Die Rabenfedertür
„Er kann nicht anders“ , sagte das Kindermädchen. „Es kommt von dem knallenden Donnerschlag.“
„Ach, das sagst du immer.“
„Es stimmt aber! Ich war dabei. Als er geboren wurde. Es geschah genau in dem Moment. Als er aufgetauchte, gewissermaßen. Ein knatternder Donnerschlag. Das ganze Schloss hat gewackelt.“
„Da würde man doch eher meinen, es sei ein verschüchterter junge aus ihm geworden. Nach einem solchen Knall.“
„Verschüchtert! Hah!“ , riefen sie aus. Denn verschüchterter war nun ungefähr das Letzte, was man den Jungen nennen konnte. Er war ein Draufgänger, ein Junge, der die Geländer hin durchrutschte, der in dunklen Nebenräumen 'huuh' schrie, der Türen schlug, die Korridore entlangrannte, die Treppen hinunterstampfte, auf den Betten tanzte, auf die Zinnen klettern, in Teiche sprang – ein Junge, der beim Frühstück mit goldenen Locken und rosigen Wangen erschien und eine wohl gebügelte Hose trug und den man abends mit Rissen in den Kleidern, mit Schrammen, blauen Flecken und Beulen in der Badewanne mit Seife schrubben musste wie einen schwarzen Mistkäfer. Sein Name war Prinz Darell. Er wurde Prinz Draufgänger genannt. Aber die Kammerzofe, die Kinderfrau, die ihn jeden Abend mit Seife schrubbte, nannte ihn „Gnädiges Kind“! Sie war eine Dame von edler Geburt, Baronesse von Wetering Teterring, doch er nannte sie Minny. Und das ließ sie zu, denn sie war so vernarrt in ihr „Gnädiges Kind“.
Eines Abends, als er unvermittelt: „Minny, was ist die Rabenfedertür?“.
Die Baronesse mit dem Schwamm in der Hand hielt mitten in der Bewegung inne, so entsetzt war sie über mitten die Frage. „Wie um alles in der Welt kommt Ihr auf eine solche Frage, Gnädiges Kind?“ Ihre Stimme zitterte. Er konnte das wohl hören und rief: „Du darfst nicht sagen, stimmt's? Über die Tür. Aber es gibt sie! Sie ist irgendwo im Keller und es hat etwas Seltsames auf sich mit ihr. Was Unheimliches. Und ich weiß sowieso davon. Und ich werde nach ihr suchen. Und ich werde sie aufbrechen. Schauen, was dahinter ist. Ein Schlossgeist? Ja? Ist es das?“.
Sie saß zitternd auf dem Rand der Badewanne; die den Beinen um sich. „Haha! Ich kann doch sehen, dass du weißt. Du musst es mir sagen!“.
Doch das tat sie nicht und er wandte sich schroff von ihr ab und als sie ihn zu Bett brachte, zog er die Decke über den Kopf und wollte keine Geschichte erzählt bekommen.
Die Baronesse von Wetering Tetering erstattete seinem Vater, dem König. „Ist es so weit gekommen?“.
Und die Königin jammerte: „Heilige Mutter Maria! Jetzt haben wir ihn verloren.“
Die Rabenfedertür war tief unten im Schloss, in der Mauer eines Nebenkellers, wohin niemals jemand kam. Was dahinter war, wusste keiner. Ein Schrank, ein Zimmer, ein Saal, ein Abgrund, ein Krokodile, ein Höllenfeuer, ein Brunnen mit tintenschwarzem Wasser, eine Falle mit eisernen Spitzen auf dem Grund – eins war sicher: Wer immer durch die Rabenfedertür trat, kam nie zurück. Der Bruder des Großvaters des Königs war der Letzte der Familie gewesen, der den Schritt gewagt hatte: Man hatte nie wieder von ihm gehört. Seither war die Rabenfedertür zugepresst gewesen, mit einem stählernen Vorhängechloss, dessen Schlüssel der König verwahrte, tagsüber an seinem Gürtel, nachts unter seinem Kopfkissen. „Aber nun“ , sagte der König, „müssen wir eine Wache davor aufstellen. Henry, kümmere du dich darum.“
henry verneigte sich tief und ging um zu veranlassen, dass eine Wache vor der Rabenfedertür aufgestellt wurde, hinter der das Schicksal lauerte.
„Morgen werden wir es ihm erzählen“ , sagte der König und nach dem Frühstück nahm er Prinz Darell beiseite und begann: „Mein Sohn, hör mir zu.“
„Ja, Vater, die Rabenfedertür“ , erwiderte der Prinz. „Ich werde danach suchen und dann hindurchgehen.“
„Das wirst du nicht tun“ , sagte der König.
„Warum nicht?“
„Weil ich es sage.“
„Aber was ist denn dahinter?“
„Das weiß ich nicht, mein Sohn. Niemand weiß es.“
Warum gehen wir dann nicht und sehen nach, Vater? Wenn ein Drache dahinter ist, dann ist er doch sowieso schon seit Urzeiten tot.“
„Drachen sterben niemals, mein Sohn.“
„Hm.“
„Du machst, was ich dir sage. Verstanden?“
Der Prinz nickte und fragte sich, ob man mit einem einfachen Nicken wohl lügen konnte. Seine Mutter, die Königin, schluchzte mit tränennassen Augen. „Bitte, Sch-schätzchen, halte dich fern vom Keller, dann kommst du nicht in Versuchung. Denn wenn du durch die Rab-b-enfedertür trittst, wird Mami dich nie wieder sehen und Mami liebt dich so sehr .“
“Ach“ , rief der Prinz, krieg ich stattdessen Schokolade?“.
Sie gab ihm zehn Tafeln, wenn er nur versprach, nicht in den Keller zu gehen.
Er versprach es laut, doch insgeheim dachte er nicht daran und er fragte sich, ob man eine Lüge ungeschehen machen könnte, wenn man sie leise dachte.
Die Baronesse von Wetering Tetering drohte ihm, Seife in seine Augen zu schmieren. „Wenn ich Euch erwische, wie Ihr in den Keller geht, reibe ich Euch heute Abend Seife in die Augen. Dann könnt Ihr die verfluchte tür nicht finden“ , sagte sie.
„Haha, Minny!“ , schrie der Prinz und er tanzte um sie herum mit so komischen Schritten, dass sie schließlich lachen musste. Dann schloss er die Augen, streckte die Arme aus und rief: „Blind! Blind! Ich bin ein armer blinder Junge mit Seife in den Augen!“ Und er stieß sie an, schlang die Arme um sie und drückte den Kopf an ihre Brust, denn er hatte sie so gerne.
„Gnädiges Kind!“ , rief sie, doch dann nahm sie seinen Kopf zwischen die Hände und sah ihn streng an.
„Seid vorsichtig!“ , sagte sie. „Das ist kein Spiel mehr, Kind. Das ist der Tod.“
Er aber lachte und rief: „Der Drache ist tot und ich gehe auf jeden Fall!“ Denn sie log er nie an und er rannte durch den langen Korridor, schrie 'Huuh' in den dunklen Nebenraum, schlitterte die Geländer hinunter, stampfte die Treppen hinab in den Keller und suchte und fand dann den Nebenkeller, wohin sich sonst nie jemand verirrte, wo jetzt aber ein Wächter stand, dessen dicker Bauch weit hervorstand, und der Bauch war es auch, mit dem der Prinz zusammenstieß.
„Eure Hoheit! Ähem! Verzeiht. Ihr dürft nicht...“
„Ist das die Rabenfedertür?“
„Ja, Eure Hoheit.“
Tag der Veröffentlichung: 22.05.2011
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