Ich hob die Brauen, unterbrach ihn somit. „Burgen? In Schottland? Äh, Verzeihung, aber …“

Liams schmerzerfüllter Aufschrei ließ mich abrupt verstummen. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie der Blondschopf mit einem Stöhnen in die Knie brach. Auch Ray sackte zusammen. Serena gab einen erschrockenen Laut von sich und kauerte sich neben den Dunkelhaarigen. Der Rest von uns wirbelte überrascht herum. Ich konnte zuerst nichts im Schatten der dämmrigen Dunkelheit erkenne, doch Lucien schob mich hinter sich, wich zischend zurück. Erst da sah ich die zwei Gestalten, gehüllt in dunkle Mäntel. In der linken Hand des einen erkannte ich etwas längliches, spitzes. Ich fuhr zurück. Ein Pflock! Die Kerle waren Vampirjäger!

Mir entwich ein erschrockenes „Oh mein Gott“, doch viel brachte es nicht. Der eine stürzte sich bereits auf Adrian, der geschickte abblockte. Der andere, der mit dem Pflock, sah zwischen mir und Lucien hin und her, der mich immer weiter nach hinten drängte. Ein gehässiges Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht ab.

„Es ist also wahr, Alice.“, sprach er mit rauer, ruhiger Stimme, tat einen Schritt auf uns zu. Verständnislos schüttelte er den Kopf. „Du kannst sie nicht verstecken, Prinz, glaub mir. Das ist vergebene Liebesmüh.“ Er lachte. Spöttisch und kalt. Ich zuckte zusammen. Prinz? Ich sah zu Lucien auf, der die Kiefer angespannt aufeinander presste. Doch der Jäger fuhr fort, wieder sanft, an mich gewandt. „Was ist nur passiert, Kind? Du riechst so abscheulich! So vampirisch.“

Ich zog die Brauen zusammen. „Das liegt daran, dass ich …“, setzte ich an, doch Lucien fuhr mir dazwischen.

„Lass sie in Ruhe, Mensch! Leg dich mit mir an, wenn du gegen einen Vampir kämpfen willst!“, fauchte er mit einem unmenschlichen, gutturalen Knurren im Brustkorb. Erschrocken wich ich zurück. Lucien hatte die Oberlippe weit zurückgezogen. Seine Fänge waren lang, kräftig und spitz. Doch das war es nicht, was mich so schockierte. Sein gesamtes Gesicht war es. Es war nicht mehr so anmutig und ebenmäßig, wie ich es sonst sah. Es glich mehr der Fratze eines aufgebrachten Wolfes, seine Augen waren nur noch schmale Schlitze, die bernsteinfarben glommen. Fast automatisch legte ich ihm die Hand auf den Arm, versuchte ihn zu beruhigen.

„Nicht, bitte.“, flüsterte ich, doch er schien mich nicht wahrzunehmen. Sein Blick war auf den Jäger konzentriert, der jetzt amüsiert grinste und die Schultern zuckte.

„Für mein Leben gern.“, sagte dieser. Mit einem abermaligen wilden Knurren riss Lucien sich von mir los, stürzte sich auf ihn. Hektisch sah ich von ihm zu Adrian, der immer noch dem anderen, etwas untersetzteren Jäger rang. Dann fiel mein Blick auf Serena, die Rays Kopf in ihrem Schoß hielt und diesem immer und immer wieder durch das dunkle Haar strich. Ihr Blick war starr auf einen Holzpflock gerichtet. Ich sah zu Liam, dem ein solches Ding aus der Seite ragte. Ich ließ mich neben ihn fallen. Ein Blick auf die zwei Heerführer bestätigte mir, dass diese wohl klar kamen.

„Serena, du musst das Ding rausziehen.“, zischte ich. Sie schüttelte schwach den Kopf.

„Ich kann nicht.“, wisperte sie mit erstickter Stimme zurück.

„Du musst! Mach schon! Die Wunde kann sich nicht schließen!“ Verdammt, was war die denn so zimperlich? Ich schüttelte den Kopf und beugte mich über Liam, der meine Hand genommen hatte und mit einem schwachen Glimmen in den Augen zu mir hochsah. „Scht!“ Ich strich ihm beruhigend über den Kopf. „Ich mach das schon.“

Er schloss die Augen und entspannte sich. Eine stumme Zustimmung. Also packte ich das hölzerne Ende und atmete kurz durch. Tief in mir fragte ich mich, wie ich das alles so ruhig aushalten konnte. Es war der totale Wahnsinn, ich war mittendrin und empfand es als normal. Und nur wie aus weiter Ferne nahm ich das dumpfe Stöhne von Liam wahr, als ich wieder ‚zu mir kam’. Neben mir lag Ray noch immer reglos und Serena wimmerte vor sich hin. Augen verdrehend krabbelte ich zu ihr hinüber und hockte mich neben ihren Verlobten.

„Wie alt bist du, Serena?“, zischte ich.

„Dreihundertachtzig.“ Sie wirkte, als wäre sie vollkommen damit beschäftigt, nicht in Panik zu fallen. Ich war verwundert. Sie war älter als ich – Jahrhunderte älter – und hatte mit Panik zu kämpfen? Sie musste in Zeiten aufgewachsen sein, wo alles noch viel schlimmer gewesen war. Sie müsste viel mehr gesehen und erlebt haben. Ich seufzte.

„Siehst du. Ich bin siebzehn. Na gut, fast achtzehn, aber trotzdem solltest du doch dem armen Ray dieses Ding rausziehen können.“ Ich machte es ihr quasi vor und zog das Holz wie zuvor bei Liam mit einem Ruck heraus. Serena gab ein ersticktes Quietschen von sich, als Ray zusammenzuckte. Abermals verdrehte ich die Augen. „Also bitte! Wenigstens bewegt er sich wieder.“ Allerdings zuckte auch ich zusammen, als ein unwiderstehlicher Duft in meine Nase strömte. Blut. Ich wandte den Kopf und sah, wie Lucien die  Zähne in den Hals des einen Jägers schlug. Sofort flogen auch die Köpfe aller anderen herum. Besonders Liam und Ray sahen hungrig aus. Aber anstatt das Gesicht vor Schmerzen zu verzerren, lächelte der Jäger liebevoll und deutete hinter mich. Ich wirbelte herum. Das Letzte, was ich sah, war ein nur allzu bekanntes Gesicht.

 

„Alice? Alice?“ Eine vertraute Frauenstimme an meinem Ohr weckte mich. Doch ich konnte mich nicht bewegen. Irgendwas stach unangenehm in meinen Handrücken. „Gut. Sie schläft. Ach, mein armes Kind. Wie sehr ich dich vermisst habe … Es tut mir so leid, was passiert ist.“ Die Frauenstimme sprach italienisch. Zwischendurch wurde sie von Schluchzern unterbrochen.

„Es ist gut, Schatz. Es war ein Unfall. Und nur Morgan war schuld. Hörst du?“ Eine andere vertraute Stimme. Eine Männerstimme.

Unfall … Morgan …  Es hatte mit mir zu tun … Aber was? Hatte es mit mir zu tun?

„Morgan … Wer ist … Was für ein Unfall?“, brachte ich heraus. Ich fühlte mich so verdammt schwach. Und was war das für ein Piepen, das die ganze Zeit durch den Raum klang? Es war furchtbar nervtötend. Und es machte mich nervös.

„Alice, du bist wach!“ Zwei Hände legten sich um mein Gesicht. „Oh, mein Baby, es tut mir so leid. Das alles hätte niemals passieren dürfen.“

Mühsam brachte ich meine Lider dazu, sich zu heben. Grelles Licht blendete mich und ich schloss sie sofort wieder. Ein Stöhnen entrang sich mir. „Was hätte nie passieren sollen? – Ich hab Durst.“

Die Frauenstimme schluchzte schon wieder auf. Woher kannte ich sie nur … Warum kam sie mir so bekannt vor?

„Mom?“

„Ja, mein Schatz. Keine Angst, bald wirst du diesen Durst nicht mehr haben. Es wird alles gut. Hörst du, alles wird gut. Du wirst wieder …“

Schlagartig kam alles wieder. Ich setzte mich ruckartig auf. Übelkeit überkam mich, schlug mit voller Wucht auf meinen Magen ein. Hastig schlug ich die Hand vor den Mund, beugte mich zur Seite und würgte. „Nein!“, stieß ich hervor, als ich mir den Mund abgewischt hatte. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, warum ich mich schon wieder übergeben musste. Ich sah mich um. Überall waren irgendwelche piependen Geräte. Alles wirkte schrecklich sterilisiert. Sauber. Kalt. Grausam. Schläuche schlängelten sich über den grauen Betonboden. Rohre waren an den Wänden. Und um mich herum lagen Zangen und andere spitze und scharfe Dinge. Und in Mitten all dem standen meine Eltern. Mein Vater, großgewachsen wie er war. Sein braunes Haar reichte ihm fast bis zu den Schultern. Seine Haut war olivfarben, wie ich sie in Erinnerung hatte und seine dunkelbraunen Augen blickten kühl und voller Abscheu. Neben ihm stand meine Mutter. Sie war zierlich und hatte ihr hellblondes Haar zu einem hohen Pferdeschwanz zurückgebunden. Ihre Haut war hell. Cremefarben. Tränen liefen ihr über die Wangen, die Hände hatte sie vor den Mund gepresst. Beide waren zurückgewichen, als ich mich aufgesetzt hatte.

„Nein.“, wiederholte ich. „Ich will kein Mensch sein! Nein!“

Mein Vater schüttelte missbilligend den Kopf, trat auf mich zu. Die Abscheu war aus seinen Augen verschwunden. Mitleid spiegelte sich in ihnen. Sanft streichelte er meine Wange. „Du solltest dich einmal selbst anhören. Was dieses Monster aus dir gemacht hat.“ Abermals schüttelte er den Kopf.

„Welches Monster? U-Und was meintet ihr mit diesem Unfall? Und Morgan? Und was … Nein, lass mich! Ich will nicht.“ Ich schüttelte die Hände meines Vaters ab.

„Welches Monster, fragst du? Ich meine den Prinzen. Lucien. Wen denn sonst? Wer hat dich denn sonst verwandelt?“

Prinz? „Nein, das stimmt nicht, er wollte nicht …“

Mein Vater unterbrach mich mit einer ruppigen Geste, sah mich wieder voller Abscheu an. Doch die legte sich wieder. „Du bist verwirrt. Was du alles durchmachen musstest. Schließlich hast du dir sogar eingeredet, dass du ihn magst. Dass er für all das hier nichts kann. Dass er dir gar nicht wehtun wollte. Er ist ein Tier, Alice. Eine Bestie. Er hat es nicht verdient zu leben. Und wir wollen nicht, dass auch du so wirst. Also komm, leg dich hin. Lass mich …“

„Nein!“ Wieder schüttelte ich seine großen Hände ab. Noch nie waren mir seine Berührungen so unangenehm gewesen. Hilfesuchend sah ich zu meiner Mutter hin. „Mom, bitte … Ihr denkt viel zu falsch von ihm. Von uns. Lass mich los! Mom!“

Zitternd kam sie näher, drängte meinen Vater von mir weg und nahm meine Hände. „Alice … Ich muss dir etwas sagen … Alessio ist nicht dein Vater …“

Verständnislos starrte ich sie an. „Wie bitte?“

Sie nickte und fuhr fort. „Dein Vater ist Ein Vampir namens Morgan. Er …“

„Ein Vampir?“ Ich fuhr ihr dazwischen, konnte nicht glauben, was sie mir hier erzählte.

„Ja, ein Vampir. Ich hab ihn in Schottland kennengelernt. Damals wusste ich noch nichts von all dem … Von den ganzen Mythen. Er war so gutaussehend, so freundlich, so charmant. Ich hatte mich sofort in ihn verliebt. Er war einfach wundervoll. Und dann … kamst du und ich war … ich war so glücklich. Doch er hatte mir nie etwas von sich erzählt. Wo er herkam, wie alt er war, was seine Lieblingsspeise war. Er trank immer nur dieses rote Zeug. Meine älteren Geschwister haben mich ständig vor ihm gewarnt. Sie haben gesagt, er sei nicht gut für mich. Aber das war mir egal. Ich schwebte vollkommen auf Wolke sieben. Bis ich einmal mitbekommen hatte, wie er die Beherrschung verloren hat und einen Menschen getötet hat. Seine Eckzähne waren so lang und spitz. Ich konnte es erst nicht glauben, hatte ich diese Fangzähne doch vorher nie bemerkt. Aber er war ein Vampir. Ist es immer noch. Und du …“

„Moment, also das bedeutet, dass ich ein Halbvampir bin?“ Das war doch totaler Unsinn, was sie da erzählte. Das war unmöglich. Liam hatte mir erzählt, dass Menschen und Vampire keine Kinder haben konnten. Und das mit so einem dreckigen Kleinen-Jungen-Lächeln.

„Ja. Du warst es. Nachdem du anderen Vampiren so nah gekommen bist, vor allem einem Prinzen, wurdest du ein voller Vampir. Du hast doch so einen Schatten bemerkt bei deiner Verwandlung? - Das war der Schatten der dunklen Kriegerin. Aber das wird bald nur eine böse Erinnerung sein. Ich verspreche es dir. Alles wird wieder gut, du musst nur …“

Ich schüttelte den Kopf, würgte ein hysterisches Lachen hinunter. „Alles wird wieder gut? Denkst du, nachdem ich erfahren habe, dass ihr Vampirjäger seid, dass der da …“ Ich wies auf Alessio. „… gar nicht mein Vater ist. Nachdem ich zu einem Vampir geworden bin und so viel Wichtiges erfahren habe. Denkst du wirklich, dass alles wieder so sein wird wie früher?“

Traurig, voller Wehmut blickten mich die großen blauen Augen meiner Mutter an, die mir einmal so vertraut gewesen waren. Nun waren sie die einer vertrauten Fremden. Ihre Unterlippe zitterte. Ihr zartes Gesicht spiegelte pure Verzweiflung wider, während ihre Hände unablässig die meinen streichelten. „Alice … Ich will dir nicht wehtun. Bitte. Lass uns dir helfen. Sieh doch. Als Mensch wirst du nicht von solch einem schrecklichen Durst geplagt. Du musst nicht auf Ewig durch die Welt wandeln, auf der Suche nach etwas, was dich am Leben erhalten könnte, bis du völlig dem Wahnsinn verfällst. Wenn du uns nur machen lässt, wirst du wieder mit uns nach Italien kommen können. Du wirst wieder dort in die Schule gehen. Deine Freundinnen sorgen sich um dich, sie würden sich unglaublich freuen, dich wieder zu sehen. Du wirst glücklich leben, ohne Blut und …“

„Nein.“ Ich war erstaunt, wie ruhig und gefasst meine Stimme klang, obwohl in mir ein stürmischer Aufruhr herrschte. „Nein, ich werde nicht mit nach Italien kommen. Vergesst es. Vergesst mich. Ich werde jetzt nämlich hier raus gehen, Lucien suchen und ihm helfen, nicht von so einem widerwärtigen Verräter aufgespießt zu werden. Also …“ Mit einem Ruck zog ich die ganzen Infusionsnadeln raus, schwang die Beine über die Kante der Metallplatte. „Lebt wohl. Mom … Ich hab dich wirklich lieb, aber … Du musst mich gehen lassen. Vielleicht sehen wir uns irgendwann wieder.“ Und damit wollte ich aufstehen, doch Alessio war schneller bei mir, als ich registrieren konnte. Grob packte er mein Handgelenk, riss mich zurück.

„Leg dich hin.“ Er brüllte schon fast, als er mich auf den OP-Tisch niederdrückte. Verzweifelt kämpfte ich gegen ihn an, doch erstaunlicher Weise brachte es nichts. Er hatte fast keine Mühe, mich festzuhalten, trotz meiner neuen abnormalen Kräfte. „Wir haben versucht, nett zu dir zu sein, Alice. Wir haben versucht, dich vernünftig zu machen, doch du wolltest nicht hören. Wir werde dir also wehtun müssen, wenn du nicht mitmachst, denn wir werden nicht zulassen, dass du als blutsaugendes Monster endest! Und jetzt liegt still!“

Vollkommen geschockt von seiner brutalen Art sah ich zu meiner Mutter hinüber, die schnell den Blick senkte, als ich sie erblickte. „Mom! Das könnt ihr nicht machen. Sag es ihm. Mom! Du liebst mich doch! Hilf mir!“ Abermals versuchte ich mich aufzubäumen, während Alessio meine Hand- und Fußgelenke festband. Fast unmerklich schüttelte sie den Kopf.

„Ich hab gesagt, ich will dir nicht wehtun. Aber du … du lässt uns keine Wahl.“

„Nein!“ Wütend und enttäuscht schmiss ich den Kopf hin und her, schrie mir die Seele aus dem Leib, versuchte nach den Händen meines Ex-Vaters zu schnappen, doch all das brachte nichts. Er schenkte mir nicht mal mehr weiter Beachtung, während er umständlich versuchte, mir die Lumpen auszuziehen, die ich noch anhatte. Darunter hatte ich noch die schwarzen Klamotten mit den Messern. Auch an diesen zerrte er, bis ich nur noch im schwarzen BH dalag. Müde von einem Kampf, den ich nicht gewinnen konnte, ließ ich den Kopf sinken, presste die Lippen aufeinander und versuchte die Tränen zurückzuhalten. Doch natürlich verlor ich auch diesmal. Heiß rannen sie mir die Wangen hinunter, tropften auf das Metall. Das Geräusch klang unnatürlich laut neben meinen Ohren. Erst als ich irgendwann meine Schluchzer wahrnahm, begriff ich, dass meine Eltern vollkommen still waren. Vorsichtig hob ich den Kopf.

Wie betäubt standen die beiden da, rührten sich nicht. Die Hände von Alessio waren mitten in der Luft stehengeblieben und zitterten. Seine dunklen Augen waren starr auf meinen Bauch gerichtet. Auch Moms Miene war schockgefroren. Ihr glasiger Blick war auf die gleiche Stelle gerichtet. Augenblicklich wand ich mich in den Fesseln, die mich an den Tisch banden. Ich wollte nichts mehr, als meine Arme um meine Mitte zu schlingen und meinen Bauch vor den Blicken zu schützen.

„Unmöglich.“, hörte ich Alessio wispern. Vorsichtig strich er mit den Fingerspitzen über meinen Unterleib. Wütend knurrte ich ihn an.

„Lass das!“, fauchte ich, versuchte mit den Hände irgendwie nach ihm zu kratzen, fletschte die Zähne. „Lass das, hab ich gesagt!“

Doch er schien mich nicht zu hören. Mom schüttelte ungläubig den Kopf, wiederholte immer wieder die Worte „Das darf nicht sein, das darf nicht sein“.

Es reichte mir. Ich wollte jetzt endlich wissen, warum die zwei wie besessen auf meinen Bauch starrten. Zischend hob ich den Kopf wieder an. Und verstand nicht. Es sah alles aus wie immer. Bis ich die komische Wölbung sah. Soweit ich wusste waren Vampire schlank. Immer. Und ich war auch definitiv schon schlanker gewesen, bevor Lucien mir erzählt hatte, in was ich mich verwandelte. Verwirrt runzelte ich die Stirn, dann begegnete ich Alessios Blick. In dem war jetzt nur noch ekelerregende Kälte.

„Das Ding muss verschwinden.“, zischte er und erinnerte mich an eine wütende Schlange. Bevor ich jedoch den Sinn seiner Worte verstehen konnte, hatte er eine Spritze zur Hand genommen und mir ins Fleisch geschlagen. Das Mittel, welches auch immer dort drin gewesen war, begann sofort zu wirken. Mein Körper erschlaffte, sodass mein Kopf auf der Metallplatte aufschlug und meine Sicht wurde schwarz.

                                                

 

~*~

 

 

Er wusste nicht mehr, wie er auf diese dämliche Idee gekommen war. Aus seiner Zelle rauszugehen und Lucien zu suchen war doch das Dümmste, was er hätte machen können. Sein Bruder hasste ihn. Das hatte er doch vorhin mehr als deutlich klar gemacht. Aber er musste mit ihm sprechen. Er hatte keine Ahnung, worüber. Die Tatsache, dass er seinen Zwillingsbruder nach Jahrhunderten wiedergesehen hatte, hatte ihn völlig von der Rolle geworfen. Zudem ging ihm dieses Mädchen nicht aus dem Kopf. Arkan würde dafür bezahlen, dass er sie so zugerichtet hatte!

Mitten im Gang hielt Asher inne und starrte auf die niedergeschlagenen Soldaten zu seinen Füßen. An den Wänden klebte Blut, die Tür zu Luciens Zelle stand sperrangelweit offen. Vollkommen überrascht wandte er sich wieder um, dachte nach. Sein Zwillingsbruder war verschwunden? Wie das? Und wer hatte …

Fluchend stürmte er den Korridor zurück, kam schließlich an den Wachen an, die ihn mit verengten Augen musterten. „Ihr! Habt ihr hier einen Mann durchgelassen. Sieht so aus wie ich. Mit einem Mädchen. Etwas kleiner, dunkles, langes Haar, blaue Augen.“

„Du meinst Prinz Lucien und dieses halbe Etwas? Die sind in ihrer Zelle.“, antwortete eine Frau. Asher schloss die Augen, schüttelte den Kopf.

„Habt ihr hier irgendjemand anderes durchgelassen?“, fragte er weiter. Die Frau hob leicht die Oberlippe.

„Was willst du mit dieser Information, Prinz Asher.“ Als sie sah, wie er bei seinem Titel unwillkürlich zusammenzuckte stahl sich ein gehässiges Grinsen auf ihre Züge. Doch Asher ließ sich nicht beirren. Aufgebracht packte er ihren Kragen, sofort waren die Männer in Angriffsbereitschaft, doch weiter rührten sie sich nicht.

„Ich. Muss. Es. Wissen.“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Na los! Sprich schon! Du weißt, wozu ich fähig bin.“

Schlagartig wurde die Frau weiß, schluckte krampfhaft. „Ei-ein paar Krieger haben einen Gefangenen hier durch geschleppt. Sie sollten ihn zu Meister Arkan bringen.“

Erneut fluchte der Prinz unterdrückt. „Wie viele? Sag mir wie viele es waren! Wie groß war der Gefangene?“

„F-fünf Krieger. Der Gefangene war etwa so groß.“ Sie hielt die Hand hoch, deutete ihm sein etwaiges Maß. Er ging Asher grade noch bis zur Schulter. „Und er war ziemlich schlank.“

Er stieß ein Knurren aus. So waren sie entkommen. Asher hätte wetten können, dass unter den Kriegern auch Ray und Adrian gewesen waren.

Schroff stieß er die Frau von sich, öffnete die große Tür und hastete den Gang entlang. Erst als er Stimmen hörte verlangsamte er seinen Schritt.

„Alice … verschwunden … hat Liam …“

„Verdammt … dieses Mädchen … Wo …“

„Warum niemand … hättet bemerken … Dilettanten!“, hörte er einige Stimme rufen. Er erkannte seinen Zwillingsbruder und Adrian. Vorsichtig ging er näher ran, presste sich gegen eine Säule, sah dahinter hervor und erkannte schließlich Schatten in dem Dämmerlicht. Lucien stand gerade da, den Kopf in den Nacken geworfen. Um ihn herum schlich ein etwas kleinerer Kerl mit blondem Haar. Asher hatte ihn noch nie gesehen. Adrian stand in der Nähe von Ray, der in den Armen eines Mädchens lag. Serena! Es kam ihm fast wie ein Jahrtausend her, seit er zum letzten Mal seinen Cousin und seine Cousine gesehen hatte.

„Ray hat Fieber.“, wisperte sie. Adrian sah auf sie runter.

„Das wird schon.“, murmelte er. „Wir müssen Alice finden. Hat niemand was bemerkt?“

Asher sah, wie Lucien mühsam um Beherrschung rang und tief durchatmete.

„Ich hätte nicht so reagieren dürfen.“ Seine Stimme war rau und tief und selbst von seinem Versteck aus konnte Asher das bernsteinfarbene Glimmen sehen, als sein Zwillingsbruder die Augen öffnete.

„Er hat dich provoziert. Und wahrscheinlich hatte er gewusst, dass du seit Tagen kein Blut mehr gehabt hattest. Die Phiole, die ich dir gegeben habe, hast du Alice gegeben.“ Adrian legte dem Prinzen eine Hand auf die Schulter, der schüttelte sie ab.

Asher verstand nicht, wer mit er gemeint war, aber er kapierte nun, dass diese Alice das Mädchen sein musste, das er bei Lucien gesehen hatte. Das Mädchen, das er hier nicht sehen konnte, das verschwunden war.

„Serena.“ Der kleinere Blonde sprach. „Du hast doch neben Alice gesessen. Du musst doch etwas bemerkt haben.“

Serena schüttelte den Kopf. „Nein. Ich war von dem Blut und Ray abgelenkt.“, murmelte sie. Ein wilder Schrei gemischt mit einem Knurren schallte durch den Gang. Lucien hatte die Faust gegen eine der Säulen geschlagen. Nun brach er in die Knie, atmete schwer.

„Ich Idiot. Ich verdammter Scheißidiot!“ Etwas ließ seinen Körper erzittern, während er einen Arm um die Mitte geschlungen hatte. „Wir müssen sie finden.“, keuchte er. Das Zittern wurde schlimmer. Noch bevor jemand anderes reagieren konnte war Asher bei seinem Bruder und hatte diesem einen Arm um die Mitte geschlungen und stützte ihn. Nur leicht konnte Lucien den Kopf heben und ihn benommen anstarren.

„Du“, brachte er hervor, bevor er die Lider senkte und erschlaffte. Um die Prinzen herum herrschte geschocktes Schweigen. Adrian fand seine Stimme als erstes wieder.

„A-asher? Was tust du … Ich dachte … Bist du das? Alle dachten, du seiest … Du bist doch Asher?“

Asher schmunzelte. „Natürlich, Cousin. Oder glaubst du an Geister?“

Wieder herrschte Schweigen. Nur der kleine Blonde schien nicht zu verstehen. Ray, der noch immer in Serenas Armen lag richtete sich nun mühsam auf.

„Liam, das ist Asher, der Zwillingsbruder von Lucien.“, informierte er mit rauer Stimme. Jetzt zeichnete sich Begreifen auf dem freundlichen Gesicht des Blonden aus.

„Aber sollst du nicht … Also ich meine, du bist doch …“ Verlegen schaute der Kleine mal hier hin, mal dort hin.

„Sehe ich denn tot aus? Helft mir mit Lucien. Was hat er?“

„Ich weiß es nicht.“, brachte Adrian hervor, stützte den Prinzen zusätzlich. „Er ist einfach zusammengebrochen, nachdem Serena das Blut erwähnt hat.“

Nachdenklich sah Asher auf seinen Bruder hinunter. Sein Kopf hing nach vorne, sodass sein Kinn auf seiner Brust lag. Das schwarze Haar fiel ihm ins Gesicht.

„Die Kleine … Soll mit uns … Nicht eure Angelegenheit.“

„Was wollt ihr machen?“

„… Methode entwickelt … Verwandlung … rückgängig … Brauchen nur Labor zum … Haben alles …“

Keuchend schüttelte Asher den Kopf. Was war das gewesen? Verwirrt sah er wieder auf Lucien runter. Stöhnend warf dieser den Kopf hin und her, öffnete die Augen. Sein Blick war glasig. „Eltern … Weiß wo … Nicht ganz … Haben vor … Alice … Nicht Alice!“

„Was soll das?“ Aufgebracht schlug Asher ihm mit der flachen Hand ins Gesicht, beendete somit das sinnlose Geschwafel seines Bruders. „Was war das?“

Lucien hing weiter in den Griffen der zwei Krieger, keuchte hart. Die Blicke der anderen waren neugierig und verwirrt zugleich.

„Na los! Rede schon! Was war das gewesen. Was ist mit dir los, Mann? Haben dich die paar Tage Zelle und Silberfesseln wahnsinnig gemacht?“ Wieder schlug Asher zu. Lucien gab keinen Laut von sich, hob nur den Kopf. Diesmal war sein Blick klar und unverhohlene Wut stand in ihm.

„Lasst mich los.“, zischte er, befreite sich. „Ich hab Alice gesehen. Nein, fragt gar nicht erst. Ich habe keine Ahnung, wie das kam, aber ich hab sie gesehen. Mit ihren Eltern. Wie ich schon gesagt habe, sie wollen sie zurückverwandeln.“ Luciens Blick blieb an Asher hängen. „Weißt du, wo sie sind? Sie müssen hier sein. Du kennst dich doch hier aus.“

Asher hob gleichgültig die Schultern. „Warum sollte ich dir helfen wollen?“

„Du hast mir doch gerade eben schon geholfen. Wo ist sie? Du weißt es, richtig? Natürlich weißt du es. Ich spür es.“ Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, als er näher kam und dicht vor ihm stehen blieb. „Wir sind Zwillinge. Vergessen?“, hauchte er. Asher konnte in seinem Atem unverkennbar Blut riechen, doch das war es nicht, was ihn dazu veranlasste, weg zu schauen. Es war ihm unangenehm, seinem Bruder nach all den Jahren körperlich wieder so nah zu sein. Es war ihm unangenehm, zu lügen und ihm dabei in die Augen zu sehen. Aber er hätte auch so nicht lügen können. Lucien hätte es gespürt. Wie immer.

„Ja. Ich habe ein Gespräch zwischen ihren Eltern und Arkan mitgehört. Sie haben irgendwas von einem Labor erzählt und einer Methode, sie zurückzuverwandeln.“

„Und du weißt, wo sich dieses Labor befindet?“

„Denke schon. Also ja, ich weiß wo sich die Labors befinden, aber ich weiß nicht, welches es ist.“

„Dann versuchen mir es auf gut Glück.“ Lucien wandte sich an die anderen. „Arkan kann warten, wir …“

„Nein!“, fuhr Asher dazwischen, handelte sich einen bitterbösen Blick von seinem Bruder ein. Entschlossen straffte er den Rücken. „Ich bin der Ältere, Bruder. Hier hast du nun nichts mehr zu sagen.“, zischte er, sodass nur der Betroffene es hören konnte, dann sprach er wieder lauter: „Im Moment weiß Arkan wahrscheinlich noch nicht, dass Lucien nicht mehr in seiner Zelle ist. Wir müssen ihn überraschen. Ansonsten würden wir alle unser Leben verlieren, da nur ich mich hier auskenne und Arkan ein ganzes Heer hier hat, das jeden Winkel kennt. Da ist Alice im Moment unwichtiger.“

Asher hörte, wie Lucien scharf Atem holte und fragte sich, was für eine Verbindung zwischen ihm und dem Mädchen bestand. Zuerst die Vision und nun war ihm ihr Leben wichtiger als das seiner Leute.

„Wir werden Alice nicht einfach …“

„Fein. Dann stürmt ihr Arkan und ich hole Alice.“

Lucien lachte auf. Spöttisch und kalt. „Kann ich dir denn trauen? Einfach so? Nachdem du Jahrhunderte in Arkans Dienst standest? Das glaube ich kaum. Das ist hier alles eine Falle, richtig?“

Diesmal lachte Asher. „Eine Falle? Ich bitte dich, Brüderchen. Habe ich es nötig, dir eine Falle zu stellen? Du kennst mich. Ich bin anders als du. Aber was meinst du? Habe ich die Jahre tatsächlich freiwillig in seinem Dienst gestanden? Denkst du das? Denkst du, ich hätte keine einziges Mal an Flucht gedacht?“ Oder an dich. Beinahe wäre es ihm rausgerutscht.

Lucien musterte ihn. In seinen Augen war keine Kälte, wie in seiner Stimme und Asher erkannte, dass es ihm nicht anders ergangen war. Zu gern hätte er seinen kleinen Bruder in den Arm genommen und ihm die Haare verwuschelt, wie er es früher immer getan hatte. Zu gern hätte er dann wieder gesehen, wie er sich beleidigt aus seinem Griff befreit hätte, um einen Abgang vorzutäuschen, um ihn dann aus dem Hinterhalt anzugreifen. Zu gern hätte er wieder schweißtreibende Trainingsstunden mit ihm hinter sich gebracht. Doch die Zeiten waren offensichtlich vorbei.

„Geht.“ Asher deutete mit dem Kinn den Korridor entlang. Er wusste, dass Lucien ihm vertraute, doch der zögerte. In seinen Augen war diesmal Sorge. Sorge und … Liebe. Er liebte das Mädchen tatsächlich. „Ich werde Alice da raus holen. Ihr wird nichts passieren. Dann bringe ich sie ganz raus, während ihr Arkan und die Soldaten ablenkt. Sie wird unversehrt frei kommen. Du hast mein Wort.“

Widerwillig nickte er und verschwand mit den anderen, während Asher eine andere Richtung einschlug und das Labor suchte. 

Kapitel 9: Schwert und Fleisch

Nur wie aus weiter Ferne nahm ich die Geräusche war. So etwas wie das Kreischen von Stahl auf Stahl klang durch den Raum. Rufe. Verzweifelte Schreie. Ich verstand kein Wort, nahm nur die Geräusche wahr. Mit der Zeit wurden sie immer lauter. Ich verstand einzelne Wörter, doch ich konnte nicht sagen, was sie bedeuteten. Zwischendurch hörte ich meinen Namen. Jemand rüttelte an mir, zerrte an meinem Arm. Unwillig schüttelte ich denjenigen ab. Ich war verdammt müde und wollte einfach nur weiterschlafen.

„Alice, bitte. Wir müssen hier raus.“ War das eine Frauenstimme?

„Lasst sie in Ruhe.“ Ein Brüllen. Ein wildes Knurren. Gefolgt von einem lauten Knacken. Jemand schrie. Die Frau?

„Bitte. Bitte …“ Warum winselte die Frau? Genervt hob ich die Lider, blinzelte gegen helles Licht an. Über mir stand eine dunkle Gestalt. Ich brauchte einige lange Sekunden, um mehr zu erkennen. Dunkles Haar, ein anmutiges, ebenmäßiges Gesicht, schwarze Augen. Ich lächelte.

„Lucien …“

Die Person versteifte sich kurz, dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, ich bin nicht Lucien. Lucien ist gerade anderweitig beschäftigt. Komm, ich bring dich hier raus.“ Mühelos nahm mich der Kerl auf die Arme.

„Du siehst aus wie Lucien.“, murmelte ich, berührte sein Gesicht.

„Ich bin nicht er. Wo ist … Ah!“ Er drückte mir etwas weiches in die Hände. Verwirrt erkannte ich es als ein Hemd. Mein Hemd.

„Woher …“

„Das interessiert jetzt gerade niemanden.“

Hm … Der war aber unfreundlich. So wie Lucien manchmal. „Ganz sicher, dass du nicht Lucien bist?“

„Nein, verdammt und jetzt sei still, ich muss dich hier raus bringen.“, stießt er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich runzelte die Stirn.

„Wer bist du dann?“

„Asher und jetzt sei ruhig.“

Asher … Der Name sagte mir nichts. „Danke.“, murmelte ich. „Ich weiß zwar nicht, warum, aber ich glaube, ich muss dir danken.“

Asher seufzte. „Du würdest wohl auch dann nicht still sein, wenn ich dich knebeln würde, richtig?“

Ich verstand die Frage nicht. Also stellte ich meinerseits eine. „Wo ist Lucien?“

„Bei Arkan im Thronsaal.“

Arkan. Schlagartig kam alles zurück. „Lass mich runter.“

„Vergiss es. Du wirst nicht zu ihm gehen. Du würdest ihn nur ablenken, außerdem bist du zu schwach.“ Stur ging er weiter. Verärgert sah ich zu ihm auf. Der Kerl sah wirklich aus wie Lucien. Verblüfft über die enorme Ähnlichkeit musste ich erstmal schweigen, bis ich mich wieder gefangen hatte.

„Ich muss zu ihm!“

„Du musst hier raus. Weil ich deinem Lucien versprochen habe, dass du unversehrt freikommst. Also sei jetzt bitte still, sonst verrätst du uns und dann ist niemandem mehr zu helfen.“

„Sturkopf.“, zischte ich. „Penetranter Sturkopf.“

Asher schüttelte missbilligend den Kopf, doch ich sah ein kleines Lächeln in seinen Mundwinkeln zucken. Seufzend warf ich den Kopf zurück, ließ mich noch ein kleines Stück weit tragen, bis ich glaubte, meinen Beinen wieder trauen zu können.

„Dann lass mich wenigstens alleine gehen.“

Misstrauisch sah er auf mich runter, verengte die Augen. „Vergiss es. Du wirst nicht wegrennen.“

Der Kerl war mir eindeutig zu schlau. Und offensichtlich konnte ich ihn nicht so um den Finger wickeln wie Lucien. Tja. So konnte man sich täuschen. Abermals seufzte ich. Wie kam ich von ihm los?

                         

 

~*~

 

 

Mit einem unterdrückten Fluch fuhr er herum und erstarrte. Eine zierliche Person schob sich an ihm vorbei, so dicht, dass ihr dichtes, dunkles Haar seine Nase streifte. Als wäre es das selbstverständlichste der Welt nahm sie den Platz an seiner Rechten ein. Gleich darauf kam ein hochgewachsener dunkelhaariger Kerl hinterher gehastet. Verblüfft hob Lucien die Brauen, war zu nichts weiter fähig, als zwischen Asher und Alice hin und er zu sehen. Keuchend kam sein Zwillingsbruder neben ihm zum Stehen.

„Dieses … Dieses … Es wollte nicht die Klappe halten! Und dann … dann … irgendwie … war weg …“, brachte er hervor, sichtlich überrumpelt. „Sie ist schnell!“

Lucien konnte ein Grinsen nicht verbergen. Ja, das sah Alice ähnlich. Die drehte sich gerade zischend um.

Es? Wer ist hier ein Es?“ Mit gefährlich verengten blauen Augen funkelte sie den älteren Prinzen an. Lucien trat auf sie zu, nahm sie in den Arm.

„Schscht … Niemand ist ein Es. Du hast nur meinen lieben Bruder ein wenig aus der Fassung gebracht.“ Über ihre Schulter hinweg traf Asher ein tadelnder Blick. Alice beugte sich leicht nach hinten.

„Bruder? Ach! Deshalb! Ich hatte ihn anfangs mit dir verwechselt. Vor allem wegen dieser Unfreundlichkeit …“

Lucien stieß etwas aus, von dem er auch nicht recht wusste, ob es ein Schnauben oder ein Lachen war. Dennoch konnte er nicht umhin die Nase in ihrem seidigen Haar zu vergraben. „Ich liebe dich.“, flüsterte er und spürte, wie sie lächelte.

„Was tändelt ihr hier so rum?“, fuhr Adrian dazwischen. „Kommt schon!“ Er verschwand um eine Ecke. Widerwillig ließ Lucien sein Mädchen los. Sein Mädchen? Sie war kein Ding, das man besitzen konnte! Kopfschüttelnd wandte er sich von ihr ab und an Ray, der keuchend an der Wand lehnte.

„Alles in Ordnung? Sonst …“

Abrupt schüttelte der Grauäugige den Kopf. „Alles bestens.“ Seine Stimme klang erstickt. Mit gerunzelter Stirn folgte Lucien einer Schweißperle, die sich von seiner Stirn den Weg abwärts suchte.

„So sieht das aber nicht aus, mein Lieber. Sei kein Dummkopf!“

Heftig stieß er sich von der Wand ab. „Ich kann stehen und laufen! Was erwartest du denn noch? Dass ich im Kreis …“

„Kannst du ein Schwert führen? Sieht nicht so aus. Kannst du, wenn nötig, mit schnellen Bewegungen ausweichen, ehe sich das Schwert eines Gegners in dich bohrt? Wohl kaum. Ich denke, du solltest mit Alice und Serena hierbleiben.“

„Das ist nicht fair!“, meldete sich Alice dazwischen. „Nur weil wir Frauen sind müssen wir hierbleiben? Dann seid ihr ja nur noch zu viert! Wie gedenkst du, das so zu schaffen, was auch immer ihr vorhabt?“

Er fragte sich, was ihre Eltern mit ihr gemacht hatten. Sie wirkte gereizt und in ihren Augen sah er eine Spur Enttäuschung. Er glaubte kaum, dass das nur an ihm und Asher liegen konnte. Verdammt, woher wussten ihre Eltern überhaupt von Alice?

Er sah auf, als Adrian mit einem Zischen wieder auftauchte und den beiden Prinzen seine Fingernägel in die Oberarme krallte. Keiner von beiden zuckte auch nur mit der Wimper.

„Ihr und euer nerviges Palaver! Wollt ihr nun kommen oder lieber von den Wachen, die hier gleich entlang spazieren,  aufgespießt werden?“ Er wirkte noch gereizter als Alice, die jetzt erhobenen Hauptes an allen vorbeischritt.

„Männer! Ständig meinen sie, sie könnten alles besser, aber wenn es an ihnen ist, etwas zu organisieren, labern sie rum, als hätten sie nichts besseres zu tun. Komm, Adrian. Serena. Liam. Wir gehen jetzt einfach. Sollen die drei hier doch an ihrem nutzlosen Geplänkel ersticken.“

Verwundert folgten die Männer ihr mit den Blicken, wie sie den Gang hinunter verschwand. Serena ließ ein gehässiges Grinsen sehen, dann folgte sie ihr. Auch Liam dackelte hinterher. Asher hob eine Braue, sah Adrian an.

„Na los! Geh schon! Weit werdet ihr nicht kommen.“

Mit einem Fauchen wandte sich der Blonde ab, packte Ray unter den Armen und schliff ihn mit. Lucien folgte mit einem Seufzen, jedoch nicht ohne einen Blick zurück zu werfen. Mit dunklen Augen, die in dem Dämmerlicht zu glühen schienen sah Asher ihnen nach. Lucien runzelte die Stirn.

„Was ist mit dir?“, fragte er. Kurz erwiderte Asher seinen Blick stumm, dann schüttelte er den Kopf.

„Ich werde hierbleiben und die Wachen ein wenig aufhalten.“, erklärte er.

„Auf keinen Fall! Na los jetzt, voran, wir haben nicht ewig Zeit.“ Lucien stapfte auf ihn zu, packte seine Schulter. Widerwillig schüttelte Asher den Griff ab, brachte einen Schritt Abstand zwischen sie.

„Ich werde hier bleiben.“ Seine Stimme klang herrisch, fest. Kein anderer hätte es jetzt gewagt, ihm zu widersprechen. Doch das hier war Luciens Zwillingsbruder. Er konnte nicht anders.

„Du. Wirst. Mitkommen.“, knurrte er. „Ich werde nicht zulassen, dass du einfach zurückbleibst. Für war hältst du mich? Vergessen, Bruder, ich bin anders als du.“ Lucien verengte die Augen, packte wieder nach ihm. Ein paar Atemzüge maßen sich die Prinzen stumm, bis ein „Lucien!“ von Alice durch die Gänge hallte. Lucien deutet den Gang hinunter.

„Jetzt komm, ehe sie noch das Gebäude zusammen schreit. Dann ist niemandem mehr zu helfen.“, meinte er kühl. Asher runzelte die Stirn.

„Du wirst mich nicht bleiben lassen.“ Es war keine Frage, also antwortete Lucien auch nicht, drehte sich nur stumm um, in der Gewissheit, dass sein älterer Bruder folgen würde.                     

 

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Texte: Cover: Copyright by Victoria MarckFiguren: Copyright by Victoria MarckText: Copyright by Victoria Marck
Tag der Veröffentlichung: 15.08.2010

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