Laufen ins Nichts
Mittwochabend 19:15.
Nach einem tristen, kalten Herbsttag bricht doch noch endlich die Sonne durch und der blaue Himmel zeigt sein schönstes Gesicht. Den ganzen Tag über war ich mit schlemmen beschäftigt gewesen. Eine Geburtstagsfeier.
Jetzt, nachdem der Kuchen schon zwei Stunden sitzt, hocke ich gelangweilt vor meinem Computer. So richtig kehrt aber keine Ruhe in mir ein, ein unstetes Gefühl erfasst mich. Es kribbelt in den Füßen, ich will raus. Rennen.
Eine gute Idee, wie ich finde. Sport treiben ist gesundes für den Körper und, in meinem Fall, auch für den Geist. Erwartungsvoll schnüre ich mir die Schnürsenkel meiner Laufschuhe zu. Wohin wird es mich dieses Mal verschlagen? Eine feste Marschroute existiert nicht. Zwar startet die Tour immer bei mir in Lößnig und führt mich zu Beginn auch meist durch den Park am Silbersee. Danach jedoch ist Zeit für ausgedehnte Entdeckungsreisen.
Sorgfältig verstaue ich den Wohnungsschlüssel in meiner linken Hosentasche, mache zwei, drei kleine Sprünge zur Erwärmung und renne schließlich der untergehenden Sonne entgegen. Ihre Strahlen brechen sich auf der Oberfläche des Sees. Am Wegesrand erblicke ich eine Gruppe von Enten und Schwänen. Ein kleiner Junge füttert sie mit Brot. Ich mag diese beschauliche Idylle am Rande der Großstadt. Zufrieden laufe ich weiter, bis ich kurze Zeit später vor einer Entscheidung stehe:
Wie immer links abbiegen und im Spurt den kleinen Berg erklimmen; oder doch etwas Neues wagen und den rechten Weg einschlagen? Dorthin, wo mich eine neue Umgebung erwartet. Mein Erkundungsdrang ist groß. Nach rechts also. Eine folgenschwere Entscheidung, wie sich alsbald herausstellen wird.
Bereits nach wenigen zurückgelegten Metern wartet die erste Ernüchterung auf mich. Eine geschlossene Gittertür blockiert den Weg. Ich verlangsame meine Schritte und komme schließlich vor dem metallenen Hindernis zum Stehen. An den Gittern ist ein mit Kabelbindern fixiertes Schild befestigt, auf dem Kleingartenverein Silbersee
zu lesen ist. Mutig greife ich nach dem darunterliegenden Türgriff und versuche mein Glück. Offen.
Die Leute hier legen anscheinend sehr viel Wert auf Political Correctness. Radfahren verboten, Hunde sind an der Leine zu führen. Die Parzellen wirken außerdem so, als würden sie einem amerikanischen Vorort entspringen. Alle Hecken fein säuberlich gestutzt, der Rasen frisch gemäht. Gleichförmig. Langweilig. Beruhigend.
Nach ein paar Abbiegungen finde ich schließlich den Ausgang aus diesem Hort des Spießbürgertums und gelange, nachdem ich ein großes weißes Tor aufgestoßen habe, an eine große Hauptstraße, auf deren Fußweg ich munter weiter jogge. Diesem Weg folge ich für einige Zeit. Grauer Asphalt und ab und an ein vorbeirauschende Auto. Gelangweilt wende ich meinen Blick nach links, rüber auf die andere Straßenseite. Eine junge Läuferin erregt meine Aufmerksamkeit. Sie, oder vielmehr der Ort, aus dem sie scheinbar wie aus dem Nichts erscheint. Denn sie tritt aus einem dunklen Pfad hervor, dem ich über all die Jahre, die ich schon hier lebe, noch nie auch nur die geringste Beachtung geschenkt hatte. In meiner Welt existiert er gar nicht. Gemächlich überquert die Frau die, zumindest zu solch später Stunde, kaum frequentierte Fahrbahn. Wohin dieser düstere Pfad wohl führen würde, frage ich mich, richte dann aber meine Aufmerksamkeit wieder auf den vor mir liegenden Weg.
Zwei Minuten später wechsele dann auch ich die Straßenseite, um einem einladenden Schotterweg zu folgen. Sackgasse. Entmutigt drehe ich um, entdecke aber auf halbem Wege eine schmale Abbiegung. Ich zögere nicht eine Sekunde und fühle mich sofort in den Bann des Weges gezogen. Unbekanntes Gebiet, ich kann einfach nicht anders. Ich muss dem schmalen Pfad folgen. Er führt mich direkt hinein in das Zwielicht des Waldes. Die Sonne steht mittlerweile ganz tief am Horizont.
Bald ist sie vollständig hinter all den Bäumen verschwunden, man kaum noch die Hand vor Augen sehen. Je weiter ich in die Untiefen dieses Gehölzes vordringe, desto mehr verlässt mich die Kühnheit, die mich eben noch hierher geführt hatte.
Immer öfter muss ich meinen Blick nach unten auf den Boden richten, um überhaupt noch den Weg erkennen zu können. Schaue ich nach vorn, sehe ich nur noch eine in Finsternis gehüllte Welt voller Gefahren. Schatten verwandeln sich in lebendige Personen, Räuber und Mörder, die mir auflauern und sich jede Sekunde auf mich stürzen. Das Wiegen der Äste im Wind scheint wie ein heranschnellendes Messer.
Die Backwood Slasher aus meiner Filmsammlung lachen mich gerade bestimmt wissend aus. Warten darauf, Realität zu werden.
Aus der Dunkelheit gleitet urplötzlich eine schwarze Gestalt auf mich zu. Eine vermummte Person, wie sich wenige Sekunden später herausstellt. Warum ist der Typ maskiert? Trägt er ein Messer in seiner Hand? Mein Herz beginnt rasant zu pochen, hämmert lautstark gegen die Brust.
So kann er doch meine Angst spüren, ja, sogar hören. Ich muss cool bleiben. Stattdessen spielen sich in meiner Phantasie die grässlichsten Dinge ab. Alleine im Wald. Niemand da, der deine Schreie hören kann. Ich erwarte das Schlimmste und schließe in einer Kurzschlussreaktion die Augen, kneife sie fest zusammen. Die Schritte kommen schnell näher, entfernen sich aber in der gleichen Geschwindigkeit wieder. Nichts ist geschehen. Es ist nur ein Gleichgesinnter, ein Läufer. Warum dieser allerdings komplett in schwarze Sachen gekleidet ist, lässt mich stutzen. Ich traue ihm nicht, blicke die nächsten Minuten immer wieder zurück über die Schulter. Kann denn noch jemand so verrückt sein wie ich und bei Nacht durch dieses menschenleere Gruselareal wandeln? Ist er vielleicht der schwarze Mann, vor dem ich mich mehr und mehr zu fürchten beginne?
Knistern im Unterholz reißt mich jäh aus diesen Gedanken. Verfolgt mich der Mann etwa, verborgen durch die Dichte des Unterholzes?
Ruhig bleiben, sage ich mir, nicht die Nerven verlieren. Bloß keine auffälligen Bewegungen. Weiter hinten schimmert schon ein Licht durch die Äste, bald bin ich in Sicherheit. Die Geräusche scheinen mit einem Mal näher zu kommen, gleich hat er mich eingeholt. Jetzt ist es doch an der Zeit, schnell zu reagieren. Ich setze zu einem kurzen Sprint an, denn in nur etwa 50 Meter Entfernung zeichnen sich die beleuchteten Zimmer einer großen Hochhaussiedlung ab. Erst als ich über einen weiteren schmalen Trampelpfad in das gut ausgeleuchtete Wohngebiet gelange, finde ich wieder Ruhe. Atemlos stütze ich beide Hände auf die Knie. Puls runterfahren.
Wo ist der vermummte Jogger hin, frage ich mich und drehe mich suchend einmal im Kreis. Alles nur Einbildung?
Ich entschließe mich, den Heimweg anzutreten. Dieses Mal jedoch auf einer richtigen Straße.
Wieder renne ich einige Minuten einfach drauf los, folge einem breiten, asphaltierten Weg. Trotzdem stimmt etwas nicht. Um mich herum ragen schon wieder nur Bäume, die letzte Laterne liegt auch schon gute zweihundert Meter hinter mir. Das war so nicht geplant. Verlaufen. Verloren streife ich durch die Nacht, denn zurück wage ich mich auch nicht. Dort wartet der schwarze Mann auf mich, will mich holen.
Wieder Knistern am Wegesrand. Ein Tier? Der Mörder? Ich will einfach nur nach Hause, weit weg sein von diesem Ort hier.
Mein Weg führt mich an eine Kreuzung. Jäh biegt ein Auto genau in meine Richtung ab und steuert direkt auf mich zu. Mit eingeschaltetem Fernlicht blendet es meine Augen. Ich habe ein ungutes Gefühl. Wozu braucht der Fahrer denn hier draußen sein Fernlicht, hier ist doch gar nichts? Ganz nah presse ich mich an den Straßenrand, ganz nah heran an das zwielichtige Dickicht. Der Wagen rollt langsam an mir vorbei. Nichts passiert. Puh, das zweite Mal Glück gehabt heute.
Die langen Arme der Bäume greifen gierig nach mir, wollen mich in den Wald hineinziehen. Mühsam reiße mich los von all den Ästen und Zweigen. Das unheilvolle Flüstern, das ich von weiter hinten höre treibt mich wieder an. Weiter.
Wenige Meter voraus glaube ich eine weiße Silhouette erkennen zu können. Erst ist es nur eine Vermutung, schnell entpuppt sich das Weiß jedoch als der Farbton einer Jacke. Ein Mann trägt sie. Dass er mit einer Begleiterin unterwegs ist, beide spazierend Händchen haltend, erkenne ich erst, als ich schon beinahe neben den Beiden stehe. Ihre dunkle Kleidung war vorher nicht auszumachen.
„Entschuldigen Sie, nicht erschrecken bitte“, noch blöder kann man die Leute ja gar nicht ansprechen, denke ich, „Entschuldigen Sie, wo komme ich denn raus, wenn ich hier diesen Weg lang weiter renne?“
Das nette Pärchen zeigt sich unerschrocken und weist mir freundlich den Weg.
„Einfach weiter geradeaus und dann kommst du nach Dölitz, auf die Leinestraße“
Dölitz. Leinestraße. Ja, da fühle ich mich zu Hause, dort kenne ich mich aus. Also einfach weiter laufen. Immer weiter.
Mein Puls beruhigt sich langsam wieder, ebenso mein Nervenkostüm. Selbst herabfallende Eicheln und knarrende Äste aus den Waldstücken links und rechts neben mir können mich nicht mehr erschrecken.
Endlich, nach einigen hundert Metern, lichten sich die Bäume. Zu meiner Rechten breitet sich eine große, grasbewachsene Lichtung aus. Erst jetzt bemerke ich den Nachtnebel, der über die letzte halbe Stunde aufgekommen sein musste. Er bedeckt die komplette Wiese, hat sich für sich vereinnahmt. Auf der Lichtung, eingehüllt in diesen weißen Nebel, steht ein einzelner Baum. Die Äste sind weit nach oben aufgerichtet, als würden sie versuchen, in den Himmel zu ragen. Durch die Zweige hindurch schimmerten die letzten dunkelroten Züge der nun untergegangen Sonne.
Ein einmaliger Anblick bietet sich mir. Ein Augenblick vollendeter Schönheit, den ich nur zu gerne mit einem Foto für immer festhalten würde. Da dies leider nicht möglich ist, versuche ich das Bild in meinem Kopf abzuspeichern, um die Szene später wenigstens in Worte fassen zu können. Alles, was ich während der letzten Minuten erlebt habe, will ich aufschreiben und für immer in Erinnerung behalten.
Von dieser Idee beseelt, steigere ich mein Lauftempo, will nur noch den Weg zurück finden. Schneller rennen, schnell nach Hause, damit ich auch ja nichts vergesse. Mein Gehirn verarbeitet währenddessen langsam die ersten Eindrücke, bildet Satzfetzen und lässt mich, wie ich es immer in einer solch kreativen Phase mache, bereits eine fertige Geschichte konstruieren. Eine Geschichte mit Happy-End. Das Erreichen der wunderschönen, komplett in Nebel gehüllten Lichtung muss einfach das große Finale meiner einmaligen Reiseerzählung bilden. Zumindest denke ich das, als ich endlich die Ausläufer unserer Zivilisation erreiche und mich in Sicherheit wähne. Eine beleuchtete Straße.
Endlich vermag ich aus dem Dunkel hervorzutreten, hinein ins gleißende Licht der Straßenlaternen. Erst, als meine Augen sich an die ungewohnte Helligkeit gewöhnt haben, realisiere ich, dass ich genau auf dem Weg gelaufen bin, aus dem vor nicht einmal einer halben Stunde die gemächliche Joggerin hervortrat. Geheimnis gelüftet.
Leinestraße. Es ist dieselbe Hauptstraße, auf deren anderer Fußwegseite ich Minuten zuvor entlang gerannt war. Hier kann mir nichts passieren.
Bis auf den streunenden Hund wohl, der wie aus dem Nichts auftaucht und sich etwa fünf Meter von mir entfernt in Lauerposition begibt. Sein eigentlich hellbraunes Fell ist verdreckt, zottelig und ungepflegt. Das kann nicht gut gehen. Abrupt bleibe ich stehen, will ihm kein Grund liefern, mich anzugreifen. Vorsichtig luge ich mit kleinen Augenbewegungen nach links und nach rechts. Kein Besitzer in Sicht. Es ist wirklich ein streunendes Tier. Für wenige Sekunden treffen sich dann unsere Blicke. Wir schauen uns tief in die Augen, ehe er mit einem lauten Bellen aufspringt und mit rasanter Geschwindigkeit auf mich zu rast. Starr vor Angst mache meinen Körper ganz steif, versuche mich nicht zu rühren. Vielleicht ignoriert er mich dann, hoffe ich.
Du Blödmann, schaue ihm ja nicht nochmal in die Augen, denke einfach an etwas anderes und warte ab.
Der Hund bellt mich erneut wütend an. Dabei blitzen seine scharfen Zähne auf.
Jetzt ist es so weit, fürchte ich.
Wild schlängelt sich das Vieh um mich herum, bestimmt beißt er gleich zu. Doch das Tier bleibt friedlich, schnuppert nur neugierig an mir. Glück gehabt.
Mit langsamen Schritten entferne ich mich, blicke nicht zurück. Nach der nächsten Kreuzung beginne ich wieder zu rennen. Weiter nach Hause, das Ziel nicht aus den Augen verlierend. Der streunende Hund ist bloß eine weitere Anekdote, die ich in meiner Geschichte erwähnen kann.
Aus den Augenwinkeln erblicke ich eine weiße Tür. Das Tor dieses Kleingartenvereins, durch welches ich vorhin von der anderen Seite aus herausgetreten war.
Immer noch sehen alle Gärten gleich aus. Wo bin ich, welchen Weg muss ich gehen? Das Labyrinth enger Gänge treibt mir Schweißperlen auf die Stirn. An einer Gabelung halte ich kurz inne. Die Orientierung habe ich längst verloren.
Rechts oder links?
Ich kann mich nicht entscheiden, drehe lieber wieder um und will zurück rennen, als mir zwei junge Radfahrerinnen entgegen kommen. Die werden doch wissen, wie man wieder herauskommt. Erneut mache ich auf dem Absatz kehrt und folge nun den Beiden. Sie entscheiden sich für den linken Weg, na gut. Ich folge ihnen in gebührendem Abstand. Denn was würde ich als Frau wohl denken, wenn ein großgewachsener Mann, der mir erst entgegen kommt, mich nur Sekunden später auf einmal verfolgt.
Immer wieder biegen sie in den engen Gassen ab. Rechts. Rechts. Links. Rechts. Endlich landen wir wieder auf dem Hauptweg. Mittlerweile scheinen die zwei Frauen mich jedoch bemerkt zu haben, denn sie beschleunigen umgehend ihre Tritte. Als sie den Ausgang durchqueren, schließen sie nicht einmal das Tor hinter sich, wollen wohl nur schnell weg von mir. Wer kann es ihnen verübeln?
Auch ich lasse das Tor offen stehen und versuche noch, mit der Geschwindigkeit der Radfahrer Schritt zu halten. Ihre roten Rücklichter weisen mir den Weg durch den Park. Endlich wieder am Silbersee. Dennoch, ohne die Beiden wüsste ich gar nicht, welchen Weg ich einschlagen muss. Die Dunkelheit vernebelt meine Sinne.
Zunehmend wird mir das Tempo zu schnell. Die Lichter der Fahrräder verschwinden langsam im Nichts. Als ich auf eine Gruppe von fünf kämpferisch wirkenden Bäumen zu steuere, bin ich schon seit einiger Zeit wieder alleine unterwegs. Diese fünf Gesellen da, eingehüllt in den weißen Nebel, der mich scheinbar verfolgt hat, stellen die letzte Hürde meiner Odyssee dar, das spüre ich. Tapfer laufe ich los, will an den Bäumen vorüber ziehen. Mitten hinein in das weiße Nichts. Eigentlich kenne ich mich in diesem Park gut aus, kann auch hier und da einige prägnante Bilder identifizieren, wie die Rennbahn für ferngesteuerte Miniautos etwa. Dennoch fühlt sich meine Umgebung, durch den kalten Dampf undeutlich gemacht, so befremdlich an. Nochmal erhöhe ich die Schrittfrequenz, renne einfach nur noch. Durch den Nebel. Durch eine Welt fernab der Realität. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, höre nur noch mein eigenes, schweres Atmen. Die ehemals ruhigen Luftzüge weichen einem asthmaartigen Röcheln.
Dass ich endlich vor meiner Tür stehe, bemerke ich erst, als ich bereits den Schlüssel im Schloss umdrehe. Mit letzter Kraft reiße ich mir das T-Shirt vom Leib und lasse mich in meinen Sessel fallen. Wie entfesselt tippe ich wild auf der Tastatur. Ich schreibe diese Geschichte.
Tag der Veröffentlichung: 05.10.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle freilaufenden Jogger