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Ich erinnere mich lebhaft an den Tag, an dem das Aleuterschiff kam. Erst sah es aus wie eine kleine Muschel, die auf dem Meer dahintreibt. Dann begann sie zu wachsen und wurde zu einer Möwe mit gefalteten Flügeln.
Zuletzt, als die Sonne aufging, erkannte ich was es wirklich war-ein Schiff mit roten Segeln!
Mein Bruder und ich waren auf einen Hügel
gestiegen; unter uns lag eine Schlucht, die sich bis zu einen kleinen Hafen hinunterschlängelt. Dort liegt die Korallenbucht. Mein Bruder und ich wollten auf der Anhöhe nach Wurzeln graben. Im Frühjahr findet man dort immer welche.
Mein Bruder war noch klein, halb so alt wie ich, und ich zählte damals zwölf Jahre.
Gemessen an den vielen Sonnen und Monden, die er gesehen, war Ramo klein, doch flink wie eine Grille, aber auch ebenso töricht, wenn er in Aufregung geriet.
Darum sagte ich ihm nichts von der Muschel und der Möwe mit den gefalteten Flügeln, die ich entdeckt hatte, den er sollte mir beim Wurzelsammeln helfen und nicht davonlaufen.
Ich stocherte weiter mit meinem Stock, als wäre auf dem Meer nich das geringste zu sehen.
Selbst als ich sicher wusste, das die Möwe ein großes fremdes Schiff war, grub ich weiter im Gestrüpp.
Doch Ramos Augen entgingen wenige Dinge auf dieser Welt. Sie waren schwarz und groß wie die Augen einer Eidechse und sie konnten genauso schläfrig blicken; aber gerade dann nahmen sie alles am besten wahr.
Die Augen halb geschlossen, schaute er jetzt blinzelnd aufs Meer hinaus wie eine Eidechse, bevor sie die Zunge herausschnellt um nach einer Fliege zu schnappen.
"Das Meer ist glatt", sagte Ramo,"wie ein flacher Stein, der keinen einzigen Kratzer hat."
Mein Bruder redete gerne so, als wäre etwas nicht das, was es war, sondern etwas anderes.
"Das Meer ist kein Stein, der keinen Kratzer hat",sagte ich. "Es ist Wasser, das keine Wellen schlägt."
"Für mich ist es ein blauer Stein",sagte er. "Und außen am Rand des Steines sitzt eine kleine Wolke."
"Wolken sitzen nicht auf Steinen. Nicht auf blauen und nicht auf schwarzen und nicht auf irgentwelchen Steinen."
"Dort sitzt aber eine."
"Nicht auf dem Meer",antwortete ich."Dort gibt es Delphine, Möwen, Kormorane und Seeotter, auch Walfische, aber keine Wolken."
"Vielleicht ist es ein Walfisch."
Ramo trat von einem Fuß auf den anderen, während er zuschaute, wie das Schiff näher kam. Er wusste nicht, dass es ein Schiff war, denn er hatte noch nie eines gesehen.
Auch ich hatte noch nie eines gesehen, aber ich wusste, wie Schiffe aussahen, weil mein Vater sie mir beschrieben hatte.
"Schau du nur ruhig aufs Meer hinaus",sagte ich,"ich grabe inzwischen nach Wurzeln. Und ich werde sie aufessen und du bekommst nichts davon."
Ramo begann mit seinem Stock auf den Boden zu schlagen, doch obgleich er die ganze Zeit so tat, als schaute er nicht hin, ließ er das Schiff nicht aus den Augen. Es kam immer nähe und seine Segel schimmerten rot durch den Morgendunst.
"Hast du schon einmal einen roten Walfisch gesehen?",fragte er.
"Ja",sagte ich, aber das war gelogen.
"Die Walfische, die ich gesehen habe, sind grau."
"Du bist sehr jung und hast noch längst nicht alles alles, was im Meer schwimmt, gesehen."
Ramo hob eine eine Wurzel vom Boden auf und wollte sie sie eben in den Korb fallen lassen, als er plötzlich den Mund weit aufriss und dann langsam wieder schloss.
"Ein Kanu!",schrie er. "Ein Riesenkanu, größer als alle unsere Kanus zusammen. Und rot!"
Ob Kanu oder Schiff, für Ramo gab´s da keinen Unterschied. Im nächsten Augenblick hatte er die Wurzel in die Luft geschleudert und war verschwunden.
Lärmend und rufend bahnte er sich einen Weg durchs Gestrüpp. Ich stocherte weiter, doch meine Hände zitterten, denn ich war noch aufgeregter als mein Bruder. Ich wusste, dass das dort unten kein großes Kanu, sondern ein Schiff war, und ein Schiff konnte vieles bedeuten. Am liebsten hätte ich den Stock weggeworfen um hinter meinem Bruder her ins Dorf zu laufen; stattdessen arbeitete ich weiter, weil wir zum Essen nun einmal Wurzeln brauchten. In der Zeit, d aich den Korb füllte, hatte das Aleuterschiff die breite Salzkrautbank vor unserer Insel umsegelt und war zwischen den beiden Felsen, welche die Korallenbucht abschließen, in den Hafen eingelaufen.
Die Kunde von seinem Erscheinen war schon bis ins Dorf Ghalas-at gedrungen.
Unsere Männer liefen mit ihren Waffen den gewundenen Pfad zur Küste hinunter, während sich die Frauen am Rande der Mesa zusammenscharten.
Ich arbeitete mich durch das Dickicht und stolperte dann die steile Schlucht hinab, bis ich die Klippen erreichte. Dort ließ ich mich auf Hände und Knie fallen. Unter mir lag die Bucht.
Es war Ebbe und die Sonne glänzte auf dem weißen Küstensand.
Etwa die Hälfte der Männer unseres Stammes hatte sich am Rande des Wassers versammelt; die Übrigen hielten sich sich zwischen den Felsbrocken am Fuße des Pfades verborgen, bereit über die Eindringlinge herzufallen, wenn sich deren Absichten als unfreundlich erweisen sollten.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.04.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Das hier ist eine Leseprobe aus dem Buch Insel der blauen Delphine von Scott O´Dell. Ich hoffe es gefällt euch.

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