Cover

Eins


Victoria:



Hektisch rannte ich in meinem Zimmer auf und ab. Ich zerrte aus meinen Schränken alles, was ich brauchte: mehrere Jeans, T-Shirts, Schuhe, Shorts. Aus meinem Bad holte ich Zahnbürste und Make-Up.
Heute war es endlich so weit! Meine Schwester und ich wurden abgeholt. Und unsere neuen Eltern waren sogar reich! Himmel, war ich aufgeregt.
Schnell warf ich noch Unterwäsche in meinem Koffer, dann schmiss ich den Deckel zu. Seufzend richtete ich mich auf und sah mich um. Das war es! Mein Zimmer in dem Snugly-Heim (so hieß es nicht, aber insgeheim nannte ich es so, weil es ziemlich gemütlich hier war). Es war wie immer. Das herbstliche Sonnenlicht fiel warm durch das Fenster, erhellte das Zimmer. Allerdings waren die Wände kahl, die Regale und der Schreibtisch leer. Alles, was vorher dort gehangen, gestanden oder gelegen hatte, war bereits in meinem neuen Zuhause. Ich fragte mich, ob ich all das hier vermissen würde. Klar hatte ich so einige hier erlebt, was Kinder besser niemals sehen sollten (im brutalen Sinne). Dennoch war das hier mein alltägliches Umfeld und ich hatte Freunde.
Ich schüttelte den Kopf. Daran durfte ich nicht denken. Ich hatte jetzt ein neues Heim. In einer anderen Stadt. Ich würde auf eine neue Schule gehen. Neue Freunde finden. Überhaupt ganz von vorne anfangen. Außerdem musste ich raus hier. Venus wartete bestimmt schon. Venus war meine Schwester und hieß eigentlich Elizabeth. Ich wusste nicht mehr, warum sie nur noch Venus genannt wurde. Wahrscheinlich weil sie ihren eigentlichen Namen hasste und sie mit ihren langen dunklen Haaren, den topasfarbenen Augen und der schlanken Figur wie eine Göttin aussah. Ich dagegen hatte blonde Locken, die sich meinen Rücken hinunter kringelten. Und meine Augen waren nicht topasfarben sondern grün. Manche verglichen sie des Öfteren mit denen einer Katze, ich wusste nicht wieso. Immerhin waren meine groß und blickten oft ziemlich kindlich. Zudem war ich weitaus blasser als meine Schwester.
Ich schüttelte den Kopf und fand mich in meinem Zimmer wieder. – Verzeihung, in meinem ehemaligen

Zimmer. Ein Klopfen an der Tür riss mich endgültig aus meinen Tagträumen.
„Tori! Kommst du endlich! Es sind schon alle ungeduldig.“, rief Venus und trat ein. Ich wirbelte herum und packte meinen Koffer.
„Natürlich, natürlich.“, entgegnete ich. „Bin schon da.“ Polternd folgte ich ihr die Treppe runter. Ich stellte meine Tasche neben ihre vor den Eingang und wollte ihr schon weiter hinterherlaufen, in das Büro von Mrs. Colck, als ich gerade noch so wahrnehmen konnte, wie ein Schatten auf mir zuraste. Zoey fiel mir um den Hals.
„Tori! Tori! Tori!“, rief sie und drückte mich fest an sich. Ich musste lächeln und strich ihr über den Rücken. Zoey war von Anfang an meine beste Freundin gewesen. Trotzdem sie zwei Jahre jünger war al sich. Ich würde sie schrecklich vermissen. Vor allem ihre ständigen emotionalen Ausbrüche.
„Ist doch gut, Kleine.“, sagte ich, wuschelte durch ihr kurzes, rotes Haar. „Eines Tages werden wir uns wiedersehen, da bin ich mir zu hundert Prozent sicher. Und wenn dieser Tag kommt, wirst du unglaublich reich und erfolgreich sein. Du wirst eine eigene Tierarztpraxis haben und jeden Tag Tieren helfen. Du wirst alle gesund machen können und wenn wir uns wieder finden helfe ich dir dabei.“ Sie musste ja nicht unbedingt wissen, dass ich es verabscheute, all das Blut und das Leiden der Tiere zu sehen. Zoey befreite sich aus meinen Armen, trat einen Schritt zurück und schniefte. Mit großen blauen Augen sah sie zu mir hoch.
„Meinst du?“
„Ich weiß es.“
„Aber wer beschützt mich dann vor den Großen?“
Ich lächelte sanft. „Chace. Wer sonst. Ich wette, er wird dich vor Allem beschützen.“ Oh, und wie er das tun würde. Der Junge war komplett vernarrt in Zoey.
„Victoria Blake!“, donnerte es durch die Diele. Zoey zuckte zusammen und verschwand, zum Abschied lächelnd. Ich wandte mich um und sah Venus in der Tür zu Mrs. Colcks Büro stehen. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah mich finster an. Ich hob eine Braue und musterte sie. Normalerweise brachte meine Schwester nicht so schnell aus der Ruhe. Sie musste noch aufgeregter sein als ich.
„Komme schon!“, rief ich lächelnd und trottete zu ihr rüber. Oder schlich eher. Bei meinem „enthusiastischen“ Gang schlürften die Sohlen meiner Sneakers nämlich immer so witzig über den Boden. Venus seufzte und verschwand im Büro. Ich folgte ihr und als ich den Raum betrat, trafen mich drei Blicke.
„Ah, Victoria. Ich nehme an, du hast dich noch verabschiedet.“, begann Mrs. Colck. Ich nickte und sie deutete lächelnd auf die zwei Personen, die vor ihrem Tisch saßen. „Das sind Mr. und Mrs. Wind. Deine …. Eure neuen Eltern. Oder zumindest wollen sie es werden.“
Ich trat auf die beiden zu und gab ihnen die Hand, dann setzte ich mich neben meine Schwester und musterte meine „neuen Eltern“.
Mr Wind hatte hellbraunes, an den Schläfen schon leicht gräuliches Haar und sanfte schokofarbene Augen. Er trug ein hellblauen Poloshirt und dunkle Jeans. Ich schätzte ihn auf Anfang Vierzig. Mrs Wind neben ihm hatte dunkelbraune Haare und blassgrüne Augen. Sie musterte mich skeptisch, dann Venus.
„Hey, Victoria. Darf ich Vic oder Vicky zu dir sagen? Ich bin Darren.“ Mein „Vater“ lächelte mich an. Er war mir irgendwie sofort sympathisch.
„Hallo, Darren. Nennen Sie mich Tori.“, antwortete ich und erwiderte das Lächeln.
Das folgende Gespräch bestand aus kühlen Blicken von Mrs Wind – Lillith – und solch nervigen Fragen, ob wir Drogen nahmen, irgendwie vorbestraft waren oder dergleichen.
Ich runzelte die Stirn. Das musste ein ziemlich spontaner Entschluss gewesen sein, uns zu adoptieren, wenn sie sich noch überhaupt nicht schlau gemacht hatten.
Aber warum nahmen sie überhaupt uns? Wir waren zu zweit und Mädchen wie Zoey hatten eine Familie viel nötiger als wir.
Dennoch war es nach einer halben Stunde, am Ende der Diskussion, beschlossen. Wir würden zu ihnen ziehen. Ich war komplett verwundert, dass Lillith zustimmte. – Immerhin hatte sie die ganze Zeit versucht, mich mit Blicken zu erdolchen.





Zwei


Venus:



Lillith’ Blick glitt von Tori zu mir. Ihre Blicke waren stechend. Sie traute uns nicht über den Weg.
Darren dagegen war voll nett. Wie konnten zwei Menschen solch unterschiedlicher Sorte verheiratet sein?
Ich senkte den Kopf um den Blicken meiner neuen Mutter zu entfliehen.
Ich konnte mich kaum noch an meine leiblichen Eltern erinnern. Nur an einen Sommer. Wir waren in Kalifornien gewesen. Dad hatte mich auf die Schultern genommen und mir einen riesigen Dampfer gezeigt, der gerade in einen Hafen eingefahren war. Ich wusste nicht, wie Tori das sah, aber für mich war es einer der schönsten Momente in meinem Leben gewesen.
Eine Träne rann meine Wangen hinunter. Ich wischte sie fort.
„Was ist?“, fragte Tori.
Ich schüttelte den Kopf. „Nichts. Ich bin nur froh, endlich wieder eine Familie zu haben.“
Mrs. Colck verdreht die Augen. Darrens Lächeln verschwand. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Ich schaute zu Lillith, die … Es war kaum zu glauben: Sie zeigte immer noch keine Emotionen.
„… Ja …“, sagte Darren, aber es klang gequält. Ich wollte so schnell wie möglich weg hier.
„Ich … also darf ich mich noch verabschieden?“, fragte ich vorsichtig. Darren nickte und ich rannte davon.
„Lila?“ Leise klopfte ich an ihre Tür. Nichts. „Lila?“
Die Tür sprang auf und Lila sprang mit in die Arme. „Besuchst du mich mal?“, piepste sie. Ich nickte.
„Klar.“
„Venus?“, rief Tori.
„Ich muss los.“, sagte ich.
„Vergiss mich nicht.“, rief mir das kleine Mädchen hinterher. Ich lachte sanft.
„Nein, dich vergesse ich ganz bestimmt nicht.“ Hopsend ging ich die Treppe runter und fiel über die Koffer. Ein Lachen. Lillith!
„Oh, Elizabeth. Hast du dir wehgetan?“, fragte Darren und half mir hoch. Er lachte nicht.
„Nein, nein, es geht schon. Aber nennen Sie mich Venus.“, antwortete ich. „Und ähm … danke.“
„Gerne, Venus.“, lächelte Darren. Ich wusste nicht, ob ich ihn duzen sollte, wollte aber auch nicht fragen. Und ich hoffte, sie dachten nicht, wir würden Mom und Dad nennen. Denn die konnte niemand ersetzen. Ich hoffte, das war ihnen klar.
„Schatz! Nenn sie Elizabeth. Das ist ihr Name und er passt doch viel besser. Außerdem ist es doch vollkommen lächerlich! Sich wie die Liebesgöttin zu nennen. Tss.“, sagte Lillith, die sofort erkannt hatte, dass ich meinen eigentlichen Namen hasste. Darren nickte. Ich schaute zu Tori, die schon fast vor Wut kochte. Als Darren mit dem Gepäck verschwand, war ich auch voll sauer. Nicht Lillith half mal.
„Warte, Darren, wir helfen dir.“, rief ich und dann das Unglaubliche: Lillith schien sich Notizen zu machen.
Schnell zog ich Tori zu Darren, damit auch sie half. Wir verstauten das Gepäck im Kofferraum einer … Limousine!
Dunkle Scheiben und ein Chauffeur! Wow, dachte ich nur. An dieses Leben könnte ich mich gewöhnen.
Mr und Mrs Wind setzten sich vorne hin. Und wir mussten nach hinten. Nach vorne hin war unser „Abteil“ durch eine Scheibe getrennt. Neben unseren Sitzen standen Wasserflaschen. Lillith und Darren redeten vorne. Das konnte ich sehen, hören allerdings nicht. Also begann ich mit Tori zu quatschen.
„Uuh … Ich mag Lilith nicht.“, sagte ich.
„Ich auch nicht.“, erwiderte Tori.
„Was hat sie bloß gegen uns?“
„Kein Ahnung.“
„Hast du gesehen, dass sie sich eben Notizen gemacht hat?“
„Ja, aber das macht sie schon die ganze Zeit.“
„Ehrlich?“
„Yo.“
Dann war es still. Nur von irgendwoher dudelte klassische Musik.
Wie sollte es weitergehen? Sollte ich in der neuen Schule ich selbst sein? Oder selbstbewusster? Nein, nein. Tori hielt mir doch immer wieder Vorträge darüber, ich solle mich nicht verstellen. Und sie meinte, ich wäre schon selbstbewusst genug. Allerdings konnte ich das schlecht beurteilen.
„Hey, das passt schon, Lissy.“, murmelte Tori, die meine Grübeleien bemerkt zu haben schien. In mir stiegen Tränen auf.
„Lissy?“ So hatte sie mich seit dem Tod unserer Eltern nicht mehr genannt.
„Sorry, Venus.“, sagte sie erschrocken. Ich lächelte gequält.
„Nicht schlimm.“
Die Scheibe ging runter. „Alles okay?“, fragte Darren. „Wir sind bald da.“
Mein Herz wummerte. Mein neues Zuhause.
„Du scheinst dich zu freuen, Venus.“
„Schatz …“, sagte Lillith warnend.
„Ja öhm, sorry. Elizabeth.“ Er zwinkerte mir zu. Als die Scheibe wieder oben war, lachte ich drauf los. Also, wenn das so weiterging …. Nach einer Zeit von geschätzten zehn Minuten blieb der Wagen stehen. Paar Sekunden später wurde die Tür aufgemacht. Lillith drückte uns Kleider in die Hände.
„Anziehen.“, kommandierte sie. Dann trat sie beiseite und ich seufzte enttäuscht. Das war eine Raststätte. Tori und ich gingen auf die Toilette um uns umzuziehen, welche ziemlich eklig war. Dennoch faltete ich das Kleid auseinander. Es war samtig und sah aus wie das Kleid eines Filmstars. Mrs Colck hatte uns erzählt, dass Mr uns Mrs Wind eine sehr reiche Familie waren. Aber das hatte ich nicht geglaubt.
Schnell zog ich mich um. Als ich raus kam stand Tori schon da. Sie sah bezaubernd aus. Ihre langen blonden Haare fielen über ihr seidig fallendes, grünes Kleid.
„Wow. Geil.“, sagte sie, als sie mich sah. Ich lächelte, machte eine kleine Pirouette, dann gab ich das Kompliment zurück. Gemeinsam kehrten wir zum Wagen zurück.
„Victoria, Elizabeth!“, strahlte uns Darren an. Mein hellblaues Kleid, das vom Weiten weiß schimmerte, wehte im Wind. Ich fühlte mich schön. Als wir näher kamen sagte er leise: „Tori, Venus, ihr seht bezaubernd aus.“
Und ich glaubte, ich wurde rot. Tori schien das Kompliment nicht zu berühren. Starr blickte sie an ihm vorbei, als wäre er gar nicht da.
„Herzilein.“ Das war Lillith.
„Ja, Lil.“, antwortete Darren.
„Sind die Mädchen fertig?“
„Natürlich, natürlich. Wir kommen.“
„Na endlich. Es geht weiter.“ Sie setzte sich einen breiten Hut auf und stieg ins Auto. „Na los! Wo bleibt ihr denn?“
„Na komm, Tori.“
Sie nickte fast unmerklich und folgte mir und Darren. Die Fahrt danach dauerte noch eine Stunde. Ich musste irgendwie eingeschlafen sein, denn irgendwer stieß mich an und sagte meine Namen. Ich schlug die Augen auf und fünf Minuten später blieb der Wagen stehen und die Tür wurde aufgemacht.
„Lady Elizabeth, Lady Victoria.“, begann ein Mann im schwarzen Frack. Ich musste grinsen, wollte aber aussteigen, wobei ich mit dem Fuß hängen blieb und prompt auf der Nase landete. Der Mann, vermutlich ein Butler, half mir hoch. Warum war ich nur so tollpatschig.
Auch die Winds stiegen aus und Tori und kamen aus dem Staunen nicht mehr raus. Was für eine Villa! Unbeschreiblich. Groß. Weiß. Mit Säulen rechts und links neben dem riesigen Eingang.
Darren ging rein, wir folgten ihm. Er zeigte uns das Haus, jeden Winkel, jedoch ohne ein einziges Mal zu lächeln. Als Letztes stellte er uns unsere „Oma“ vor. Darrens Mutter – zum Glück. Sie hatte einen Doppelnamen und zwar – witziger Weise: Victoria Elizabeth. Sie sagte jedoch, dass wir sie Beth nennen dürften. Sie war mir sofort sympathisch.
„Also ich würde die zwei süßen Dinger doch nicht aufs Internat schicken, Lilli.“, meinte sie und kniff Tori in die Wange. Ich glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Auch Tori sah geschockt aus. Lillith hob nur eine Braue, bedachte Tori mit einem langen Blick, in dem kurz so etwas wie Traurigkeit aufflackerte, dann wandte sie sich schwungvoll um und verschwand.
Wie bitte?

“, riefen Tori und ich aus. Beth schüttelte traurig den Kopf und brachte uns auf unser Zimmer.
Schweigend holte ich dort ein Foto von Mom, Dad, Tori und mir raus und seufzte. Paar Minuten später ließ ich mich erschöpft und enttäuscht in die Kissen auf meinem Bett fallen.




Drei


Victoria:



Blinzelnd sah ich auf das Display meines Handys, das ich in der Nacht immer unter meinem Kopfkissen hatte. Sechs Uhr! Morgens! Seufzend setzte ich mich auf und sah mich um. Vielleicht war wieder ein Vogel gegen mein Fenster geflogen. Das passierte manchmal und dann wurde ich wach. Allerdings war dieses Zimmer irgendwie größer. Durch ein großes Erkerfenster drang silbernes Mondlicht. Ich kniff die Augen zusammen, dann kam alles zurück.
Das hier war gar nicht mein Zimmer. Und es würde auch nie mein Zimmer sein! Keuchend holte ich Luft und wandte mich zu Venus. Sie schlief noch tief und atmete sanft, das dunkle Haar auf den weißen Laken verteilt. Ich seufzte, zuckte jedoch zusammen, als eine Stimme durch den Raum klang.
„Tori?“ Darren! Ich sah mich um. Er stand an der Tür.
„J-ja?“, flüsterte ich.
„Weck Venus auf. Wir sollten bald fahren.“ Seine Stimme klang niedergeschlagen.
„Fahren? Wohin?“ Ich runzelte die Stirn.
„Ich soll euch jetzt ins Internat bringen. Bevor es zu hell wird. Eure Sachen sind schon dort. Komm, weck deine Schwester auf.“ Und damit verschwand er. Ich unterdrückte einen Schluchzer. War es irgendwie möglich, seine neuen Eltern umzutauschen? Oder war es nicht irgendwie verboten, dass die neuen Eltern einen gleich ins Internat steckten? Ich schüttelte den Kopf, vertrieb die Gedanken. Sinnlos, sein Schicksal in Frage zu stellen.
Ich legte den Kopf schief. Schicksal? Wo kam das denn jetzt her?
Ich zuckte die Schultern und weckte Venus. Danach ging die eine ins Bad, während sich die andere umzog. Danach wechselten wir. Nach fünfzehn Minuten standen wir unten in der großen Halle, wo Darren uns mit wehmütigem Blick empfing. Stumm gingen wir nach draußen, setzten uns in einen schwarzen Audi mit getönten Scheiben.
Ich kam mir vor wie auf einem Gang zum Galgen. Als wir die Auffahrt runterfuhren entstand zwischen meinen Schulterblättern ein Schmerz, der mit jedem Meter, dem wir uns der neuen Schule näherten, schlimmer wurde.


Ich musste eingeschlafen sein, denn als ich aufwachte sah ich vor und ein riesiges Gebäude, hinter dem die Sonne langsam aufging.
„Ist es das?“, flüsterte ich Venus zu, die ebenso geband wie ich aus dem Fenster starre. Sie nickte sprachlos. Das Internat war wirklich riesig, doch ich konnte es erst richtig erkennen, als ich ausstieg. Es war dunklem Stein und im gotischen Stil gebaut. Augenblicklich verschwanden die Schmerzen zwischen meinen Schulterblättern. Wie ein kleines Kind drehte ich mich mehrmals um mich selbst, nahm den Anblick dieser Parkanlage um das Gebäude herum in mich auf. Und so was nannte sich Schulgarten

? Himmel, dieses Internat war absolut geil! Vor allem mit den Fackeln, die in bestimmten Abständen das Gelände mit sanftem Licht erhellten.
„Tori! Venus! Kommt ihr?“ Darren stand schon an der mächtigen Eingangstür. Er schien gegen den faszinierenden Anblick hier immun zu sein. Dennoch waren wir neugierig, wie es drinnen aussah und so hüpften wir zu ihm rüber. Lächelnd öffnete er uns die Tür und führte und durch breite Gänge mit hohen Decken, die ebenfalls von Fackeln erhellt wurden. Schließlich blieben wir vor einer dunklen Eichentür stehen. Darren klopfte an.
„Ja?“, rief eine weibliche Stimme. Wir traten ein und sahen uns einer Göttin gegenüber. Sie saß an einem Schreibtisch, das schwarze Haar floss ich bis zu den Hüften hinab, ohne dass es drahtig aussah. Sie hatte ein ovales, sanftes Gesicht, große dunkle Augen und war unglaublich schlank. Nicht so dürr und klapprig wie manche Models oder bestimme Leute aus meiner alten Schule. Sie war einfach wunderschön

!
„Ah, Victoria und Elizabeth. Warum seid zu dieser Zeit denn noch auf den Beinen?“ Ihre Stimme war sanft und leise, doch ich spürte, dass sie noch viel mächtigen klingen könnte.
„Noch?“ Ich würde sagen schon!“, sagte Venus und lächelte, denn ich fragte zur selben Zeit: „Woher kennen sie uns?“
Die Göttin erhob sich anmutig, kam auf uns zu und umarmte uns. Perplex starrten wir sie an. Sie roch unglaublich gut.
„Ich bin Quilla und ich bin hier … wie würdet ihr es nennen? Ich bin die Direktorin dieser Schule. So nennt ihr es doch? Nun, von eurer Ankunft wurde mir von Erik Blair berichtet. Sie pausierte kurz, lächelte zärtlich. Ich hob eine Braue. Das war mir irgendwie zu viel. So eine coole Schule (vom Aussehen her – wie sie wirklich war, wusste ich ja noch nicht), so eine wunderschöne Direktorin.
„Ehm, und war meinten Sie …“, setzte meine Schwester an, musste dann aber nach meinem Handgelenk greifen, da ich schwankte.
„Victoria! Geht es dir nicht gut?“ Besorgt legte Quilla mir eine Hand an die Stirn. Ich schüttelte beruhigend den Kopf und fasste mich.
„Alles bestens! Mir war nur kurz schwindelig gewesen. Dieses Gebäude ist echt atemberaubend!“ Und Sie auch, fügte ich in Gedanken hinzu. Quilla lächelte wieder und wandte sich an Venus.
„Was ich vorhin meinte … Nun, an dieser Schule findet der Unterricht nachts statt.“
„Ah, und tagsüber sollen wir schlafen? Aber warum?“
Die Direktorin schüttelte den Kopf. „Das solltet ihr selbst herausfinden. Aber jetzt solltet ihr auf eure Zimmer gehen. Eure Zimmerpartnerinnen warten schon.“
„Moment!“, fuhr ich ihr dazwischen. „Heißt das, Venus und ich sind nicht auf einem Zimmer?“
„Venus?“ Quilla legte verständlich den Kopf schief, dann schien sie zu verstehen. „Ah, Elizabeth! Nein, tut mir leid. Das ließ sich nicht mehr einrichten. Allerdings denke ich, dass ihr mit Rhona und Fiona gut klarkommen werdet.“
Gut, bei diesem Sonnenscheinlächeln konnte man auch schwer widersprechen. Ich nickte seufzend.
„In Ordnung. Mal was anderes, denke ich …“
„Aber wo sind unsere Zimmer?“ Venus sah von etwas auf, das sie gerade näher angesehen hatte. „Und wie finden wir uns hier zurecht?“
„Eure Partner werden euch morgen alles zeigen und erklären. Zu euren Zimmern bringe ich euch jetzt.“ Und so schwebte sie an mutig aus dem Raum. Wir folgten ihr. Erst jetzt fiel mir auf, dass Darren nicht mehr da war. Allerdings störte mich das nicht. Ich hatte nämlich das Gefühl, dass ich hier glücklicher als irgendwo sonst werden würde.
Wir gingen durch verschiedene Gänge, die sich durch das Gebäude wanden wie Schlangen, die durch eine felsige Landschaft krochen. Irgendwann kamen wir in einer Sackgasse an. Na ja, mehr oder weniger. Eine große Tür war vor uns, die Quilla nun öffnete. Neugierig lugten Venus und ich an ihr vorbei und erblickten ein riesiges, gemütliches Zimmer. Es war ausgestattet mit vielen einladend aussehenden Sofas und Plasmafernsehern, unter denen riesige Sammlungen von DVDs lagen. Hier und da saßen ein paar Gruppen von Mädchen um die Fernseher, die sich umdrehten und uns verblüfft anstarrten.
„Das hier ist der Gemeinschaftsraum der Mädchen. Die Zimmer sind oben.“, informierte uns die Direktorin (/Göttin) und ging wieder voraus. Ich konnte die Blicke der anderen in meinem Nacken spüren, doch ich drehte mich nicht um. Dafür erschauderte ich. Das war definitiv unangenehm. Quilla blieb vor einer Tür stehen, aus der die Zahl 16 prangte.
„So, Victoria, das ist das Zimmer, das du dir mit Rhona teilst. Deine Sachen sind schon dort. Ich würde allerdings vorschlagen, bald schlafen zu gehen, damit du die Nacht durchhältst.“ Die Direktorin schenkte mir ein freundschaftliches Lächeln, dann verschwand sie mit meiner Schwester. Ich schluckte und klopfte an.
„Ja?“, klang er von jenseits der Tür. Zögernd trat ich ein. Das Zimmer war ein klassisches Internatzimmer: Zwei Betten, zwei Schreibtische, zwei Schränke. Auf einem der zwei Betten saß ein Mädchen, das ihr kastanienbraunes Haar zu einem seitlichen Zopf geflochten hatte. Als sie mich sah, sprang es sofort auf, hüpfte auf mich zu und umarmte mich stürmisch. Schon wieder perplex blinzelte ich.
„Du bist Victoria, nicht wahr?“, sprudelte sie mit angenehmer Stimme los. „Ich find’s voll klasse, dass ich jetzt eine Zimmernachbarin habe! Vor allem, dass du es bist! Du siehst nämlich voll nett aus. Oh mein Gott, hast du schöne Augen! Und was für eine niedlich Stupsnase, ich mag die voll. Und deine Haar, was für schöne Locken. Ich wette, wir werden die besten Freundinnen. Woher hast du die Schuhe? Wow, sind sie cool.“
„Ja … Finde ich auch. Echt supi …“, sagte ich langsam und trat einen Schritt zurück. „Und du bist Rhona, nehme ich an.“
„Ja! Willkommen in …“
„Ehm … Könntest du mir einen Gefallen tun?“, unterbrach ich sie. „Rede bitte nicht so viel auf einmal. Das macht mir Angst.“
Sofort klappte sie den Mund zu und sah mich aus großen moosgrünen Augen an. „Oke. Kein Problem. Ich bin nur so aufgeregt und wenn ich aufgeregt bin, rede ich immer so viel.“
Ich lächelte. „In Ordnung. Ähm … Quilla meinte, du solltest mir alle erklären.“
Rhona wirbelte herum, zu meinem Schreibtisch und hielt mir darauf ein Blatt unter die Nase. „Das ist dein Stundenplan. Wir haben den gleichen.“
Ich nahm ihr das Papier ab, warf einen Blick darauf und stöhnte. „Gleich in der ersten Stunde Mathe! Göttin, das wird ein beschissener Tag!“
Bevor ihr fragt: Ja, ich glaube tatsächlich an eine Göttin. Ich bin zwar katholisch – unfreiwillig. Früher hatte ich tatsächlich an den christlichen Gott geglaubt, danach hatte ich einige Zeit an nichts und niemanden geglaubt, jetzt habe ich meine Göttin. Und nein, das ist kein Ketzer-Unfug-Verschwörungs-Mist.
„Glaub mir, das ist halb so schlimm. Wenn du erstmal den Lehrer kennengelernt hast, machst du jeden Formelscheiß mit. Erik Blair ist einfach nur atemberaubend.“ Sie seufzte und ich konnte förmlich schon sehen, wie sie in eine Pfütze zerfloss.
„Erik Blair …“ Ich formte den Namen mit den Lippen. Ich hatte ihn heute schon einmal gehört, aber dieses Mal hatte es etwas … Fesselndes.
„Aber ich glaub, wie sollten jetzt schlafen gehen. Die Sonne geht schon auf. Und wenn du morgen nicht ausgeschlafen bist, verpasst du erstens das Frühstück, zweitens wird Mr Blair nicht mehr als einen skeptischen Blick für dich übrig haben. Und das wäre echt …“
Ich hörte ihrem Geschwafel, von wegen, er wäre so heiß und so erwachsen und was weiß ich nicht noch, nur mit halbem Ohr zu. Währenddessen zog ich mich um. Dann zog Rhona mich ins Bad, das sich alle Mädchen teilten, und hörte dabei einfach nicht aus zu labern. Zwischendurch stimmte ich ihr manchmal mit einem „Ja und Amen“ zu. Erst als sie ins Bett kroch, wurde sie immer leiser, bist sie mit einem gemurmelte „so heiß …“ einschlief. Grinsend drehte ich mich auf die Seite und schloss müde die Augen.




Vier


Venus:



Kurze Zeit später standen ich und Quilla vor einer Tür, die ähnlich war zu Toris, doch hier war die Zahl 25 eingraviert. Mein herz pochte. All das hier wirkte auf eine vertraute Art und Weise magisch. Ebenso wie Quilla. Sie war unglaublich lieb und nett. Ich wollte mich gerade zu ihr umdrehen, doch sie war verschwunden. Naja. Ich klopfte an.
„Herein.“, ertönte eine leise Stimme. Ich drehte den Knauf und die Tür schwang auf.
„Hallo?“, fragte die Stimme.
„Hi.“, antwortete ich. „Du bist Fiona, richtig?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nenn mich Kathy. Fiona ist mein zweiter Name. Aber wer bist … Elizabeth?“
„Venus.“, verbesserte ich meinerseits.
„Venus? Ist das deine … Göttin?“ Sie runzelte die Stirn. Ich lächelte, worauf sie nicht mehr allzu schüchtern aussah. „Was ist? Habe ich etwas Falsches gesagt?“
„Nein, ganz und gar nicht. Nenn mich Venus. Ich bin evangelisch, ich habe keine Göttinnen oder so, nur einen Gott. Anders als Tori …“
„Wer ist Tori?“
„Meine Schwester, Victoria.“, erklärte ich. Endlich stand Fio … Verzeihung, Kathy auf, um mich zu begrüßen.
„Eigentlich bin ich total hibbelig, nur bei Fremden …“, erzählte sie. „Und eigentlich heiße ich Katharina. Alle nennen mich Kathy. Außer Quilla, die nennt mich Fiona. Wohl weil sie den Namen schöner findet.“
Ich schmunzelte. Dieses Mädchen war wirklich nett. Ich schaute mich um. Die eine Seite war schon komplett eingerichtet mit Postern, Plüschtieren, einem eingeräumten Regal. Die andere Seite war leer, was ich komisch fand, hatte Quilla uns doch gesagt, es ist schon alles da.
Seufzend schmiss ich meine drei Koffer aufs Bett und fing an auszupacken. Und während ich mich ein wenig einrichtete, fragte ich meine Zimmernachbarin aus.
„Was ist das für eine Schule hier?“
„Eine ganz normale. Warum?“
„Warum ist der Unterricht in der Nacht?“
„Einfach, weil …“ Sie stockte. Dann zuckte sie die Schultern. Anscheinend war sie schon so lange hier, dass sie es als normal empfand und es nicht mehr hinterfragte. Ich seufzte, als sie fragte, warum ich hier sei. Tja, warum war ich hier? Etwa wirklich nur, weil Lillith und Darren und nicht wollten? Wozu hatten sie uns dann erst adoptiert? Ich hatte nicht erwartet, dass sie uns sofort … Obwohl, wenn man mal die ganzen glücklichen Adoptionen im Fernsehen bedachte.
„Unsere Adoptiveltern haben uns abgeschoben.“, meinte ich schlicht.
„Oh … Weshalb?“, fragte Kathy vorsichtig. Ich zuckte mit den Schultern.
„Wenn ich das wüsste …“
Zaghaft fragte sie mich aus, wie es dazu kam, dass Tori und ich zu Waisen wurden. Ich erzählte ihr von dem Skiunfall unserer Eltern. Dann bohrte sie langsam weiter. Irgendwann war es mir zu viel.
„Ähm, entschuldigung, dass ich unterbreche, aber …“ Ich wollte ihr mitteilen, dass mir dieses Thema unangenehm war. Doch als ich ihr süßes, rundes Gesicht sah, das mich mit großen himmelblauen Augen ansah, sagte ich: „… Ich muss mal aufs Klo.“
Sie nickte kurz und beschrieb mir den Weg. Ich verschwand auf den Gang hinaus. Da ich den Lichtschalter nicht fand musste ich mir den Weg ertasten. Als ich einen Stoß an meiner Schulter spürte wirbelte ich überrascht herum. Die Person schrie und es klang weiblich. Doch dann räusperte sie sich und die Stimme klang kurz darauf tiefer.
Ich legte den Kopf schief, trat einen Schritt zurück. Ein Spanner? Ich stieß gegen die Wand und das Licht ging an. Am liebsten hätte ich es aber sofort wieder ausgemacht. Denn da stand ein … Was war das? Es sah etwas irritierend aus. Es trug eine total dämliche Nerdbrille und einen … langen, grauen Bart! Ja, sie hatte Oberweite, also Spannerentwarnung. Aber

?
„Wer bist du?“, fragte ich.
Es kicherte. „Also, das … Professor … Krümel, dieser … Steh auf …“
Ich konnte mir nichts darauf zusammenreimen und runzelte die Stirn. Sie winkte genervt ab.
„Vergiss es, ich bin Leah.“
„Venus.“, sagte ich, verdattert über die Tatsache, dass es normale Sätze bilden konnte. Es lächelte, kehrte um und verschwand. Ich tat es ihr gleich, schlich mich in mein Zimmer zurück. Dort kroch ich unter die Decke und schlief ein.




Fünf


Victoria:



„Jetzt schalt doch einer mal dieses Piepen aus!“
Diese verärgerte Stimme riss mich aus meinem Schlaf. Träge nahm ich wahr, wie ein schrilles, nerviges Geräusch immer wieder durch den Raum klang. Erschrocken setzte ich mich auf und blinzelte. Auf meinem Nachttisch stand mein Wecker, der immer wieder irgendwelche Töne von sich gab. Wer hatte den eigentlich gestellt?, fragte ich mich irgendwo in meinem Echse-im-Winterschlaf-Verstand. Genervt warf ich das Ding kurzerhand durch den Raum, weil mir partout nicht wollte, wie man dieses Monster noch mal verstummen ließ. Von irgendwoher hörte ich einen Aufprall, dann ein Scheppern, schließlich war es ruhig. Ich wollte mich gerade wieder grummelnd auf die rechte Seite drehen, zur Wand hin, so wie ich immer schlief, als irgendwas oder irgendwer durch den Raum sprang. Knurrend fuhr ich hoch, schlug die Decke zurück und fauchte: „Was zur Hölle soll dieses Affentheater? Sei doch still!“
„Aber Blair! Erik Blair! Oh mein Gott, wir kommen zu spät!“
Verständnislos sah ich das rothaarige Mädchen an. Was tat die eigentlich hier? „Wie bitte?“, fragte ich, doch dann verstand ich. Sofort kreischte ich mit ihr um die Wette. Allerdings gab sie Sachen von sich, wie „Was soll ich anziehen? Vielleicht sieht er mich an! Er sieht so gut aus. Wirklich, er …“
Nach kurzer Zeit schaltete ich mein Verstand auf „blablabla“ und „düüüüüüüd“. Ich war das alles schon von Venus gewohnt.
Ich allerdings gab Sachen von mir, wie „Was soll ich anziehen? Wie läuft das hier ab? Ich darf doch nicht heute schon zu spät kommen!“
Hastig kramte ich aus dem Schrank eine ausgewaschene Röhrenjeans und ein einfaches, rotes Top heraus. Ich nahm an, dass das wohl ganz okay war. Schnell fuhr ich mir noch mit der Bürste durch die Haare, drehte meine Locken um den Zeigefinger, damit sie einigermaßen ordentlich aussahen. Für Make-Up hatte ich keine Zeit, aber außerdem sah ich heute echt in Ordnung aus. Ich sah kurz aus dem Fenster und erschrak kurz. Draußen war es stockdunkel. Uff, daran musste ich mich wohl noch gewöhnen … Ich drehte mich um, wo Rhona schon an der Tür wartete. Ich folgte ihr hinaus, die Treppe runter in den Gemeinschaftsraum, wo mich diesmal – sehr zu meinen Gunsten – niemand wahrnahm. Rhona führte mich in eine riesige Küche, die ich mir allerdings nicht genau ansehen konnte, denn immer wenn ich nervös, verschwamm alles um mich herum.
Ich aß drei Schüsseln von diesen Kellogs-Tresor-Dingensda. Auch ein Nachtteil, wenn ich nervös war: Ich fraß ohne Ende. Eigentlich tat ich das auch so schon, nur fiel es erst so richtig auf, wenn ich halt nervös war. Und ich war echt mega-nervös. Ich meine, neue Schule, neue Leute, neue Lehrer, neues Leben. Schon so ein bisschen verständlich, oder?
Als ich mein Frühstück in Windeseile runtergestürzt hatte, packte meine Mitbewohnerin meine Hand und zog mich durch die Eingeweiden der Schlangen, die sich Schulkorridore nannten.
„Zu spät, zu spät, zu spät!“, fluchte Rhona und blieb vor einer Tür stehen. „Was wird das denn jetzt für ein Auftritt?“
Ich stieß ein Zischen aus, drängelte mich an ihr vorbei und mit dieser unverwechselbaren, einzigartigen Eleganz, die mir nun einmal zu eigen war, platzte ich in den Raum hinein und konnte mir prompt die Nase am Boden plattdrücken. Ja, ich liebte das Element Erde, so doll dann doch aber auch wieder nicht. Knurrend rappelte ich mich halb auf, dann bemerkte ich aus dem Augenwinkel eine Hand. Ich sah auf – und stand unter Schock. Das war definitiv das schönste männliche Gesicht, das ich je gesehen hatte. Himmelherrgott, die Augen! Diese Nase! Diese Lippen! Zum Sterben perfekt! Mit so einem Lächeln in den Mundwinkeln, da sich nicht deuten konnte. Ich fragte mich, was der eigentlich hier tat. Der gehörte auf eine Kinoleinwand.
„Alles in Ordnung?“, fragte er mit einer Samtstimme, bei der mir die Knie weich wurden. Wie verblödet glotzte ich ihn an, bis seine Worte zu mir durchsickerten. Er runzelte schon leicht die Stirn.
„Äh … Öh … Ja, ja klar, alles bestens!“ Hastig nahm ich seine Hand an, die er mir nach wie vor hinhielt, stand auf, ignorierte das warme, kribbelige Gefühl, das augenblicklich durch meinen Körper hindurchschoss, und drückte mich gegen die Wand, in der Hoffnung, mit ihr verschmelzen zu können. Ich wartete, dass Rhona oder irgendwer mir sagte, wo ich sitze, doch meine Zimmerpartnerin wechselte noch ein paar Worte mit dem heißen Kerl dort vorne. Ich spitzte die Ohren und spürte einen eifersüchtigen Stich in meiner Brust. Verwirrt runzelte ich die Stirn.
„Tut mir leid, Mr Blair. Wir haben verschlafen. Victoria ist meine neue Mitbewohnerin.“, piepste Rhona dort vorne. So was wie Erleichterung durchflutete mich, als nicht einmal von seinen Papieren aufsah, die er gerade sortierte.
„Schon in Ordnung. Setzt euch einfach.“ War seine Stimme bei mir auch so emotionslos und distanziert gewesen? Ich hätte schwören können, dass es nicht so gewesen.
Rhona nickte leicht betroffen und trollte sich zu mir herüber. Sie führte mich in die Mitte des Raumes zu einem Tisch inmitten aller. Ich setzte mich neben sie und ließ meinen Blick schweifen. So ziemlich jedes weibliche Wesen starrte nach vorne, beobachtete diesen … wie hieß er? Mr Blair …
Ich schrak auf. „Das

ist der Lehrer?“, raunte ich. Rhonas Augen fingen an zu glitzern. Sie nickte.
Ich holte tief Luft. Schock fürs Leben! „Ach du meine Scheiße …“, hauchte ich. Dieser Mann war höchstens Anfang zwanzig. Und dann wollte der uns Mathe erklären? Ich schüttelte den Kopf. Vor allem, weil man sich bei diesem Anblick kaum konzentrieren konnte!
Gerade ließ Mr Blair endlich seine Papiere in Ruhe und trat vor die Klasse. Er begrüßte uns mit einfachen Worten: „Hey, guten Abend.“ Und blablabla. Er erklärte uns noch, was wir heute durchnahmen, doch ich sah nur noch, wie sich seine wundervollen Lippen bewegten. Allerdings drang ein Begriff zu mir durch: „Gleichungen mit drei Unbekannten“.
Und in der Stille, die nun für einige Sekunden zu hören war, hallte ein Klong

durch den Raum. Ich seufzte und presste die Stirn fester gegen die Tischplatte, auf die mein Kopf gefallen war.
„Gleichungen! Meuterei! Wollt ihr, dass ich auch hier komplett versage?“, flüsterte ich. Ja, ich führte Selbstgespräche.
„Tori? Ist wirklich alles in Ordnung?“ Wieder diese unglaubliche Stimme, ganz dicht vor mir. Und er nannte mich Tori! Gnädige Göttin! Mein Harz raste, mir wurde heiß. „Vielleicht solltest du auf dein Zimmer gehen und dich noch ausruhen. Es ist vermutlich ein bisschen zu viel für dich. Kann ich verstehen, nach der Umstellung. Ging mir auch so.“
Mein Oberkörper zuckte nach oben. Gnädige, war er nah! „Nein, nein! Es ist alles in Ordnung. Ich war nur unendlich erleichtert, dass wir Gleichungen durchnehmen. Das kann ich nämlich ziemlich gut.“, stammelte ich und hörte ein gekünsteltes Räuspern. Ich drehte mich um und entdeckte Venus an einem der hinteren Tische. Ich verzog das Gesicht, deutete ihr, dass ich keine Ahnung hatte, wovon ich schwafelte.
„Ach, wirklich?“
Mein Kopf drehte sich wieder nach vorne, auf Blairs Gesicht war überraschtes, süßes Grinsen, das seine Augen glitzern ließ. Wie konnte ich da lügen?
„Nein.“, seufzte ich. „Eigentlich gar nicht. Ich bin unglaublich entsetzt, weil ich genau dieses Thema nicht kapiere.“
Sein Lächeln wurde breiter. „Auch gut. Dann habe ich das nächste Halbjahr etwas Sinnvolles zu tun.“ Seine warme Hand streifte meine nackte Schulter, ich erschauderte. Dann ging er wieder nach vorne. Sehnsüchtig sah ich ihm hinterher. Ich wünschte mir noch eine Berührung. Himmelhölle, wie sich so ein Meisterstück nur der Mathematik verschreiben! Solch eine Verschwendung! Vor allem, dieser Hintern, den ich kurz betrachten konnte, während er sich mit anmutigen, geschmeidigen Bewegungen zum Pult bewegte. Verdammt, mir fiel erst jetzt auf, wie groß und schlank er war. Das war doch kein Lehrer. Ein übermenschlich schöner Schauspieler, ein Model, was auch immer. Er gehörte auf jedenfall nicht in eine Schule.
Die Stunde war erstaunlich schnell um. Und es hatte sogar fast Spaß gemacht, die anderen Mädchen mit Blicken zu erdolchen, zu vergiften und zu erwürgen, wann immer Blair sie auch nur anblinzelte. Die Arbeitsblätter verstand ich auch ziemlich gut, was wohl daran lag, dass dieses Model – oder auch Lehrer von mir aus – alle drei bis fünf Minuten bei mir vorbeischaute, um zu fragen, ob ich klar kam. Und jedes Mal war er mir extrem nah, wobei mein Herz pochte wie verrückt, mir heiß und mir gleichzeitig Schauder hinabrieselten, wann immer sein Arm, seine Hand oder sein Atem mich streifte.
„Mist verdammter.“, zischte ist, als es klingelte und ich meine Sachen packte. „Er ist ein Lehrer! Und mindestens zehn Jahre älter als ich. Ich bin verrückt. Ich meine, Lehrer, hallo? Das ist doch ekelhaft …“
„Pedophil.“, sprach mir jemand dazwischen. Erschrocken wirbelte ich herum. Hinter mir standen vie Mädchen, eins davon Venus, dann noch Rhona, aber die anderen beiden kannte ich nicht. Das größte und schlankste Mädchen der vier trat auf mich zu, gab mir die Hand. „Pedophil hab ich gesagt. Das ist das worüber du gerade gesprochen hast … Wobei ich aber nicht weiß, mit wem du gesprochen hast. Ach, ich bin Leah. Bin deiner Schwester gestern auf dem Klo begegnet.“
„Ja, sie hatte eine Nerdbrille und einen Kunstbart angehabt.“, kicherte Venus.
„Ey, lass mich, ja? Bärte sind voll cool. Ich wollte schon immer mal einen haben, gestern hatte ich mir den Wunsch eben erfüllt! Voll Professor-Krümelmäßig! Ich mag den voll, der läuft voll witzig.“ Leah gluckste amüsiert. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Diese Person war eindeutig schräg.
„Ach ja, und das ist Kathy, meine Zimmernachbarin.“ Venus weiß auf ein kleineres Mädchen mit schönen karamellfarbenen Wellen. Sie lächelte zaghaft, hob die Hand zum Gruß. Ich lächelte zurück, schulterte meinen Rucksack.
„Hey, was hast du jetzt?“. Fragten Rhona und Leah gleichzeitig. Ich kicherte, kramte in meiner Tasche und beförderte meinen Stundenplan zu Tage.
„Ehm, Pedoph … Nein, ich meine Philosophie.“, antwortete ich und ging schon Richtung Ausgang.
„Ich auch. Das ist eigentlich voll langweilig, aber der Lehrer ist voll witzig. Der hat so einen komischen eckigen Bauch. Ich will auch so einen Bauch.“, lachte Leah. Ich schüttelte den Kopf. Okay, Nerdbrille, Bart, eckiger Bauch. Was kam als nächstes?
„Ah, Tori, komm mal bitte.“
Ich blieb wie angewurzelt stehen, drehte mich langsam um.
„Hey, wir warten draußen, ne.“ Leah piekste mir in die Hüften. Ich winkte ab.
„Ja, ja. – Was gibt’s, Mr Blair?“ Ich schlich zum Lehrerpult rüber.
„Erik.“, korrigierte er. Ich hob die Brauen. Okay … Ähm … Sollte ich das jetzt unangenehm finden? Hm … Tja, keine Ahnung.
„Erik …“, hauchte ich, um es herauszufinden. Er lächelte und ich schaute auf. Ein Fehler. Seine Augen nahmen mich gefangen. Sie waren blaugrün, so was in der Richtung. Sah ich da auch etwas goldbraunes? Und um die Pupille, war das noch blau oder schon grau?
Ich schüttelte den Kopf, wandte den Blick ab. Krank, verrückt, wandte den Blick ab. Krank, verrückt und … nun, pedophil passte von meiner Seite aus wohl nicht wirklich.
„Ich wollte eigentlich nur herzlich willkommen sagen. Wie ich sehe, hast du bereits Freunde … verzeih, Freundinnen gefunden.“
„Ich würde sie ehre Bekannte nennen. Also, ich meine, alle außer meiner Schwester.“
Er nickte. „Venus. Ihr seht euch gar nicht ähnlich.“
„Ja, das finde ich auch witzig, aber es soll … Woher wissen Sie, dass sie Venus genannt wird? Quilla hat sie Elizabeth genannt.“
Sein Lächeln entblößte weiße, gerade Zähne. „Du solltest gehen. Deine Freun …. Deine Bekannten warten.“
Er deutete mit dem Kinn zur Tür, wo Leah schon ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden tippte. Ich runzelte die Stirn, warf Erik einen verunsicherten Blick zu, trollte mich dann aber.
„Gute Nacht, Tori. Hoffe, du wirst hier mehr Erfolg haben, als an deiner alten Schule.“, rief er mir hinterher. Woher …? Ich wirbelte herum, doch er war weg. Misstrauisch blickte ich mich um.
„Tori! Wird das heute noch etwas?“, rief Leah und stemmte verärgert die Hände in die Hüften.
„Ja, ja! Bin schon da!“ Ich lief zu ihnen hin.
„Uh, das hat aber geknistert und gefunkt, als ich euch angesehen habt.“, glüsterte Rhona. Ich sah sie erstaunt an.
„Bitte?“
Sie schüttelte schmunzelte den Kopf. „Erzähl mir später davon. Hier ist dein Raum.“ Und damit nahm sie meine Schwester und deren Zimmerpartnerin und ließ mich mit einer in einem fort scherzenden Leah und tausend Fragen dort stehen. Also wirklich!




Sechs


Venus:



„Oh, Tori hat es echt drauf … Ein Lehrer …“, sagte ich und wünschte mir beinahe, ich wäre sie.
„Wie meinst du das?“ Kathy sah mich von der Seite an.
„Warum, warum wohl …“, murmelte ich.
„Achso! Das! Ja, Blair …“ Sie seufzte.
„So toll finde ich ihn aber nicht.“, meinte ich. Sie sah mich geschockt an. Dann schüttelte sie den Kopf.
„Wenn du meinst.“, sagte sie, ich stupste sie mit dem Ellbogen an und sah mich um. Von woher kam nur dieses Lachen?
„Warte mal kurz, bin gleich wieder da. Ähm, sag einfach … ich … ach, lass dir was Gutes einfallen.“, sagte ich. „Okay?“
„Na gut.“ Sie hob die Brauen. „Was ist denn?“
„Ich weiß nicht … so … naja …“ Mir fiel nichts ein. „Mein Allergiemittel vergessen.“
„Okay …“, sagte sie, zögerte.
„Danke.“, antwortete ich und machte schon Anstalten zu gehen.
„Venus?“, ertönte da aber Kathys Stimme.
„Ja?“
„Hoffentlich nutzt du mein Vertrauen nicht aus.“ Sie schaute betreten zu Boden.
„Ich?! Nie im Leben!“, rief ich. Sie lächelte.
„Gut, dann hol dein Medikament.“
Ich lächelte zurück und rannte den Flur entlang, dem Lachen folgend. Wieso hatte Kathy Angst, ich würde ihr Vertrauen ausnutzen?
Das Lachen verstummte urplötzlich. Was zum Teufel sollte das jetzt? Ich drehte mich um, als mir ein Zettel ins Gesicht flog. Ich nahm ihn in die Hand.
Nyx.
Wer oder was war denn Nyx? Ich flüsterte den Namen. Es fühlte sich vertraut an, hörte sich nach Geborgenheit an. Dennoch. Wo war das schöne Lachen hergekommen?
Ich steckte den Zettel in meine Tasche und rannte in den Flur, wo Kathy wartete.


Nervös saß ich neben Kathy, die mich eingehend betrachtete. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus.
„Du, Kathy …“, flüsterte ich und stupste sie an.
„Ja?“, kam es zurück.
„Wer ist …“, begann ich.
„Mhm?“ Sie starrte mich an, als wäre ich der Teufel höchstpersönlich. Obwohl ich nun komischer Weise kein Problem damit gehabt hätte.
„… Nyx?“
Sie verschluckte sich an ihrer Spucke und fing an zu Husten. Das hörte sich schrecklich lustig an, während sie dabei noch lachte und Schluckauf bekam. Bis sie sich beruhigt hatte, dauerte es etwas. Doch schließlich war sie fertig.
„Nyx ist … Sie ist die Personifikation der Nacht. Eine Göttin. Sie ist liebevoll und verlässt ihre Kinder nie

. Nicht einmal wenn sich diese von ihr abwenden.“
„Aha.“, sagte ich. „Ich hatte gedacht, Nyx sei …“
„Sprich ruhig weiter.“, sagte unsere Lehrerin. Mit lief es kalt den Rücken runter. „Komm nach vorne. Der Platz dort ist Geschichte für dich.“
Uff! Na schön. Während ich also meine Sachen zusammen packte dachte ich über Nyx nach. Woher kannte ich den Namen?
Ich setzte mich auf den Platz, den Miss Barker mir genannt hatte. Dort saß ein Junge. Ein richtig süßer noch dazu! Mit offenem Mund starrte ich ihn an. Seine blonden Haare fielen ihm in sein Gesicht und bedeckten braune Augen, die mit einer beruhigenden Wärme in meine sahen.
„Äh“, sagte ich sehr intelligent. Und es kam noch schlimmer: Ich konnte nicht damit aufhören. Es dauerte eine Zeit lang, bis ich mich wieder gefangen hatte, doch schließlich war ich still und starrte die Tafel an. Ich dachte nur an ihn, als sich eine Hand in mein Blickfeld schob und zu wackeln anfing.
„Hallo? Erde an unbekannte Sitznachbarin.“, flüsterte er, als sich Miss Barker zur Tafel umdrehte.
„Was?“, fragte ich und schreckte hoch.
„Dein Name?“ Er schaute mich erwartungsvoll an.
„Nein Name? Was willst du damit?“
Er schlug sich die Hand vor die Stirn. „Ich war gestern krank. Ich kenn dich nicht.“
„Ach so. Äh … Ähm … Öh … Öhm …“
„Willst du mir jetzt jede Art von Ratlosigkeit mitteilen? Weißt du deinen Namen nicht?“
„Doch, doch, natürlich, klar.“
Er schaute mich mit erhobenen Brauen an.
„Ich heiße Venus.“
„Venus? Die Göttin der Liebe?“ Er schmunzelte. Ich fragte mich wirklich, was daran so lustig sein konnte. Oder noch vielmehr, warum er lachte und ich mit ihm.
Als wir schließlich lauthals auf den Flur rausstolperten, da Miss Barker uns rausgeworfen (oder wie sie sagte sus-pen-diert) hatte, kriegten wir uns wieder ein.
„Und wer bist du?“
„Cody.“
„Cody …“ Der Name schmolz meinen Lippen dahin wie Eis (extrem leckeres Eis). Wir setzten uns auf den Boden und schauten uns an. Langsam näherten sich unsere Lippen. Oh Göttin! - Hatte ich das gerade wirklich gedacht? – Er wollte mich küssen.
„Venus und Cody.“
Die Tür ging auf und Miss Barker kam raus. Mist! Wir setzten uns kerzengrade auf.
„Ja, Ma’am?“, fragten wir gleichzeitig.
„Habt ihr euch beruhigt?“
„Nein.“, sagte wir gleichzeitig. Sie runzelte die Stirn und ging rein, während wir unser Kussriutal zu Ende brachten.
„Willst du mit mir gehen?“, fragte er.
„Du willst doch jetzt nicht rein, oder?“, sagte ich.
„Nein, ich meine, willst du mit mir zusammen sein?“
„Ja!“, sagte ich ohne nachzudenken. Dann sah er mich an und küsste mich erneut. Es war komisch. Ich meine, wir kannten uns kaum eine Stunde und schon waren wir zusammen. Komisch, aber durchaus akzeptabel.




Sieben


Victoria:



„Ganz entzückend …“, murmelte ich und malträtierte diesen Kerl weiterhin mit Blicken. Cody hieß er. Sein dunkelblondes Haar fiel ihm fransig in die Stirn und die braunen Augen, die scheinbar treuherzig in die Runde schauten. Irgendwas an ihm stank gewaltig. Und das war nicht nur das Knoblauchbrot, das er sich gerade in den Mund schob.
Grummelnd wandte ich mich meinen Tortellinis zu.
Venus hatte ihn in der letzten Stunde kennengelernt. Und schon waren sie zusammen. Seufzend schüttelte ich den Kopf. Eine Moralpredigt würde da nicht helfen. Sie war einfach zu naiv und sah die Welt viel rosig. Da half nur Erfahrung. Erfahrung, von der sie anscheinend noch nicht genug hatte.
„Tss“, stieß ich hervor und ließ meinen Blick durch den Speisesaal wandern. Die Halle war riesig. Und überall standen runde Holztische mit Bänken, die von lachenden, labernden und essenden Schülern besetzt waren. An einer Wand zog sich eine Theke entlang, auf der die verschiedensten Speisen lagen. Und in der Mitte des Raumes war ein etwas größerer Tisch, an dem die Lehrer saßen. Insgesamt wirkte alles wunderbar mittelalterlich, doch das wurde von einer Glasfront an der einen Seite des Saals ein wenig gemildert.
Ich bemerkte erst, dass ich jemanden suchte, als ich ihn am Lehrertisch nicht entdecken konnte. Nur Quilla, die mich liebevoll anlächelte.
Seufzend sah ich auf mein Essen runter. Das war alles so berauschend und ganz anders hier. War ich es doch gewohnt, am Tag in die Schule zu gehen, die immer so kühl und viel zu sauber wirkte. Und ich bin mit meinen Freunden zusammen gewesen. Ich vermisste die kleine Zoey. Und auf eine verdrehte Weise auch Mrs Colck.
„Na dann, erzähl doch mal, Tori.“ Neben mir stupste Rhona mich an, Leah, die mir gegenübersaß unterbrach ihr Geschwafel und sah uns neugierig an.
„Wie? Was soll ich erzählen?“ Ich begegnete Venus’ Blick. Doch die hob nur die Schultern und wandte sich wieder diesem Cody zu. Na ganz toll!
„Na, Blair! Irgendwas ist doch vorhin zwischen ihm und dir gewesen.“
Sofort verstummten alle am Tisch, Leah blieb ihr Bissen Pizza im Hals stecken. Auch ich verschluckte mich an meiner Tortellini.
„Ich … Ich weiß nicht ganz, was du meinst, Rhona. Er hat mich gefragt, ob alles in Ordnung sei, weil ich wegen der Umstellung von Tag auf Nacht ein wenig verwirrt. Und er hat mir mit den Matheaufgaben geholfen, weil das nicht wirklich mein Fach.“ Nervös nahm ich einen Schluck von meiner Coke. War er normal, dass Kathy, Leah und Rhona so ungläubig starrten?
„Du warst doch dabei, Rhona. Du saßt ja neben mir.“
„Er hat sich um dich gesorgt? Mr Knackarsch? Der

Erik Blair? Oh. Mein. Gott!“, brach es aus Leah heraus, Kathy fächelte sich Luft zu.
„Das ist noch nicht alles.“, kam Rhona dazwischen. „Er hat sie ständig berührt, ihr in die Augen gesehen und sie angelächelt.“
What?

“ Leahs Stimme klang erstickt und ich könnte schwören, dass ihr beinahe die Augen rausfielen. „Das hat … Er … Das … Scheiße, sonst sind ihm doch alle egal … Arschloch, warum hast du mir nichts gesagt, he? Kam mir gleich komisch vor, dass er dich nochmal zurückgerufen hat, als wie rausgehen wollten. Und die ganze Philosophiestunde sitzt die da neben mir und sagt kein Wort! Nicht mal ‚piep’!“
Verdutzt verfolgte ich die anschließende Diskussion zwischen den drei Mädels. Was war so besonders daran, dass er mich hatte willkommen heißen wollen? Und dass er sich Sorgen gemacht hat? Er war ja immerhin ein Lehrer. Also war es quasi sein Job. Gut, er sah zum Sterben heiß aus, aber er war ein Lehrer

, verdammte Mistkacke noch mal! Fein, die ganzen „zufälligen“ Berührungen hatte ich auch bemerkt, aber das war doch alles gequirlter Kakerlakenquatsch mit Schweizer-Käse-Vanille-Soße!
„Wenn man gerade vom Teufel spricht.“, murmelte Venus und blickte auf einen Punkt hinter mir.
„Ein heißßßßßßer Teufel!“, hauchte Leah begeistert. Ich verdrehte die Augen.
„In der Hölle ist es nun mal heiß.“, erwiderte ich und wandte mich um, woraufhin mir mein Herz tausendfach höher schlug. Ich holte scharf Atem, während sich meine Knie in Wackelpudding verwandelten. Ob er wohl Wackelpudding mochte? Also ich stand total drauf.
Ob ich mit dieser geistigen Bemerkung den Wackelpudding oder den Halbgott meinte, der fünfzehn Meter von mir entfernt stand, wusste ich nicht mehr.
Das Schwärmen der Mädels wurde zu einem Hintergrundrauschen, als Erik Blair sich umdrehte und mir geradewegs in die Augen sah. Gänsehaut schlich sich meine Arme hinauf. Und tief in mir regte sich etwas, zerrte, bat, flehte, dass ich zu ihm ging, doch ich konnte mich nicht rühren. Sein ausdrucksloser Blick hielt mich an Ort und Stelle. Dennoch spürte ich tief in mir etwas … Ich konnte es mir nicht erklären, ich konnte es nicht deuten. Wahrscheinlich weil mein Verstand schrie, dass es absolut und vollkommen verrückt war und noch absurder als absolut und vollkommen absurd. Trotzdem spürte ich, wie sich meine Mundwinkel hoben, zu einem freundlichen, einladenden Lächeln. Ich sah wie seine Augen sich kurz weiteten, bevor er sie zu schmalen Schlitzen verengte. Seine Hand fing an zu zittern, als seine Finger sich um den Rand seines Tellers krampften. Schwungvoll wandte er sich um, setzte sich an den Lehrertisch, den Rücken zu mir. Verwundert sah ich ihm hinterher, starrte das feste Quadrat seiner Schultern an, bis mir die Sicht genommen wurde, als jemand dazwischen trat. Ich sah auf.
„Hey! Du bist … Victoria, richtig? Wir haben Sport zusammen.“ Der Junge wackelte mit den Brauen. „Glaub ich zumindest. Hab ich gehört … Du solltest nett sein. Ach ja, ich bin James Levinson.“
„Victoria Blake.“ Ich lächelte und streckte ihm die Hand entgegen. Immerhin war ich gut erzogen. Dann musterte ich mein Gegenüber. James war großgewachsen. Sein etwas längeres, dunkles Haar umrahmte ein Gesicht mit hohen Wangenknochen und noch dunkleren Augen.
„Hey, wir sind auch noch da!“, rief Leah und warf mir prompt eine Salamischeibe an den Kopf.
„Ja. Hast recht. Verzeihung.“ Ich wandte mich wieder ihr zu. Doch kurz darauf, als Leah zu einem ihrer sarkastischen Sprüchen ansetzten wollte, die ich mir die letzte über Stunde hatte anhören müssen, lachte jemand. James quetschte sich zwischen mich und Rhona, klopfte mir auf die Schultern, ein breites Grinsen im Gesicht. Leah warf ihm einen wahren Killer-Blick zu, er jedoch schien unbeeindruckt.
„Verzeihung? Wo bist du denn aufgewachsen, Blondchen?“
Jetzt schenkte auch ich ihm einen Vernichtungs-Blick. „Hast du denn etwas dagegen einzuwenden?“
Das Grinsen verschwand nicht. „Also ich bin ja der Meinung, dass Leutchen wie wir nicht so anständig sein sollten. Ich an deiner Stelle hätte sorry gesagt. Mein ja nur.“
Okay, dieser Kerl war irgendwie … fast schon unerträglich. Ich seufzte und stand auf. Wie hieß es doch so schön? Der Klügere gibt nach. „Komm, Rhona. Ich hab keinen Hunger mehr. James, ich würde jetzt gerne sagen, war nett, dich kennenzulernen, aber dann würde ich lügen. Venus …“ Ich sah meine Schwester an, die allerdings gerade anderweitig mit Cody beschäftigt war. Ich verzog das Gesicht. „Wir sehen uns dann.“ Und damit rauschte ich mit Leah und Rhona von dannen, konnte es aber nicht vermeiden, einen Blick zum Lehrertisch zu werfen, an dem Erik saß und mir hinterhersah.




Acht


Venus:



Ich sah auf. Hatte da jemand gerade meinen Namen gesagt? Ich schaute zu dem Platz, an dem sie gesessen hatte, doch dort saß nur so ein Typ.
Ich stand auf, Cody und Kathy entschuldigend ansehend, und erreichte den Typen.
„Äh … Verzeihung …“, begann ich, doch der Kerl brach in sofort in Gelächter aus.
„Was ist?“, fragte ich verwirrt.
„V-verzeihung!“, lachte er.
„Ja, das wär ja auch angebracht.“, sagte ich, doch der Junge kriegte sich gar nicht mehr ein. Immer noch kichernd sagte er schließlich:
„Nein … Ich meine … Wo lebst du? Sag sorry! Hab ich Vici auch schon gesagt!“
Vici? Tori? Ich versucht, die Augen genervt zu verdrehen, doch der Kerl steckte mich mit seinem Lachen an. Da so was, wie ein Plan A (Augen verdrehen) nicht klappte, griff ich sozusagen zu Plan B über und beschloss, Tori allein zu suchen und abzudampfen.
„Sorry!“, sagt eich übertrieben und schwirrte ab. Hinter mir lachte er sich schon wieder einen ab. Was sollte das denn? Ich drehte mich um. „Was?!“
„Bleib lieber bei Verzeihung. Sorry klingt bei dir noch komischer.“ Und damit suchte ihn eine weitere Lachsalve heim.
Der hatte definitiv Probleme. Ich drehte mich wieder zu Cody und Kathy um, doch die waren weg. „Wo wollen denn aufeinmal alle hin?“, rief ich in den Speisesaal und rannte raus, die Blicke ignorierend.
Der leere Gang kam mir jetzt unheimlich vor. Sicher, ich kannte die Schule noch nicht lange, aber der Gang hier hatte etwas Beunruhigendes. Dennoch ging ich weiter und fand schließlich den Mädchentrakt.


Der nächste Tag verlief ganz okay. Wenn man mal von Cody und unseren süüüüßen Lehrer absah, der sich als wahres Lyrik-Wunderkind entpuppte, absah. Und James, dem Speisesaal-Typ … Er litt nun nicht mehr ganz so unter Lachanfällen. Zurück zu Mr Taylor. Er war großgewachsen, grüne (moosgrüne) Augen und einen braunen, lässig hochgegelten Haarstyle. Ich musste ihn die ganze Zeit anstarren und wollte ihn schon auf seinen Bizeps ansprechen, hätte Cody mich nicht mit sich gezogen. Außerdem beobachtete ich James so richtig mit Benehmen hoch Arsch. Am Mittwoch gerieten Cody und ich in einen Streit wegen Mr Tay und die einzige, mit der ich darüber hätte reden können war Tori. Doch meine Schwester hatte genug mit ihrem Blair-Problem zu tun. Ich überlegte, ob vielleicht Quilla mich verstand, schlug es mir aber aus dem Kopf, wegen Mr Tay.
Zum Glück entpuppte sich James als kein riesiges Arsch und Mr Tay(lor) als verheiratet. Also schuldete ich Cody eine Entschuldigung. Nur das Blair-Problem löste es nicht.
Am Donnerstag war Tori total sauer. Ich konnte nur hoffen, dass es nichts wegen mir war.
„Blair ist so ein Arsch!“, schrie sie ihr Schließfach an und knallte es zu. Vielleicht wäre ich jetzt besser weggerannt, das tat ich aber nicht, weil es als Schwester mein (schwerer) Job war, sie zu trösten. Also räusperte ich mich.
„Was?!“, fuhr Tori mich an. Okay, das war beängstigend. Vorsichtshalber ging ich auf Abstand.
„Ich wollte dich … also … naja …“, stammelte ich. „Also wenn du jemanden … zum … Reden brauchst …“
„Ich brauchte niemanden! Nur mein Schließfach. Und jetzt geh!“
„Sag mal, was ist dein Problem? Dass dieser Blair dich ignoriert ist ja nicht meine Schuld. Ich will dir helfen, mehr nicht. Kannst ja auch mal ‚Nein, danke’ sagen, bist doch sonst so höflich. Außerdem ist er ein Lehrer, was soll er denn machen? Sich dir zu Füßen werfen und dir lebenslange Treue geloben?“ Und damit brauste ich ab. Scheiße!, dachte ich. Hoffentlich ist sie nicht zu sauer.


Dann war Freitag. Seit meinem gestrigen Ausbruch hatte ich Tori nicht mehr gesehen. Aber es war fast Wochenende und das machte mir so gute Laune, dass noch nicht einmal Cora, der gerade dabei war, die Tafel vollzuschmieren, von wegen ich hätte was mit ´nem Lehrer und Cody und ich würden Schluss machen, mich aus der Fassung brachte.
Gelassen ging ich zu Cody rüber, der sich in seinem Stuhl nach hinten gelehnt hatte und sich darüber todlachte, denn ich hatte mich ja bei ihm entschuldigt.
Wir einigten uns darauf, Cora, der Brasilianer war, seinen Spaß zu lassen. Zögernd dachte ich daran, zu Tori zu gehen, doch die redete mit sich selbst, wobei ich mir in dem Punkt nicht so sicher war, denn sie starrte ihren Stift dabei an. Rhona stürmte rein und fuhr Tori an: „Warum hast du mich nicht geweckt?“
Tori brummte was, was klang wie „Seh ich aus wie deine Mutter?“ und kam auf mich zu.
„Hey, was …“, versuchte ich zu fragen, doch sie achtete nicht darauf.
„Komm mit.“, sagte sie und ging stur weiter. Auf dem Weg nach draußen prallten wir mit Mr Blair zusammen.
„Victoria, Venus …“
„Ihr ist schlecht.“, sagte Tori und schenkte ihm einen giftigen Blick, gemischt mit einem zuckersüßen Lächeln und zog mich ohne ein weiteres Wort weiter. Wir kamen draußen vor dem Haupteingang an, wo sie mich auf eine Bank schleuderte und anfing, eine fette Schimpftirade von sich zu geben, inklusive dem einen oder anderen deftigen Fluch. Irgendwann hatte ich genug und auch sie schien sich ein wenig abgeregt zu haben, also zog ich sie wieder mit in den Unterricht. Der Rest des Tages verlief wieder ganz okay. Die Mathestunde überlebte Tori leidlich und in Lyrik warf ich mich dermaßen in die Rolle, dass ich mich vor der ganzen Klasse blamierte.
Doch dann ging für Tori die Welt unter: Doppelstunde Sport!




Neun


Victoria:



„Nein, nein, nein!“, schrie ich Venus an, die mit großen topasfarbenen Augen vor mir stand und mir gerade verraten hatte, wer unser Sportlehrer war.
„Du musst da aber trotzdem hin.“, murmelte sie und senkte die Kopf. Ich seufzte.
„Okay. Entschuldigung. Ich war die Woche voll mies zu dir. Aber dieser … dieser … Herrgott, Blair geht mir voll unter die Haut! Ich weiß nicht, wie der das macht. Normalerweise bin ich doch Spezialistin darin, Leute, die mich nerve zu ignorieren …“ Grummelnd setzte ich mich auf eine Steinbank in dem Park, der Schulgarten genannt wurde.
Oh Göttin, bitte! Ich halt das nicht aus!

, sandte ich ein Gebet zum Nachthimmel hoch.
Ich sah auf, als Venus sich zu mir setzte.
„Passt schon.“, sagte sie, grinste mich aufmunternd an. „Ist das nicht dein Lieblingsspruch, wenn dir was nicht passt?“
Ich stieß einen frustrierten Seufzer aus, straffte dann aber den Rücken. „Du hast recht! Dieser Blair kann mich mal am A … Gesäß! Ich geh jetzt in die Turnhalle, blamiere mich und ignoriere diesen ach so tolle Lehrer! Passt schon.“ Und damit stand ich auf, warf meine Sporttasche über die Schulter und ging auf die Halle zu. Schnell sprang Venus mir hinterher. Auf halbem Weg holte Rhona uns ein und sah mich verwundert an, als sie mein gutgelauntes Gesicht sah.
„Tori? Woher kommt die gute Laune?“
Ich grinste sie an. „Wie aus dem Nichts war sie aufeinmal da. Komm, sonst sind wir zu spät.“
Eifrig nickte sie, joggte hinter mir her. „Klar! Ich darf doch nicht verpassen, wie sich Blair das Hemd auszieht.“ Sie kicherte, hielt jedoch inne, als ich stocksteif stehen blieb.
„Das Hemd?“
„Ja. Er zieht sich vor der Stunde um, wie wir alle. Manchmal ist dann die Tür einen Spalt breit offen. Er hat einen herrlichen Bizeps! Und sein Sixpack! Das musst du gesehen haben! Also komm, was ist?“
„Bizeps? Sixpack?“, stammelte ich. Kakerlakenmist! Das würde meine Beherrschung hart auf die Probe stellen. Nein, Moment! Ich musste ja nicht hinsehen. Ich würde auf Klo sein, wenn die anderen vor seiner Tür rumlungerten. Hach, wie toll ich mal wieder die Zukunft vorraus sehen konnte. Grinsend wischte ich durch die Luft. „Passt schon.“
Irritiert blickte Rhona von mir zu Venus, folgte uns dann aber wieder.
Die Sporthalle war ein riesiges Steingebäude am anderen Ende des Schulgeländes. Allerdings wieder mit einem Hauch von Modernität. Es war atemberaubend. Wie alles hier. Innen war es hell eingerichtet. Mit hellbraunem Parkett, weißen Wänden. Die Umkleiden hatte keine Schließfächer, aber das hatte ich mir schon gedacht.
Nachdem ich mich umgezogen hatte, ging ich in Stoffhotpants, einen grünen Top und Chucks auf den Flur raus, der in die Halle führte. Rhona und Venus waren schon vorgegangen. Ich war extra lahm gewesen. Vor mich hin summend wollte ich nach de Klinke greifen, als jemand anderes sie von der jenseitigen Seite öffnete und mir das Ding vor die Nase knallte.
„Autsch!“, jammerte ich und tastete die Nase ab.
„Oh, sorry, ich wollte nicht … Tori.“
Erschrocken hob ich den Blick und wich unwillkürlich zurück. Erik Blair musterte mich kühl, dann wandte er das Gesicht ab, räusperte sich.
„Sorry.“, murmelte er noch einmal, dann drängelte er sich an mir vorbei. Ich ließ ihn passieren, starrte ihm benommen hinterher.
„Hey, ich hab dich schon überall gesucht! Rhona und Venus machen sich auch schon Sorgen. – Alles in Ordnung?“
Nur am Rande nahm ich wahr, wie James mich am Arm berührte, mich mitziehen wollte. Ich schüttelte ihn ab, murmelte nicht sehr überzeugend, dass es mir gut ging und stolperte wie betäubt in die Halle.
Okay, nun war es offiziell! Das „Geflirte“ in der ersten Mathestunde mit Blair war die reinste Fata Morgana gewesen. Völliger Schwachsinn! Er war sogar weniger als gar nicht an mir interessiert. Ich meine, hallo!? Er ist ein Lehrer!
Die ganze erste Stunde lang saß ich dann am Rand des Spielfeldes. Die Beine angezogen hielt ich mir den Bauch vor Schmerzen und klagte in Gedanken über die hässlichen Verspannungen in Schultern und Nacken. Oh, oh, das hieß nichts Gutes …
Ich seufzte und schloss die Augen. Göttin, lass den Tag endlich vorbei sein!

Ich wollte nur noch ins Bett und den besorgten Blicken von Blair entkommen.
„Hier.“, hörte ich ihn sagen. Ich riss die Augen auf, starrte auf ein rundes, weißes Ding in seiner Handfläche. Ich sah zu seinem Gesicht auf, funkelte ihn böse an.
„Was soll ich damit?“, schnappte ich, verkroch mich weiter in meine Ecke. Er seufzte.
„Sie runterschlucken. Du hast doch Bauchschmerzen.“
Erst jetzt bemerkte ich die Wasserflasche in seiner anderen Hand. Misstrauisch hob ich eine Braue. „Auf einmal sorgst du dich wieder, ja?“ Die Worte waren raus, bevor ich es überhaupt mitbekam. Ich biss mir auf die Lippe. Wie selbstverständlich mir die vertraute Anrede über die Lippen ging. Blair schüttelte den Kopf, hielt mir die Tablette und die Flasche nachdrücklich entgegen. Ich nahm sie an und fühlte mich komischerweise gleich besser.
„Was ist das?“, fragte ich, fühlte mich ein bisschen träge. Blair erwiderte meinen Blick mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck.
„Gegen Schmerzen.“, sagte er schlicht. Sobald die Worte ausgesprochen waren legte sich ein bleiernes Gewicht auf meine Glieder, ich konnte keinen Gedanken mehr fassen.
„Huch!“, nuschelte ich. „Ich bin verdammt müde.“ Schläfrig schloss ich die Augen. Das Letzte, was ich spürte, war, wie der Boden unter mir verschwand. Dann entglitt mir mein Geist.


„Nicht jetzt …“, hörte ich eine vertraute Stimme. „… so früh … nicht gut …“
„“Ich weiß, aber sie …“ Eine andere, ebenfalls vertraute Stimme. „… vielleicht … mehr als gedacht …“
„Du kümmerst … ihr … pass auf …“
Die Worte ergaben alle keinen Sinn. Ich wollte die Stirn runzeln, konnte aber keinen Muskel bewegen. Es wurden immer mehr Worte und kein einziges Mal ergaben sie Sinn.
Verärgert blendete ich die Stimmen aus. Ich war immer noch verdammt müde.


Träge blinzelte ich, bis ich eine klare Sicht hatte und gähnte. Ich hatte unglaublich gut geschlafen. Außer der kleinen Unterbrechung hatte ich bestimmt gelegen wie tot.
Lächeln streckte ich mich, hielt jedoch irritiert inne, als ich sanfte Atemzüge hinter mir vernahm. Vorsichtig wollte ich mich umdrehen und bemerkte zwei starke Arme, die von hinten um meine Mitte geschlungen waren. Das machte mich noch neugieriger. Also drehte ich mich entschlossen um, darauf bedacht, die Person nicht zu wecken, und erfror schlagartig zu einer liegenden Salzsäule. Himmel und Erde, es war mir wohl bestimmt, jedes Mal einen Schock zu kriegen, wenn ich ihn ansah.
Dennoch konnte ich nicht umhin, ihn zu betrachten. Seine Gesichtszüge wirkten vollkommen entspannt, es sah beinah schon aus wie ein Kind, da ihn das noch jünger erschienen ließ. Seine dunklen Haare standen zum Teil wirr vom Kopf ab, zu einem anderen fielen sie ihm ins Gesicht, schmiegten sich um seine hohen Wangenknochen. Seine Lippen öffneten sich leicht, als er im Schlaf seufzte.
Ich wurde zurück in die Realität gerissen. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, löste ich seine Arme von mir und schob mich Langsam Richtung Bettkante. Doch gerade, als ich aus dem Bett kriechen wollte, schlug er die Augen auf, sah mich direkt an. Vor Schreck erstarrte ich abermals. Blairs Lippen verzogen sich zu einem zaghaften Lächeln.
„Du bist wach.“, bemerkte er. Ich verdrehte die Augen.
„Danke. Von allein wäre ich da jetzt nicht drauf gekommen.“, erwiderte ich und stieg nun doch aus dem Bett. Vorher musste ich mich natürlich noch irgendwie aus den Decken befreien, die er um mich gestopft hatte. Das Resultat war, dass ich mit der Nase zuerst auf dem Boden landete. Mal wieder. Und schon wieder war Erik Blair als Zeuge meiner Geschicklichkeit anwesend. Dieser lachte sich jetzt auch einen Ast ab.
„Lach nicht!“, zischte ich. Sofort verstummte er, während ich umständlich aufstand, mein Top zurecht zupfte und mich umsah.
„Was mach ich eigentlich hier?“ Zu meiner Verwunderung – aber zugleich auch zu meiner Erleichterung – hatte ich noch meine Sportsachen an. Ich runzelte die Stirn, ging im Zimmer auf und ab, wie ich es immer tat, wenn ich schwer nachdachte. Fünf Minuten später dämmerte es mir langsam und eine vage Erinnerung erschien in meinen Gedanken. Blair hatte mir eine Schmerztablette gegeben, weil ich verdammte Bauchschmerzen gehabt hatte, dass ich fast dachte, ich würde meinen Magen auskotzen müssen. Von meinen Verspannungen ganz zu schweigen. Aber Moment! Wenn das gar keine Schmerztablette gewesen war?
Ich bemerkte seinen Belustigten Blick und wandte mich ihm zu. „Was?“
Schmunzelnd schüttelte er den Kopf, befreite sich ebenfalls aus den Decken und ging an mir vorbei. „Willst du was trinken?“
Misstrauisch sah ich seinem Hintern hinterher, der durch eine Tür verschwand. Ich wollte ablehnen, doch meine Kehle war trockener als die Sahara. „Hast du zufällig Cola hier?“
„’türlich. Mit Eis?“ Seine Stimme klang immer noch amüsiert. Was fand er denn so witzig?
„Ja. Ach, und wo ist das Klo? Ich muss …“
„Tür links von dir.“, kam seine Antwort. Ich hob eine Braue, wandte mich jedoch um, denn ich musste dringend mal. Als ich wieder raus kam nahm ich das Zimmer genauer unter Augenschein. An der einen Seite waren zwei große Fenster, die schweren dunklen Vorhänge davor waren zurückgezogen und offenbarten einen Blick auf den nächtlichen Campus. Daran hatte ich mich komischerweise bereits gewöhnt. Neben den Fenstern stand ein riesiges Bett mit Metallgestell, in dem ich vor ein paar Minuten noch gelegen hatte. Auf einem Schreibtisch mit einem Mac lagen Berge von Papieren, Heftern und Büchern. Immerhin wusste ich jetzt, warum er in den Mathestunden immer so unendlich lange brauchte, um seine Unterlagen zu sortieren. Ein kleines Grinsen stahl sich auf mein Gesicht. In dieser Hinsicht waren wir uns wohl ähnlich. Dann sah ich sein Bücherregal und war hin und weg. Göttin, das

war eine Sammlung! Ich brach in schallendes Gelächter aus, als ich die Midnight-Breed

-Serie von Lara Adrian entdeckte. Als Blair dann noch erschrocken den Kopf ins Zimmer steckte und mich vollkommen irritiert ansah, kugelte ich mich wortwörtlich am Boden vor Lachen.
„Das ist nicht dein Ernst!“, keuchte ich und deutete auf die Bücher. Ich hörte, wie er mit den Zähnen knirschte (ein abartiges Geräusch) und hätte schwören können, dass er leicht rosa anlief.
„Ich finde die Bücher interessant. Komm!“ Er half mir vom Boden auf und mied meinen Blick. Ich grinste.
„Ich kann mir schon vorstellen, warum du sie so interessant findest.“ Ich wackelte mit den Augenbrauen. Er schnaubte, doch ich sah ein Lächeln in seinen Mundwinkeln zucken.
„Hast du Hunger?“, lenkte er ab. Erfolgreich. Mein knurrender Magen war Antwort genug. Lächelnd ging er in die Küche. Ich folgte ihm. Hier war alles modern mit Chrom und Edelstahl eingerichtet. Blair reichte mir ein Glas Cola und ein Sandwich. Entschuldigend lächelte er mich an.
„Ich bin kein Koch. Tut mir leid, aber wenn …“
Ich winkte ab und nahm einen großen Bissen. Genussvoll seufzte ich. „Mit Thunfisch und Tomate! Ich könnte sterben!“, murmelte ich mit vollem Mund. Blair lachte.
„Sehr ladylike, das muss man dir lassen.“
Ich funkelte ihn an, spülte den Bissen mit einem Schluck Coke runter und setzte mich an den Küchentisch.
„Okay. Also, ich nehme an, dass hier ist dein Zimmer. Dann beantworte mir doch bitte zwei Fragen. Erstens, warum hast du ein eigenes Bad und eine eigene Küche? Und zweitens, was mache ich hier?“
Er runzelte kurz die Stirn, schien zu überlegen. „Nun, die eigenen Zusatzräume hab ich, weil ich ein Lehrer bin. Und … hm … ich würde sagen, du isst hier.“
Ich bedachte ihn mit einem sarkastischen Blick. „Das meine ich nicht. Warum bin ich in deinem Bett aufgewacht? Mit dir

in einem Bett?“
Er seufzte, setzte sich mir gegenüber. „Fein, du bist in dem Punkt wohl zu intelligent.“
Ich schnaubte.
„Was? Mein ja nur. In Mathe bist du wirklich eine Niete. Hab selten jemanden … Schon gut, ich bin still.“ Er presste kurz die Lippen aufeinander, als er meinen Blick bemerkte. Dann fuhr er fort: „Also gut. Du hattest neben heftigen Bauchschmerzen auch Schmerzen in Schultern und Nacken, Kopfschmerzen und Gliederschmerzen, richtig?“
Ich überlegte kurz. Ich hatte nur die Bauch – und Nackenschmerzen wahrgenommen. Aber als ich mich jetzt zurückerinnerte, fiel mir auf, dass ich mich am ganzen Körper einfach nur scheiße gefühlt hatte. Verblüfft sah ich Erik an. „Und?“
„Das hat etwas mit einer Wandlung zu tun.“
„Wandlung?“ Ich sah ihn verstört an. Das klang absolut krank.
„Ja. Es ist eine komplizierte Geschichte. Auf jeden Fall hab ich dir deshalb die Tablette gegeben. Ansonsten hättest du drei Tage lang Schmerzen leiden müssen. Sie hat dich vollkommen ruhig gestellt und ich hab dich auf mein Zimmer gebracht, damit du Ruhe hast. Deine Zimmernachbarin, Rhona, weiß bescheid. Venus allerdings macht sich Sorgen. Sie soll noch nichts von all dem wissen.“ Er sah mich mit einen traurigen Lächeln an und wirkte dabei wie ein kleiner, verlorener Junge. „Und dass wie im selben Bett geschlafen haben liegt daran, dass ich auch irgendwo schlafen musste.“
„Also, Moment! Ich hab drei Tage geschlafen, weil ich mich wandle? In was?“
„Das muss dir Quilla erklären.“
„Fein.“, schnappte ich. „Dann gehe ich jetzt zu ihr.“ Ich wollte aufstehen, doch er hielt mich zurück. Erst jetzt fiel mir auf, dass er nichts Weiteres am Leib hatte als eine graue Jogginghose. Augenblicklich standen meine Wangen in Flammen.
„Nein, warte. Ich will dich auf dein Zimmer bringen. Dort solltest du die nächste Nacht auch verbringen, weil deine Wandlung ein wenig zu früh stattgefunden hat. Ich schicke Venus zu dir, in Ordnung?“
Ich stemmte die Hände in die Hüften, versuchte mich auf sein Gesicht zu konzentrieren und nicht allzu offensichtlich seinen durchtrainierten Oberkörper anzustarren. Wasser und Erde, Rhona hatte recht gehabt! Was für ein herrlicher Bizeps! Oh, ein verbotener Bizeps …
„Wandlung in was?“, fragte ich wieder.
„Ehrlich gesagt, das weiß ich nicht so genau.“, gestand er, sah mir in die Augen. „Wie gesagt, Quilla kann dir da mehr erzählen. Aber nicht heute. Komm!“ Er zog sich ein T-Shirt über, die Hose behielt er an, ebenso wie er es nicht als nötig ansah, sich Schuhe anzuziehen. Dann legte er einen Arm um meine Taille und führte mich aus dem Lehrertrakt. Ich ließ es geschehen. Im Mädchentrakt angekommen wandte sich natürlich alle Blicke uns zu. Einige versuchten mich zu erdolchen, dich ich ignorierte sie gekonnt.
Venus saß mit Kathy, Rhona, Leah und Cody um einen Fernseher und schaute sich irgendwelche Folgen von Two and a half men

an. Sie sprang sofort auf, als sie mich entdeckte und kam zu uns rüber.
Erik bat sie, auf mir auszupassen, mich nicht aus den Augen zu lassen. Gnädig, wie er war, durfte ich mich dann doch zu den anderen setzen und musste mich nicht ins Zimmer sperren lassen. Bevor er ging gab er mir einen Kuss auf die Wange, was mein Herz zum Stillstand und den Raum zum Toben brachte. Zumindest den weiblichen Teil.




Zehn


Venus:



„Oh Göttin, Tori! Wo bist du denn gewesen?!“, schrie ich und merkte die vielen Blicke auf mir. Tori lächelte verschmitzt.
„Hast du tatsächlich ‚Oh Göttin’ gesagt?“
Ich spürte mich rot werden, als Cody mir seinen Arm um die Schultern legte und besitzergreifend meine Schulter drückte. „Ist denn was dabei?“
Tori musterte mich eindringlich und konnte ihr Lachen nur schwer zurückhalten.
„Verzeihung!“, fiel da James ein. Alles starrten ihn an, sprich: Leah, Rhona, Tori, Cody, Kathy und ich. Und sofort brach er in einen Lachanfall aus, woran wir mittlerweile schon gewohnt waren.
In der Hoffnung, die anderen von der ‚Göttin’ abzulenken fragte ich: „Wo warst du denn jetzt, Tori?“
„Ja, genau! Jedes dreckige Detail will ich wissen!“, sagte Leah und wackelte mit den Brauen. Tori lachte und schlug ihr freundschaftlich auf die Schulter.
„Nur weil du mit jedem ins Bett gehst, heißt das nicht …“
Was mach ich?!


„Gar nichts …“ Tori sah sie von unten herauf an, mit diesem Hundeblick, dem kaum einer widerstehen konnte. „Ich bin müde.“, sagte sie dann und zog Rhona, die sich entschuldigend umsah, hinter sich her. Tja, so viel zum Thema Wo ist Tori gewesen?

.
„Und wo war sie jetzt?“, fragte Kathy, während sie sich auf einen Sessel plumpsen ließ.
Iiiiiiiiihhh!

Mach das weg, mach das weg!“, quiekte James, sprang auf und fuchtelte wild mit den Armen.
„Ist ja gut.“, sagte Leah und schnipste die kleine Spinne von seiner Schulter, die sich sofort verkroch. Schwer atmend saß er da. James, der sich über ‚Verzeihung’ todlachte, aber Angst vor Spinnen hatte. Gut, ich gab zu, ich hatte Angst vor Spinnen – gut, keine Angst, sondern einen gewissen Ekel.
Ich musste wohl ziemlich gequält geguckt haben, denn Leah sagte: „Hey Venus! Alles klar im BH?“
„Was?“
Sie seufzte und stemmte augenverdrehend ihre Hände in die Hüften.
„A-l-l-e-s k-l-a-r i-m B-H?“, buchstabierte sie. Ich verdrehte ebenfalls die Augen. Leah war einfach unverbesserlich!

Schweigend lag ich da, wälzte mich im Bett umher, konnte nicht schlafen. Warum?
Ich war hellwach, sogar so wach, dass ich glaubte, jetzt Schwerstarbeit verrichten könnte.
Leise schlich ich zur Tür und stolperte über einen noch nicht ausgepackten Karton mit Büchern.
„Au!“, fluchte ich.
„Mhm …“, machte Kathy. „Venus, leg dich wieder hin.“
Ich seufzte und kam ihrer Bitte nach.
„Venus?“
„Ja?“
„Mach das Licht aus!“
Welches Licht?

“, schrie ich. Es war stockdunkel.
„Ist ja gut, dann lass es an.“, knatschte sie.
„Es. Ist. Kein. Licht. An!“, schrie ich. Sie musste träumen, denn sie antwortete mit einem Schnarchen. Na toll! Madame schlief und ich nicht.
Ich hatte dann die ganze Nacht wach gelegen. Ohne Flacks! Mein Haar war zerzaust und für meine Verhältnisse sah ich, wie Leah wohl sagen würde, aus, als hätte ich einen Turnschuh gegessen.
Ich sah zum Davonrennen aus!
„Hey, Venus.“, sagte Kathy und kam fröhlich pfeifend aus dem Bad.
„Gut geschlafen?“, fragte ich genervt und würde ihr am liebsten den Hals umdrehen. Man, ich hatte echt aus nichts Bock. „Ich geh dann …“ Und damit ging ich in Boxershorts und einem T-Shirt mit Tweety-Aufdruck, welcher sagte ‚Süße Träume’. Oh ja, sooo süüüß!
Ich lief an ein paar Mädchen vorbei, die mich alle anstarrten. Als ich hörte, wie jemand etwas nuschelte, platzte mir der Kragen.
„Was ist? Hast du noch nie ein Mädchen im Tweety-T-Shirt gesehen?“, blaffte ich sie an. Ich sah, wie sie ängstlich zurückwich. Sie tat mir leid. Ver- … Was hatte ich getan?
Vor lauter Wut über mich selbst wurde mir schwindelig und ich fiel zu Boden. Ich lag da, wartete, doch der Schwindel verschwand nicht. Ich blieb weiterhin reglos liegen, in der Hoffnung, er würde doch verschwinden.
Ich hörte Getuschel wie „Holt Quilla“ und „Oh nein …“. Hatten die denn keine Hobbys?
Nach ein paar Minuten hörte ich Schritte. Mein Kopf tat unsagbar weh, der Schwindel hörte nicht auf. Ich bekam kaum noch Geräusche mit. Klar!
„Venus …“, sagte Quilla. „Helft ihr hoch und bringt sie in mein Büro.“ Ich glaubte, keiner wagte zu widersprechen, denn Hände packten meine Schultern und hoben mich hoch. Alles drehte sich. Es dauerte nicht lange. Das heißt, es hätte nicht lange gedauert, wenn ich nicht andauernd gestolpert und gegen die Wand geprallt wäre. Das würde definitiv blaue Flecken geben.
Schließlich saß ich auf dem Stuhl vor Quilla. Der Schwindel war komplett verschwunden und die Kopfschmerzen waren weg.
„Nun, Venus, was meinst du, was du bist?“, fragte sie mit warmer Stimme. Was war das denn für eine Frage?
„Ein Mensch natürlich. Was sonst?“
Energisch schüttelte sie den Kopf. „Du wandelst dich.“
Ich brach in schallendes Gelächter aus. Wandeln? Also bitte! „Und in was soll ich mich ‚wandeln’?“ War das ein Traum?
Sie lächelte und irgendwas sagte mir, dass das kein Traum war. „Das wirst du wohl noch herausfinden. Allerdings wirst du an starken Stimmungsschwankungen und Schlaflosigkeit leiden. Du wirst auch …“
„Okay, das reicht jetzt. Ich sitz hier in einem Tweety-Top und Tom & Jerry Boxershorts, nachdem ich ein unschuldiges Mädchen angeschrien hab und heute Nacht definitiv nicht

schlafen konnte. Und sie wollen mir weis machen, dass das an einer Wandlung liegt, als wäre das alles ein schlechter Film. Also bitte. Ich gehe mich jetzt für einen normalen Schultag – oder Schulnacht – umziehen. James wird sich wieder über wer weiß was lustig machen und den Rest kann man sich denken …“
Ich stand auf, stürmte durch die Tür und rannte zurück in mein und Kathys Zimmer. Ich zog mich um und rannte in die Küche.
„Chai!“, rief Tori.
„Hi“, sagten auch Rhona und Leah.
„Und? Gut geschlafen?“, fragte Leah. Redete sie mir?
„Sehe ich vielleicht so aus, als hätte ich gut geschlafen?!“, schrie ich und wenige Sekunden danach tat es mir auch schon wieder leid. Da kam Kathy rein.
„Hey, Venus, könntest du …“
„Nein!“
„Aber ich …“
Nein!


„Hui, die hat aber …“
Nei-in!!!


„Wandlung …“, nuschelte Kathy. Tori sah sie verärgert an, Rhona schüttelte den Kopf.
„Sie ist zu jung.“, sagte die Zimmernachbarin meiner Schwester.
„Ja, du hast …“
„Nur weil ich einmal

schlecht geschlafen habe?“, fuhr ich sie an und war insgeheim verängstigt, weil Kathy dasselbe erwähnte wie Quilla.
Die anderen sahen mich verstört an. Ich murmelte eine Entschuldigung und rannte nach draußen. Dort fand ich eine freie Bank. Uff! Die kühle Luft wehte mir ins Gesicht. Aber es tat gut. Es fühlte sich vertraut an. Naja, bis mir ein Blatt in Gesicht geweht wurde. Aber das war mir egal.
Ich blickte zum Nachthimmel hinauf. Das weiße Licht des Mondes schien auf mich hinab. Silbern schien sich der Himmelskörper mit mir über diesen Moment zu freuen. Mir war nie aufgefallen, wie schön er war.




Elf


Victoria:



Ich seufzte genervt. Das wurde ja immer schlimmer mit ihr! Früher war sie beinahe schon unerträglich gewesen, mit ihren Überreaktionen und so … Aber jetzt … Herrje, herrje … Und wo war sie eigentlich hin? Sie verschwand doch sonst nie einfach so. Obwohl …
„Wo ist sie denn hin?“ Verdutzt sah Kathy zu der Tür, durch die Venus verschwunden war. Ich hob die Schultern.
„Ich geh sie besser suchen. Bevor sie noch irgendwen umbringt oder so.“
Sie musste ja nicht wissen, dass ich eigentlich jemanden um Rat bitten wollte. Hastig, bevor noch jemand mitkommen wollte, verschwand ich, rannte durch die Gänge. „Tss, Wandlung!“, zischte ich dabei. „Das ist doch dämlich! Für was halten die uns denn?“ Ich suchte jeden Gang ab, schaute unauffällig im Lehrertrakt nach, schlich im Schulgarten rum. Ich fand ihn nicht.
Als es dann zur nächsten Stunde klingelte hatte ich ihn immer noch nicht gefunden. Doch wie es der Zufall wollte hatte ich jetzt Mathe. Frustriert schlug ich mir die Hand vor sie Stirn. Meine Intelligenz war grenzenlos! „Ich Idiotin! Dilettantin! Fast schon wieder spektakulär!“ Ich verdrehte die Augen und wollte mich umdrehen, prallte dabei gegen jemanden. „Warte, warte! Kein Kommentar! Es ist einfach Schicksal, dass ich mich immer wieder in deiner Gegenwart blamiere.“ Seufzend trat ich einen Schritt zurück. Erik lachte leise.
„Ach was, es ist süß.“ Er lächelte schief und strich mir eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Ich spürte, wie ich rot wurde. Mein Atem ging schwerer. „Aber du hast irgendwas gesucht, richtig?“
„Äh, j-ja … Du … Weißt du, Venus … Also sie …“ Ich bemerkte die Papiere in seinem Arm. „Egal, die Stunde hat angefangen. Ich sags dir nachher.“ Ich lächelte ihn an. Er neigte den Kopf.
„In Ordnung.“ Seine Mundwinkel zuckten, gaben die Ahnung eines Lächelns preis. Dann wies er mit der Hand den Flur entlang. „Die Klasse wartet.“
Ich nickte und trottete neben ihm her.
Im Klassenraum war die Hölle los. Irgendjemand hatte einen Stuhl durch die Klasse geschmissen, aus welchem Grund auch immer. Der hatte dann irgendjemanden getroffen. Derjenige ist ausgetickt und hat die ganze Klasse mitgerissen.
Ich blickte da nicht ganz durch, also war ich umso beeindruckter, als Erik die Schüler ohne große Mühe beruhigte und jeder an seinen Platz ging. Er deutete mir, mich auch zu hinzusetzen, also setzte ich mich neben Rhona, die mich mit fragenden Blicken taxierte. Ich ignorierte es, tat als wäre alles normal.
Nachdem er uns begrüßt hatte, erklärte er und, dass das neue Thema die Berechnung eines Kreises war, weshalb ich unglaublich glücklich war, da ich das schon mal gehabt hatte und das echt einfach war. Deswegen verlief der Rest der Stunde ziemlich gut und schnell. Was wohl auch daran lag, dass Erik wieder öfter an mir vorbeikam und nich so einen riesigen Bogen um mich machte, als hätte ich die Pest. Ich fragte mich, warum er das überhaupt getan hatte.
Am Ende der Stunde schickte ich meine Freunde schon mal vor, damit sie unseren DVD-Abend vorbereiteten und ging zum Pult. Dort empfing mich der gleiche Duft, wie er mir schon vorhin aufgefallen war, als ich mit Erik (mal wieder) zusammengestoßen war, woran ich ihn auch erkannt hatte. Es war ein herber, würziger Duft mit einer pulsierenden Unternote. Irgendwie war es wie Schokolade, nur in einer anderen Form von süß. Es roch wilder. Gleichzeit war da aber auch etwas Frisches, etwas, was mich an große weite Wiesen, blauen Himmel und endlose Wälder erinnerte.
Erik Blair sah sofort auf, als er mich bemerkte. „Du wolltest über deine Schwester reden, richtig? Warum?“ Er war vollkommen ernst. Ahnte er etwas?
„Sie … ist ein bisschen komisch. Also, ich meine, sie hat schon immer gerne überreagiert und so, aber seit heute morgen ist sie echt extrem. Sie reagiert sogar auf eine einfache Begrüßung aggressiv. Und Kathy hat irgendwas von Wandlung gesagt und …“
„… ich habe dir bereits gesagt, dass du dich wandelst …“
Ich nickte. „Aber was soll der Mist? Wandlung … In was? Das hört sich doch vollkommen … merkwürdig an. Das ist doch … Ach, ich fang lieber gar nicht erst an, sonst komme ich da nicht mehr raus vor Sonnenaufgang.“ Ich stieß die Luft aus, lehnte mich gegen das Pult. Der Gedanke, in irgendeiner Weise Sonnenstrahlen ausgesetzt zu sein, bereitete mir Unbehagen.
„Das kenn ich.“, murmelte er.
Ich sah auf. Sein Blick war so unglaublich intensiv, dass ich Gänsehaut bekam und meine Knie weich wurden. „Ich verstehe nich …“
Urplötzlich stand er vor mir, mit einem unendlich traurigen Ausdruck in den Augen. Verwundert blinzelte ich, dann trat ich einen Schritt auf ihn zu, schlang die Arme um seine Mitte und lehnte den Kopf gegen seine harte Brust.
Seine Arme legten sich ebenfalls um mich, er seufzte gequält. „Ich verstehe es auch nicht.“
„Hm“, nuschelte ich in sein Hemd. War das sein Herzschlag, der so laut gegen mein Ohr pochte?
Ich spürte seine Hände, die mir über den Rücken strichen. „Wie fühlst du dich?“, fragte er leise. Ich schlang die Arme fester um seine Taille.
„Im Moment geht es mir sehr gut.“
Seine Brust vibrierte bei seinem sanften Lachen. „Das freut mich.“
Seine Hände wanderten zu meinen Schultern, legten sich um meinen Nacken. Er lehnte sich leicht zurück und betrachtete mich aus seinen blaugrünen Augen, doch er sagte kein Wort. Brauchte er auch nicht. Als hätte ich nie etwas anderes getan, nahm ich sein Gesicht in meine Hände, stellte mich auf Zehenspitzen und küsste ihn.
Er schmeckte wie sein Duft. Und irgendwie kam mir der Gedanke an Blut. Doch anstatt mich abzustoßen ließ es mich mehr wollen. Sein Puls schlug schnell und kräftig und sein Blut rauschte durch seine Adern. Ich konnte es hören, es riechen, es beinahe schon schmecken.
Sein kehliges Stöhnen riss mich zurück auf die Erde. Oh. Mein. Gott! Was tat ich hier? War ich wirklich dabei, mit meinem Lehrer rumzuknutschen? Mit meinem Mathelehrer

?!
Keuchend riss ich mich von ihm los, starrte ihn entsetzt an. Das war zu viel. Schlicht und ergreifend zu viel. Langsam ging ich rückwärts, brachte Abstand zwischen uns, bis ich mich herumwarf und floh.
Das Letzte, was ich gesehen hatte, war sein verblüffter Gesichtsausdruck gewesen. Nicht verärgert oder geschockt, sondern einfach nur verblüfft hatte er seine Lippen berührt und mir hinterhergesehen.
Verstört lief ich durch die Gänge, suchte verzweifelt den Mädchentrakt, doch ich fand ihn partout nicht. Gerade wollte ich um eine Ecke gehen, als mir etwas Bärtiges mit einer Nerdbrille entgegenkam. Verwirrt und geschockt wie ich nach wie vor war, schrie ich mir als erstes die Seele aus dem Leib, bis das Etwas den Bart und die Brille abnahm und Leah darunter zum Vorschein kam.
„Sorry.“, lachte sie und sah mich belustigt an. „Ich hab ne Zimmernachbarin bekommen und wollte sie hiermit erschrecken – hat leider nicht geklappt – und dann hab ich vergessen, es abzunehmen, als ich dich suchen gegangen bin. Meine Zimmernachbarin heißt übrigens Dianne. Wo warst du?“
Verwirrt blinzelte ich die Blonde an, bis ich sie endlich erkannte und den Sinn ihrer Worte verstand.
„I-ich … ich weiß nicht … Leah, ich glaub, ich muss jetzt allein sein. Fangt schon mit dem Film an, in Ordnung?“ Damit wollte ich mich wegdrehen, doch Leah stemmte empört die Hände die Hüften.
„Find ich nicht in Ordnung, Tori! Immer machst du nur dein eigenes Ding.“
Ich hob gleichgültig die Schultern. „That’s me. Wir sehen uns.“
Statt dem Mädchentrakt fand ich nach weiterem Suchen den Ausgang. Schnell öffnete ich die große Tür und schlüpfte hinaus. Draußen empfing mich eine wundervolle Herbstnacht. Der Mond leuchtete in der Form einer Sichel am Himmel und verbreitete schimmerndes Silberlicht. Der Wind wehte leicht, ließ die bunten Blätter der Bäume um mich herum sanft rascheln. Der Duft von Gras und Erde umwehte mich.
Schon viel gelöster breitete ich die Arme aus, schloss die Augen. Die Nacht war es, die ich jetzt brauchte. Ein Spaziergang erschien mir eine wundervolle Idee. Um die Sonne brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Bis zur Dämmerung waren es noch zwei Stunden. Ich wusste zwar nicht, woher ich das wissen sollte, doch ich hatte es so im Gefühl.
Grübelnd ging ich die mit Kies bestreuten Wege entlang. Wie kam es, dass ich Eriks Blut hatte hören

können? Und warum hatte der Gedanke, es schmecken zu können, mich so angemacht? Das war ja abartig!
Angewidert von mir selbst schüttelte ich mich und unterdrückte den Drang, mich auf den Boden zu kauern und mich vor und zurück zu wiegen.
Grummelnd und zischend ging ich weiter und atmete die Nachtluft tief ein. Ich musste dringen mal wieder Yoga machen. Oder so …
Ich ging weiter, den Blick zum Sternenhimmel gerichtete. Bis ich auf eine Steinbank stieß, auf der jemand im Mondlicht saß.
„Venus!“
Sie wandte sich überrascht um. „Tori, was tust du hier?“
Ich lächelte meine Schwester an. „Ich war auf der Flucht, aber das ist mir im Moment egal. Wir sollten reingehen. Die anderen machen sich hundertprozentig schon Sorgen. Also kommst du? Ich bin nämlich total fertig und hab Hunger. Was meinst du, gehen wir? Vielleicht ist der Film der anderen noch nicht ganz zu Ende.“ Ich wusste nicht, ob ich hier versuchte, sie zu überzeugen, oder mich selbst.
„Ja, ist gut. Ich komme.“ Seufzend erhob sie sich und folgte mir, während ich sie mit Belanglosigkeiten zutextete, um mich von der Mistkacke von vorhin abzulenken.


Impressum

Texte: Die Kapitel, über denen "Venus:" oder "Victoria:" stehen, sind nicht von mir geschrieben!
Tag der Veröffentlichung: 24.06.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
meinen verrückten freunden mit denen ich das buch geschrieben habe auch wenn elisabethz manchmal etwas melodramatisch wird müsst ihr einfach ignorieren

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